MONTAG 24. DEZEMBER WEIHNACHTSABEND

1

Die schmalen Augen von Suunaat Kjærgaard waren für diese blendende Dunkelheit geschaffen. Als die Sonne um halb drei unterging, hatte sie zufällig am Fenster gestanden und bemerkt, wie sich am nördlichen Horizont ein heller Streifen abzeichnete. Für Suunaat Kjærgaard, die an der Westküste Grönlands geboren und von dort zu einer lebenslangen Reise aufgebrochen war, hatte nicht der geringste Zweifel daran bestanden, dass der nahende Schnee wild war.
Sie blinzelte und klopfte sich das glitzernde Pulver von der Brust. Endlich hatte der Anblick grauer Sträucher ein Ende. Wochenlang hatte die Landschaft vor Kälte gestarrt und auf den Schnee gewartet wie eine leere Bühne auf den ersten Auftritt.
Böen griffen von allen Seiten an und brachten ihren Körper ins Wanken. Der Einbruch des Winters war wie ein Besuch aus der Heimat. Der Wind jaulte in ihrer Muttersprache.
 
Sie stapfte los. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien, war wegen des Windes jedoch nicht überall gleich tief. Sie kannte das Strandbad vom Sommer und wusste, dass die Badewiese dreißig Schritte weit in sanften Stufen abfiel und kurz vor dem Ufer in Sand überging. Suunaat verlangsamte ihre Schritte. Die Wasserlinie war nur noch ein gefährlich unklarer Schimmer. Sie hörte bereits das Schwappen, sah jedoch die Bäume nicht, die vereinzelt am Wasser standen. Zwei Schritte weiter zeichneten sich die schwarzen Stämme ab. Aber die Stämme trogen. Sie ragten krumm über das Wasser hinaus, das dazwischen kleine Buchten ausgespült hatte.
Suunaat schlug eine andere Richtung ein und bewegte sich entlang des unsichtbaren Wassers. Der Wind schlug ihr entgegen. Vor jedem Schritt prüfte sie den Untergrund mit der Fußspitze, deshalb bemerkte sie den Mast mit dem Rettungsring erst, als sie mit dem Kopf dagegenstieß. Das Signalrot war so verblasst, dass die gesamte Vorrichtung im Gestöber unsichtbar wurde. Nebel verhüllte den Fjord. Von Kungsholmen am anderen Ufer erkannte sie nur die drei Hochhäuser von Marieberg. Sie funkelten wie Kristalle.
Suunaat erreichte die Stelle. Zuerst erkannte sie die blauen Streifen des Sonnenschirms. Er widerstand den Böen mit erstaunlichem Starrsinn. Der Saum des Stoffs flatterte im Wind. Obwohl die Stange tief im Boden steckte, drohte der Schirm durch die Last des Schnees zur Seite zu kippen.
Der Liegestuhl darunter war aus massivem Holz, die Lehne aufgestellt. Suunaat musste sich unter den Schirm ducken und hinknien, um das Gesicht der Frau betrachten zu können. Unter dem Schutz des Schirms lag ein so feiner Schleier aus Schnee auf ihren Wangen und der Stirn, dass Suunaat glaubte, einzelne Kristalle erkennen zu können. Obwohl die Lider geschlossen waren, wollte sie der Frau nicht den Blick auf den Fjord versperren und kroch auf den Knien zur Seite. Sie stellte die Tasche in den Schnee und streifte sich ihre Fäustlinge ab. Als erste Maßnahme öffnete Suunaat den Mund der Frau, legte Zeige- und Mittelfinger auf die Zunge und versuchte, die Körpertemperatur zu schätzen. Irritiert zog sie ihre Finger bald wieder heraus. Sie hatte dort einen Anflug von Wärme erwartet.
Suunaat wechselte von der linken auf die rechte Seite des Stuhls, um den Wind im Rücken zu haben. Die Scheinwerfer des Polizeiwagens oben am Beginn der Wiese waren als diffuser Kreis zu sehen. Eigentlich sollten sie die Stelle markieren und ausleuchten.
Suunaat öffnete ihre Tasche. Der Schnee war trocken und ließ sich mit dem Notizbuch vom Körper der Frau wedeln. In dieser Lage konnte sie nur eines tun. Sie griff nach dem Stechthermometer und stieß es der Frau in den Bauch. In dreißig Sekunden würde es piepsen.
Für eine Rechtsmedizinerin war die Weihnachtszeit eine erfüllte Zeit. Da Suunaat völlig vereinsamt lebte, hatte sie den Weihnachtsabend und die Feiertage in der Abgeschiedenheit des rechtsmedizinischen Instituts verbringen wollen. Mit Menschen sprach sie meist erst nach deren Tod. Wenn man bedachte, dass die Stockholmer in jedem Winkel ihres Lebens recht zu haben glaubten, dann sahen sie nach ihrem letzten Atemzug erstaunlich nachdenklich aus.
Während die Sekunden der Messung verstrichen, glaubte Suunaat in der unmittelbar neben ihr beginnenden Ferne ein Harmonium zu hören, aber da es auf Långholmen weit und breit keine bewohnten Häuser gab, schrieb sie den Klang einer Schiffssirene zu.
Sie fror nicht. Der Speck, der sie sonst vor der Kälte des Lebens schützte, schützte sie jetzt vor der Kälte des Winters.
 
Die Polizistinnen Annika und Britt saßen da und glotzten. Maria 13 parkte mit eingeschalteten Scheinwerfern oberhalb des Strandbads von Långholmen. Die Wischer quietschten über die Scheibe, doch sobald Annika Holmqvist den Hebel auf Intervall stellte, bewältigten sie den Schnee nicht mehr.
Dieser Schneesturm hatte mit nichts Ähnlichkeit, was Annika in den vierunddreißig Jahren ihres Lebens erlebt hatte. Obwohl er erst seit einer Stunde wütete, mitten durch die Bescherungszeit. Wie viele Menschen er nach der Messe wohl in der Kirche gefangen hielt? Der Wind war so heftig, dass sie es längst aufgegeben hatte, die Höhe des gefallenen Schnees zu schätzen, aber bereits auf der Fahrt hierher waren sie kaum vorangekommen. Annika hatte den Wagen nah am Hang geparkt. Die Frage, wie sie später unbeschadet wenden und es bis zur Brücke schaffen sollte, saß als flaues Gefühl in ihrem Bauch.
Britt seufzte auf dem Beifahrersitz und wischte zum achten Mal mit ihrem benutzten Taschentuch über die beschlagene Seitenscheibe. »Alle haben sich weiße Weihnachten gewünscht.«
»Wie in einer antiken Tragödie«, sagte Annika. »Jemand wünscht sich etwas Wunderbares, und wenn er es bekommt, ist es ganz und gar schrecklich.« Sie zog energisch am Hebel; die Wischer verdoppelten ihre Frequenz, und die Scheibe war für einen Augenblick klar. »Da! Sie kommt zurück.«
Die Eskimofrau trat ins Scheinwerferlicht. Ihr Körper wackelte wie bei einem Pinguin, fiel Annika auf, aber vielleicht war das die beste Art, durch hohen Schnee zu stapfen.
Die Rechtsmedizinerin öffnete die Tür, hievte ihre Tasche auf den Sitz und klopfte sich den Schnee von den Stiefeln.
Annika schaltete das Gebläse ab, damit sie besser sprechen konnten. Doch die sonderbare Frau auf der Rückbank schwieg und machte sich minutenlang Notizen. Es sah aus, als löste sie Rechenaufgaben.
»Ist sie tot?« Inzwischen waren Annika Zweifel gekommen, ob sie nicht zu voreilig gewesen waren. Nach dem Einsatzbefehl waren sie selbst zum Ufer hinabgestiegen. Weil sie in Zentral-Söder Dienst taten und in ihrer Zeit als Streifenpolizistinnen zwölf an Unterkühlung gestorbene Obdachlose gefunden hatten, hatten sie unten am Ufer nicht lange herumdiskutiert. Nur der Umstand, dass die Tote keine Obdachlose war, irritierte sie.
Die Eskimofrau nickte nur. »Ein Nachbar hat sie gefunden?«, fragte sie schließlich.
»Esbjörn Fors«, las Britt von einem der Zettel ab, die sie nach jeder Meldung ans Armaturenbrett klemmte.
»Wo gibt es hier Nachbarn?« Die Rechtsmedizinerin sprach in eigenartigem Tonfall.
Hinter dem Wagen lag das alte Gefängnis, in dem heute ein Hotel war, aber sonst gab es weit und breit nur Bäume und vereinzelte Holzhäuser, in denen im Winter niemand lebte.
»Es ist komplizierter«, setzte Britt an. »Er ist Pensionär und wohnt jenseits des Kanals in der Bergsundsgatan. Er kommt dreimal am Tag mit seinem Hund herüber nach Långholmen, wobei er anscheinend immer die ganze Insel umrundet. Der Einsatzzentrale hat er die Sache so beschrieben: Heute Morgen war der Strand menschenleer und von der Frau angeblich nichts zu sehen. Bei seiner Nachmittagsrunde saß die Frau dann da, als er herkam. Am Ende seiner Runde saß sie immer noch unverändert an derselben Stelle. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen.«
Die Rechtsmedizinerin betrachtete Britt schweigend über den Rückspiegel.
Britt fuhr fort. »Er war in Eile, weil er zur Bescherung bei seiner Schwester in Upplands-Väsby wollte. Unterwegs im Auto fiel ihm dann auf, dass die Gestalt sich überhaupt nicht gerührt hatte zwischen den beiden Malen, wo er sie sah. Und da rief er zur Sicherheit an.«
Einem Anruf dieser Art wurde am Weihnachtsabend nicht gerade mit der höchsten Priorität nachgegangen. Das war allen im Wagen klar.
»Jetzt ist er in Upplands-Väsby«, folgerte die Ärztin.
Annika registrierte eine leichte Verärgerung in der Stimme. Das ließ sich bei ihrem mechanischen Tonfall nicht leicht heraushören. Vielleicht war es auch Sarkasmus. »Er hat um 16 Uhr 04 angerufen«, sagte sie. »Nicht mehr als eine Viertelstunde war vergangen, seit er hier am Strand war. Genauer wissen wir es nicht.«
»Um die Mittagszeit war er auch hier, behauptet er? Wann war das?«
»Das weiß er nicht genau. Die Sonne stand jedoch schon tief hinter den Baumwipfeln, gab er an. Gegen drei vielleicht.«
»Jetzt ist es 17 Uhr 29«, sagte die Ärztin. »Der Temperaturausgleich ist abgeschlossen.«
Annika und Britt drehten sich zur Rückbank um.
»Sprichst du von der Leiche?«, fragte Britt.
»Ihre Kerntemperatur liegt bei null Grad.«
»Geht das so schnell?«
Suunaat schüttelte den Kopf.

2

Lilly Cederström saß auf dem Sofa und presste den riesigen Telefonhörer an ihr Ohr. Nach dem dreißigsten Tuten wartete sie mit derselben Spannung wie beim ersten darauf, dass sich ihre ältere Schwester Linda in der Ferne meldete.
Kjell nahm seiner Tochter den Hörer aus der Hand und legte auf. »Da müssen wir es wohl morgen noch einmal versuchen«, sagte er und seufzte.
Klein-Lilly seufzte ebenfalls. Sie seufzte immer mit, wenn ihr Vater seufzte.
Das Familienglück der Cederströms würde also an diesem Weihnachtsabend nicht gänzlich vollkommen werden, dachte Kjell und sah denselben Gedanken in den hellblauen Augen seiner Freundin Ida, die stets eine leichte Unsicherheit an den Tag legte, wenn es um ihn und Linda ging, die aus seiner ersten Ehe mit Madeleine stammte. Nach Madeleines Tod hatte er jahrelang allein mit Linda gelebt und war nicht auf die Idee gekommen, dass noch jemand zu seinem Glück fehlen könnte. Bis Ida, die zehn Jahre jünger als er war, in sein Leben trat.
Klein-Lilly war rechtzeitig zur Welt gekommen, bevor Linda endgültig in dieselbe hinausgeschritten war, um die Malerei zu studieren. Es sei gut für eine junge Malerin, während der ersten Hälfte ihres Studiums in Europa herumzuvagabundieren. Das hatte sie behauptet und so entschlossen dreingeblickt, dass ihm nur die Einwilligung geblieben war. Ein halbes Jahr später hatte Ida ihn beim Abtrocknen des Geschirrs ermahnt, seinen Gram endlich abzulegen. Nicht einmal verprellte Geliebte kamen zurück, und erwachsene Töchter schon gar nicht. Zumal er selbst seinem Vater einst erklärt hatte, sein Leben ergebe nur in Paris einen Sinn. Natürlich hatte er nicht Malerei studiert, sondern klassische Literatur an der Sorbonne. Um dann Kriminalkommissar in Stockholm zu werden.
Die vergangenen Monate hatte er jedoch nicht im Büro verbracht, sondern unten am Steg vor dem Haus. Dort hatte es Klein-Lilly in Windeseile zur Meisterschaft im Entenanlocken gebracht, während Ida mehr oder minder freiwillig vier Monate nach Lillys Geburt zu ihrem Antiquariat in der Drottninggatan zurückgekehrt war. Daneben war sie noch an der Universität und der Wissenschaftsakademie angestellt. Doch weil die Gesellschaft unfähig war, sich Idas Charakter anzupassen, war der Kontakt lose. Ida gab das hiesige Fachjournal für Mathematik heraus und verbrachte die meiste Zeit damit, in ihrem Buchladen zu sitzen, eingereichte Beiträge zu begutachten und hitzige Telefonate mit den Autoren der Beiträge zu führen. Inzwischen hatte sich in der Welt der Mathematik herumgesprochen, dass eine Veröffentlichung im Schwedischen Journal für reine Mathematik einem Nobelpreis im Telefonieren gleichkam.
»Da stimmt etwas nicht«, zischte Kjell in Idas Richtung, damit Lilly nichts mitbekam.
»Bestimmt ist sie bei einer Weihnachtsfeier«, sagte Ida. »Ist doch klar, dass sie heute Abend nicht allein in einem Zimmer im Studentenwohnheim sitzt und glotzt.«
»Da stimmt etwas nicht«, wiederholte Kjell und versuchte, seine Kiefermuskeln zu entspannen. »Sie hätte angerufen.«
Er musste unbedingt etwas unternehmen, aber da Linda in Wien lebte, war er machtlos.
Ida hob die Schultern. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass Bande zwischen ihnen bestanden, die nicht abrissen, egal wie alt und erwachsen Linda auch wurde, und die anderen Menschen zuweilen sonderlich vorkamen. Sie konnte nichts anderes tun, als die Schultern wieder sinken zu lassen.
Kjell nahm Lilly in den Arm und deutete zum Fenster, um sie von der Enttäuschung abzulenken, die vielmehr seine war. Er öffnete die Balkontür und trat ins Freie. Der Sturm hatte so plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Nur der Schnee fiel unvermindert weiter. »Sieh mal«, flüsterte er verschwörerisch. »Die ganze Welt ist verschwunden.«
Klein-Lilly hatte in ihrem kurzen Leben noch keinen Schnee gesehen. Der Steg vor dem Haus, ihr zweites Kinderzimmer, war ebenso verschwunden wie die Straße mit den parkenden Autos. Zwei Nachbarn traten gleichzeitig aus dem Haus und winkten einander mit ihren Schneeschaufeln zu. Lilly war noch in einem Alter, wo man schwieg, wenn man keine Erklärung für etwas hatte.
»Morgen können wir runtergehen und im Schnee spielen.«
Lilly erkannte mit einiger Verzögerung, welche Möglichkeiten die Verwandlung der Welt ihrem Tatendrang eröffnete, und lächelte. Gemeinsam betrachteten sie die vorbeischwebenden Flocken, bis das Telefon klingelte.
»Jetzt ruft sie an«, flüsterte Kjell.
Er hörte Ida ins Telefon sprechen. Sie verstummte und erschien hinter ihnen in der Balkontür. »Per Arrelöv ist für dich am Apparat.«
Per? Was wollte er? Ihm frohe Weihnachten wünschen? Kjell fuhr herum und tauschte Lilly gegen das Telefon ein.
»Hoffentlich nichts Dienstliches«, sagte Ida.
Kjell schüttelte den Kopf. Der Kriminaltechniker rief niemals den Kommissar an. Außerdem dauerte Kjells einjähriger Erziehungsurlaub noch acht Tage. »Per? Frohe Weihnachten!«
»Cederström? Gott sei Dank. Frohe Weihnachten.«
Pers Stimme klang weniger schroff als sonst. »Es ist hoffentlich nichts Dienstliches?«, fragte Kjell darum zur Sicherheit.
»Kann man nicht sagen.« Pers Stimme klang gar nicht freundlicher, sie klang bloß erschöpft. »Du hast doch ein Boot, Cederström, oder?«
»Ein Segelboot.«
»Nein, ein kleines Ruderboot hast du auch.«
»Ein Kajak.« Kjell beugte sich über die Brüstung, damit er wieder den Steg unten vor dem Haus sehen konnte. Das Kajak schimmerte blassrot in dem Gestell, in dem auch die Boote der Nachbarn eingewintert waren. Im vergangenen Sommer war er nur zweimal damit gefahren und erwog deshalb, es gegen ein offenes Kanu einzutauschen. Dann könnten er und Lilly im kommenden Sommer damit Abenteuer erleben.
»Hör mal, Cederström! Wir sind ganz in deiner Nähe. Långholmens Strandbad.«
Kjell hob den Blick. Bei diesem Schneefall verlor sich die Sicht nach dreißig Metern, bei besserer Witterung reichte sie weit über die Nachbarinsel Långholmen hinaus, weiter über den Fjord bis zum Stadthaus.
»Wir haben hier eine Selbstmörderin«, sagte Per.
Kjell war verwundert, dass der Leiter der Kriminaltechnik sich überhaupt an ihn erinnern konnte. Er war immerhin ein ganzes Jahr lang zu Hause geblieben, bis auf wenige Abstecher ins Polizeigebäude, wo er Per nie begegnet war. Und Per Arrelöv war bekannt dafür, eine halbe Stunde nach Feierabend frei von jeder Erinnerung zu sein. »Du solltest lieber jemand aus Kungsholmen anfordern«, sagte Kjell deshalb.
»Sie sitzt in einem Liegestuhl so dämlich vor dem Wasser, dass wir sie nur von hinten fotografieren können.«
Per brauchte also gar nicht ihn, erkannte Kjell. Er brauchte das Boot. »Wir?«
»Ich und meine Leute. Die Speckrobbe war zuerst da.«
»Suunaat? Verdammt, Per, das klingt nach einer Schnapsidee. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das Kajak durch den tiefen Schnee zu euch hinüberschleppe! Sie sitzt in einem Stuhl?«
»Ein Liegestuhl, ja.«
»Könnt ihr den nicht fünf Meter landeinwärts tragen? Sonst bist du auch nicht pingelig.«
»Zu viele Leute von der Schutzpolizei hier. Der Bericht ist auch schon fertig. Wenn die Revision sieht, dass wir bei den Fotos geschlampt haben, und dann das heutige Datum liest, bekomme ich wieder Ärger.« Das war zum letzten Mal im Sommer der Fall gewesen, als der Revision auffiel, dass die angeblichen Verkehrsstaus, mit denen die Techniker ihre stundenlange Verspätung erklärten, immer genau dann aufgetreten waren, wenn im Fernsehen ein Europameisterschaftsspiel lief. Bedachte man das Abschneiden der schwedischen Mannschaft, hatte sich die Abmahnung nicht gelohnt, fand Per im Nachhinein. »Kannst du nicht zu uns paddeln? Da bist du doch im Nu da.«
Weiße Wolken stiegen aus Kjells Nase. »Woher willst du wissen, dass der Wind nicht wieder aufzieht?«
»Das behauptet jedenfalls die Speckrobbe. Von solchen Sachen hat sie eine Menge Ahnung.« Per verstummte. Jetzt wartete er auf eine Antwort.
Er war Per ziemlich viele Gefälligkeiten schuldig, erinnerte sich Kjell. Die konnte er jetzt mit einem Schlag zurückzahlen. »Ich schaue, was sich machen lässt«, sagte er und legte auf.
Ida würde ihn auslachen, aber andererseits hatte sie großes Verständnis für jede Form von selbstzerstörerischem Wahnsinn.
»Du bist völlig verrückt«, sagte sie jedoch, während er vor den offenen Türen des Kleiderschranks stand und einen verzweifelten Blick auf seine Winterkleidung warf.
Lilly begann, auf Idas Arm zu zappeln. »Ganz ruhig, Papa geht nur ein bisschen Boot fahren«, flüsterte Ida. »Am besten nimmst du deine Skisachen. Die machen sich jetzt richtig bezahlt! Außerdem brauchst du eine Badehaube. Falls du eine Eskimorolle machen möchtest.«
Zum Glück war es Zeit für Ida, Lilly ins Bett zu bringen. So konnte er sich in Ruhe einkleiden. Eine Viertelstunde später trat er aus dem Haus. Die Nachbarn mit ihren Schneeschaufeln waren wieder im Haus verschwunden, so dass er mit dem langen Paddel nicht wie ein Idiot zurückwinken musste. Seine Hände steckten in dicken Handschuhen, und er hatte einige Mühe, den winzigen Schlüssel nicht fallen zu lassen. Den benötigte er für das Vorhängeschloss, mit dem das Boot an den Steg gekettet war.
Zu seinem Erstaunen war es windstill. Als er jedoch auf dem schwimmenden Steg wankte, streifte eine Bö seine Wange und trieb ihm Schneekristalle in die Augen. Kjell erwog noch einmal, das Kajak lieber auf dem Landweg hinüberzutragen, aber über die beiden Brücken war es ein langer Umweg. Selbst wenn er das Boot an einer Schnur hinter sich herzog, würde er nach einer Ewigkeit völlig erschöpft ankommen.
Das Schloss ließ sich leicht öffnen, aber als er an der Kette zog, fiel sie scheppernd auf den Steg. Er fegte den Schnee vom Kajak und hob es aus dem Ständer. Vielleicht lag es an seinem Widerwillen, dass es sich viel schwerer anfühlte als im Sommer.
Im ersten Stock des Hauses wurde ein Fenster aufgerissen. Die alte Jansson steckte ihren Kopf heraus. »Wo willst du denn hin?«, rief sie aufgebracht. Auf sie war immer Verlass.
»Das ist ein freies Land!«, ächzte er und zwängte seine Beine ins Boot. Und jeder darf während eines verschneiten Weihnachtsabends dorthin rudern, wohin es ihm passt, fügte er flüsternd hinzu. Er wollte sich in nichts verwickeln lassen. »Frohe Weihnachten noch!«, rief er und drückte sich ab.
Das Boot glitt ins schwarze Wasser. Unter den Blicken der alten Jansson trieb er einige Sekunden lang bewegungslos dahin. Noch immer plagte ihn die Sorge, das Boot könnte ein Leck haben. Nach dem zweiten Paddelschlag kam er sich lächerlich vor und warf einen Blick zurück zum Haus. Im sechsten Stock hatte es sich Ida am offenen Küchenfenster bequem gemacht. Sie winkte, als sie entdeckte, dass er zu ihr hochsah.
Er legte sich in die Riemen und kam schnell voran. Seine Befürchtung, er würde binnen einer Minute zu frieren beginnen, bestätigte sich nicht. Nachdem er in die Dunkelheit des Kanals zwischen Reimersholme und Långholmen eingetaucht war, verringerte er seine Geschwindigkeit. Der Schnee schwebte in winzigen Kristallen vom Himmel. Zwischen den Paddelschlägen hörte er sie auf der Oberfläche des Wassers knistern.
Die längliche kleine Insel Långholmen lag nördlich der kugelrunden kleinen Insel Reimersholme, und der Kanal dazwischen maß nur zehn Meter in der Breite. Per befand sich jedoch am entgegengesetzten Nordufer, in zweihundert Metern Entfernung von Kjells Haus. An diese zweihundert Meter Luftlinie hatte Per wohl gedacht, als er seinen wahnsinnigen Plan ersann. Auf dem Wasserweg musste Kjell allerdings zuerst das halbe Südufer entlangrudern, die Westspitze umrunden und dann dieselbe Strecke am Nordufer zurücklegen. Dadurch verlängerte sich die Entfernung um das Fünffache.
An der Westspitze schlug ihm steifer Wind vom Fjord entgegen, der sich nach der Wende allerdings als hilfreich erwies. Auf der Westbrücke, die den Fjord in riesigem Bogen überspannte, war der Verkehr bis auf zwei Schneepflüge, die mit gelben Scheinwerfern von den beiden Enden der Brücke aufeinander zusteuerten, zum Erliegen gekommen.
Endlich lichteten sich die Bäume. Das Ufer öffnete sich zu einer Bucht. Der Sandstrand war nicht einmal fünfzig Meter breit und lag in der Nacht sonst verlassen und unbeleuchtet da. Nun waren die Bäume geisterhaft beschienen. Kjell hatte die mobilen Strahler erwartet, mit denen die Kriminaltechniker einen Tatort gewöhnlich wie ein Stadion ausleuchteten. Hier mussten sie sich wegen der Witterung mit weniger zufriedengeben. Oberhalb der Wiese parkten drei Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern, und unten standen Techniker um die Stelle und hielten wie kleine, zitternde Freiheitsstatuen Handlampen in die Höhe.
Niemand am Ufer entdeckte das rote Kajak. Das Geschehen am Strand war so unwirklich, dass Kjell das Rudern vergaß und lautlos dahintrieb.
Der Sonnenschirm stand gleich bei dem schräg wachsenden Baum, an dem Kjell im Sommer manchmal seine Badehose zum Trocknen aufhängte. Darunter saß eine Frau in einem Liegestuhl. Aus der Ferne sah es aus, als blickte sie zu ihm. Der Wind hatte einen Wall aus Schnee um den Liegestuhl geweht. Die Stelle sah noch unangetastet aus, aber im nahen Umkreis kämpften die Techniker mit Schaufeln gegen das Wetter. Während einer den Schnee weghob, suchte ein anderer den Boden mit einer Taschenlampe nach Gegenständen ab.
Ein solches Durcheinander hatte Kjell bisher nur in seinem Kellerabteil und nach einem Flugzeugabsturz gesehen. Mitten in dieser weiträumigen Szene leuchtete Pers rote Nase. Offenbar hatte sich Kjell soeben aus der Dunkelheit gelöst, denn Per trat winkend ans Ufer. »Es tut mir leid, aber du siehst ja selbst, wie es hier aussieht!«
Entschuldigungen waren eine seltene Geste an ihm, die nicht durch Schuldgefühle ausgelöst wurden, sondern immer dann auftraten, wenn ihn die Lage aufrieb. Er beugte sich über das Wasser und zog das Boot an Land. »Ture hat es mit den langen Gummistiefeln versucht«, sagte er und öffnete die Fototasche. »Aber der Grund ist so glatt, dass Ture sich nach zwei Schritten reingelegt hat.« Das war der Moment gewesen, wo Per an Kjell Cederström gedacht hatte. »Jetzt sitzt er nackt im Transit und lässt sich vom Gebläse aufwärmen.«
»Was ist mit der Frau?«, fragte Kjell.
»Hat sich hier ein schönes Plätzchen gesucht, zum Sterben.« Per schniefte, so laut es ging. Das war selbst bei besserem Wetter seine höchste Form der Anteilnahme. »Sieht jedenfalls so aus. Suunaat sitzt auch im Transit und macht einen Schnelltest des Blutes.«
»Wo ist die Mordkommission?«, fragte Kjell. Außer zwei Streifenpolizistinnen war niemand von der Polizei zu sehen.
»Sie haben uns soeben mitgeteilt, dass sie es nicht schaffen werden. Angeblich ist in der Stadt die Hölle los. Slussen und die Brücke sind ohnehin gesperrt.« Per hängte den Fotoapparat mit der Umhängeschnur an die Schneeschaufel und reichte sie über das Wasser zu Kjell. »Du weißt ja, welche Bilder wir brauchen.«
Kjell hängte sich den schweren Apparat um den Hals. Per stieß mit dem Fuß gegen die Spitze des Kajaks. Nachdem Kjell wieder einige Meter aufs Wasser hinausgetrieben war, begann er zu fotografieren. Der Dreifachblitz zerstörte das seltsame Idyll am Ufer.
»Wir sind bereit, Chef!«, rief Lasse nach einer Weile. Der schlaksige Kerl war seit Jahren Pers linke Hand und würde es auch immer bleiben. Obwohl die Männer vermummt waren, konnte Kjell jeden an seinen Bewegungen identifizieren.
Die Leute von der Tatorttechnik versammelten sich um die Tote und verharrten. Vor dem Anheben der Leiche sprachen sie gemeinsam ein kurzes Gebet. Das taten sie immer, und au ßer den Todesermittlern wusste nicht einmal der liebe Gott davon.
»Ich weiß, dass mein Erlöser lebt«, hörte Kjell Pers Stimme dumpf durch das Knistern der Schneeflocken hindurch. »Am Ende aller Tage wird er mich auferwecken von der Erde.«
Die Männer deuteten ein Nicken an. Dann griffen Per und Lasse unter die Schultern der Frau. Janne packte die Füße. Sie hoben den Körper aus dem Liegestuhl und betteten ihn auf die Bahre. Lasse rutschte aus und schlitterte ein Stück auf dem Bauch die schräge Wiese hinab. Ein jämmerliches Schauspiel, für das der große Dramaturg im Himmel stets den linkischen Lasse auserkor. Kjell hörte ihn fluchen, während er zurück zur Bahre krabbelte.
Kjell kratzte sich an der Schläfe. Seine Mütze juckte unentwegt. Er hatte erwartet, dass der tote Körper in seiner Sitzposition erstarrt war, aber augenfällig war das nicht der Fall. Als die Männer die Bahre anhoben, lag die Leiche ausgestreckt darauf.
Der Liegestuhl war jetzt leer. Die Frau hatte noch sehr jung ausgesehen. Als Chef der Reichsmordkommission, der obersten Instanz der schwedischen Todesermittler, hatte Kjell nie mit Selbstmördern zu tun, deswegen wunderte er sich, dass sie einen Liegestuhl aus massivem Holz hierhergeschleppt hatte. Und dazu noch den Sonnenschirm. Er erweckte den Eindruck, als hätte sich die Frau über sich selbst lustig machen wollen. Kjell machte weitere Bilder, während die Männer oben am Hang vor den offenen Flügeltüren des Transits standen. Sie beabsichtigten, den Leichnam damit zur Rechtsmedizin zu bringen, was streng verboten war.
Plötzlich tauchte Ida neben dem Wagen auf. Sie beobachtete das Treiben im Fond und wirkte mit ihrem hellen Haar wie eine Schneekönigin. Auch Per bemerkte sie sogleich.
»Und was ist mit Lilly?«, rief Kjell von seinem Platz im Boot aus, als alle wieder unten beim Schirm standen und Ida den Kaffee ausschenkte, den sie mitgebracht hatte.
»Sie ist eingeschlafen.«
»Und wenn sie aufwacht?«
Ida streckte den Arm in die Höhe. In ihrer Hand erkannte Kjell das rosafarbene Babyphon. »Lilly wacht nie auf, das weißt du.« Sie trat vorsichtig ans Ufer. »Jetzt passieren die Morde schon vor unserer Haustür, damit du deinen Erziehungsurlaub nicht so lange unterbrechen musst.«
»Es war Selbstmord, Ida. Das siehst du doch!«
»Frierst du?«
Das tat er, aber die Antwort wurde von Suunaat Kjærgaard durchkreuzt. Sie kam den Hang herabgestapft und postierte sich neben Ida am Ufer. »Alkohol und Benzodiazepin.«
»Also ein klassischer schwedischer Selbstmord«, murmelte Per, der gerade im Liegestuhl probesaß.
»Was ist daran klassisch?«, fragte Ida.
Per sah erstaunt auf. »Rohypnol und ein malerisches Ambiente. So sind sie alle, unsere Selbstmorde.«
»Siebzig Prozent«, sagte Suunaat in ihrem etwas roboterhaften Tonfall, womit sie andeuten wollte, dass die anderen dreißig Prozent der Selbstmörder beim Sterben auf Behaglichkeit verzichteten. »Ich schicke dir den Bericht ins Büro.«
Weil das Boot nah am Ufer zu sehr schaukelte, hatte sich Kjell zurück aufs Wasser treiben lassen. »Ich leiste hier nur Nachbarschaftshilfe. Beruflich habe ich nichts mit der Sache zu tun.«
Ida hob beipflichtend den Daumen. Morgen früh stand ein Besuch bei Idas Eltern in Uppsala an.
»Kannst du uns wenigstens den Bericht abzeichnen?«, wollte Per wissen. »Die Lokale steckt irgendwo in Norrmalm. Wir sind auf Platz sieben in der Warteliste. So lange will ich nicht …«
Ida kreischte. »Kjell! Pass auf! Hinter dir!«
Er riss den Kopf herum. Zwei Meter hinter ihm quollen weiße Blasen aus der Schwärze des Wassers an die Oberfläche. Was war das? Die Blasen wuchsen zu einer Fontäne von einem halben Meter Höhe, die jedoch bald erstarb. Kjell starrte reglos auf die Stelle. Dann begann das Kajak zu schaukeln. Ida kreischte wieder, und auch die anderen standen am Ufer und blickten entsetzt herüber. Das Schaukeln wurde heftiger und fühlte sich an wie die Bugwellen einer vorbeifahrenden Fähre. Aber hier gab es keine Fähren.
Er sah sich um. Die Wellen waren konzentrisch. Und Kjell Cederström befand sich im Zentrum. Er stieß das Paddel ins Wasser und zog es durch. Hinter ihm toste es. Etwas Großes und Schwarzes stieg an die Wasseroberfläche. Und schwamm. Kjell starrte auf das riesige schwarze Ding, das einen Meter neben ihm im Wasser trieb. Das war eine Kugel. Er sah die Hälfte einer schwarzen Kugel. Sie war riesig.
»Was ist das?«, rief jemand am Strand.
Kjell achtete nicht auf die Frage. Er paddelte wild zum Ufer. Kurz davor riss er das Boot herum und fixierte den Punkt mit den Augen. Aus dieser Entfernung hob sich die Kugel kaum vom schwarzen Wasser ab.
»Es sieht wie eine Boje aus«, hörte er Suunaats tiefe Stimme sagen.
»Was soll denn das für eine Boje sein?«, erwiderte Per. »Sie ist aus dem Wasser aufgetaucht. Verdammte Scheiße!«
Das konnte man wirklich sagen. Wenn Ida nicht gekreischt hätte, wäre die Boje unter dem Kajak hochgekommen. Kjell schlug das Herz bis zum Hals.
»Sollen wir dir aus dem Wasser helfen?«, fragte Ida.
Kjell schüttelte mechanisch den Kopf.
»Willst du hin und es dir anschauen?«
Kjell schüttelte immer noch den Kopf. Da würde er nie und nimmer hinrudern. Er würde überhaupt nie mehr rudern.
Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas tat oder sagte. Aus der Ferne näherte sich ein Boot. Es schien aus Kungsholmen am anderen Ufer zu kommen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit.
Niemand sagte etwas, bis das Boot sich auf dreißig Meter genähert hatte. Kjell ließ sich mit zwei Paddelstrichen hinaus aufs Wasser treiben. Zwei Scheinwerfer erstrahlten und suchten das Wasser ab. Kjell hielt sich die Hand als Blendschutz vor die Augen, als beide Scheinwerfer auf ihm stehen blieben.
»Wer bist du denn?«, rief eine Megaphonstimme.
»Polizei!«, brüllte Kjell.
Die Antwort war ein mehrstimmiges Kichern. Weitere Lichter wurden eingeschaltet und erhellten das Boot, das von beachtlicher Größe war. Der Schiffsmotor verstummte. Dafür gab ein Krangewinde am Heck quietschende Geräusche von sich.
Kjell erwiderte die Frage und ruderte zum Schiff.
»Wir sind vom Wetteramt«, sagte ein Mann, der sich über die Reling zu Kjell herabbeugte und sehr verwundert aussah. Wir bergen das Auge.«
»Was für ein Auge denn?«
»Na, das da.«
»Die Kugel? Ist das eine Boje?«
»Ja.«
»Ich habe sie für eine Mine gehalten!« In Wahrheit hatte er sie für ein Seeungeheuer gehalten. »Wieso ist die Boje ein Auge?«
»Sie heißt Odins Auge.«
»Und warum müsst ihr sie ausgerechnet jetzt bergen? In der Weihnachtsnacht? Hier? An dieser Stelle, wo ich rudere?«
»Wir fragen uns eher, warum du in der Weihnachtsnacht hier ruderst«, erwiderte der Mann, erhielt jedoch keine Antwort. »Sie ist kaputtgegangen. Irgendetwas hat sie getroffen und außer Gefecht gesetzt. Ich dachte gerade, du hast dir daran zu schaffen gemacht. Weil du hier treibst. In einem Kajak. In der Weihnachtsnacht.«
»Ich hab mir fast in die Hose gemacht!«
Ida und die Techniker tigerten unruhig am Ufer auf und ab. Sie konnten das Gespräch dort drüben nicht verstehen.
»Es gibt sie überall im Fjord. Von der Schleuse stromaufwärts bis zum Fyrisån. Alle hundert Meter. Sie werden dicht über dem Grund an drei Seilen befestigt und messen allerlei Dinge. Wegen der Klimaerwärmung, weißt du. Der Pegel wird in den nächsten zwanzig Jahren dramatisch steigen. Reimersholme und das Stadthaus, das wird alles unter Wasser stehen.«
»Verdammt, da wohne ich!«
»Im Stadthaus?«
»Auf Reimersholme, du Witzbold! Zum Glück im sechsten Stock.«
»Der sechste Stock ist nicht betroffen.«
Die alte Jansson im Ersten würde es sich in Zukunft dreimal überlegen, ob sie ihr Küchenfenster aufriss. Die Klimaerwärmung hatte also auch ihr Gutes. »Was ist das denn für ein dämlicher Name? Odins Auge!«
»Die Bojen heißen alle Odins Auge, obwohl Odin nur eines seiner beiden Augen am Brunnen der Erkenntnis geopfert hat, um durch einen Schluck daraus Allwissen über die Zukunft zu erlangen. Danach ist das Projekt benannt. Das hier ist Nummer 213.«
»Und warum ist sie kaputt?«
»Wissen wir nicht. Etwas muss sie getroffen haben. Ein Ventil wurde abgerissen. Kann das etwas mit eurem Picknick da drüben zu tun haben?«
»Bestimmt nicht. Wir haben eine Selbstmörderin gefunden.«

3

»Du hättest früher kommen sollen.«
Damit meinte die Tanzlehrerin Anna Issaro nicht etwa Minuten, Stunden oder gar Tage. Sie meinte Jahre und eigentlich das ganze Leben.
Sofi Johansson vermutete, dass das Kompliment weniger ihrem Talent galt, und schwieg deshalb. Welche Rolle spielte schon Talent, wenn man das Tanzen erst mit siebenundzwanzig Jahren in der Singlefrauengruppe begann! Als Kriminalinspektorin bei der Reichsmordkommission saß sie den lieben langen Tag am Schreibtisch. Sie hatte bloß etwas Würdevolleres als einen Fitnessclub zur Ertüchtigung gesucht und übte außerhalb der Stunden nur, wenn sie zufällig Lust darauf bekam. Aber im Sommer konnte es vorkommen, dass sie auf dem Heimweg unter einer Laterne herumhüpfte.
Wenn Anna ihre Schüler lobte, klang das an guten Tagen wie Mitleid, an schlechten wie Hohn. Nur Sofi wurde nie gelobt. Während der Stunde zischte Anna manchmal Sofis Namen, worauf sich Sofi drüben am anderen Ende der Stange augenblicklich zusammenriss, obwohl sie Ende zwanzig, Kriminalinspektorin und im Besitz zweier Schusswaffen war. In der vergangenen Woche hatte sich Anna sogar innerhalb einer einzigen Stunde viermal wegen Sofis Attitude bekreuzigen müssen. Keine andere Frau aus der Singlefrauengruppe vermochte bei Anna Issaro religiöse Gefühle zu wecken. Anna spürte anscheinend, dass das Ballett mittlerweile einen zweiten Sinn in Sofis Leben ergab. Sie tanzte als Einzige von den Schülern mit selbstzerstörerischem Eifer. Das war es, was Anna Issaro, die für andere Lebenswege als selbstzerstörerischen Eifer kein Verständnis hatte, so gefiel. Und an Ehrgeiz fehlte es Sofi gewiss nicht: Erst im April hatte sie sich beim Auswringen des Spülschwamms den kleinen Finger gebrochen.
Sofi brauchte wie immer am längsten im Umkleideraum, und Anna Issaro hatte es sich angewöhnt, hereinzukommen und sich schicklich ans Fenster zu stellen und mit ihr zu plaudern.
Sie hob sich elegant auf die Zehenspitzen, um über den Sichtschutz hinwegblicken zu können. »Feierst du mit deiner Familie?«
»Ja«, log Sofi. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und ihre Mutter war vor Jahren in einer Nervenklinik an einem Hirnschlag gestorben. Danach hatte Anna bestimmt nicht fragen wollen. »Und du?«
Anna seufzte. Sie stand so nah am Fenster, dass das Glas von ihrem Atem beschlug. »Ich bin katholisch. Da gibt es hier nicht viel zu feiern.«
Das sah man schon daran, dass Anna die Montagsübungsstunde nicht ausfallen ließ, nur weil sie zufällig auf den Weihnachtsabend fiel. Und von den vierzehn Frauen war sogar die Hälfte gekommen. Sie standen jetzt draußen am Schuhregal und verhandelten darüber, was sie noch zusammen anstellen sollten.
Anna musste um die fünfzig sein, überlegte Sofi. Sonst wusste sie so gut wie nichts über sie. Irgendwann war sie aus Spanien nach Stockholm gekommen, und alles, was sie sagte, war eine Kette aus Imperativen. Ihr Schwedisch klang wie ein auf dem Kopf stehendes Ausrufezeichen. Mehr wollte Sofi gar nicht erfahren, so sehr liebte sie Unklarheiten.
»Ich bin ebenfalls katholisch«, sagte sie und zog dabei den Reißverschluss ihrer Jacke zu.
Anna fuhr herum und musterte sie. Sofis schwarzes Haar und ihre ebenso schwarzen Augen genügten als vorläufiger Beweis. Sie stellte keine Folgefrage. Was ihre Schüler außerhalb der Tanzschule machten, kümmerte Anna nicht. Solange sie hier tanzten, gab es kein Draußen.
Der Katholizismus war wie ein geerbtes Schmuckstück für Sofi, etwas, das zu nichts zu gebrauchen war und das man nie herzeigte und nur selten aus der Schatulle holte, weil man ja wusste, dass man es besaß. Darüber hinaus wusste sie so gut wie nichts über ihre Religion, da sie zeit ihres Lebens in ihrer Welt die einzige Katholikin gewesen war. Allein ihr Vater hätte ihr etwas darüber erzählen können, doch den hatte ihre Mutter nach einer leidenschaftlichen Nacht irgendwo südlich des 44. Breitengrades nie mehr wiedergesehen. Die einzige katholische Kirche Stockholms lag in Sofis Stadtteil, doch sie zog es vor, von Zeit zu Zeit in der Sofiakirche nahe ihrem Haus zu sitzen und nachzudenken, während sie die protestantischen Frauen aus der Nachbarschaft bei ihren Qigong-Übungen betrachtete, zu denen sie sich täglich zwischen den Kirchenbänken trafen.
 
Die anderen waren längst aufgebrochen, als sie ins Treppenhaus trat. Sie wollte den Weihnachtsabend nicht mit sieben verzweifelten Frauen verbringen. Mitten auf der knarrenden Treppe erlosch das Licht. Sie tastete sich voran. Als sie die Tür öffnete, quoll kniehoher Schnee in den Flur. Dicke Flocken schwebten in der Luft. Aus allen Richtungen hörte man Schneeschaufeln über den Asphalt kratzen. Sofi brummte vor Erstaunen. Auf der Fahrt hierher war alles karg und grau gewesen. Schnee war zwar angekündigt worden, aber niemand hatte damit gerechnet, dass er noch zu den Feiertagen eintraf.
Am Gehweg hatten die Räumfahrzeuge den Schnee so hoch angehäuft, dass der Wall Sofi bis zu den Schultern reichte und man wie im Ersten Weltkrieg durch geschaufelte Gräben bis zur Ampel und noch weiter laufen konnte, ohne entdeckt zu werden. Sie hatte das Gefühl, eine ganze Woche verpasst zu haben.
Abseits der Kreuzung waren die Straßen und Wege noch ungeräumt, und überall herrschte Anarchie. Der Zusammenbruch der Zivilisation war das Schönste am Schnee. Man musste sehr weit in den Süden Europas reisen, um eine Stadt zu finden, die bei einem Wintereinbruch in eine vergleichbare Panik verfiel wie Stockholm. Sofi sog den Kristallduft in die Nase und lief los.
Nicht nur sie war auf der Suche nach ihrem Auto. Auf der anderen Seite der Straße versuchte ein Mann im Mantel einen Schneehaufen nach dem anderen und fuchtelte dabei mit seinem elektronischen Türöffner in der Luft herum, ohne dass sich sein Wagen zu erkennen gab. Bei Sofis altem Fiat Mirafiori hätte der Schnee einen Meter hoch auf der Motorhaube liegen müssen, damit die altmodisch lange Antenne darunter verschwand. Der Eiskratzer war in dieser Lage natürlich ein Witz, deshalb behalf sie sich mit der Fußmatte, um das Auto freizuschaufeln.
»Spring an, Mimi!«, flehte sie und drehte den Schlüssel mit unklaren Erwartungen im Zündschloss. Der verrostete Mirafiori war als Sollbruchstelle in ihrer raffinierten Schicksalshygiene fest einkalkuliert. Ein präpariertes Ziel für den lieben Gott. Doch der Wagen sprang jedes Mal an, als wollte sich der liebe Gott über ihren erbärmlichen Versuch lustig machen und sie zappeln lassen. Schon vor langer Zeit hatte Sofi beschlossen, sich ein richtiges Auto zuzulegen und damit in die Zukunft zu fahren, sobald beim Fiat die nächste Reparatur anfiel. Seit dieser Entscheidung lief der Wagen ohne Murren.
Sie wohnte nur drei Straßen von der Tanzschule entfernt. Als sie nach der schlüpfrigen Fahrt in die Tengdahlsgatan einbog, begann sie nach einem Parkplatz Ausschau zu halten und bemerkte daher zu spät, wie am anderen Ende der Straße Scheinwerfer auftauchten. Sie trat auf die Bremse. Das Bremsen half auf der abschüssigen und gebogenen Straße nicht, sondern verschlimmerte alles. Auch der entgegenkommende Wagen bremste, so gut es ging, und geriet ebenfalls ins Schlingern. Fünfzig Meter, dreißig Meter, zehn Meter. Von allen Sicherheitsvorrichtungen, die die Autoindustrie in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfunden hatte, besaß der Mirafiori keine einzige. Sofi streckte ihre Arme aus, zog die Füße zu sich und drückte den Kopf gegen die Lehne. Der Aufprall blieb aus. Sie öffnete ihre Augen. Der andere Wagen stand so dicht vor ihr, dass seine Scheinwerfer unter ihrer Kühlerhaube verschwanden. Aus dem Fenster der Beifahrertür ragte ein geschnürter Weihnachtsbaum.
Der Fahrer öffnete die Tür. Auch Sofi stieg aus. Dem Mann sah man an, dass der Beinahe-Unfall eine den ganzen Tag dauernde Gehetztheit von ihm genommen hatte. Jetzt war alles egal, sagte er sich mit einem Seufzen. Sie riskierten einen Blick zwischen die Stoßstangen. Da passte kein Finger mehr dazwischen.
»Heute ist nicht mein Tag!«, brummte der Mann und sah auf.
»Meiner auch nicht!«
»Frohe Weihnachten!«
»Dir auch!«
Als Sofi den Motor wieder anließ, hatte der andere schon zurückgesetzt und wendete in der Einfahrt. Sofi musste weit vom Haus entfernt parken. An der Wohnungstür waren ihre Finger vor Kälte so steif, dass sie den Schlüssel nicht ins Schloss bekam. Hinter ihrem Rücken wurde die Nachbartür aufgerissen.
»Ich hab gedacht, dass du zu Hause bist«, rief Eufrat. »Weil alle Lichter in deiner Wohnung brennen.«
»Das muss an Weihnachten so sein, damit es im kommenden Jahr keine Todesfälle gibt.«
»Seid ihr abergläubisch bei der Polizei?«, kicherte Eufrat. Sie war zwölf und dünn wie eine gut gewickelte Webspindel. Ihre Mutter war Busfahrerin und hatte heute Abend offenkundig keinen Dienst, denn aus der Küche schwebte ein orientalischer Duft ins Treppenhaus.
»Das ist eine alte schwedische Sitte.«
Die Mutter kam aus der Küche und winkte mit ihrem Pfannenheber. Sofi hatte die Mutter noch nie ohne den Pfannenheber gesehen.
»Arbeitest du nicht?«, fragte Sofi. »Bei uns müssen die Moslems an Weihnachten immer dran glauben.«
»Wir sind syrische Christen«, erklärte Eufrat und schüttelte den Kopf. »Deswegen sind wir ja hier und nicht in Syrien!«
»Dann frohe Weihnachten.«
»Ich habe dir deine Weihnachtskarte durch den Briefschlitz geworfen.« Die Mutter fand, dass Eufrat den Erlöser an seinem Geburtstag nicht beleidigen sollte, indem sie wie ein Flittchen im Treppenhaus herumlungerte, und trieb sie mit dem Pfannenheber in die Wohnung zurück.
Sofi schloss ihre Tür und bückte sich nach dem Kuvert. Aber da lagen gleich zwei. Sie legte die Weihnachtspost auf den Tisch und ging in die Küche. Sie hatte sich Hering vorbereitet. Der wartete auf dem Backblech, und Sofi musste nur noch den Ofen einschalten und ein bisschen warten. Die Hälfte dessen, was von der Reisgrütze am Mittag übrig war, stellte sie wie in ihrer Jugend auf den Balkon, um den Weihnachtsmann bei Laune zu halten. Aus der anderen Hälfte wurde Reis à la Malta für den Nachtisch. Mit einem Glas Punsch nahm sie am Tisch Platz.
Das rote Kuvert entpuppte sich als Eufrats Weihnachtskarte. Das Nachbarsmädchen hatte Sofi eine feste Rolle in ihrem Leben zugewiesen, als Ersatz für eine ältere Schwester.
Das zweite Kuvert enthielt eine Zeichnung. Bei näherer Betrachtung konnte Sofi daran nichts Weihnachtliches entdecken. Es war ein Porträt von ihr. Kein Porträt, ihr ganzer Körper war darauf zu sehen, laufend, mit wehendem Rock und wehendem Haar. Aber es stellte ohne Zweifel sie dar. Sofi drehte und wendete den Umschlag. Nirgendwo ließ sich erkennen, von wem die Zeichnung stammte. Eine Briefmarke gab es nicht.
Sofi klingelte bei Eufrat. Die Mutter öffnete und rief dann Sofis Frage in den Flur.
Eufrat kam angerannt. »Bist du dumm, oder was? Das rote!«
Sofi kehrte in ihre Wohnung zurück.
Das Bild war mit Tusche gezeichnet und sehr hübsch. Sofi dachte für eine Sekunde an Linda Cederström, die Tochter ihres Chefs. Linda war eine eifrige und talentierte Malerin, aber sie wohnte jetzt weit entfernt in Wien und zeichnete auch ganz anders. Sonst kannte Sofi keinen Menschen, der so zeichnen konnte.