MITTWOCH 26. DEZEMBER
15
Für die Eltern von Elin Gustafsson begann der
Morgen mit einer Überraschung. Beim Frühstück, das man eigentlich
gar nicht Frühstück nennen konnte, berichteten die Radionachrichten
vom Tod ihrer Tochter.
Einige Stunden später stellte Jakob Gustafsson zwei
Tassen auf dem kniehohen Tisch in seinem Lesezimmer ab. Der Dampf
war deutlich zu sehen und ließ Henning Larsson an ein antikes
Orakel denken, bei dem schwefelige Gase aus einer Erdspalte
aufstiegen und das Medium beflügelten. Es musste an den niedrigen
Stehlampen liegen, dass der Dampf so gut zu sehen war, überlegte
Henning Larsson und widmete sich dem Kaffee. Er konnte sich einer
Tasse Kaffee auf eine Weise hingeben, dass es andere verunsicherte,
bevor es anfing, ihnen auf die Nerven zu gehen. Nun aber zeigte es
Jakob Gustafsson, wie viel Zeit sich die Polizei für ihn
nahm.
»Um auf deine Frage zurückzukommen«, begann
Henning. »Bei der Meldung im Radio und im Fernsehen haben wir den
Journalisten nicht nur etwas verraten, sondern die Sache überhaupt
erst in Gang gebracht.«
»Das berichtet man doch nicht der Öffentlichkeit«,
wandte Gustafsson ein. Er begriff überhaupt nichts.
Henning nickte. Selbstmorde gehörten nicht in die
Öffentlichkeit. Doch das hatten die Berichte gar nicht behauptet.
Sie ließen keinen Zweifel, dass die Polizei von einem Mord ausging.
Der Bericht war ein Schachzug, mit dem Kjell den Mörder
aufschrecken wollte. Falls es einen Mörder gab. Zudem suchten sie
nach Zeugen und dem Rollstuhl. Henning erklärte es dem Vater,
allerdings nur die zweite Hälfte der Wahrheit.
Gustafsson nickte. Die Frage, wohin der Rollstuhl
verschwunden war, stand auch ihm ins Gesicht geschrieben.
Henning hatte sich Gustafssons Frau Iris vornehmen
wollen, doch sie war seit der Radiomeldung unpässlich. »Weißt du,
was man macht, wenn man im falschen Leben feststeckt?«
Gustafsson betrachtete den umfangreichen Polizisten
voller Erwartung. Henning ließ seinen Blick über die Buchregale an
den Wänden schweifen. »Siebzehn Jahre lang habe ich in der
Maria-Wache so gut wie alle Selbstmorde in Södermalm bearbeitet.
Das liegt inzwischen einige Jahre zurück, aber dennoch habe ich
mich erst gestern Abend in meine Badewanne gesetzt und ein Resümee
aus allen Fällen gezogen, die ich damals gesehen habe.«
Gustafsson zwinkerte nervös. Diese Erkenntnis gab
es in jedem Verhör mit Henning Larsson. Es war der Wendepunkt, an
dem die Leute erkannten, dass ihre Sorglosigkeit unangebracht war.
Vor Henning Larsson war man besser auf der Hut.
»Erstens«, begann Henning und spreizte seinen
Zeigefinger zum Mitzählen ab. Seine Finger waren dick und als
Ausrufezeichen unübersehbar. »Die Ursache kommt von außen. So ist
es bei Managern, wenn herauskommt, dass sie ihre Firma in den Sand
gesetzt haben. Das können wir außer Acht lassen. Bei der anderen
Gruppe kommt die Ursache von innen. Oft geht dem Wunsch zu sterben
eine lange Depression voraus. Bei jedem dieser Fälle habe ich
festgestellt, dass das Leben vor dem Entschluss zum Stillstand
gekommen ist. Da herrschte Leere und Dunkelheit.«
Gustafsson zwinkerte wieder.
»Siehst du in Elins Leben Leere und Dunkelheit?«,
fragte Henning.
Gustafsson zögerte. »Mein Einblick in ihr Leben ist
alles andere als …«
Henning zog eine Einkaufsquittung aus seiner
Reverstasche. »Fünf Tage vor ihrem Tod kauft Elin Gustafsson bei
Åhléns am Sergelstorg vier Romane. Die habe ich in ihrer Wohnung
gefunden. Sie sind auf Englisch und alle sehr dick.«
Jakob Gustafsson starrte Henning an. In seinem
Blick lag auch der Einwand, dass sie die Bücher vielleicht
ausgelesen hatte.
»Nicht einmal eines hat sie geschafft«, sagte
Henning. »Die anderen sind noch verpackt. Eine Leere sieht für mich
anders aus.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Nicht nur ihr Rollstuhl fehlt, auch ihr Computer
ist verschwunden. Gestern hast du meiner Kollegin von einem
Computer erzählt.«
Gustafsson nickte unruhig. »Ein kleiner weißer, den
man tragen kann.«
»Es kommt sehr selten vor, dass man so einen
Computer weder in der Tasche stecken noch zu Hause liegen hat. Ich
frage mich, wofür sie den Computer benutzte. Bei der Videothek am
Hornstull, weit und breit die einzige in ihrer Nähe, hat sie kein
Konto. Ihr Telefonanschluss wurde nur für das Telefon verwendet.
Kein Datenverkehr. In der Nähe meiner Wohnung gibt es ein Café.
Dort sitzen abends viele junge Leute, jeder einzeln und mit einem
tragbaren Computer vor sich. Das sind die Dinge, wofür Leute
heutzutage einen Computer benutzen.«
»Darüber weiß ich nichts. Über so etwas haben wir
nie geredet. Junge Leute brauchen eben einen Computer. Wofür auch
immer.«
»Ich stehe nun vor der Schwierigkeit, dass ich
weder ihren Computer habe noch weiß, wo und wie sie ihn benutzt
hat.«
»Was willst du denn damit herausfinden?«
»Die Gäste in dem Café reden nicht miteinander. Das
ist das Witzige daran. Sie unterhalten sich mit Leuten, die ganz
woanders sind, aber mit den Menschen, die neben ihnen sitzen,
sprechen sie kein Wort.«
»In diesem Alter ist das ganz normal, glaube
ich.«
»Und ich glaube, dass es jemand in Elins Leben gab,
den wir beide nicht kennen.«
16
Vom Fenster aus entdeckte Kjell, wie sich eine
Schar Raben drüben auf dem Sofieberg auf Långholmen niederließ. Er
steckte Lilly in ihren Schneeanzug und setzte sie auf den
Schlitten. Vögel liebte sie über alles.
Dreißig Meter vor den Raben blieben sie stehen. Er
brach ein Stück Brot ab und wies Lilly an, was sie zu tun habe.
Daraufhin stapfte sie durch den Schnee, ohne sich dabei den Raben
zu nähern. Nach zehn Metern hielt sie an, legte das Brotstück auf
den Boden und wandte sich verschwörerisch zu ihrem Vater um.
»Und jetzt kommst du wieder zurück!«
Lilly stapfte zurück. Er gab ihr ein weiteres
Stück, das sie zehn Meter entfernt in einer anderen Richtung
deponieren sollte. Die Vögel verfolgten das Treiben.
»So«, sagte er, als sie zurückkehrte. »Jetzt nimmst
du wieder ein Stück Brot und gehst diesmal zu den Raben. Du gehst
genauso weit wie zuvor und legst das Brot auf den Boden, als ob die
Raben gar nicht da wären.«
Es funktionierte. Die Raben wussten genau, was
Lilly vorhatte: Bei jedem Gang wechselte sie die Richtung um
sechzig Grad, legte nach zehn Schritten ein Stück Brot ab und
kehrte um.
Lilly war gerade auf dem Rückweg, als der Rabe zum
Brotstück
hopste. Kjell hatte nicht erwartet, dass es gleich beim ersten Mal
klappen würde, aber Lilly war nicht viel größer als die Raben und
galt nicht als Gefahr.
»Siehst du«, erklärte Kjell. »Jetzt denken die
Raben, sie hätten uns durchschaut. Weil sie keine Fragen nach dem
Warum stellen.«
Lilly verstand kein Wort. Die Raben sahen ziemlich
glücklich aus. Lilly war auch glücklich und erklärte ihrem Vater,
dass die Raben jetzt das Brot hatten.
Sie zogen weiter. Oberhalb des Strandes setzte er
sich zu ihr auf den Schlitten und gab ihm Schwung. Nach fünfzig
Metern kamen sie zum Stehen, unmittelbar hinter Snæfríður
Jómundardóttir. Sie drehte sich überrascht um und nahm Lilly
sogleich in die Arme.
»Wie ist die Lage?«, fragte Kjell.
Ein Mann im Taucheranzug stand bis zu den Knien im
Wasser und hielt eine Leine.
»Die Verankerung der Boje haben sie entdeckt. Jetzt
suchen sie nach dem Rollstuhl.«
»Haben die Patrouillen nichts gefunden?«
»Weder die noch der Suchtrupp. Sie haben heute
Morgen von hier aus begonnen und sind jetzt bei der Nordspitze
angekommen.«
Im Wasser tat sich etwas. Der Kopf eines weiteren
Tauchers drang durch die Oberfläche. Er watete zum Ufer.
Snæfríðurs Telefon klingelte. Sie gab Kjell das
Kind zurück und entfernte sich einige Schritte, woran Kjell
erkannte, dass der Anrufer ihr Lebensgefährte Fredrik sein musste.
Man hörte es auch an ihrer Stimme. Drei Wörter aus Snæfríðurs Mund
genügten, damit man verstand, dass zwischen ihr und Fredrik nichts
mehr war. Kjell stapfte mit Lilly auf dem Arm zu den Tauchern.
Lilly musterte sie neugierig, zog dann eine Scheibe Brot aus der
Tasche und hielt sie dem Taucher hin.
»Der hat schon gegessen«, flüsterte Kjell. Lilly
wollte das Brot wieder verstauen für andere Wasserbewohner, die bei
diesem Wetter eine harte Zeit durchlitten, aber der Taucher war ein
Spaßvogel und bedankte sich für das Brot.
»Da ist nichts«, sagte er kauend.
»Wie ist die Strömung?«
»Hier in der Bucht ist sie nicht so stark, aber da
vorne an der Verankerung nimmt sie zu.«
»Ist die Verankerung da vorne?«
Der Taucher nickte.
Kjell begann zu zweifeln. War er mit dem Kajak so
weit draußen getrieben? Wenn die Strömung erst nach zwanzig Metern
begann, wie war der Rollstuhl dorthin gelangt?
Er schloss die Augen, um die Szene noch einmal zu
erleben. Aus der Ferne hatte er neulich nicht sehen können, ob
Elins Augen offen oder geschlossen waren. Es hatte ausgesehen, als
blickte sie auf einen bestimmten Punkt auf dem Wasser. Deshalb
hatte er zwei, drei Mal das Ruder eingetaucht und sich weiter
hinaus aufs Wasser treiben lassen. Sobald er glaubte, im Fokus
ihres Blickes zu sein, hatte er angehalten. Genau an dieser Stelle
war die Boje aufgetaucht.
Der Taucher nahm die Kamera aus der Hülle. »Die
Verankerung selbst ist intakt. Es ist ein Entkoppelungssystem, das
vom Boot aus kurz vor der Ankunft ausgelöst wurde. Die konnten
natürlich nicht ahnen, dass genau darüber ein Kajak
schwimmt.«
Kjell sah verärgert zu Snæfríður. Sie hatte den
Tauchern die ganze jämmerliche Geschichte erzählt.
»Ich habe gleich einen Termin beim Wetteramt«,
sagte sie. »Die haben ein kleines Forschungslabor in der
Winterbucht. Da liegt auch das Boot.«
Die Taucher begannen, ihre Utensilien
zusammenzupacken, und wiesen darauf hin, dass die Eisdecke sich
wohl in
der Nacht schließen würde und dann keine weiteren Tauchgänge mehr
möglich waren.
»Hast du Ärger zu Hause?«, fragte Kjell seine
Kollegin. Es war immerhin seine Schuld, dass sie am zweiten
Weihnachtstag hier stehen musste.
»Hulda ist erst heute Morgen nach Hause
gekommen.«
»Was macht sie denn die ganze Nacht draußen? Bei
der Kälte?«
»Sie recherchiert, hat sie zu Fredrik
gesagt.«
»Mach dir lieber nicht zu viele Sorgen. Die gute
Hulda Jómundardóttir kann ganz gut auf sich aufpassen, glaube
ich.«
Snæfríður sah Kjell erstaunt an. Woher er das denn
wissen wolle, dachte sie bestimmt. »Sie heißt nicht Jómundardóttir.
Jómundur ist mein Vater.«
»Ihrer nicht?«
Snæfríður lachte. »Nein. Wir haben nur dieselbe
Mutter.«
»Und wie heißt sie dann?«
»Júpítersdóttir.«
»Wie der Göttervater?«
»Ja, wie der. Hulda Júpítersdóttir.«
17
»Vielleicht hilft es euch, dass auch ich meinen
Weihnachtsurlaub abbrechen musste«, begann Inspektorin Barbro
Setterlind und ließ ihren Blick an den Angestellten des
Telia-Ladens am Ringvägen entlangwandern.
Offenkundig war das nicht der Fall.
Die siebenköpfige Belegschaft hatte sich,
wahrscheinlich unbewusst, in einer Reihe aufgestellt und nach ihrer
Körpergröße sortiert. Nur einer von ihnen war ein Mann. Er stand
nicht in der Reihe, sondern kauerte müde auf einem Hocker an dem
Stehtisch, wo man Anträge ausfüllen konnte.
»Barbro ist von der Polizei«, verkündete Sandra
Göransson mit der Betretenheit, die ihr als Leiterin des Ladens
zustand.
Es beeindruckte Barbro, wie eine so junge Frau am
zweiten Weihnachtstag die gesamte Belegschaft hatte herzitieren
können, ohne den Anlass zu verraten.
»Ich muss euch leider mitteilen, dass eure Kollegin
Elin Gustafsson am Weihnachtsabend gestorben ist.«
Sogar der junge Mann, der noch in den Kleidern vom
Vorabend steckte und augenfällig an starken Kopfschmerzen litt,
richtete sich am Tisch auf. Die Frauen waren alle jünger als
dreißig, also etwa so alt wie Elin. Deshalb löste die Nachricht
stummes Entsetzen aus. Am Ende der Ratlosigkeit stellte eine der
sechs die Frage.
»Sie wurde am Strandbad auf Långholmen gefunden«,
antwortete Barbro.
»Ist es etwa das, was im Radio war?«, fragte eine
andere.
Barbro nickte. Die anderen hatten die Nachricht
nicht gehört und drehten sich zu ihrer Kollegin. Unruhe kam auf.
Die Begriffe Selbstmord und Überfall fielen.
»Sie war krank«, murmelte der Mann.
Barbro hob die Hand und brachte die Leute zum
Schweigen. Nach einer Weile fuhr sie fort. »Elin saß in einem
Liegestuhl, als der Schnee zu fallen begann. Es fand weder ein
Überfall noch Missbrauch statt. Aber es gibt eine Reihe offener
Fragen. Ich möchte von euch wissen, ob einer von euch mit Elin
befreundet war oder von Bekannten oder Freunden weiß.«
Eine längere Stille trat ein, bis eine der Frauen
glaubte, die Stille erklären zu müssen.
»Elin war ja keine Verkäuferin. Sie hat hinten im
Büro gearbeitet oder unten im Lager.«
Das wusste Barbro bereits von Sandra Göransson.
Elin hatte das Lager verwaltet und technische Aufträge
bearbeitet.
»Sie war also kaum hier im Laden?«
Einige nickten. Das war der Grund, warum niemand
etwas über Elin zu sagen hatte.
Barbro vollführte eine Dreivierteldrehung zu
Sandra, die einen Schritt hinter ihr stand. »Sandra, könntest du
bitte für einen Augenblick hinausgehen?«
Sandra nickte und verließ den Laden, stellte sich
drau ßen mit dem Rücken zum Schaufenster und begann zu
rauchen.
Die sieben Verkäufer kannten die Verkaufsargumente
für jedes Produkt und waren mit den Bedienmenüs vertraut. Doch
sobald ein Kunde den Laden mit technischen Fragen betrat, war man
nach hinten geeilt und hatte Elin geholt. Ihr tieferes Wissen und
ihre Arbeit in einem anderen Raum hatten anscheinend auch das
soziale Gefüge geprägt. Elin gesellte sich nie zu den anderen, wenn
sie sich im Pausenraum unterhielten. Deshalb wussten die sieben
nicht einmal das genaue Alter von Elin.
»Über ihr Privatleben wisst ihr also auch nichts?«,
erkundigte sich Barbro.
»Sie hat nie etwas erzählt.«
»Vielleicht habt ihr auf andere Weise etwas
aufgeschnappt. Hat sie manchmal telefoniert, oder ist jemand
hierhergekommen?«
»Nein«, sagte eine der Frauen, die Ann-Marie hieß.
»Aber soll ich dir etwas sagen? Ich arbeite seit vier Jahren hier
und habe sie kein einziges Mal lächeln sehen, obwohl sie in unserem
Alter war. Man fragte sich, was mit ihr los ist. Aber irgendwann
war es einem egal.«
»Meist war sie nicht zu sehen«, erklärte der
Mann.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Sven.«
Eine Blonde, die deutlich jünger war als die
anderen, hob beide Hände. »Könnt ihr euch noch an diesen Kerl
erinnern? Im Herbst?« Sie sah Barbro in die Augen. »Einmal kam ich
in der Mittagspause mit Ann-Marie an der Espressobar an der
Kreuzung vorbei. Das ist nur ein Stand mit drei Hockern. Da saß
Elin mit ihm.«
Die anderen nickten. Sie hatten die Szene zwar
nicht gesehen, aber umgehend davon erfahren.
Auf einmal ganz in ihrem Element, erzählte sie
weiter. Der Mann war am Vormittag vor einigen Wochen, im Oktober
oder im September, in den Laden gekommen und hatte nach einem
Internetkabel verlangt. Doch die Welt der Verkabelung war nicht die
Welt der jungen Andrine Hyttstrand, deshalb hatte sie Elin aus dem
Lager geholt.
»Hat er sein Kabel bekommen?«
»Ja, es war aber nicht leicht. Er wusste nicht
genau, welchen Anschluss er hat.«
»Und dann habt ihr ihn später draußen mit Elin
gesehen?«
»Die haben sich schon hier kennengelernt. Er hat
sie auf ihre Halskette angesprochen.«
Obwohl an jenem Samstagvormittag alle viel zu tun
gehabt hatten, zog der Vorfall Aufmerksamkeit auf sich. Barbro
holte die Kopie der Ermittlungsakte aus ihrer Handtasche. Sie hatte
sie bisher nur einmal durchgeblättert, entsann sich jedoch der
ungelösten Frage, ob die Halskette wirklich Elin gehört hatte und
was der Anhänger bedeutete.
Barbro reichte die Abbildung herum. »Ist es diese
Kette?«
Sie war es. Was Elin mit dem Mann wirklich
gesprochen hatte, wusste niemand. Daher blieb offen, ob sich die
beiden noch im Laden für später verabredet oder zufällig draußen
wiedergetroffen hatten.
»Wie alt war er?«
»Er hat mich an David Bowie erinnert«, fand
Andrine. Sie war bestimmt Studentin und arbeitete nebenbei
hier.
Barbro wusste leider nicht, wie alt David Bowie
war. Wahrscheinlich wusste er es selbst nicht.
»Genau«, sagte Andrine. »Man sieht es ihm nicht an,
wie alt er ist. Das war bei dem auch so.«
»Eher älter als jünger«, fügte Ann-Marie hinzu. »Er
trug einen Hut.«
Mit dem Hut hatte er wie ein Cowboy gewirkt; der
Hut war jedoch aus Leder gewesen und nicht so steif. Ein
Schlapphut. Der Mann hatte ihn beim Eintreten abgenommen. Das habe
ihn eher verwegen als alt aussehen lassen, fand Ann-Marie, aber der
Jüngste sei er auf keinen Fall mehr gewesen.
18
Kjell hatte aufgehört zu zählen, wie oft er mit
Lilly schon den Hang hinabgerodelt war, als ihm der Rauch über den
Wipfeln auffiel. Im Sommer kam er oft her, um zu schwimmen. Daher
wusste er zwar, dass dort hinten Häuser lagen, hatte sie jedoch um
diese Jahreszeit für unbewohnt gehalten.
Lilly protestierte, als er sie nicht wieder den
Hang hinaufzog, sondern den Uferweg einschlug. Das Holzhaus lag nur
fünfzig Meter vom Strandbad entfernt. Ein Volvo 240 parkte davor,
und durch die Fenster des Hauses drang warmes, aber schwaches
Licht. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis nach dem Klopfen ein
älterer Mann die Tür öffnete. Kjell hielt ihm seinen Ausweis dicht
vors Gesicht. Er machte einen Schritt zurück in die Stube.
»Frohe Weihnachten! Entschuldige die Störung. Wir
haben vorgestern dort drüben eine tote Frau in einem Liegestuhl
gefunden. Ich wollte fragen, ob du sie vielleicht gesehen
hast.«
Der Mann nickte. Erst einen Augenblick später
begriff Kjell, dass das Nicken zugleich eine Aufforderung war, ins
Haus zu treten. Kjell nahm Lilly auf den Arm.
»Willst du Kaffee haben?«, fragte der Alte.
Kjell nickte und schlüpfte im Flur aus seinen
Schuhen. Durch das Wohnzimmer hindurch sah er eine Frau in der
Küche vor dampfenden Töpfen hantieren. Im Radio auf der Fensterbank
lief Weihnachtsmusik.
Kjell nahm am Tisch Platz und bekam seinen Kaffee.
Der Mann, dessen Namen Kjell noch immer nicht wusste, setzte sich
dazu und schenkte Lilly Saft in ein Glas, das mit Bamsebären
bedruckt war.
»Jaaa«, begann er. »Die haben wir gesehen.«
Die ganze Tatortarbeit ein Chaos, dachte Kjell.
»Wann war das genau?«
»Villa!«, rief er über seine rechte Schulter zur
Küche. »Wann sind wir am Freitag von den Kindern gekommen?«
»Du meinst Montag«, sagte Kjell. »Heute ist
Mittwoch, und vorgestern an Heiligabend war Montag.«
»Ne.« Der Mann hatte den Kopf noch zur Küche
gedreht und wartete auf eine Antwort.
Villa, wahrscheinlich Vilhelmina, trat ins
Wohnzimmer. »Wir sind um zwei losgefahren. Dann muss es drei
gewesen sein oder etwas später.«
Der Mann drehte sich wieder zu Kjell. »Freitag war
das. Zwischen drei und vier also.«
»Am Freitag?«
»Ja. Der einundzwanzigste Dezember.«
»Und da habt ihr eine Frau im Liegestuhl gesehen?
Am Freitag, dem einundzwanzigsten, und nicht am Montag, dem
vierundzwanzigsten?«
Beide nickten. Sie ließen sich nicht von dem
Entsetzen beeindrucken, das in Kjells Gesicht getreten war. »Am
Montag waren wir überhaupt nicht hier«, sagte die Frau.
Drei Tage, dachte Kjell und blickte skeptisch
drein. Elin konnte nicht drei Tage lang dort gesessen haben.
»Am Freitag hat meine Tochter Geburtstag«, sagte
jetzt der Mann. »Seit vierzig Jahren hat sie am 21. Dezember
Geburtstag. Wintersonnenwende.«
Die beiden hatten bei der Fahrt zum Haus den
Liegestuhl unten am Strand gesehen und den Kopf geschüttelt. Wer
darin saß, war vom Weg aus nicht zu erkennen gewesen.
»Welche Farbe hatten der Liegestuhl und der
Sonnenschirm?«
»Sonnenschirm? Das hätte noch gefehlt! Der
Liegestuhl war schon verrückt genug. Aber wir haben uns nicht
weiter darum geschert. Soll da jemand sitzen, haben wir uns
gedacht.«
Obwohl es zu verrückt war anzunehmen, dass ein
weiterer Mensch auf die Idee kommen könnte, sich bei der Kälte mit
einem Liegestuhl an den Strand von Långholmen zu setzen, fragte
Kjell zur Sicherheit doch noch einmal nach der Farbe. Und
tatsächlich waren beide Liegestühle blau.
»Und am Samstag und am Sonntag?«, fragte Kjell.
»Wart ihr da vor der Tür?«
Mehrmals am Tag sogar. Das Paar bewohnte das
Holzhaus das ganze Jahr über. »Am Freitagabend saß da niemand
mehr«, sagte der Alte. »Ich habe ja noch Holz reingeholt. Und am
Wochenende auch nicht.«
19
Noch bevor Sofi Johansson die Augen öffnete,
wusste sie, wo sie sich befand. Und sie bereute nichts. Keiner der
vielen Überschläge in ihrem bald siebenundzwanzigjährigen Leben
hatte je Reue nach sich gezogen.
Sie setzte sich auf und blickte über ihre linke
Schulter. Es sah nicht danach aus, als würde Joakim Karlström in
nächster Zeit erwachen. Das Schlafzimmer lag in goldenem Licht, das
durch die Fenster hereinkam. Sie reichten von der hohen Decke bis
zum Boden.
Sofi kroch lautlos vom Bett. Viel hatte sie in der
Nacht nicht von der Wohnung gesehen, doch als sie durch die offene
Tür ins nächste Zimmer schlich, erkannte sie das Sofa wieder, die
vor- oder vorvorletzte Station in der letzten Nacht. Darauf und
davor lagen kreuz und quer ihre Kleider als erkalteter
Schnappschuss.
Erst jetzt ermaß sie die ungeheure Höhe des Raums.
Bis hinauf zur schrägen Decke waren es sechs bis sieben Meter. An
der entgegengesetzten Wand gab es auf halber Höhe eine Galerie, auf
die man über eine Wendeltreppe gelangte.
Sofi verharrte vor dem Sofa. Auch in diesem Raum
nahmen die Fenster beinahe die gesamte Wand ein. Eine Querstraße
traf genau auf Höhe des Hauses auf die Straße, in der das Haus
stand. Die Sonne schwebte als riesiger goldener Ball in der
Straßenflucht. Sofi sah die Sonne an, und die Sonne sah sie an.
Wann hat man schon die Ruhe dafür, dachten beide.
Da die Straße nach Nordwesten lief, musste die
Wohnung nach Südwesten zeigen. Selbst bei einer so luxuriösen
Wohnung war bei dieser Himmelsrichtung kein Sonnenaufgang
inklusive. Sofi hob ihre Jacke vom Boden auf und kramte nach ihrem
Telefon.
Es war 14 Uhr 10 - später, als sie befürchtet
hatte. Darüber hinaus hatte sie vier Textnachrichten bekommen und
neun Anrufe verpasst.
Sie drehte die Ärmel der Jacke auf rechts und sah
sich nach ihrer Unterhose um. Die hing wie ein Sahnehäubchen oben
auf der Sofalehne.
Das Telefon begann zu piepsen. Sie wühlte wieder in
der Tasche, damit Joakim nicht davon erwachte.
Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme.
»Sofi Johansson?«
»Ja.«
»Hier ist Jannika Fager. Wir haben uns auf dem
Sommerfest kennengelernt.«
»Sommerfest?«
»Polizeisommerfest. Ich war die Rothaarige vom
Wirtschaftsdezernat bei der Bezirkspolizei.«
»Ach so«, log Sofi.
»Sofi, kannst du etwas für mich tun?«
»Was denn?«
»Kannst du zum Schreibtisch gehen?«
»Ich bin nicht im Büro.«
»Hinter dir.«
Sofi drehte langsam den Kopf. Hinter ihr stand in
der Mitte des Raumes ein massiver Tisch mit nur einem Stuhl davor.
Sie wandte den Blick ab und starrte durch das Fenster. Ohne den
Kopf zu bewegen, suchte sie mit ihren Pupillen Fenster um Fenster
der Häuser auf der anderen Straßenseite ab. Sie konnte aber nichts
entdecken.
Verdammte Hölle, dachte sie.
»Links muss eine Schublade sein«, hörte sie die
Stimme der Frau, deren Name ihr nicht mehr in den Sinn kam.
Mit nackten Füßen ging sie zum Schreibtisch.
Immerhin hatte sie jetzt ihre Unterhose an. So ließ sie sich auf
das Polster
des Stuhls sinken. Es gab links eine Schublade. Sofi zog sie
auf.
»Vorsicht«, hörte sie. »Der Inhalt darf auf keinen
Fall verrutschen.«
»Okay, ist offen.«
»Liegt ein schwarzes Telefon darin?«
»Ja.«
»Ist es eingeschaltet?«
»Kann ich nicht sehen.«
»Gut, präge dir genau ein, wie das Telefon liegt
und nimm es heraus.«
Sofi drückte eine Taste. »Ja, es ist an.«
In der Hörmuschel ihres eigenen Telefons stöhnten
mehrere Menschen erleichtert auf.
»Sofi, kannst du herausfinden, welche Nummer das
Telefon hat?«
Sofi drückte auf einen Knopf und suchte im Menü
nach den Betriebseinstellungen. »070184963214.«
»Bist du sicher? Das sieht nicht nach einer
schwedischen Nummer aus.«
»Es ist eine internationale Redirect-Nummer«, sagte
Sofi. »Die beginnen mit +701. Ihr könnt ja anrufen.«
»Das wäre zu riskant. Es müssten Telefonnummern im
Verzeichnis eingetragen sein.«
»Ja.«
»Such bitte nach einem Janne. J-a-n-n-e.«
Sofi begann zu suchen.
»Und?«
»Es ist nach Nachnamen geordnet. Es gibt keinen
Janne.«
Eine männliche Stimme fluchte im Hintergrund.
»Bitte schau noch einmal.«
Sofi arbeitete sich von unten nach oben. »Es gibt
einen Jon. Jon Ardelius.«
»Moment.«
Am anderen Ende der Leitung war Tastaturgeklapper
zu hören.
»Wie lautet die Nummer?«
Sofi las die Nummer vor.
»Nein, das ist er nicht.«
Sofi stöhnte. Wenn sie die Wohnung aus dem Haus
gegenüber observierten, hatten sie es gestern Abend schon getan.
Die Bezirkspolizei hatte alles auf Video. Verdammt. Sie warf einen
Blick zum Schlafzimmer. Dort war alles ruhig.
»Wir schicken eine Textnachricht. Kannst du
warten?« Es piepste. »Okay. Öffne die Nachricht und dann das
angehängte Video.«
Sofi klickte. Statt eines Filmes liefen
Programmzeilen über die Anzeige. Dann erschien das Hauptmenü.
»Du musst die Nachricht aus dem Verzeichnis
löschen.«
»Schon gemacht. Fertig?«
»Ja. Vielen Dank.«
20
Barbro Setterlind hatte die Einladung
ausgeschlagen, sich am Büfett zu bedienen, und wartete, bis der
Hoteldirektor mit zwei Tassen an den Tisch zurückkam. Er öffnete
seinen Computer.
»Ich komme vom Telefonladen gegenüber«, begann sie.
»Angeblich kaufen viele eurer Gäste dort Kabel, um ihren Computer
im Zimmer mit dem Internet zu verbinden.«
Der Direktor war jung und daher eher ein
Hotelmanager als ein Direktor. Er nickte und trank zugleich von
seinem Espresso. »Nur die Deluxe- und ein Teil der Standard-Zimmer
haben drahtlosen Zugang. Oft klappt es auch nicht mit dem
Einwählen.«
»Dann schickt ihr sie hinüber, um ein Kabel zu
kaufen?«
»Ja. Der Kabelanschluss richtet sich automatisch
ein.«
»Ich erzähle dir von meinem Problem, weil wir beide
nicht viel Zeit haben. Hier ist eine Liste von Leuten, die in den
letzten vier Monaten ein Kabel gekauft haben. Es sind zum Teil
Namen, vor allem aber Kreditkartennummern.«
»Kein Problem«, sagte der Hoteldirektor und bettete
seine Finger auf die Tastatur.
Die Hotels verlangten nie Gerichtsbeschlüsse.
Sie begann mit der ersten Nummer, als ein
korpulenter Mann durch die Halle auf die Bar und den Tisch
zusteuerte. Henning Larsson nahm neben Barbro Platz und
grüßte.
»Und?«, fragte Barbro ihren Kollegen, während der
Hoteldirektor suchte.
»Ich habe sie vorhin auf der Fahrt hierher
erreicht. Sie sei krank, sagt sie.«
»Was hat sie?«
»Sie lügt.«
»Sofi reagiert immer so komisch. Das bedeutet
nichts.«
»Ich stand eine halbe Stunde vor ihrer Haustür. Sie
war nicht da. Ihr Auto habe ich auch nicht gesehen.«
»Du weißt ja, wie sie ist.«
»Sie klang komisch. Gestern schon.«
»Okay«, unterbrach der Direktor. »Das ist eine
Frau.«
»Vergiss es. Probieren wir zuerst die Namen auf der
Liste. Der erste ist Ardelius, Jon Ardelius.«
21
Der Schnee knirschte unter den Reifen, als
Snæfríður den Wagen auf das Ende der Winterbucht zurollen ließ. Sie
hatte längst das Ende der Siedlung passiert. Obwohl sie immer mehr
daran zweifelte, ob sie hier richtig war, kamen heimische Gefühle
in ihr auf. Die Gegend ähnelte den Vororten im Süden Reykjavíks.
Wenn man all die Bäume hier und all die hässlichen Betonvillen dort
abzog. Das vom Wind aufgeraute Wasser und die Serie von Landzungen
verknüpften die beiden Orte in Snæfríðurs Empfinden.
Als sie schon wenden wollte, lugte zwischen den
letzten Fichten ein Wellblechhaus hervor. Wellblech war das
Stichwort. Zudem lag auch das im Telefonat erwähnte Boot am Ufer.
Sie gab ein wenig mehr Gas, umrundete das Gebäude und zog an der
Handbremse, so dass der Wagen sich um die eigene Achse
drehte.
In der Tür des Flachbaus lehnte ein Mann. Den
Ausbruch an Leidenschaft hatte er mit einem Lächeln im Gesicht
beobachtet. Seine Haare standen zu Berge, als hätte er gerade
geschlafen, und über seinem Kopf ragten hohe Antennen vom Hausdach.
Ein Mann, ein Haus, dachte Snæfríður und trat auf den Eingang
zu.
»Bist du Snæfríður von der Polizei?«, fragte er,
kurz bevor sie bei ihm ankam.
Sie nickte.
Acht Vorhängeschlösser baumelten an der Tür,
deshalb ließ sie sich nicht mit einem Ruck schließen.
»Wir hatten vor einigen Monaten einen Einbruch«,
erklärte er. Er hieß Måns und war allem Anschein nach der Leiter
des Labors. Den Nachnamen hatte er bei ihrem Anruf nicht genannt.
»Danach mussten wir so gut wie von vorne beginnen.«
»Ob Vorhängeschlösser da helfen?«
»Wir haben auch eine Alarmanlage, und fünfmal am
Tag kommt jemand von Securitas.«
Am Ende des kurzen Ganges tat sich links eine
Teeküche auf, die augenfällig nur von Männern benutzt wurde. Der
Raum rechts nahm beinahe die gesamte Fläche des Baus ein, der so
provisorisch wie die Architektenstube einer Großbaustelle war. Die
Einrichtung glich der eines Büros, allerdings mit Lötgelegenheit
und einem Metallgestell in der Mitte. Darin hing etwas, und wäre es
nicht rund gewesen, hätte Snæfríður auf eine Kirchenglocke
getippt.
»Das ist sie«, sagte Måns. »Odins Auge 213.«
Snæfríður legte ihren Mantel auf eine Stuhllehne,
ohne den Blick von Odins Auge zu lösen. Dann schritt sie
respektvoll darauf zu. Die Kugel hatte dieselbe Größe wie der
Sitzball in Barbros Büro. Sie ging in die Knie. »Was wiegt
die?«
»Nur achtzig Kilo. Innen ist sie hohl.« Måns fuhr
mit dem Zeigefinger am nördlichen Wendekreis der Kugel entlang.
»Das ist der Schraubverschluss. Das untere Drittel nimmt der
Ballasttank ein. Hier unten sitzt das Ventil. Damit kann sie Wasser
ein- und auspumpen und für den idealen Auftrieb sorgen.«
Das dauerte einige Zeit, wie Måns erklärte. »Kurz
vor der Ankunft mit dem Boot habe ich über die Fernbedienung die
Verankerung gelöst. Eigentlich hätte hier oben eine Lampe leuchten
müssen. Das hat sie jedoch nicht getan.«
»Was fehlt ihr denn nun?«
»Man kann ihr so gut wie nichts anhaben. Der Mantel
ist ja recht dick. Aber hier oben treten die Sensoren aus.« Dort
war ein pilzförmiger Aufbau, der einem Soldatenhelm glich.
»Irgendetwas Kleines und Spitzes muss da in den Spalt gekommen
sein. Die ganze Sensorik wurde abgerissen.« Måns streichelte die
Kugel. »An so einen Fall haben wir bei der Konstruktion nicht
gedacht. Wenn ein Schiff dagegenfährt, weicht sie wie ein
Punchingball aus. Sie hängt ja an einem Stahlseil.«
»Sie schwebt also im Wasser.«
Måns nickte. Er roch besser, als seine Rasur
aussah. Snæfríður behagte das gemeinsame Knien vor der Boje.
»Könnte es ein Rollstuhl sein? Daran stehen doch
Griffe und anderes heraus.«
»Ein Rollstuhl ist wohl zu leicht, um einen solchen
Schaden anzurichten.«
»Es muss sich um einen Elektrorollstuhl handeln.
Die sind ziemlich schwer.«
Måns stemmte sich in den Stand. »Ich frage mich,
wie lange er schwimmt.«
Snæfríður blieb noch einige Sekunden lang am
Boden.
»Immerhin sind es zwanzig Meter«, gab er zu
bedenken. »Und wenn er sinkt, kommt es auf seine Form an, ob er von
der Strömung mitgezogen wird. Eure Taucher haben ihn ja nicht im
Umkreis gefunden.«
»Die Taucher halten auch für möglich, dass er gar
nicht schwamm. Bei seinem Gewicht ist er vielleicht ins Wasser
gerollt, ohne je den Kontakt zum Boden zu verlieren. Kurz nach dem
Ufer fällt der Grund steil ab. Unter Wasser ist er dann auf die
Boje zugerollt oder -gepurzelt.«
»Einen Tee vielleicht?«
Trotz des verrohten Zustands der Teeküche nickte
Snæfríður.
Bis einige Minuten später die Teebeutel
herausmussten, hatte Måns das Szenario zu Ende gedacht. »Aber wenn
er wirklich auf dem Grund rollte, wäre bei der Boje Schluss
gewesen. Der Rollstuhl müsste noch an der Stelle liegen. Das
Gefälle endet dort.«
»Verstehe«, antwortete Snæfríður und blies über
ihren Tee.
»Aber an Rollstühlen und Kinderwagen hängen doch
immer Beutel. Damit man etwas reinlegen kann.«
Snæfríður schwieg. Von Unterwasserzauber verstand
sie nichts.
»Komm mal mit.«
Sie folgte ihm zurück ins Büro. Dort nahmen sie vor
einem großen Bildschirm Platz.
»Es liegt ja viel Gerümpel dort unten, aber das
bleibt liegen und gefährdet die Bojen nicht.« Er griff nach der
Maus. Auf dem Bildschirm erschien eine Karte des Gebiets.
»Du fürchtest, der Rollstuhl könnte seine
Teufelsfahrt fortsetzen?« Das würde sein Verschwinden
erklären.
Måns konnte auf seiner Karte mit einem Streich das
Wasser aus dem gesamten Fjord abpumpen. Übrig blieb das
Bodenrelief.
»Der Grund fällt vom Nord- zum Südufer ab. Dort um
Långholmen herum fließt also die Hauptströmung. Deshalb liegen die
Mälarwerft und die Schiffe mit größerem Tiefgang im Süden am Söder
Mälarstrand.«
»Und die Motorboote im Norden am Norr
Mälarstrand.«
»Ganz genau!« erwiderte Måns und drückte beschwingt
mehrere Tasten auf seiner Tastatur.
Im leeren Mälarbecken erschien ein roter Faden. Er
wand sich um Långholmen und reichte bis zum Norrström, dem
Hauptkanal am Reichstag. Weitere Fäden entstanden und wanden sich
wie Muskelfasern umeinander. Immer mehr Fäden in anderen Farben
kamen hinzu, und als Snæfríður sie nicht mehr auseinanderhalten
konnte, geschah etwas Neues: Die Fäden vereinigten sich erst zu
dickeren Schläuchen, bekamen eine ganz neue Dynamik, bildeten
Massen mit Farbverläufen. Oben rechts stand der 24. Dezember, 15
Uhr 00. Die Sekundenanzeige raste. Måns’ Finger sauste auf eine
Taste. Alles stoppte. 15 Uhr 01 und 19 Sekunden.
»Da hat Odins Auge Alarm geschlagen.«
Sie betrachteten den erstarrten Mälarstrom, bevor
Snæfríður sich nach ihrer Tasche umsah und sie auf dem Tisch neben
der Boje entdeckte. Sie holte die Ermittlungsakte.
»Die Boje wurde um 15 Uhr 01 beschädigt?«, fragte
sie.
»Ja.«
»Aber ihr seid erst um sieben dort
eingetroffen.«
»Wir mussten das Boot klarmachen.«
Snæfríður fand die Zeittabelle in der Akte. Die
Gerichtsmedizin legte den Todeszeitpunkt auf die Stunde zwischen
ein und zwei Uhr in der Nacht fest. So lange hätte Elin tot dort
sitzen müssen, damit ihr Körper auf die Temperatur abfiel, die
Suunaat am Strand gemessen hatte. Das war unmöglich, wenn man
Esbjörn Fors glaubte, denn am Morgen hatte er sie nicht gesehen.
Dafür aber bei seiner zweiten Tour um 15 Uhr 15. Vierzehn Minuten
zuvor war die Boje beschädigt worden. Da blieb nur eine Erklärung:
Elin war erst seit 15 Uhr 01 am Strand gewesen. Und die
Kernkörpertemperatur ließ nur einen Schluss zu: Jemand hatte sie zu
der Stelle gebracht, lange, nachdem sie gestorben war, und vierzehn
Minuten, bevor Esbjörn Fors zu seiner zweiten Runde eintraf.
»Ist es möglich, mit dem Programm zu bestimmen,
wohin die Strömung den Rollstuhl getrieben hat?«
»Natürlich. Das Programm ist phänomenal. Eigentlich
müsste man dafür den Nobelpreis bekommen.«
»Willst du damit sagen, dass du das alles
programmiert hast?«
»Ich? Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie
Mimir funktioniert.«
»Funktioniert?«
»Mimir kennt jeden Kubikmeter Wasser auf 42
Kilometern Länge. Und das auf dieser lahmen Kiste. Sie hat nicht
mal acht Gigabyte Arbeitsspeicher. Aber auf einem tragbaren
Computer liefe es auch.«
»Das beruht alles auf den Daten, die die Bojen
liefern?«, erkundigte sich Snæfríður.
»Wir haben nur dreihundert Bojen. Weiter den Fjord
hinauf
reicht unser Etat noch nicht. Ohne das Programm würden wir
achttausend Bojen und mehrere Großrechner brauchen. Wir können uns
nicht erklären, wie es solche komplexen Szenarien erstellt. Alles
Chaostheorie, weißt du.«
Måns wechselte in eine andere Ansicht, bei der
wieder einzelne Fäden erschienen. Es mussten Millionen sein.
»Die Sache hat einen Haken. Das Programm kann zwar
Mikroströmungen darstellen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihm
das befehlen soll.« Er stand auf, öffnete das Fenster und rief. Ein
Mann trat von außen ans Haus. Måns stellte ihn als Peter vor. Er
war deutlich älter, und wie bei allen Männern seines Namens, denen
Snæfríður in ihrem Leben begegnet war, war sein Haar dicht und
lockig. »Hast du eine Ahnung, ob man mit Mimir bestimmen kann, wie
sich ein Objekt im Wasser bewegt?«
»Wahrscheinlich schon.« Peter kratzte sich am Kopf.
»Der Programmierer lebt allerdings in Irland. Den wirst du heute
nicht erreichen. Vielleicht weiß Ardelius, wie es geht.«
Måns nickte betrübt und schloss das Fenster. Peter
trottete zum Ufer zurück.
»Jetzt sehen wir dumm aus«, sagte Måns und
seufzte.
»Wer ist dieser Ardelius?«
»Er ist der Mathematiker, der das Differential
entwickelt hat, auf dem Mimir beruht. Die Programmierung ist keine
große Sache, der Algorithmus durchaus. Wir sind erst nach einiger
Zeit darauf gekommen, dass Mimir keine wilden Schätzungen und
Hochrechnungen liefert. Wir wollten die Software erst selbst
entwickeln, aber unser Chef in Norrköping hat lieber einen externen
Mathematiker aus Stockholm engagiert. Das ist bei uns eigentlich
unüblich. Wir waren natürlich nicht gerade erfreut, ein fertiges
Programm vorgesetzt zu bekommen. Als die Bojen schwammen und wir
Mimir zum ersten Mal laufen ließen, um die Messgenauigkeit zu
testen, trauten
wir unseren Augen nicht. Ich bin mir sicher, dass wir den
Rollstuhl damit finden.«
22
Kjell drückte auf die Klingel von Elin Gustafsson
und machte sich auf Pers grimmiges Gesicht gefasst. Doch die Laune
des Cheftechnikers war alles andere als normal.
»Wir haben was«, sagte Per. »Komm rein.«
Im Flur knöpfte Kjell seinen Mantel auf. An den
Wänden, vor allem aber an den Möbeln klebten Markierungen. Pers
Assistent Lasse trat mit zwei Koffern aus dem Zimmer und setzte sie
neben der Tür ab. Alle waren bereit für den Feierabend.
»Larssons Bauch hat recht. Es gibt tatsächlich
jemand. Überall in der Wohnung finden sich Abdrücke. Sie stammen
weder von Elin noch von ihrer Familie.«
Sie betraten das große Zimmer. Das dritte Mitglied
der Kriminaltechnik war Jenna. Sie war dabei, alles zu
fotografieren, und grüßte mit ihrem transzendenten Lächeln, auf das
Kjell ganz versessen war.
»Ein Mann oder eine Frau?«, fragte Kjell.
Per zuckte mit den Schultern. »Wissen wir nicht.
Wir haben nur vom Zeigefinger einen kompletten Abdruck. Zweierlei
ist interessant: Die Abdrücke sind nicht allzu alt und finden sich
nur an frei herumliegenden Gegenständen und der Kommode dort. Im
Bad und in der Küche ist nichts.«
»Was ist mit dem Computer?«, fragte Kjell.
»Wir kennen zumindest die Marke. Im Keller haben
wir die Verpackung und im Flur noch etwas Zubehör gefunden.«
Kjell seufzte und blickte umher, um sich einen
Eindruck von der Wohnung zu verschaffen.
»Die Person ist in höchstem Grad verdächtig«, sagte
Per.
»Ihr Abdruckmuster verrät, dass sie vor kurzem hier war, nach
etwas gesucht hat und nicht länger als eine Viertelstunde
blieb.«
»Warum das?«
»Die Hände. Sie konnten sich nicht aufwärmen. Dann
wären sie feucht geworden und hätten bessere Abdrücke
hinterlassen.«
Kjell seufzte noch einmal.
»Habt ihr den Rollstuhl?«, fragte Per.
Kjell schüttelte den Kopf. Um die Zimmerlampe
kreiste eine Mücke. Wo die um diese Jahreszeit herkam, blieb auch
ein Rätsel.
Per kratzte sich am Kopf. »Ziemlich teurer Spaß
inzwischen. Du näherst dich der Fünfzig-Mannstunden-Grenze. Ohne
Materialkosten.«
Kjell nickte. Seine Bewegungen waren jetzt
ruppiger.
»Was sagt denn die Speckrobbe?«, machte Per
weiter.
»Das Schlafmittel und die Kälte. Das ist die
endgültige Todesursache.«
»Eigentlich ist daran nichts besonders verdächtig.
Nur der Rollstuhl fehlt dir. Für den brauchst du eine gute
Erklärung.«
23
Sofi erhob sich von der Sitzbank, als sie die Tür
am Ende des Ganges zufallen hörte und sich Schritte näherten. Da
kam Zweigkberg auch schon um die Ecke geeilt. Seine Sohlen
quietschten immer beim Gehen. Er war nur ihretwegen ins
Polizeigebäude gekommen.
»Ah, Sofi Johansson, was gibt es denn?«
Sofi lächelte und streckte ihm das Formular hin,
das er in vollem Schwung annahm. Beim Weitergehen wehte es gegen
seine Brust. Vor der Tür seines Büros suchte er eine Weile an
seinem riesigen Schlüsselbund herum. Innen roch es nach
Lebkuchen.
»Nimm Platz«, sagte Zweigkberg und betrachtete das
Formular. »Eine RS-3 mit Restlichtverstärker braucht ihr also. Wie
lange denn?«
»Drei Tage?«
»Hier steht ›Wohnungsüberwachung Långholmsgatan 7‹.
Da braucht ihr wahrscheinlich auch den Streamer dazu.«
Sofi nickte. Zweigkberg verschwand in einem
angrenzenden Raum. Kurz darauf hörte sie ihn in Regalen kramen und
eine Schachtel herausziehen.
Er kehrte zurück und schaltete seinen Computer ein.
»Die Fernüberwachung ist nicht besonders gut. Besser wäre ein
Telefon.« Zweigkberg nahm den Rekorder aus dem Karton, schloss ihn
an den Computer an und programmierte Sofis Telefonnummer in den
Speicher.
Schließlich griff er noch einmal in den Karton und
hob eine kleine Kamera zwischen Zeigefinger und Daumen hervor.
»Sobald sich etwas bewegt, läuft sie und sendet die Daten an den
Streamer. Gleichzeitig ruft sie dich an.« Er packte alles in den
Karton und steckte einen Zettel dazu. »Hier ist der Link. Und hier
ist das Passwort. Damit kannst du das Bild auch sehen, wenn du
nicht in der Nähe bist.«
24
Nun verstand Snæfríður, warum die Leute vom
Wetteramt nicht hatten warten wollen. In kürzester Zeit würde eine
geschlossene Eisfläche auf dem Wasser liegen. Überall bildeten sich
bereits Schollen, die unter dem Bug des Schiffes zerbarsten. In der
Enge zwischen Essingen und Gröndal schimmerte
die Wasseroberfläche schon richtig weiß. Es gab keine stillen
Pausen mehr, in denen nur der Motor und das Schwappen zu hören
waren. Måns stürzte zur Reling und rief Peter auf der Brücke etwas
zu. Der Diesel drehte höher, und hinten am Heck, wo Snæfríður saß,
vermischte sich eine Abgaswolke mit der Seeluft. Die war ihr aus
der Kindheit vertraut, vermisst hatte sie sie jedoch in all den
Jahren nicht.
Sie schlang die Arme um ihren Leib, damit der Wind
nicht unter ihre Jacke kroch. Das Schiff passierte die Brücke. Der
Fjord weitete sich, und damit wurde auch das Eis weniger. Das Boot
hielt sich in der Fahrrinne. Måns hangelte sich am Brückenhäuschen
vorbei und begann, am Heck die Riegel des Krans zu lösen. Snæfríður
stand auf, um nicht im Weg zu sein.
»Wir lassen gleich die Fische ins Wasser«, schrie
Måns gegen den Wind an. Er grinste dabei, als hätten sie sich zu
einem geheimen Plan verbündet.
Die Fische waren aus Metall, glichen kleinen
Raketen von einem Meter Länge und besaßen Flossen am Heck. Måns
löste den letzten Riegel. Die Fische begannen, am Stahlseil zu
baumeln, und senkten sich einer nach dem anderen langsam zum Wasser
hinab. Snæfríður sah zu, wie sich beim Eintauchen ein Rand aus
Wirbeln und Schaum um sie bildete.
Sie folgte Måns in die Kajüte unter der
Brücke.
Er schloss die Tür. Die Monitore liefen bereits.
»Also, jeder Fisch hat ein Seitensichtsonar. Der Computer errechnet
aus den drei Signalen ein räumliches Bild.«
»Verstehe!«, sagte Snæfríður.
»Der Rollstuhl wird eher wie ein Würfel
aussehen.«
Der Boden sah tatsächlich aus wie in der Simulation
im Labor. Die Hauptströme hatten Furchen in den Boden gespült wie
bei einem Canyon.
»Das da sind alte Furchen«, erklärte Måns. »Da
verlief der
Hauptstrom vor einem Jahrtausend. Damals waren die Ufer noch nicht
befestigt.«
»Verstehe!«, sagte Snæfríður.
Nach einigen Felsen war das erste Artefakt, das
auftauchte, allerdings das Gegenteil eines Würfels.
»Das ist Nummer 208.«
Trotz des krümeligen Bildes sah man Odins Auge 208
an einem Seil im Wasser taumeln.
Måns deutete zum Fenster. »Da vorne kommt die
Bucht.«
Der Motor ratterte. Mit tieferem Brummen änderte
das Schiff den Kurs. Über Funk verständigten sich Måns und Peter
darauf, die Bucht in Kreisen abzusuchen.
»Kannst du den Bildschirm im Auge behalten?«, sagte
Måns eine halbe Stunde später zu Snæfríður. »Ich klettere mit
meinem Computer hinauf zu Peter. Wir suchen auf der berechneten
Route.«
Måns war es nach langem Grübeln gelungen, die
Strömung zu bestimmen, in der sich der Rollstuhl bewegt haben
musste, falls er es aus der Bucht geschafft hatte. Das Schiff
verließ das Strandbad und bewegte sich an der Küste von Långholmen
entlang. Snæfríður glaubte, etwas gefunden zu haben, und meldete es
nach oben, aber ihr Fund entpuppte sich als Verankerung einer
Badeplattform. Zum Felsbad hin nahm das Gefälle deutlich zu. Vor
der Westbrücke wendete das Boot und fuhr in etwas weiterer
Entfernung vom Ufer zur Bucht zurück. Dort verstummte der Motor.
Snæfríður hörte die Schritte der beiden Männer auf der Eisenleiter.
Måns riss die Tür auf.
»Wir sind über der Stelle. Peter lässt eine
Sonarkapsel hinab. Sie kann flache, auf dem Grund liegende
Gegenstände identifizieren.«
»Glaubt ihr, dass das etwas bringt? Einen Rollstuhl
hätten wir doch sehen müssen. Es gab viel kleinere Objekte.«
Zum Beispiel einen Campinghocker. Den hatte jemand
von der Brücke geworfen.
»Es gibt keinen Rollstuhl«, murmelte Peter. »Den
hätten wir finden müssen.«
»Wonach suchen wir dann?«
»Irgendetwas muss die Sensoreinheit beschädigt
haben. Ein Rollstuhl war es offenbar nicht.«
Die Sonarkapsel war klein. Peter ließ sie an einem
Seil in die Tiefe.
Snæfríður dachte an die Boje im Labor. »Es kann nur
etwas Spitzes wie eine Eisenstange sein. Etwas anderes passt nicht
durch die Öffnung.«
Peter und Måns schüttelten den Kopf.
»Theoretisch ja«, sagte Måns. »Aber die Stange
müsste ja im Wasser mit der Strömung getrieben haben.«
»Welche Möglichkeit kommt noch in Frage?«
»Eine einzige. Hier muss am vierundzwanzigsten um
15 Uhr 01 ein Boot geankert haben. Direkt vor eurer Leiche.«
25
Das Leben nahm jetzt die Form einer Jagd an, und
das gefiel ihr. Rastlosigkeit stabilisierte ihr Leben. Sofi prüfte
alle Einstellungen, bevor sie ins dunkle Treppenhaus trat. Sie
starrte hinauf zur Decke, bis das Telefon in ihrer Hand vibrierte.
Sie öffnete die Internetseite und konnte sich selbst darauf beim
Stehen im Treppenhaus beobachten. Ziemlich grün, aber dennoch
scharf, wenn man bedachte, wie finster es um sie herum war.
Alles klar, sagte sie zu sich selbst und verschwand
wieder in ihrer Wohnung. Am Küchentisch begutachtete sie noch
einmal den zweiten Brief, der am Nachmittag in ihrem Flur gelegen
hatte. Zwei Tage waren seit dem ersten vergangen, also durfte sie
nicht damit rechnen, dass die Kamera heute Nacht etwas
Interessantes aufzeichnete.
Der zweite Brief glich dem ersten. Wieder war sie
das Motiv. Bei dem Zeichner handelte es sich offensichtlich nicht
um einen Perversen. Die beiden Zeichnungen besaßen nichts
Anzügliches. Ein heimlicher Verehrer also.
Sie hatte heute alle Zeitungen gekauft. Dagens
Nyheter dokumentierte mit seiner aufdringlichen Fixierung auf
Menschen Joakim Karlströms Aufstieg zu Stockholms erfolgreichstem
Gastronom. Als Barkeeper und Student der Ökonomie hatte er begonnen
und dann einige Jahre in New York gelebt. Stockholm sei ihm zu
klein geworden, stand dazu in Dagens Nyheter. Jetzt sei er wieder
hier, weil er ohne diese Stadt doch nicht leben könne. Genau solche
Sachen wollte Dagens Nyheter und ihre Leser hören. Sofi lächelte.
Ihr hatte Joakim erzählt, dass er nur nach New York gegangen sei,
damit Dagens Nyheter zehn Jahre später etwas darüber schreiben
konnte. New York war ein uralter Trick, der in Stockholm immer
funktionierte. Nach seiner Rückkehr hatte er ein altes Hotel
gekauft und die heruntergekommene Hotelhalle in einem halben Jahr
zu Stockholms angesagtestem Nachtlokal verwandelt. Seine Methode
war, nach spätestens zwei Jahren zu verkaufen und sich ein Jahr
lang nicht blicken zu lassen, bevor er mit dem nächsten großen Wurf
zurückkehrte. Das Banana war sein siebtes Lokal. Es war erst einen
Tag alt und schon Legende.
Das Abendblatt erwähnte Joakim nicht einmal. Hier
ging es nur um die vielen hübschen Menschen in und vor allem vor
dem Lokal, die in zahlreichen Fotos abgebildet waren. Auf dem
größten sah man Ernst. Neben seinen Kopf hatte der Grafiker eine
Sprechblase montiert, in der Ernst abgemildert zitiert wurde: Fahrt
zur Hölle, ihr Penner!
26
Über Hulda Júpítersdóttir ist dies zu berichten:
Wäre sie eine Figur in Strindbergs Kopf gewesen, dann hätte die
Glocke der alten Sofiakirche jetzt zehn geschlagen und dabei
Scharen von Vögeln auffliegen und die Krokusse blühen lassen.
Außerdem wäre sie gerade auf dem Weg zu einem Grog-Abend im Kreise
mittelloser Künstler im Lokal Berns.
In der Wirklichkeit blieb die Sofiakirche jedoch
stumm, obwohl anscheinend gerade eine Messe zu Ende ging. Die Tür
öffnete sich, und eine Schar von Menschen trat ins Freie und
steuerte auf die Autos zu.
Hulda stand dreißig Schritte entfernt und
beobachtete das Treiben. Kirchen waren ihr fremd. Für ihren Opa war
Gott immer nur eine Spielfigur gewesen, die in seinen gewagten
Weltgeistgleichungen bei unterschiedlichen Gelegenheiten und in
verschiedenen Kostümen auftauchte und nach Belieben verschoben
werden konnte. Von denen, die am Djúp aufgewachsen waren -
das war ein Fjord, der so tief war, dass man ihn gleich ›die Tiefe‹
nannte -, von denen glaubte so gut wie keiner an den Herrn. Man
musste nur die Gardine beiseiteschieben und hatte mit dem Fjord die
grundlose Tiefe gleich vor der Nase. Gardinen besaßen deshalb alle
in der Nachbarschaft, und wie alle vom Djúp hatte auch der
Großvater an die Unerklärlichkeit des Unerklärlichen geglaubt sowie
an die Kraft seiner beiden Arme.
So war auch Hulda nicht religiös. Wenn sie mit Gott
sprechen wollte, legte sie einfach den Kopf in den Nacken und
blickte in den Himmel.
Hundslappsdrífur - Hundepfotenflocken -
schwebten vom Himmel. Weil um diese Zeit keine Seele mehr unterwegs
war, schlenderte sie mitten auf der schneebedeckten Straße. Später
blieb sie stehen und machte ein Foto von der Häuserflucht, der
Laterne und den vielen Hundepfotenflocken. Als sie den Apparat in
der Tasche ihres Regenmantels verstaute, schien sich das Bild vor
ihr auf einmal im Fluchtpunkt zu öffnen. Dort am fernen Ende
erschien mitten auf der Straße ein kleiner Punkt. Er leuchtete
nicht und war auch zu klein, um ein Auto zu sein. Jemand schien auf
sie zuzuschweben. Der Umriss wurde grö- ßer, und Hulda begriff: Wo
am Tag die Autos fuhren, glitt jemand auf Skiern dahin.
Hulda blieb reglos stehen. Der Skifahrer kam eine
Skilänge vor ihr zum Stehen und schob sich die Skibrille von den
Augen. »Hulda? Verdammt, wie kommst du hierher?«
Hulda wollte jetzt keine Wörter verwenden.
Henning Larsson zog sich die Mütze vom Kopf. Er war
ein wenig außer Atem. »Wie lange bist du schon hier draußen?«
Sie hob die Schultern und lächelte.
»Deine Lippen sind ganz blau. Lass uns etwas
trinken gehen.«
Hulda sah sich um. Die Renstiernas Gatan lag
verlassen da.
»Dort hinten in der Skånegatan. Da kann man sich
aufwärmen.«
Er schnallte seine Skier ab und schwang sie über
die Schulter.
»Fährst du oft Ski?«, fragte Hulda, als sie eine
Weile nebeneinanderher gegangen waren. »In der Stadt, meine
ich.«
Henning dachte angestrengt nach. »Nur im
Winter.«
Sie lachte.
»Das hat schon mein Vater gemacht. Und von ihm habe
ich es. Meinen Hüften tut es gut.«
Die Bar hatte große Fenster, durch die man rote
Wände und Kerzen auf den Tischen sah. Sie reihten sich in die
Anstehschlange. Neugierig wartete Hulda darauf, was Henning
Larsson jetzt vorhatte. Er trug einen in die Jahre gekommenen
Schneeanzug und hatte sich seine Skibrille um den Hals gehängt. Am
meisten fielen natürlich seine Skier auf. Die gut gekleideten Leute
vor ihnen drehten sich um und tuschelten.
Als die Reihe an sie kam, lächelte der Türsteher
zur Begrü ßung, nahm Henning Skier und Stöcke ab wie einen Mantel
und lehnte sie neben sich gegen die Hauswand.
»Den kanntest du«, bemerkte Hulda nach dem
Eintreten. »Sonst hätte der dich nicht reingelassen, in deiner
Montur, und mit mir.«
»Nur ein bisschen. Man muss es immer darauf
ankommen lassen im Leben, weißt du!«
»Das weiß ich.«
»An die Bar vielleicht?«
Dieser Vorschlag gefiel Hulda, schon allein weil
der Mann im Skianzug und das Mädchen im gelben Regenmantel dazu das
gesamte Lokal durchschreiten mussten.
»Was hast du denn Schönes?«, fragte Henning Larsson
den Barkeeper. Seine Stimme klang, als hätte er sich wochenlang auf
diesen Abend gefreut.
Der Mann auf der anderen Seite der Bar musterte
Henning von oben bis zur Hüfte. »Einen Grog vielleicht?«
»Passt gut. Du willst wahrscheinlich keinen Grog,
Hulda.«
Hulda kletterte auf den Hocker. »Hast du zufällig
Absinth?«
Henning drehte sich zu ihr. »Absinth ist so eine
Sache, weißt du. Wenn du unbedingt feiern willst, kannst du es mit
einem Leichtbier probieren.«
Der Mann hinter der Bar verfolgte die Beratung mit
Belustigung. »Absinth trinkt man eigentlich am Nachmittag. Zur
grünen Stunde. Falls den überhaupt jemand trinkt.«
Hulda faltete ihre Hände und schwieg. Sie verstand
nicht, was es noch zu diskutieren gab. Bier war für Dummköpfe,
Absinth
für Poeten. Er konnte die Zukunft zerstören oder prophezeien. Das
war genau das Richtige für sie.
Henning zeigte seinen Ausweis und behauptete, es
handelte sich um eine polizeilich sanktionierte Maßnahme. Sein Grog
kam schnell, der Absinth musste gesucht werden. Der Barkeeper
stellte ein Glas vor Hulda, das wie eine Birne gewölbt war. Hulda
beobachtete genau, wie er etwas Saft hineingab und dann den
Absinth. Sie lächelte.
»Vielleicht noch in Äther getränkte Erdbeeren
dazu?«
»Nein, danke.«
Beim ersten Schluck kniff Hulda die Augen
zusammen. Henning seufzte vor Erleichterung. Er hatte alles darauf
gesetzt, dass sie nach dem ersten Schluck aufgab und sich einen
Weihnachtspunsch bestellte. Für das Trinken besaß sie kein Talent,
das war klar.
Er setzte ein morgenländisches Grinsen auf.
»Und?«
»Wie Zahnpasta. Sonst eigentlich ganz gut.«
Henning genoss die warme Sympathie, die ihm der
Grog entgegenbrachte. »Warum ausgerechnet Absinth?«
»Ich muss eine Reihe von Dingen herausfinden.«
Hulda sprach nicht weiter. Anscheinend lenkte sie der Barkeeper ab.
Er hantierte direkt vor ihnen. Sobald er sich abwandte, glitt Hulda
vom Hocker. Der Barkeeper hatte ihnen nur einige Sekunden lang den
Rücken zugewandt. Dennoch bekam er nicht mit, wie Hulda die Bar
umrundete, eine seiner Schubladen aufzog, eine Tüte mit Erdnüssen
herausnahm und zugleich nach einer Schale griff. Etwa sieben
Sekunden später stand der Barkeeper wieder vor ihnen, doch zu
diesem Zeitpunkt saß Hulda längst auf ihrem Hocker.
»Ich habe uns Erdnüsse besorgt«, flüsterte
sie.
»Ich weiß«, flüsterte Henning zurück. Er hatte ja
direkt davor gesessen und alles mit angesehen. Hulda musste den
Mann
vorher genau studiert haben. Nur so hatte sie wissen können, dass
er genau sieben Sekunden brauchen würde, um drei Meter entfernt
eine Zitrone in Streifen zu schneiden und zurückzukommen. Noch mehr
beeindruckte ihn ihre Entschlusskraft und die Seelenruhe, die Sache
genau so durchzuziehen, wie sie es sich vorgenommen hatte. Daran
scheiterten Kriminelle meist. Sie aber hatte das Zeug für große
Coups, einen Eisenbahnraub zum Beispiel. Was wäre geschehen, wenn
der Barkeeper sich nicht an ihren Zeitplan gehalten hätte?
Henning Larsson schwieg eine Weile und nippte an
seinem Grog. »Mein Kollege behauptet, du hast große Pläne.«
»Man sollte immer große Pläne haben.«
»Dich bringt nichts aus der Fassung, oder?«
»Was sollte das auch sein?« Hulda verzog ihren
Mund.
»Zum Beispiel das hier.« Henning hob seinen Hintern
vom Hocker, beugte sich über die Theke und steckte seine Hände in
den Kübel mit den Eiswürfeln. Ohne hinzusehen, klimperte er laut
mit den Fingern darin herum. Als er die Hände wieder herauszog,
steckte auf jedem Finger ein Eiswürfel.
Huldas Augen weiteten sich. »Wie machst du
das?«
»Die haben an einer Seite ein Loch. Die Eismaschine
macht die hinein.«
Das war Hulda durchaus klar. Die Schwierigkeit lag
darin, mit jeder Fingerkuppe ein solches Loch zu erreichen.
Sie legte sich mit dem Bauch auf die Theke und
steckte ihre Hände in den Kübel. Sie klimperte lange, doch als sie
die Hände herauszog, hatte sie nur einen einzigen Eiswürfel
erwischt. Und der fiel gleich wieder hinunter. »Es muss an deinen
Fingern liegen. Die sind dicker.«
Das war natürlich keine befriedigende Erklärung. Er
sah ihr an, wie es sie zermürbte. »Zehn Eiswürfel«, erklärte
Henning ruhig. »Jeder hat sechs Seiten, aber nur an einer ist ein
Loch. Mit einem Trick ist das nicht zu schaffen. Ich habe lange
in einem japanischen Kloster gelebt, bis ich es so weit gebracht
habe.«
Hulda lachte. Sie mochte unverschämte
Lügengeschichten. In Wahrheit verdankte er alles seiner
Spielernatur. Zum Glück kam sie nicht auf den Einfall, es ihn ein
zweites Mal vorführen zu lassen. Zu seiner Erleichterung war sie
sogar so naiv, es selbst noch einmal zu versuchen. Diesmal
erwischte sie gar keinen Eiswürfel und gab auf.
Das war für Henning der richtige Augenblick. »Deine
Schwester sorgt sich um dich. Angeblich bist du nächtelang
verschwunden. Und das bei der Kälte.«
»Zur Zeit wohne ich bei einem Stukkateur.«
Henning lief es kalt den Rücken herab. »Bei einem
Mann?«
»Da ist nichts dabei. Er ist gar nicht da und hat
mir seine Wohnung zur Verfügung gestellt. Sie ist sehr schön, und
au ßerdem habe ich dort meine Ruhe vor Fredrik.«
Henning wurde abgelenkt. Soeben betrat ein Mann das
Lokal. Er war in Begleitung einer Frau, die er in einem Rollstuhl
vor sich herschob. Offenkundig beschränkte sich ihre Lähmung auf
den Unterleib. Obwohl sie die Arme bewegen konnte, musste der Mann
ihr helfen, den Rollstuhl über die Schwelle zu heben.
Hulda bekam mit, wie Henning das Paar anglotzte,
als hätte er noch nie einen Rollstuhl gesehen.
»Die tote Frau, die wir am Strand gefunden haben,
brauchte auch einen Rollstuhl«, erklärte er.
Hulda hob die Augenbrauen.
»Kennst du Långholmen?«
Sie nickte.
Henning betrachtete wieder die Frau. Der Mann half
ihr gerade aus der Jacke. Elins Lähmung war von anderer Natur.
Ihrer Krankenakte nach betraf sie den gesamten Körper, verursachte
ein dumpfes Gefühl auf der Haut und sorgte dafür, dass Elin sich
zuweilen gar nicht oder nur mit Mühe rühren konnte. Als wären all
ihre Glieder auf einmal eingeschlafen, hatte der Arzt im Bericht
vermerkt. Dann verschwand die Lähmung wieder, und Elin schien
wochenlang gesund.
Henning hatte den Arzt angerufen. Seit zwei Wochen
hatte sie sich in einer Lähmungsphase befunden. Auch wenn sie es
zum Strand geschafft hätte, meinte der Arzt, niemals hätte sie den
Sonnenschirm aufstellen und aufspannen können.
»Wir werden verarscht«, murmelte Henning. »Entweder
tut es ein anderer, oder wir tun es selbst.«