MITTWOCH 26. DEZEMBER

15

Für die Eltern von Elin Gustafsson begann der Morgen mit einer Überraschung. Beim Frühstück, das man eigentlich gar nicht Frühstück nennen konnte, berichteten die Radionachrichten vom Tod ihrer Tochter.
Einige Stunden später stellte Jakob Gustafsson zwei Tassen auf dem kniehohen Tisch in seinem Lesezimmer ab. Der Dampf war deutlich zu sehen und ließ Henning Larsson an ein antikes Orakel denken, bei dem schwefelige Gase aus einer Erdspalte aufstiegen und das Medium beflügelten. Es musste an den niedrigen Stehlampen liegen, dass der Dampf so gut zu sehen war, überlegte Henning Larsson und widmete sich dem Kaffee. Er konnte sich einer Tasse Kaffee auf eine Weise hingeben, dass es andere verunsicherte, bevor es anfing, ihnen auf die Nerven zu gehen. Nun aber zeigte es Jakob Gustafsson, wie viel Zeit sich die Polizei für ihn nahm.
»Um auf deine Frage zurückzukommen«, begann Henning. »Bei der Meldung im Radio und im Fernsehen haben wir den Journalisten nicht nur etwas verraten, sondern die Sache überhaupt erst in Gang gebracht.«
»Das berichtet man doch nicht der Öffentlichkeit«, wandte Gustafsson ein. Er begriff überhaupt nichts.
Henning nickte. Selbstmorde gehörten nicht in die Öffentlichkeit. Doch das hatten die Berichte gar nicht behauptet. Sie ließen keinen Zweifel, dass die Polizei von einem Mord ausging. Der Bericht war ein Schachzug, mit dem Kjell den Mörder aufschrecken wollte. Falls es einen Mörder gab. Zudem suchten sie nach Zeugen und dem Rollstuhl. Henning erklärte es dem Vater, allerdings nur die zweite Hälfte der Wahrheit.
Gustafsson nickte. Die Frage, wohin der Rollstuhl verschwunden war, stand auch ihm ins Gesicht geschrieben.
Henning hatte sich Gustafssons Frau Iris vornehmen wollen, doch sie war seit der Radiomeldung unpässlich. »Weißt du, was man macht, wenn man im falschen Leben feststeckt?«
Gustafsson betrachtete den umfangreichen Polizisten voller Erwartung. Henning ließ seinen Blick über die Buchregale an den Wänden schweifen. »Siebzehn Jahre lang habe ich in der Maria-Wache so gut wie alle Selbstmorde in Södermalm bearbeitet. Das liegt inzwischen einige Jahre zurück, aber dennoch habe ich mich erst gestern Abend in meine Badewanne gesetzt und ein Resümee aus allen Fällen gezogen, die ich damals gesehen habe.«
Gustafsson zwinkerte nervös. Diese Erkenntnis gab es in jedem Verhör mit Henning Larsson. Es war der Wendepunkt, an dem die Leute erkannten, dass ihre Sorglosigkeit unangebracht war. Vor Henning Larsson war man besser auf der Hut.
»Erstens«, begann Henning und spreizte seinen Zeigefinger zum Mitzählen ab. Seine Finger waren dick und als Ausrufezeichen unübersehbar. »Die Ursache kommt von außen. So ist es bei Managern, wenn herauskommt, dass sie ihre Firma in den Sand gesetzt haben. Das können wir außer Acht lassen. Bei der anderen Gruppe kommt die Ursache von innen. Oft geht dem Wunsch zu sterben eine lange Depression voraus. Bei jedem dieser Fälle habe ich festgestellt, dass das Leben vor dem Entschluss zum Stillstand gekommen ist. Da herrschte Leere und Dunkelheit.«
Gustafsson zwinkerte wieder.
»Siehst du in Elins Leben Leere und Dunkelheit?«, fragte Henning.
Gustafsson zögerte. »Mein Einblick in ihr Leben ist alles andere als …«
Henning zog eine Einkaufsquittung aus seiner Reverstasche. »Fünf Tage vor ihrem Tod kauft Elin Gustafsson bei Åhléns am Sergelstorg vier Romane. Die habe ich in ihrer Wohnung gefunden. Sie sind auf Englisch und alle sehr dick.«
Jakob Gustafsson starrte Henning an. In seinem Blick lag auch der Einwand, dass sie die Bücher vielleicht ausgelesen hatte.
»Nicht einmal eines hat sie geschafft«, sagte Henning. »Die anderen sind noch verpackt. Eine Leere sieht für mich anders aus.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Nicht nur ihr Rollstuhl fehlt, auch ihr Computer ist verschwunden. Gestern hast du meiner Kollegin von einem Computer erzählt.«
Gustafsson nickte unruhig. »Ein kleiner weißer, den man tragen kann.«
»Es kommt sehr selten vor, dass man so einen Computer weder in der Tasche stecken noch zu Hause liegen hat. Ich frage mich, wofür sie den Computer benutzte. Bei der Videothek am Hornstull, weit und breit die einzige in ihrer Nähe, hat sie kein Konto. Ihr Telefonanschluss wurde nur für das Telefon verwendet. Kein Datenverkehr. In der Nähe meiner Wohnung gibt es ein Café. Dort sitzen abends viele junge Leute, jeder einzeln und mit einem tragbaren Computer vor sich. Das sind die Dinge, wofür Leute heutzutage einen Computer benutzen.«
»Darüber weiß ich nichts. Über so etwas haben wir nie geredet. Junge Leute brauchen eben einen Computer. Wofür auch immer.«
»Ich stehe nun vor der Schwierigkeit, dass ich weder ihren Computer habe noch weiß, wo und wie sie ihn benutzt hat.«
»Was willst du denn damit herausfinden?«
»Die Gäste in dem Café reden nicht miteinander. Das ist das Witzige daran. Sie unterhalten sich mit Leuten, die ganz woanders sind, aber mit den Menschen, die neben ihnen sitzen, sprechen sie kein Wort.«
»In diesem Alter ist das ganz normal, glaube ich.«
»Und ich glaube, dass es jemand in Elins Leben gab, den wir beide nicht kennen.«

16

Vom Fenster aus entdeckte Kjell, wie sich eine Schar Raben drüben auf dem Sofieberg auf Långholmen niederließ. Er steckte Lilly in ihren Schneeanzug und setzte sie auf den Schlitten. Vögel liebte sie über alles.
Dreißig Meter vor den Raben blieben sie stehen. Er brach ein Stück Brot ab und wies Lilly an, was sie zu tun habe. Daraufhin stapfte sie durch den Schnee, ohne sich dabei den Raben zu nähern. Nach zehn Metern hielt sie an, legte das Brotstück auf den Boden und wandte sich verschwörerisch zu ihrem Vater um.
»Und jetzt kommst du wieder zurück!«
Lilly stapfte zurück. Er gab ihr ein weiteres Stück, das sie zehn Meter entfernt in einer anderen Richtung deponieren sollte. Die Vögel verfolgten das Treiben.
»So«, sagte er, als sie zurückkehrte. »Jetzt nimmst du wieder ein Stück Brot und gehst diesmal zu den Raben. Du gehst genauso weit wie zuvor und legst das Brot auf den Boden, als ob die Raben gar nicht da wären.«
Es funktionierte. Die Raben wussten genau, was Lilly vorhatte: Bei jedem Gang wechselte sie die Richtung um sechzig Grad, legte nach zehn Schritten ein Stück Brot ab und kehrte um.
Lilly war gerade auf dem Rückweg, als der Rabe zum Brotstück hopste. Kjell hatte nicht erwartet, dass es gleich beim ersten Mal klappen würde, aber Lilly war nicht viel größer als die Raben und galt nicht als Gefahr.
»Siehst du«, erklärte Kjell. »Jetzt denken die Raben, sie hätten uns durchschaut. Weil sie keine Fragen nach dem Warum stellen.«
Lilly verstand kein Wort. Die Raben sahen ziemlich glücklich aus. Lilly war auch glücklich und erklärte ihrem Vater, dass die Raben jetzt das Brot hatten.
Sie zogen weiter. Oberhalb des Strandes setzte er sich zu ihr auf den Schlitten und gab ihm Schwung. Nach fünfzig Metern kamen sie zum Stehen, unmittelbar hinter Snæfríður Jómundardóttir. Sie drehte sich überrascht um und nahm Lilly sogleich in die Arme.
»Wie ist die Lage?«, fragte Kjell.
Ein Mann im Taucheranzug stand bis zu den Knien im Wasser und hielt eine Leine.
»Die Verankerung der Boje haben sie entdeckt. Jetzt suchen sie nach dem Rollstuhl.«
»Haben die Patrouillen nichts gefunden?«
»Weder die noch der Suchtrupp. Sie haben heute Morgen von hier aus begonnen und sind jetzt bei der Nordspitze angekommen.«
Im Wasser tat sich etwas. Der Kopf eines weiteren Tauchers drang durch die Oberfläche. Er watete zum Ufer.
Snæfríðurs Telefon klingelte. Sie gab Kjell das Kind zurück und entfernte sich einige Schritte, woran Kjell erkannte, dass der Anrufer ihr Lebensgefährte Fredrik sein musste. Man hörte es auch an ihrer Stimme. Drei Wörter aus Snæfríðurs Mund genügten, damit man verstand, dass zwischen ihr und Fredrik nichts mehr war. Kjell stapfte mit Lilly auf dem Arm zu den Tauchern. Lilly musterte sie neugierig, zog dann eine Scheibe Brot aus der Tasche und hielt sie dem Taucher hin.
»Der hat schon gegessen«, flüsterte Kjell. Lilly wollte das Brot wieder verstauen für andere Wasserbewohner, die bei diesem Wetter eine harte Zeit durchlitten, aber der Taucher war ein Spaßvogel und bedankte sich für das Brot.
»Da ist nichts«, sagte er kauend.
»Wie ist die Strömung?«
»Hier in der Bucht ist sie nicht so stark, aber da vorne an der Verankerung nimmt sie zu.«
»Ist die Verankerung da vorne?«
Der Taucher nickte.
Kjell begann zu zweifeln. War er mit dem Kajak so weit draußen getrieben? Wenn die Strömung erst nach zwanzig Metern begann, wie war der Rollstuhl dorthin gelangt?
Er schloss die Augen, um die Szene noch einmal zu erleben. Aus der Ferne hatte er neulich nicht sehen können, ob Elins Augen offen oder geschlossen waren. Es hatte ausgesehen, als blickte sie auf einen bestimmten Punkt auf dem Wasser. Deshalb hatte er zwei, drei Mal das Ruder eingetaucht und sich weiter hinaus aufs Wasser treiben lassen. Sobald er glaubte, im Fokus ihres Blickes zu sein, hatte er angehalten. Genau an dieser Stelle war die Boje aufgetaucht.
Der Taucher nahm die Kamera aus der Hülle. »Die Verankerung selbst ist intakt. Es ist ein Entkoppelungssystem, das vom Boot aus kurz vor der Ankunft ausgelöst wurde. Die konnten natürlich nicht ahnen, dass genau darüber ein Kajak schwimmt.«
Kjell sah verärgert zu Snæfríður. Sie hatte den Tauchern die ganze jämmerliche Geschichte erzählt.
»Ich habe gleich einen Termin beim Wetteramt«, sagte sie. »Die haben ein kleines Forschungslabor in der Winterbucht. Da liegt auch das Boot.«
Die Taucher begannen, ihre Utensilien zusammenzupacken, und wiesen darauf hin, dass die Eisdecke sich wohl in der Nacht schließen würde und dann keine weiteren Tauchgänge mehr möglich waren.
»Hast du Ärger zu Hause?«, fragte Kjell seine Kollegin. Es war immerhin seine Schuld, dass sie am zweiten Weihnachtstag hier stehen musste.
»Hulda ist erst heute Morgen nach Hause gekommen.«
»Was macht sie denn die ganze Nacht draußen? Bei der Kälte?«
»Sie recherchiert, hat sie zu Fredrik gesagt.«
»Mach dir lieber nicht zu viele Sorgen. Die gute Hulda Jómundardóttir kann ganz gut auf sich aufpassen, glaube ich.«
Snæfríður sah Kjell erstaunt an. Woher er das denn wissen wolle, dachte sie bestimmt. »Sie heißt nicht Jómundardóttir. Jómundur ist mein Vater.«
»Ihrer nicht?«
Snæfríður lachte. »Nein. Wir haben nur dieselbe Mutter.«
»Und wie heißt sie dann?«
»Júpítersdóttir.«
»Wie der Göttervater?«
»Ja, wie der. Hulda Júpítersdóttir.«

17

»Vielleicht hilft es euch, dass auch ich meinen Weihnachtsurlaub abbrechen musste«, begann Inspektorin Barbro Setterlind und ließ ihren Blick an den Angestellten des Telia-Ladens am Ringvägen entlangwandern.
Offenkundig war das nicht der Fall.
Die siebenköpfige Belegschaft hatte sich, wahrscheinlich unbewusst, in einer Reihe aufgestellt und nach ihrer Körpergröße sortiert. Nur einer von ihnen war ein Mann. Er stand nicht in der Reihe, sondern kauerte müde auf einem Hocker an dem Stehtisch, wo man Anträge ausfüllen konnte.
»Barbro ist von der Polizei«, verkündete Sandra Göransson mit der Betretenheit, die ihr als Leiterin des Ladens zustand.
Es beeindruckte Barbro, wie eine so junge Frau am zweiten Weihnachtstag die gesamte Belegschaft hatte herzitieren können, ohne den Anlass zu verraten.
»Ich muss euch leider mitteilen, dass eure Kollegin Elin Gustafsson am Weihnachtsabend gestorben ist.«
Sogar der junge Mann, der noch in den Kleidern vom Vorabend steckte und augenfällig an starken Kopfschmerzen litt, richtete sich am Tisch auf. Die Frauen waren alle jünger als dreißig, also etwa so alt wie Elin. Deshalb löste die Nachricht stummes Entsetzen aus. Am Ende der Ratlosigkeit stellte eine der sechs die Frage.
»Sie wurde am Strandbad auf Långholmen gefunden«, antwortete Barbro.
»Ist es etwa das, was im Radio war?«, fragte eine andere.
Barbro nickte. Die anderen hatten die Nachricht nicht gehört und drehten sich zu ihrer Kollegin. Unruhe kam auf. Die Begriffe Selbstmord und Überfall fielen.
»Sie war krank«, murmelte der Mann.
Barbro hob die Hand und brachte die Leute zum Schweigen. Nach einer Weile fuhr sie fort. »Elin saß in einem Liegestuhl, als der Schnee zu fallen begann. Es fand weder ein Überfall noch Missbrauch statt. Aber es gibt eine Reihe offener Fragen. Ich möchte von euch wissen, ob einer von euch mit Elin befreundet war oder von Bekannten oder Freunden weiß.«
Eine längere Stille trat ein, bis eine der Frauen glaubte, die Stille erklären zu müssen.
»Elin war ja keine Verkäuferin. Sie hat hinten im Büro gearbeitet oder unten im Lager.«
Das wusste Barbro bereits von Sandra Göransson. Elin hatte das Lager verwaltet und technische Aufträge bearbeitet.
»Sie war also kaum hier im Laden?«
Einige nickten. Das war der Grund, warum niemand etwas über Elin zu sagen hatte.
Barbro vollführte eine Dreivierteldrehung zu Sandra, die einen Schritt hinter ihr stand. »Sandra, könntest du bitte für einen Augenblick hinausgehen?«
Sandra nickte und verließ den Laden, stellte sich drau ßen mit dem Rücken zum Schaufenster und begann zu rauchen.
Die sieben Verkäufer kannten die Verkaufsargumente für jedes Produkt und waren mit den Bedienmenüs vertraut. Doch sobald ein Kunde den Laden mit technischen Fragen betrat, war man nach hinten geeilt und hatte Elin geholt. Ihr tieferes Wissen und ihre Arbeit in einem anderen Raum hatten anscheinend auch das soziale Gefüge geprägt. Elin gesellte sich nie zu den anderen, wenn sie sich im Pausenraum unterhielten. Deshalb wussten die sieben nicht einmal das genaue Alter von Elin.
»Über ihr Privatleben wisst ihr also auch nichts?«, erkundigte sich Barbro.
»Sie hat nie etwas erzählt.«
»Vielleicht habt ihr auf andere Weise etwas aufgeschnappt. Hat sie manchmal telefoniert, oder ist jemand hierhergekommen?«
»Nein«, sagte eine der Frauen, die Ann-Marie hieß. »Aber soll ich dir etwas sagen? Ich arbeite seit vier Jahren hier und habe sie kein einziges Mal lächeln sehen, obwohl sie in unserem Alter war. Man fragte sich, was mit ihr los ist. Aber irgendwann war es einem egal.«
»Meist war sie nicht zu sehen«, erklärte der Mann.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Sven.«
Eine Blonde, die deutlich jünger war als die anderen, hob beide Hände. »Könnt ihr euch noch an diesen Kerl erinnern? Im Herbst?« Sie sah Barbro in die Augen. »Einmal kam ich in der Mittagspause mit Ann-Marie an der Espressobar an der Kreuzung vorbei. Das ist nur ein Stand mit drei Hockern. Da saß Elin mit ihm.«
Die anderen nickten. Sie hatten die Szene zwar nicht gesehen, aber umgehend davon erfahren.
Auf einmal ganz in ihrem Element, erzählte sie weiter. Der Mann war am Vormittag vor einigen Wochen, im Oktober oder im September, in den Laden gekommen und hatte nach einem Internetkabel verlangt. Doch die Welt der Verkabelung war nicht die Welt der jungen Andrine Hyttstrand, deshalb hatte sie Elin aus dem Lager geholt.
»Hat er sein Kabel bekommen?«
»Ja, es war aber nicht leicht. Er wusste nicht genau, welchen Anschluss er hat.«
»Und dann habt ihr ihn später draußen mit Elin gesehen?«
»Die haben sich schon hier kennengelernt. Er hat sie auf ihre Halskette angesprochen.«
Obwohl an jenem Samstagvormittag alle viel zu tun gehabt hatten, zog der Vorfall Aufmerksamkeit auf sich. Barbro holte die Kopie der Ermittlungsakte aus ihrer Handtasche. Sie hatte sie bisher nur einmal durchgeblättert, entsann sich jedoch der ungelösten Frage, ob die Halskette wirklich Elin gehört hatte und was der Anhänger bedeutete.
Barbro reichte die Abbildung herum. »Ist es diese Kette?«
Sie war es. Was Elin mit dem Mann wirklich gesprochen hatte, wusste niemand. Daher blieb offen, ob sich die beiden noch im Laden für später verabredet oder zufällig draußen wiedergetroffen hatten.
»Wie alt war er?«
»Er hat mich an David Bowie erinnert«, fand Andrine. Sie war bestimmt Studentin und arbeitete nebenbei hier.
Barbro wusste leider nicht, wie alt David Bowie war. Wahrscheinlich wusste er es selbst nicht.
»Genau«, sagte Andrine. »Man sieht es ihm nicht an, wie alt er ist. Das war bei dem auch so.«
»Eher älter als jünger«, fügte Ann-Marie hinzu. »Er trug einen Hut.«
Mit dem Hut hatte er wie ein Cowboy gewirkt; der Hut war jedoch aus Leder gewesen und nicht so steif. Ein Schlapphut. Der Mann hatte ihn beim Eintreten abgenommen. Das habe ihn eher verwegen als alt aussehen lassen, fand Ann-Marie, aber der Jüngste sei er auf keinen Fall mehr gewesen.

18

Kjell hatte aufgehört zu zählen, wie oft er mit Lilly schon den Hang hinabgerodelt war, als ihm der Rauch über den Wipfeln auffiel. Im Sommer kam er oft her, um zu schwimmen. Daher wusste er zwar, dass dort hinten Häuser lagen, hatte sie jedoch um diese Jahreszeit für unbewohnt gehalten.
Lilly protestierte, als er sie nicht wieder den Hang hinaufzog, sondern den Uferweg einschlug. Das Holzhaus lag nur fünfzig Meter vom Strandbad entfernt. Ein Volvo 240 parkte davor, und durch die Fenster des Hauses drang warmes, aber schwaches Licht. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis nach dem Klopfen ein älterer Mann die Tür öffnete. Kjell hielt ihm seinen Ausweis dicht vors Gesicht. Er machte einen Schritt zurück in die Stube.
»Frohe Weihnachten! Entschuldige die Störung. Wir haben vorgestern dort drüben eine tote Frau in einem Liegestuhl gefunden. Ich wollte fragen, ob du sie vielleicht gesehen hast.«
Der Mann nickte. Erst einen Augenblick später begriff Kjell, dass das Nicken zugleich eine Aufforderung war, ins Haus zu treten. Kjell nahm Lilly auf den Arm.
»Willst du Kaffee haben?«, fragte der Alte.
Kjell nickte und schlüpfte im Flur aus seinen Schuhen. Durch das Wohnzimmer hindurch sah er eine Frau in der Küche vor dampfenden Töpfen hantieren. Im Radio auf der Fensterbank lief Weihnachtsmusik.
Kjell nahm am Tisch Platz und bekam seinen Kaffee. Der Mann, dessen Namen Kjell noch immer nicht wusste, setzte sich dazu und schenkte Lilly Saft in ein Glas, das mit Bamsebären bedruckt war.
»Jaaa«, begann er. »Die haben wir gesehen.«
Die ganze Tatortarbeit ein Chaos, dachte Kjell. »Wann war das genau?«
»Villa!«, rief er über seine rechte Schulter zur Küche. »Wann sind wir am Freitag von den Kindern gekommen?«
»Du meinst Montag«, sagte Kjell. »Heute ist Mittwoch, und vorgestern an Heiligabend war Montag.«
»Ne.« Der Mann hatte den Kopf noch zur Küche gedreht und wartete auf eine Antwort.
Villa, wahrscheinlich Vilhelmina, trat ins Wohnzimmer. »Wir sind um zwei losgefahren. Dann muss es drei gewesen sein oder etwas später.«
Der Mann drehte sich wieder zu Kjell. »Freitag war das. Zwischen drei und vier also.«
»Am Freitag?«
»Ja. Der einundzwanzigste Dezember.«
»Und da habt ihr eine Frau im Liegestuhl gesehen? Am Freitag, dem einundzwanzigsten, und nicht am Montag, dem vierundzwanzigsten?«
Beide nickten. Sie ließen sich nicht von dem Entsetzen beeindrucken, das in Kjells Gesicht getreten war. »Am Montag waren wir überhaupt nicht hier«, sagte die Frau.
Drei Tage, dachte Kjell und blickte skeptisch drein. Elin konnte nicht drei Tage lang dort gesessen haben.
»Am Freitag hat meine Tochter Geburtstag«, sagte jetzt der Mann. »Seit vierzig Jahren hat sie am 21. Dezember Geburtstag. Wintersonnenwende.«
Die beiden hatten bei der Fahrt zum Haus den Liegestuhl unten am Strand gesehen und den Kopf geschüttelt. Wer darin saß, war vom Weg aus nicht zu erkennen gewesen.
»Welche Farbe hatten der Liegestuhl und der Sonnenschirm?«
»Sonnenschirm? Das hätte noch gefehlt! Der Liegestuhl war schon verrückt genug. Aber wir haben uns nicht weiter darum geschert. Soll da jemand sitzen, haben wir uns gedacht.«
Obwohl es zu verrückt war anzunehmen, dass ein weiterer Mensch auf die Idee kommen könnte, sich bei der Kälte mit einem Liegestuhl an den Strand von Långholmen zu setzen, fragte Kjell zur Sicherheit doch noch einmal nach der Farbe. Und tatsächlich waren beide Liegestühle blau.
»Und am Samstag und am Sonntag?«, fragte Kjell. »Wart ihr da vor der Tür?«
Mehrmals am Tag sogar. Das Paar bewohnte das Holzhaus das ganze Jahr über. »Am Freitagabend saß da niemand mehr«, sagte der Alte. »Ich habe ja noch Holz reingeholt. Und am Wochenende auch nicht.«

19

Noch bevor Sofi Johansson die Augen öffnete, wusste sie, wo sie sich befand. Und sie bereute nichts. Keiner der vielen Überschläge in ihrem bald siebenundzwanzigjährigen Leben hatte je Reue nach sich gezogen.
Sie setzte sich auf und blickte über ihre linke Schulter. Es sah nicht danach aus, als würde Joakim Karlström in nächster Zeit erwachen. Das Schlafzimmer lag in goldenem Licht, das durch die Fenster hereinkam. Sie reichten von der hohen Decke bis zum Boden.
Sofi kroch lautlos vom Bett. Viel hatte sie in der Nacht nicht von der Wohnung gesehen, doch als sie durch die offene Tür ins nächste Zimmer schlich, erkannte sie das Sofa wieder, die vor- oder vorvorletzte Station in der letzten Nacht. Darauf und davor lagen kreuz und quer ihre Kleider als erkalteter Schnappschuss.
Erst jetzt ermaß sie die ungeheure Höhe des Raums. Bis hinauf zur schrägen Decke waren es sechs bis sieben Meter. An der entgegengesetzten Wand gab es auf halber Höhe eine Galerie, auf die man über eine Wendeltreppe gelangte.
Sofi verharrte vor dem Sofa. Auch in diesem Raum nahmen die Fenster beinahe die gesamte Wand ein. Eine Querstraße traf genau auf Höhe des Hauses auf die Straße, in der das Haus stand. Die Sonne schwebte als riesiger goldener Ball in der Straßenflucht. Sofi sah die Sonne an, und die Sonne sah sie an. Wann hat man schon die Ruhe dafür, dachten beide.
Da die Straße nach Nordwesten lief, musste die Wohnung nach Südwesten zeigen. Selbst bei einer so luxuriösen Wohnung war bei dieser Himmelsrichtung kein Sonnenaufgang inklusive. Sofi hob ihre Jacke vom Boden auf und kramte nach ihrem Telefon.
Es war 14 Uhr 10 - später, als sie befürchtet hatte. Darüber hinaus hatte sie vier Textnachrichten bekommen und neun Anrufe verpasst.
Sie drehte die Ärmel der Jacke auf rechts und sah sich nach ihrer Unterhose um. Die hing wie ein Sahnehäubchen oben auf der Sofalehne.
Das Telefon begann zu piepsen. Sie wühlte wieder in der Tasche, damit Joakim nicht davon erwachte.
Am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. »Sofi Johansson?«
»Ja.«
»Hier ist Jannika Fager. Wir haben uns auf dem Sommerfest kennengelernt.«
»Sommerfest?«
»Polizeisommerfest. Ich war die Rothaarige vom Wirtschaftsdezernat bei der Bezirkspolizei.«
»Ach so«, log Sofi.
»Sofi, kannst du etwas für mich tun?«
»Was denn?«
»Kannst du zum Schreibtisch gehen?«
»Ich bin nicht im Büro.«
»Hinter dir.«
Sofi drehte langsam den Kopf. Hinter ihr stand in der Mitte des Raumes ein massiver Tisch mit nur einem Stuhl davor. Sie wandte den Blick ab und starrte durch das Fenster. Ohne den Kopf zu bewegen, suchte sie mit ihren Pupillen Fenster um Fenster der Häuser auf der anderen Straßenseite ab. Sie konnte aber nichts entdecken.
Verdammte Hölle, dachte sie.
»Links muss eine Schublade sein«, hörte sie die Stimme der Frau, deren Name ihr nicht mehr in den Sinn kam.
Mit nackten Füßen ging sie zum Schreibtisch. Immerhin hatte sie jetzt ihre Unterhose an. So ließ sie sich auf das Polster des Stuhls sinken. Es gab links eine Schublade. Sofi zog sie auf.
»Vorsicht«, hörte sie. »Der Inhalt darf auf keinen Fall verrutschen.«
»Okay, ist offen.«
»Liegt ein schwarzes Telefon darin?«
»Ja.«
»Ist es eingeschaltet?«
»Kann ich nicht sehen.«
»Gut, präge dir genau ein, wie das Telefon liegt und nimm es heraus.«
Sofi drückte eine Taste. »Ja, es ist an.«
In der Hörmuschel ihres eigenen Telefons stöhnten mehrere Menschen erleichtert auf.
»Sofi, kannst du herausfinden, welche Nummer das Telefon hat?«
Sofi drückte auf einen Knopf und suchte im Menü nach den Betriebseinstellungen. »070184963214.«
»Bist du sicher? Das sieht nicht nach einer schwedischen Nummer aus.«
»Es ist eine internationale Redirect-Nummer«, sagte Sofi. »Die beginnen mit +701. Ihr könnt ja anrufen.«
»Das wäre zu riskant. Es müssten Telefonnummern im Verzeichnis eingetragen sein.«
»Ja.«
»Such bitte nach einem Janne. J-a-n-n-e.«
Sofi begann zu suchen.
»Und?«
»Es ist nach Nachnamen geordnet. Es gibt keinen Janne.«
Eine männliche Stimme fluchte im Hintergrund.
»Bitte schau noch einmal.«
Sofi arbeitete sich von unten nach oben. »Es gibt einen Jon. Jon Ardelius.«
»Moment.«
Am anderen Ende der Leitung war Tastaturgeklapper zu hören.
»Wie lautet die Nummer?«
Sofi las die Nummer vor.
»Nein, das ist er nicht.«
Sofi stöhnte. Wenn sie die Wohnung aus dem Haus gegenüber observierten, hatten sie es gestern Abend schon getan. Die Bezirkspolizei hatte alles auf Video. Verdammt. Sie warf einen Blick zum Schlafzimmer. Dort war alles ruhig.
»Wir schicken eine Textnachricht. Kannst du warten?« Es piepste. »Okay. Öffne die Nachricht und dann das angehängte Video.«
Sofi klickte. Statt eines Filmes liefen Programmzeilen über die Anzeige. Dann erschien das Hauptmenü.
»Du musst die Nachricht aus dem Verzeichnis löschen.«
»Schon gemacht. Fertig?«
»Ja. Vielen Dank.«

20

Barbro Setterlind hatte die Einladung ausgeschlagen, sich am Büfett zu bedienen, und wartete, bis der Hoteldirektor mit zwei Tassen an den Tisch zurückkam. Er öffnete seinen Computer.
»Ich komme vom Telefonladen gegenüber«, begann sie. »Angeblich kaufen viele eurer Gäste dort Kabel, um ihren Computer im Zimmer mit dem Internet zu verbinden.«
Der Direktor war jung und daher eher ein Hotelmanager als ein Direktor. Er nickte und trank zugleich von seinem Espresso. »Nur die Deluxe- und ein Teil der Standard-Zimmer haben drahtlosen Zugang. Oft klappt es auch nicht mit dem Einwählen.«
»Dann schickt ihr sie hinüber, um ein Kabel zu kaufen?«
»Ja. Der Kabelanschluss richtet sich automatisch ein.«
»Ich erzähle dir von meinem Problem, weil wir beide nicht viel Zeit haben. Hier ist eine Liste von Leuten, die in den letzten vier Monaten ein Kabel gekauft haben. Es sind zum Teil Namen, vor allem aber Kreditkartennummern.«
»Kein Problem«, sagte der Hoteldirektor und bettete seine Finger auf die Tastatur.
Die Hotels verlangten nie Gerichtsbeschlüsse.
Sie begann mit der ersten Nummer, als ein korpulenter Mann durch die Halle auf die Bar und den Tisch zusteuerte. Henning Larsson nahm neben Barbro Platz und grüßte.
»Und?«, fragte Barbro ihren Kollegen, während der Hoteldirektor suchte.
»Ich habe sie vorhin auf der Fahrt hierher erreicht. Sie sei krank, sagt sie.«
»Was hat sie?«
»Sie lügt.«
»Sofi reagiert immer so komisch. Das bedeutet nichts.«
»Ich stand eine halbe Stunde vor ihrer Haustür. Sie war nicht da. Ihr Auto habe ich auch nicht gesehen.«
»Du weißt ja, wie sie ist.«
»Sie klang komisch. Gestern schon.«
»Okay«, unterbrach der Direktor. »Das ist eine Frau.«
»Vergiss es. Probieren wir zuerst die Namen auf der Liste. Der erste ist Ardelius, Jon Ardelius.«

21

Der Schnee knirschte unter den Reifen, als Snæfríður den Wagen auf das Ende der Winterbucht zurollen ließ. Sie hatte längst das Ende der Siedlung passiert. Obwohl sie immer mehr daran zweifelte, ob sie hier richtig war, kamen heimische Gefühle in ihr auf. Die Gegend ähnelte den Vororten im Süden Reykjavíks. Wenn man all die Bäume hier und all die hässlichen Betonvillen dort abzog. Das vom Wind aufgeraute Wasser und die Serie von Landzungen verknüpften die beiden Orte in Snæfríðurs Empfinden.
Als sie schon wenden wollte, lugte zwischen den letzten Fichten ein Wellblechhaus hervor. Wellblech war das Stichwort. Zudem lag auch das im Telefonat erwähnte Boot am Ufer. Sie gab ein wenig mehr Gas, umrundete das Gebäude und zog an der Handbremse, so dass der Wagen sich um die eigene Achse drehte.
In der Tür des Flachbaus lehnte ein Mann. Den Ausbruch an Leidenschaft hatte er mit einem Lächeln im Gesicht beobachtet. Seine Haare standen zu Berge, als hätte er gerade geschlafen, und über seinem Kopf ragten hohe Antennen vom Hausdach. Ein Mann, ein Haus, dachte Snæfríður und trat auf den Eingang zu.
»Bist du Snæfríður von der Polizei?«, fragte er, kurz bevor sie bei ihm ankam.
Sie nickte.
Acht Vorhängeschlösser baumelten an der Tür, deshalb ließ sie sich nicht mit einem Ruck schließen.
»Wir hatten vor einigen Monaten einen Einbruch«, erklärte er. Er hieß Måns und war allem Anschein nach der Leiter des Labors. Den Nachnamen hatte er bei ihrem Anruf nicht genannt. »Danach mussten wir so gut wie von vorne beginnen.«
»Ob Vorhängeschlösser da helfen?«
»Wir haben auch eine Alarmanlage, und fünfmal am Tag kommt jemand von Securitas.«
Am Ende des kurzen Ganges tat sich links eine Teeküche auf, die augenfällig nur von Männern benutzt wurde. Der Raum rechts nahm beinahe die gesamte Fläche des Baus ein, der so provisorisch wie die Architektenstube einer Großbaustelle war. Die Einrichtung glich der eines Büros, allerdings mit Lötgelegenheit und einem Metallgestell in der Mitte. Darin hing etwas, und wäre es nicht rund gewesen, hätte Snæfríður auf eine Kirchenglocke getippt.
»Das ist sie«, sagte Måns. »Odins Auge 213.«
Snæfríður legte ihren Mantel auf eine Stuhllehne, ohne den Blick von Odins Auge zu lösen. Dann schritt sie respektvoll darauf zu. Die Kugel hatte dieselbe Größe wie der Sitzball in Barbros Büro. Sie ging in die Knie. »Was wiegt die?«
»Nur achtzig Kilo. Innen ist sie hohl.« Måns fuhr mit dem Zeigefinger am nördlichen Wendekreis der Kugel entlang. »Das ist der Schraubverschluss. Das untere Drittel nimmt der Ballasttank ein. Hier unten sitzt das Ventil. Damit kann sie Wasser ein- und auspumpen und für den idealen Auftrieb sorgen.«
Das dauerte einige Zeit, wie Måns erklärte. »Kurz vor der Ankunft mit dem Boot habe ich über die Fernbedienung die Verankerung gelöst. Eigentlich hätte hier oben eine Lampe leuchten müssen. Das hat sie jedoch nicht getan.«
»Was fehlt ihr denn nun?«
»Man kann ihr so gut wie nichts anhaben. Der Mantel ist ja recht dick. Aber hier oben treten die Sensoren aus.« Dort war ein pilzförmiger Aufbau, der einem Soldatenhelm glich. »Irgendetwas Kleines und Spitzes muss da in den Spalt gekommen sein. Die ganze Sensorik wurde abgerissen.« Måns streichelte die Kugel. »An so einen Fall haben wir bei der Konstruktion nicht gedacht. Wenn ein Schiff dagegenfährt, weicht sie wie ein Punchingball aus. Sie hängt ja an einem Stahlseil.«
»Sie schwebt also im Wasser.«
Måns nickte. Er roch besser, als seine Rasur aussah. Snæfríður behagte das gemeinsame Knien vor der Boje.
»Könnte es ein Rollstuhl sein? Daran stehen doch Griffe und anderes heraus.«
»Ein Rollstuhl ist wohl zu leicht, um einen solchen Schaden anzurichten.«
»Es muss sich um einen Elektrorollstuhl handeln. Die sind ziemlich schwer.«
Måns stemmte sich in den Stand. »Ich frage mich, wie lange er schwimmt.«
Snæfríður blieb noch einige Sekunden lang am Boden.
»Immerhin sind es zwanzig Meter«, gab er zu bedenken. »Und wenn er sinkt, kommt es auf seine Form an, ob er von der Strömung mitgezogen wird. Eure Taucher haben ihn ja nicht im Umkreis gefunden.«
»Die Taucher halten auch für möglich, dass er gar nicht schwamm. Bei seinem Gewicht ist er vielleicht ins Wasser gerollt, ohne je den Kontakt zum Boden zu verlieren. Kurz nach dem Ufer fällt der Grund steil ab. Unter Wasser ist er dann auf die Boje zugerollt oder -gepurzelt.«
»Einen Tee vielleicht?«
Trotz des verrohten Zustands der Teeküche nickte Snæfríður.
Bis einige Minuten später die Teebeutel herausmussten, hatte Måns das Szenario zu Ende gedacht. »Aber wenn er wirklich auf dem Grund rollte, wäre bei der Boje Schluss gewesen. Der Rollstuhl müsste noch an der Stelle liegen. Das Gefälle endet dort.«
»Verstehe«, antwortete Snæfríður und blies über ihren Tee.
»Aber an Rollstühlen und Kinderwagen hängen doch immer Beutel. Damit man etwas reinlegen kann.«
Snæfríður schwieg. Von Unterwasserzauber verstand sie nichts.
»Komm mal mit.«
Sie folgte ihm zurück ins Büro. Dort nahmen sie vor einem großen Bildschirm Platz.
»Es liegt ja viel Gerümpel dort unten, aber das bleibt liegen und gefährdet die Bojen nicht.« Er griff nach der Maus. Auf dem Bildschirm erschien eine Karte des Gebiets.
»Du fürchtest, der Rollstuhl könnte seine Teufelsfahrt fortsetzen?« Das würde sein Verschwinden erklären.
Måns konnte auf seiner Karte mit einem Streich das Wasser aus dem gesamten Fjord abpumpen. Übrig blieb das Bodenrelief.
»Der Grund fällt vom Nord- zum Südufer ab. Dort um Långholmen herum fließt also die Hauptströmung. Deshalb liegen die Mälarwerft und die Schiffe mit größerem Tiefgang im Süden am Söder Mälarstrand.«
»Und die Motorboote im Norden am Norr Mälarstrand.«
»Ganz genau!« erwiderte Måns und drückte beschwingt mehrere Tasten auf seiner Tastatur.
Im leeren Mälarbecken erschien ein roter Faden. Er wand sich um Långholmen und reichte bis zum Norrström, dem Hauptkanal am Reichstag. Weitere Fäden entstanden und wanden sich wie Muskelfasern umeinander. Immer mehr Fäden in anderen Farben kamen hinzu, und als Snæfríður sie nicht mehr auseinanderhalten konnte, geschah etwas Neues: Die Fäden vereinigten sich erst zu dickeren Schläuchen, bekamen eine ganz neue Dynamik, bildeten Massen mit Farbverläufen. Oben rechts stand der 24. Dezember, 15 Uhr 00. Die Sekundenanzeige raste. Måns’ Finger sauste auf eine Taste. Alles stoppte. 15 Uhr 01 und 19 Sekunden.
»Da hat Odins Auge Alarm geschlagen.«
Sie betrachteten den erstarrten Mälarstrom, bevor Snæfríður sich nach ihrer Tasche umsah und sie auf dem Tisch neben der Boje entdeckte. Sie holte die Ermittlungsakte.
»Die Boje wurde um 15 Uhr 01 beschädigt?«, fragte sie.
»Ja.«
»Aber ihr seid erst um sieben dort eingetroffen.«
»Wir mussten das Boot klarmachen.«
Snæfríður fand die Zeittabelle in der Akte. Die Gerichtsmedizin legte den Todeszeitpunkt auf die Stunde zwischen ein und zwei Uhr in der Nacht fest. So lange hätte Elin tot dort sitzen müssen, damit ihr Körper auf die Temperatur abfiel, die Suunaat am Strand gemessen hatte. Das war unmöglich, wenn man Esbjörn Fors glaubte, denn am Morgen hatte er sie nicht gesehen. Dafür aber bei seiner zweiten Tour um 15 Uhr 15. Vierzehn Minuten zuvor war die Boje beschädigt worden. Da blieb nur eine Erklärung: Elin war erst seit 15 Uhr 01 am Strand gewesen. Und die Kernkörpertemperatur ließ nur einen Schluss zu: Jemand hatte sie zu der Stelle gebracht, lange, nachdem sie gestorben war, und vierzehn Minuten, bevor Esbjörn Fors zu seiner zweiten Runde eintraf.
»Ist es möglich, mit dem Programm zu bestimmen, wohin die Strömung den Rollstuhl getrieben hat?«
»Natürlich. Das Programm ist phänomenal. Eigentlich müsste man dafür den Nobelpreis bekommen.«
»Willst du damit sagen, dass du das alles programmiert hast?«
»Ich? Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie Mimir funktioniert.«
»Funktioniert?«
»Mimir kennt jeden Kubikmeter Wasser auf 42 Kilometern Länge. Und das auf dieser lahmen Kiste. Sie hat nicht mal acht Gigabyte Arbeitsspeicher. Aber auf einem tragbaren Computer liefe es auch.«
»Das beruht alles auf den Daten, die die Bojen liefern?«, erkundigte sich Snæfríður.
»Wir haben nur dreihundert Bojen. Weiter den Fjord hinauf reicht unser Etat noch nicht. Ohne das Programm würden wir achttausend Bojen und mehrere Großrechner brauchen. Wir können uns nicht erklären, wie es solche komplexen Szenarien erstellt. Alles Chaostheorie, weißt du.«
Måns wechselte in eine andere Ansicht, bei der wieder einzelne Fäden erschienen. Es mussten Millionen sein.
»Die Sache hat einen Haken. Das Programm kann zwar Mikroströmungen darstellen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihm das befehlen soll.« Er stand auf, öffnete das Fenster und rief. Ein Mann trat von außen ans Haus. Måns stellte ihn als Peter vor. Er war deutlich älter, und wie bei allen Männern seines Namens, denen Snæfríður in ihrem Leben begegnet war, war sein Haar dicht und lockig. »Hast du eine Ahnung, ob man mit Mimir bestimmen kann, wie sich ein Objekt im Wasser bewegt?«
»Wahrscheinlich schon.« Peter kratzte sich am Kopf. »Der Programmierer lebt allerdings in Irland. Den wirst du heute nicht erreichen. Vielleicht weiß Ardelius, wie es geht.«
Måns nickte betrübt und schloss das Fenster. Peter trottete zum Ufer zurück.
»Jetzt sehen wir dumm aus«, sagte Måns und seufzte.
»Wer ist dieser Ardelius?«
»Er ist der Mathematiker, der das Differential entwickelt hat, auf dem Mimir beruht. Die Programmierung ist keine große Sache, der Algorithmus durchaus. Wir sind erst nach einiger Zeit darauf gekommen, dass Mimir keine wilden Schätzungen und Hochrechnungen liefert. Wir wollten die Software erst selbst entwickeln, aber unser Chef in Norrköping hat lieber einen externen Mathematiker aus Stockholm engagiert. Das ist bei uns eigentlich unüblich. Wir waren natürlich nicht gerade erfreut, ein fertiges Programm vorgesetzt zu bekommen. Als die Bojen schwammen und wir Mimir zum ersten Mal laufen ließen, um die Messgenauigkeit zu testen, trauten wir unseren Augen nicht. Ich bin mir sicher, dass wir den Rollstuhl damit finden.«

22

Kjell drückte auf die Klingel von Elin Gustafsson und machte sich auf Pers grimmiges Gesicht gefasst. Doch die Laune des Cheftechnikers war alles andere als normal.
»Wir haben was«, sagte Per. »Komm rein.«
Im Flur knöpfte Kjell seinen Mantel auf. An den Wänden, vor allem aber an den Möbeln klebten Markierungen. Pers Assistent Lasse trat mit zwei Koffern aus dem Zimmer und setzte sie neben der Tür ab. Alle waren bereit für den Feierabend.
»Larssons Bauch hat recht. Es gibt tatsächlich jemand. Überall in der Wohnung finden sich Abdrücke. Sie stammen weder von Elin noch von ihrer Familie.«
Sie betraten das große Zimmer. Das dritte Mitglied der Kriminaltechnik war Jenna. Sie war dabei, alles zu fotografieren, und grüßte mit ihrem transzendenten Lächeln, auf das Kjell ganz versessen war.
»Ein Mann oder eine Frau?«, fragte Kjell.
Per zuckte mit den Schultern. »Wissen wir nicht. Wir haben nur vom Zeigefinger einen kompletten Abdruck. Zweierlei ist interessant: Die Abdrücke sind nicht allzu alt und finden sich nur an frei herumliegenden Gegenständen und der Kommode dort. Im Bad und in der Küche ist nichts.«
»Was ist mit dem Computer?«, fragte Kjell.
»Wir kennen zumindest die Marke. Im Keller haben wir die Verpackung und im Flur noch etwas Zubehör gefunden.«
Kjell seufzte und blickte umher, um sich einen Eindruck von der Wohnung zu verschaffen.
»Die Person ist in höchstem Grad verdächtig«, sagte Per. »Ihr Abdruckmuster verrät, dass sie vor kurzem hier war, nach etwas gesucht hat und nicht länger als eine Viertelstunde blieb.«
»Warum das?«
»Die Hände. Sie konnten sich nicht aufwärmen. Dann wären sie feucht geworden und hätten bessere Abdrücke hinterlassen.«
Kjell seufzte noch einmal.
»Habt ihr den Rollstuhl?«, fragte Per.
Kjell schüttelte den Kopf. Um die Zimmerlampe kreiste eine Mücke. Wo die um diese Jahreszeit herkam, blieb auch ein Rätsel.
Per kratzte sich am Kopf. »Ziemlich teurer Spaß inzwischen. Du näherst dich der Fünfzig-Mannstunden-Grenze. Ohne Materialkosten.«
Kjell nickte. Seine Bewegungen waren jetzt ruppiger.
»Was sagt denn die Speckrobbe?«, machte Per weiter.
»Das Schlafmittel und die Kälte. Das ist die endgültige Todesursache.«
»Eigentlich ist daran nichts besonders verdächtig. Nur der Rollstuhl fehlt dir. Für den brauchst du eine gute Erklärung.«

23

Sofi erhob sich von der Sitzbank, als sie die Tür am Ende des Ganges zufallen hörte und sich Schritte näherten. Da kam Zweigkberg auch schon um die Ecke geeilt. Seine Sohlen quietschten immer beim Gehen. Er war nur ihretwegen ins Polizeigebäude gekommen.
»Ah, Sofi Johansson, was gibt es denn?«
Sofi lächelte und streckte ihm das Formular hin, das er in vollem Schwung annahm. Beim Weitergehen wehte es gegen seine Brust. Vor der Tür seines Büros suchte er eine Weile an seinem riesigen Schlüsselbund herum. Innen roch es nach Lebkuchen.
»Nimm Platz«, sagte Zweigkberg und betrachtete das Formular. »Eine RS-3 mit Restlichtverstärker braucht ihr also. Wie lange denn?«
»Drei Tage?«
»Hier steht ›Wohnungsüberwachung Långholmsgatan 7‹. Da braucht ihr wahrscheinlich auch den Streamer dazu.«
Sofi nickte. Zweigkberg verschwand in einem angrenzenden Raum. Kurz darauf hörte sie ihn in Regalen kramen und eine Schachtel herausziehen.
Er kehrte zurück und schaltete seinen Computer ein. »Die Fernüberwachung ist nicht besonders gut. Besser wäre ein Telefon.« Zweigkberg nahm den Rekorder aus dem Karton, schloss ihn an den Computer an und programmierte Sofis Telefonnummer in den Speicher.
Schließlich griff er noch einmal in den Karton und hob eine kleine Kamera zwischen Zeigefinger und Daumen hervor. »Sobald sich etwas bewegt, läuft sie und sendet die Daten an den Streamer. Gleichzeitig ruft sie dich an.« Er packte alles in den Karton und steckte einen Zettel dazu. »Hier ist der Link. Und hier ist das Passwort. Damit kannst du das Bild auch sehen, wenn du nicht in der Nähe bist.«

24

Nun verstand Snæfríður, warum die Leute vom Wetteramt nicht hatten warten wollen. In kürzester Zeit würde eine geschlossene Eisfläche auf dem Wasser liegen. Überall bildeten sich bereits Schollen, die unter dem Bug des Schiffes zerbarsten. In der Enge zwischen Essingen und Gröndal schimmerte die Wasseroberfläche schon richtig weiß. Es gab keine stillen Pausen mehr, in denen nur der Motor und das Schwappen zu hören waren. Måns stürzte zur Reling und rief Peter auf der Brücke etwas zu. Der Diesel drehte höher, und hinten am Heck, wo Snæfríður saß, vermischte sich eine Abgaswolke mit der Seeluft. Die war ihr aus der Kindheit vertraut, vermisst hatte sie sie jedoch in all den Jahren nicht.
Sie schlang die Arme um ihren Leib, damit der Wind nicht unter ihre Jacke kroch. Das Schiff passierte die Brücke. Der Fjord weitete sich, und damit wurde auch das Eis weniger. Das Boot hielt sich in der Fahrrinne. Måns hangelte sich am Brückenhäuschen vorbei und begann, am Heck die Riegel des Krans zu lösen. Snæfríður stand auf, um nicht im Weg zu sein.
»Wir lassen gleich die Fische ins Wasser«, schrie Måns gegen den Wind an. Er grinste dabei, als hätten sie sich zu einem geheimen Plan verbündet.
Die Fische waren aus Metall, glichen kleinen Raketen von einem Meter Länge und besaßen Flossen am Heck. Måns löste den letzten Riegel. Die Fische begannen, am Stahlseil zu baumeln, und senkten sich einer nach dem anderen langsam zum Wasser hinab. Snæfríður sah zu, wie sich beim Eintauchen ein Rand aus Wirbeln und Schaum um sie bildete.
Sie folgte Måns in die Kajüte unter der Brücke.
Er schloss die Tür. Die Monitore liefen bereits. »Also, jeder Fisch hat ein Seitensichtsonar. Der Computer errechnet aus den drei Signalen ein räumliches Bild.«
»Verstehe!«, sagte Snæfríður.
»Der Rollstuhl wird eher wie ein Würfel aussehen.«
Der Boden sah tatsächlich aus wie in der Simulation im Labor. Die Hauptströme hatten Furchen in den Boden gespült wie bei einem Canyon.
»Das da sind alte Furchen«, erklärte Måns. »Da verlief der Hauptstrom vor einem Jahrtausend. Damals waren die Ufer noch nicht befestigt.«
»Verstehe!«, sagte Snæfríður.
Nach einigen Felsen war das erste Artefakt, das auftauchte, allerdings das Gegenteil eines Würfels.
»Das ist Nummer 208.«
Trotz des krümeligen Bildes sah man Odins Auge 208 an einem Seil im Wasser taumeln.
Måns deutete zum Fenster. »Da vorne kommt die Bucht.«
Der Motor ratterte. Mit tieferem Brummen änderte das Schiff den Kurs. Über Funk verständigten sich Måns und Peter darauf, die Bucht in Kreisen abzusuchen.
»Kannst du den Bildschirm im Auge behalten?«, sagte Måns eine halbe Stunde später zu Snæfríður. »Ich klettere mit meinem Computer hinauf zu Peter. Wir suchen auf der berechneten Route.«
Måns war es nach langem Grübeln gelungen, die Strömung zu bestimmen, in der sich der Rollstuhl bewegt haben musste, falls er es aus der Bucht geschafft hatte. Das Schiff verließ das Strandbad und bewegte sich an der Küste von Långholmen entlang. Snæfríður glaubte, etwas gefunden zu haben, und meldete es nach oben, aber ihr Fund entpuppte sich als Verankerung einer Badeplattform. Zum Felsbad hin nahm das Gefälle deutlich zu. Vor der Westbrücke wendete das Boot und fuhr in etwas weiterer Entfernung vom Ufer zur Bucht zurück. Dort verstummte der Motor. Snæfríður hörte die Schritte der beiden Männer auf der Eisenleiter. Måns riss die Tür auf.
»Wir sind über der Stelle. Peter lässt eine Sonarkapsel hinab. Sie kann flache, auf dem Grund liegende Gegenstände identifizieren.«
»Glaubt ihr, dass das etwas bringt? Einen Rollstuhl hätten wir doch sehen müssen. Es gab viel kleinere Objekte.«
Zum Beispiel einen Campinghocker. Den hatte jemand von der Brücke geworfen.
»Es gibt keinen Rollstuhl«, murmelte Peter. »Den hätten wir finden müssen.«
»Wonach suchen wir dann?«
»Irgendetwas muss die Sensoreinheit beschädigt haben. Ein Rollstuhl war es offenbar nicht.«
Die Sonarkapsel war klein. Peter ließ sie an einem Seil in die Tiefe.
Snæfríður dachte an die Boje im Labor. »Es kann nur etwas Spitzes wie eine Eisenstange sein. Etwas anderes passt nicht durch die Öffnung.«
Peter und Måns schüttelten den Kopf.
»Theoretisch ja«, sagte Måns. »Aber die Stange müsste ja im Wasser mit der Strömung getrieben haben.«
»Welche Möglichkeit kommt noch in Frage?«
»Eine einzige. Hier muss am vierundzwanzigsten um 15 Uhr 01 ein Boot geankert haben. Direkt vor eurer Leiche.«

25

Das Leben nahm jetzt die Form einer Jagd an, und das gefiel ihr. Rastlosigkeit stabilisierte ihr Leben. Sofi prüfte alle Einstellungen, bevor sie ins dunkle Treppenhaus trat. Sie starrte hinauf zur Decke, bis das Telefon in ihrer Hand vibrierte. Sie öffnete die Internetseite und konnte sich selbst darauf beim Stehen im Treppenhaus beobachten. Ziemlich grün, aber dennoch scharf, wenn man bedachte, wie finster es um sie herum war.
Alles klar, sagte sie zu sich selbst und verschwand wieder in ihrer Wohnung. Am Küchentisch begutachtete sie noch einmal den zweiten Brief, der am Nachmittag in ihrem Flur gelegen hatte. Zwei Tage waren seit dem ersten vergangen, also durfte sie nicht damit rechnen, dass die Kamera heute Nacht etwas Interessantes aufzeichnete.
Der zweite Brief glich dem ersten. Wieder war sie das Motiv. Bei dem Zeichner handelte es sich offensichtlich nicht um einen Perversen. Die beiden Zeichnungen besaßen nichts Anzügliches. Ein heimlicher Verehrer also.
Sie hatte heute alle Zeitungen gekauft. Dagens Nyheter dokumentierte mit seiner aufdringlichen Fixierung auf Menschen Joakim Karlströms Aufstieg zu Stockholms erfolgreichstem Gastronom. Als Barkeeper und Student der Ökonomie hatte er begonnen und dann einige Jahre in New York gelebt. Stockholm sei ihm zu klein geworden, stand dazu in Dagens Nyheter. Jetzt sei er wieder hier, weil er ohne diese Stadt doch nicht leben könne. Genau solche Sachen wollte Dagens Nyheter und ihre Leser hören. Sofi lächelte. Ihr hatte Joakim erzählt, dass er nur nach New York gegangen sei, damit Dagens Nyheter zehn Jahre später etwas darüber schreiben konnte. New York war ein uralter Trick, der in Stockholm immer funktionierte. Nach seiner Rückkehr hatte er ein altes Hotel gekauft und die heruntergekommene Hotelhalle in einem halben Jahr zu Stockholms angesagtestem Nachtlokal verwandelt. Seine Methode war, nach spätestens zwei Jahren zu verkaufen und sich ein Jahr lang nicht blicken zu lassen, bevor er mit dem nächsten großen Wurf zurückkehrte. Das Banana war sein siebtes Lokal. Es war erst einen Tag alt und schon Legende.
Das Abendblatt erwähnte Joakim nicht einmal. Hier ging es nur um die vielen hübschen Menschen in und vor allem vor dem Lokal, die in zahlreichen Fotos abgebildet waren. Auf dem größten sah man Ernst. Neben seinen Kopf hatte der Grafiker eine Sprechblase montiert, in der Ernst abgemildert zitiert wurde: Fahrt zur Hölle, ihr Penner!

26

Über Hulda Júpítersdóttir ist dies zu berichten: Wäre sie eine Figur in Strindbergs Kopf gewesen, dann hätte die Glocke der alten Sofiakirche jetzt zehn geschlagen und dabei Scharen von Vögeln auffliegen und die Krokusse blühen lassen. Außerdem wäre sie gerade auf dem Weg zu einem Grog-Abend im Kreise mittelloser Künstler im Lokal Berns.
In der Wirklichkeit blieb die Sofiakirche jedoch stumm, obwohl anscheinend gerade eine Messe zu Ende ging. Die Tür öffnete sich, und eine Schar von Menschen trat ins Freie und steuerte auf die Autos zu.
Hulda stand dreißig Schritte entfernt und beobachtete das Treiben. Kirchen waren ihr fremd. Für ihren Opa war Gott immer nur eine Spielfigur gewesen, die in seinen gewagten Weltgeistgleichungen bei unterschiedlichen Gelegenheiten und in verschiedenen Kostümen auftauchte und nach Belieben verschoben werden konnte. Von denen, die am Djúp aufgewachsen waren - das war ein Fjord, der so tief war, dass man ihn gleich ›die Tiefe‹ nannte -, von denen glaubte so gut wie keiner an den Herrn. Man musste nur die Gardine beiseiteschieben und hatte mit dem Fjord die grundlose Tiefe gleich vor der Nase. Gardinen besaßen deshalb alle in der Nachbarschaft, und wie alle vom Djúp hatte auch der Großvater an die Unerklärlichkeit des Unerklärlichen geglaubt sowie an die Kraft seiner beiden Arme.
So war auch Hulda nicht religiös. Wenn sie mit Gott sprechen wollte, legte sie einfach den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel.
Hundslappsdrífur - Hundepfotenflocken - schwebten vom Himmel. Weil um diese Zeit keine Seele mehr unterwegs war, schlenderte sie mitten auf der schneebedeckten Straße. Später blieb sie stehen und machte ein Foto von der Häuserflucht, der Laterne und den vielen Hundepfotenflocken. Als sie den Apparat in der Tasche ihres Regenmantels verstaute, schien sich das Bild vor ihr auf einmal im Fluchtpunkt zu öffnen. Dort am fernen Ende erschien mitten auf der Straße ein kleiner Punkt. Er leuchtete nicht und war auch zu klein, um ein Auto zu sein. Jemand schien auf sie zuzuschweben. Der Umriss wurde grö- ßer, und Hulda begriff: Wo am Tag die Autos fuhren, glitt jemand auf Skiern dahin.
Hulda blieb reglos stehen. Der Skifahrer kam eine Skilänge vor ihr zum Stehen und schob sich die Skibrille von den Augen. »Hulda? Verdammt, wie kommst du hierher?«
Hulda wollte jetzt keine Wörter verwenden.
Henning Larsson zog sich die Mütze vom Kopf. Er war ein wenig außer Atem. »Wie lange bist du schon hier draußen?«
Sie hob die Schultern und lächelte.
»Deine Lippen sind ganz blau. Lass uns etwas trinken gehen.«
Hulda sah sich um. Die Renstiernas Gatan lag verlassen da.
»Dort hinten in der Skånegatan. Da kann man sich aufwärmen.«
Er schnallte seine Skier ab und schwang sie über die Schulter.
»Fährst du oft Ski?«, fragte Hulda, als sie eine Weile nebeneinanderher gegangen waren. »In der Stadt, meine ich.«
Henning dachte angestrengt nach. »Nur im Winter.«
Sie lachte.
»Das hat schon mein Vater gemacht. Und von ihm habe ich es. Meinen Hüften tut es gut.«
Die Bar hatte große Fenster, durch die man rote Wände und Kerzen auf den Tischen sah. Sie reihten sich in die Anstehschlange. Neugierig wartete Hulda darauf, was Henning Larsson jetzt vorhatte. Er trug einen in die Jahre gekommenen Schneeanzug und hatte sich seine Skibrille um den Hals gehängt. Am meisten fielen natürlich seine Skier auf. Die gut gekleideten Leute vor ihnen drehten sich um und tuschelten.
Als die Reihe an sie kam, lächelte der Türsteher zur Begrü ßung, nahm Henning Skier und Stöcke ab wie einen Mantel und lehnte sie neben sich gegen die Hauswand.
»Den kanntest du«, bemerkte Hulda nach dem Eintreten. »Sonst hätte der dich nicht reingelassen, in deiner Montur, und mit mir.«
»Nur ein bisschen. Man muss es immer darauf ankommen lassen im Leben, weißt du!«
»Das weiß ich.«
»An die Bar vielleicht?«
Dieser Vorschlag gefiel Hulda, schon allein weil der Mann im Skianzug und das Mädchen im gelben Regenmantel dazu das gesamte Lokal durchschreiten mussten.
»Was hast du denn Schönes?«, fragte Henning Larsson den Barkeeper. Seine Stimme klang, als hätte er sich wochenlang auf diesen Abend gefreut.
Der Mann auf der anderen Seite der Bar musterte Henning von oben bis zur Hüfte. »Einen Grog vielleicht?«
»Passt gut. Du willst wahrscheinlich keinen Grog, Hulda.«
Hulda kletterte auf den Hocker. »Hast du zufällig Absinth?«
Henning drehte sich zu ihr. »Absinth ist so eine Sache, weißt du. Wenn du unbedingt feiern willst, kannst du es mit einem Leichtbier probieren.«
Der Mann hinter der Bar verfolgte die Beratung mit Belustigung. »Absinth trinkt man eigentlich am Nachmittag. Zur grünen Stunde. Falls den überhaupt jemand trinkt.«
Hulda faltete ihre Hände und schwieg. Sie verstand nicht, was es noch zu diskutieren gab. Bier war für Dummköpfe, Absinth für Poeten. Er konnte die Zukunft zerstören oder prophezeien. Das war genau das Richtige für sie.
Henning zeigte seinen Ausweis und behauptete, es handelte sich um eine polizeilich sanktionierte Maßnahme. Sein Grog kam schnell, der Absinth musste gesucht werden. Der Barkeeper stellte ein Glas vor Hulda, das wie eine Birne gewölbt war. Hulda beobachtete genau, wie er etwas Saft hineingab und dann den Absinth. Sie lächelte.
»Vielleicht noch in Äther getränkte Erdbeeren dazu?«
»Nein, danke.«
 
Beim ersten Schluck kniff Hulda die Augen zusammen. Henning seufzte vor Erleichterung. Er hatte alles darauf gesetzt, dass sie nach dem ersten Schluck aufgab und sich einen Weihnachtspunsch bestellte. Für das Trinken besaß sie kein Talent, das war klar.
Er setzte ein morgenländisches Grinsen auf. »Und?«
»Wie Zahnpasta. Sonst eigentlich ganz gut.«
Henning genoss die warme Sympathie, die ihm der Grog entgegenbrachte. »Warum ausgerechnet Absinth?«
»Ich muss eine Reihe von Dingen herausfinden.« Hulda sprach nicht weiter. Anscheinend lenkte sie der Barkeeper ab. Er hantierte direkt vor ihnen. Sobald er sich abwandte, glitt Hulda vom Hocker. Der Barkeeper hatte ihnen nur einige Sekunden lang den Rücken zugewandt. Dennoch bekam er nicht mit, wie Hulda die Bar umrundete, eine seiner Schubladen aufzog, eine Tüte mit Erdnüssen herausnahm und zugleich nach einer Schale griff. Etwa sieben Sekunden später stand der Barkeeper wieder vor ihnen, doch zu diesem Zeitpunkt saß Hulda längst auf ihrem Hocker.
»Ich habe uns Erdnüsse besorgt«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, flüsterte Henning zurück. Er hatte ja direkt davor gesessen und alles mit angesehen. Hulda musste den Mann vorher genau studiert haben. Nur so hatte sie wissen können, dass er genau sieben Sekunden brauchen würde, um drei Meter entfernt eine Zitrone in Streifen zu schneiden und zurückzukommen. Noch mehr beeindruckte ihn ihre Entschlusskraft und die Seelenruhe, die Sache genau so durchzuziehen, wie sie es sich vorgenommen hatte. Daran scheiterten Kriminelle meist. Sie aber hatte das Zeug für große Coups, einen Eisenbahnraub zum Beispiel. Was wäre geschehen, wenn der Barkeeper sich nicht an ihren Zeitplan gehalten hätte?
Henning Larsson schwieg eine Weile und nippte an seinem Grog. »Mein Kollege behauptet, du hast große Pläne.«
»Man sollte immer große Pläne haben.«
»Dich bringt nichts aus der Fassung, oder?«
»Was sollte das auch sein?« Hulda verzog ihren Mund.
»Zum Beispiel das hier.« Henning hob seinen Hintern vom Hocker, beugte sich über die Theke und steckte seine Hände in den Kübel mit den Eiswürfeln. Ohne hinzusehen, klimperte er laut mit den Fingern darin herum. Als er die Hände wieder herauszog, steckte auf jedem Finger ein Eiswürfel.
Huldas Augen weiteten sich. »Wie machst du das?«
»Die haben an einer Seite ein Loch. Die Eismaschine macht die hinein.«
Das war Hulda durchaus klar. Die Schwierigkeit lag darin, mit jeder Fingerkuppe ein solches Loch zu erreichen.
Sie legte sich mit dem Bauch auf die Theke und steckte ihre Hände in den Kübel. Sie klimperte lange, doch als sie die Hände herauszog, hatte sie nur einen einzigen Eiswürfel erwischt. Und der fiel gleich wieder hinunter. »Es muss an deinen Fingern liegen. Die sind dicker.«
Das war natürlich keine befriedigende Erklärung. Er sah ihr an, wie es sie zermürbte. »Zehn Eiswürfel«, erklärte Henning ruhig. »Jeder hat sechs Seiten, aber nur an einer ist ein Loch. Mit einem Trick ist das nicht zu schaffen. Ich habe lange in einem japanischen Kloster gelebt, bis ich es so weit gebracht habe.«
Hulda lachte. Sie mochte unverschämte Lügengeschichten. In Wahrheit verdankte er alles seiner Spielernatur. Zum Glück kam sie nicht auf den Einfall, es ihn ein zweites Mal vorführen zu lassen. Zu seiner Erleichterung war sie sogar so naiv, es selbst noch einmal zu versuchen. Diesmal erwischte sie gar keinen Eiswürfel und gab auf.
Das war für Henning der richtige Augenblick. »Deine Schwester sorgt sich um dich. Angeblich bist du nächtelang verschwunden. Und das bei der Kälte.«
»Zur Zeit wohne ich bei einem Stukkateur.«
Henning lief es kalt den Rücken herab. »Bei einem Mann?«
»Da ist nichts dabei. Er ist gar nicht da und hat mir seine Wohnung zur Verfügung gestellt. Sie ist sehr schön, und au ßerdem habe ich dort meine Ruhe vor Fredrik.«
Henning wurde abgelenkt. Soeben betrat ein Mann das Lokal. Er war in Begleitung einer Frau, die er in einem Rollstuhl vor sich herschob. Offenkundig beschränkte sich ihre Lähmung auf den Unterleib. Obwohl sie die Arme bewegen konnte, musste der Mann ihr helfen, den Rollstuhl über die Schwelle zu heben.
Hulda bekam mit, wie Henning das Paar anglotzte, als hätte er noch nie einen Rollstuhl gesehen.
»Die tote Frau, die wir am Strand gefunden haben, brauchte auch einen Rollstuhl«, erklärte er.
Hulda hob die Augenbrauen.
»Kennst du Långholmen?«
Sie nickte.
Henning betrachtete wieder die Frau. Der Mann half ihr gerade aus der Jacke. Elins Lähmung war von anderer Natur. Ihrer Krankenakte nach betraf sie den gesamten Körper, verursachte ein dumpfes Gefühl auf der Haut und sorgte dafür, dass Elin sich zuweilen gar nicht oder nur mit Mühe rühren konnte. Als wären all ihre Glieder auf einmal eingeschlafen, hatte der Arzt im Bericht vermerkt. Dann verschwand die Lähmung wieder, und Elin schien wochenlang gesund.
Henning hatte den Arzt angerufen. Seit zwei Wochen hatte sie sich in einer Lähmungsphase befunden. Auch wenn sie es zum Strand geschafft hätte, meinte der Arzt, niemals hätte sie den Sonnenschirm aufstellen und aufspannen können.
»Wir werden verarscht«, murmelte Henning. »Entweder tut es ein anderer, oder wir tun es selbst.«