20
Am nächsten Morgen aufzustehen ist mir nicht möglich. Ich liege mit dem Anklang einer düsteren Vorahnung im Bett, räuspere und kratze mich, nur um mir zu beweisen, dass ich noch existiere. Es muss Nachmittag sein, als das Telefon klingelt, kurze, schrillende Adrenalinschübe. Hinter Smuts’ Stimme höre ich das Geklapper und Geschrei einer Jugendstrafanstalt; ein Stöhnen hier, ein Jaulen dort, und jeder Laut hallt zwischen eisernen Oberflächen. Er braucht einen Augenblick und ein paar Worte auf Japanisch, bis er alleine ist. Mit dem Knie schiebe ich das Tablett mit kaltem Frühstück zur Seite.
»Gabriel«, sagt er endlich, »habt ihr Fotzen mich vergessen oder was?«
»Hä?« Ich versteife mich. »Natürlich nicht, wieso denn?«
»Ich weiß, die Wege des Herrn sind unergründlich, aber sag mir wenigstens, was zur Hölle da abgeht. Ich lebe in Gefängnisjahren, und die vergehen mit der Geschwindigkeit der letzten Schulstunde. Ich warte immer noch darauf, dass Didi oder Satou mich hier rausholen.«
»Aber – hattest du denn keine Besprechung mit dem Basken?«
»Einen Scheiß hatte ich. Seit diesem Anruf auf der Polizeiwache hatte ich überhaupt nichts mehr. Meine einzige Vermutung ist, dass er im Peninsula sitzt und an sich rumspielt. Wahrscheinlich sogar in deinem Zimmer, ha.«
»Äh, nein – er ist hier. Sein Kollege hat mir gesagt, dass ihr Kontakt und einen Plan habt. In Berlin läuft alles unter Volldampf, sozusagen in Hundejahren.«
»Was?« Das Tivolihirn lädt eine Kugel. »Und hat er gesagt, was für ein Plan das sein soll? Falls er irgendwas mit mir zu tun haben sollte, wäre es verdammt schön, davon zu hören, bevor ich am Montag wegen Mord verknackt werde.«
Mich durchrieselt ein Frösteln. »Smuts – die haben mir gesagt, dass alles unter Kontrolle ist. Sie organisieren hier schon das Bankett.«
»Tja, wenigstens etwas – immerhin ist er von unserem Ort noch angefixt. Fuck sei Dank! Hat er mich im Zusammenhang mit dem Menü erwähnt? Das einzig Gute an meiner Situation hier ist nämlich: Ich habe Zeit gehabt, um mir ein paar echt feiste Menüs auszudenken.«
»Hm, na ja – über so was wird er sich kaum mit mir unterhalten.« Das eisige Flimmern breitet sich immer weiter in mir aus, das Zimmer verschwimmt mir vor den Augen – nicht wegen dem, was er schon gesagt hat, sondern wegen dem, was noch kommen wird. Ein langsames Dämmern, das Heraufziehen einer schrecklichen Erkenntnis. »Bislang habe ich nur gehört, dass sie eventuell einen kleinen Tiger besorgen können.«
»Was? Einen Tiger? Schlechter Zug, überrascht mich – Katzen sind Kacke.«
»Ich glaube, er hat gesagt, dass es nicht allzu Haute Cuisine werden soll, sondern eher symbolisch. Einfache, schmackhafte Zutaten.«
»Putain, wenn es auf eine Katze hinausläuft, könnte es sein, dass wir nur mit dem Schwanz arbeiten können. Es sei denn, es ist ein Junges, ein ausschließlich mit Milch ernährtes Tier – ist es ein Junges? Wenn es ein Junges ist, sag ihm, er soll sofort anfangen, ihm nur noch Milch zu geben, ich schätze, das braucht mindestens acht bis zehn Wochen. Je schneller ich damit zu tun kriege, desto besser – sag ihm, er soll mit dem Menü noch warten. An was für einen Termin haben sie denn gedacht?«
»Hm – ziemlich bald, glaube ich.« Ich weiche zurück, mir ist inwendig übel.
»Okay, hör zu, Putainel – wenn sie so scharf sind auf den Ort und sogar schon übers Menü nachdenken, dann wäre es gewieft, den Deal jetzt unter Dach und Fach zu bringen. Am besten heute, wenn’s geht, hier drüben wird’s ungemütlich. Aber denk dran, mit wem du es zu tun hast, also geh cool und abgebrüht vor. Und was auch immer du tust, verschaff ihnen um scheiß Himmels Willen noch nicht zu viel Zugang zum Flughafen! Nicht, bis sich hier drüben nachweislich was getan hat! Klar? Das ist der einzige Trumpf, den wir in dieser Welt noch haben, also vermassele es nicht. Wir haben die Macht – aber nur, solange wir die Kontrolle über die Schlüssel haben.«
Whoosh. Und mit ernsthafter, nachweislich unbestreitbarer, ja sogar perfekter Rationalität leitet Smuts damit ein, was das Endspiel aller Endspiele sein muss – das letzte Finale von vielen, der Endpunkt einer Sphinx und all derer, die glücklos genug waren, ihren vom Pech verfolgten Pfad zu kreuzen. Denn ich habe – wie alle kleinen Leute, die den Master umwerben – den Schlüssel zur Rettung gegen einen Flecken Sonnenlicht auf Leinen, ein Daunenkissen und ein Frühstück im Bett eingetauscht.
Daraus kann für mich nur eines folgen: Geh den Weg alles Irdischen. Umarme den bleichen Priester der Verstummten, gib den Geist auf, setz über den Styx, gib den Löffel ab, bezahle die Schuld, die wir alle bezahlen müssen, stich in See – verpiss dich einfach und verrecke.
In der darauf folgenden Nacht brauche ich sämtliche verbliebenen Rauschmittel auf, leere die Mini-Bar und weine, bis meine Atemwege völlig verklebt sind. Und als im Gefolge dieses einsamen Exzesses der Mittwoch anbricht, gehe ich nach draußen, um der Welt ein letztes Mal ins Auge zu sehen. Einer anderen Welt als vorher. Sie ist jetzt die Welt des Masters, heimgesucht von Parasiten, Eindringlingen und diversen Krankheitserregern.
Ich trete hinaus und fühle mich wie der Urquell dieser Infektion.
Als ich in Tempelhof ankomme, herrscht dort die Betriebsamkeit eines Bienenstocks. An den Flanken des Flughafens stehen riesenhafte Lieferanteneingänge offen, während Tieflader mit Blinklichtern, begleitet von Horden von Männern auf unbekannter Mission, wichtigtuerisch hin und her piepsen. Wie ein Fels in der Brandung steht inmitten all dessen das Küchenmobil und pumpt moderne Beats in die Luft – und an der Theke steht eine schwarz gekleidete Gestalt.
Wie ein Film-Noir-Spion hat er den Kragen aufgestellt – fast stößt er gegen den salopp aufgesetzten Homburg – und wippt rhythmisch auf den Fersen mit.
Als ich in weitem Bogen näher komme, erkenne ich ihn: Es ist Gottfried Pietsch.
Mein körperlicher Zustand entspricht dem eines Menschen, der nach langer Krankheit den Tag seiner letzten Atemzüge durchlebt; ein Bein ist steif geworden und schleift traurig hinterher, meine Arme lassen sich nicht mehr von den Rippen lösen, und meine Hände biegen sich wie Klauen nach innen. Ich versuche, ohne gesehen zu werden an dem Wagen vorbeizukommen, und gerade, als ich glaube, es geschafft zu haben, raunzt mich von hinten eine Stimme an: »Engländer – falls du nach Specht suchst: Drinnen ist er nicht.« Gottfried hat sich nicht umgedreht, sondern durch den Hinterkopf auf mich angelegt. Ich gehe zu ihm.
Nachdem ich zugesehen habe, wie er das Bierglas an die Lippen führt, wie sich die elegante Pilskrawatte um das erhobene Glas dreht und wie er das Getränk zurück auf die Bar stellt, sagt er, noch immer, ohne sich direkt an mich zu wenden: »Du weißt nicht zufällig was über eine Filmproduktion, die hier läuft?«
»Hm«, huste ich. »Kann ich nicht behaupten, nein.«
Diese Antwort bringt ihn nach einer steinernen Pause dazu, herumzuschwenken und mir ins Gesicht zu starren. Ich schaffe es, seinem eisblau stechenden Blick ein, zwei Sekunden standzuhalten – es ist, als würde man direkt in die Sonne schauen –, dann weiche ich blinzelnd aus. Nach einem weiteren Moment des Schweigens macht er eine kleine Zeremonie daraus, sich eine dicke Zigarre aus der Brusttasche zu ziehen und mit ihr den Columbiadamm hinaufzudeuten, wo zwei Gestalten unter einem Baum auf der Bordsteinkante sitzen. Die eine, mit dem Kopf in den Händen und dem Telefon am Ohr, ist Gerd. Ich bedanke mich und gehe hin. Neben Gerd sitzt Anna und malt mit einem Zweig Spiralen auf den Boden.
»Bah! Was?«, höre ich beim Näherkommen Gerds Stimme beben. »Aber sie haben auch den Kiosk kaputt gemacht, und da geht es nicht darum, wer das meiste Geld hat, sondern darum, wie man fair mit Kleinunternehmern umgeht. Was? Ich weiß, dass der Flughafen auch Geld verdienen muss, aber es gehört sich ja wohl, die Mieter frühzeitig zu warnen.«
Anna steht auf und streift den Hosenboden ihrer Jeans ab: »Was willst du hier?«, zischt sie mir zu. »Das passt jetzt gar nicht, sie wollen Gerds Abschiedsparty absagen.«
»Oh nein, das tut mir leid – wer denn? Das geht doch nicht.«
»Irgendein Event hat das Terminal auf den letzten Drücker gemietet. Gerd macht den Kiosk jetzt früher dicht. Es ist alles schon schlimm genug heute – da musst du nicht auch noch hier rumschleichen.«
»Aber die können euch doch nicht verbieten, den Laden zu öffnen. Ich dachte, man kann das Terminal nur für besondere Anlässe und erst nach Betriebsschluss mieten?«
Ihre Augen werden schmal. »Das stimmt. Aber ob wir geöffnet haben oder nicht, ist ohnehin egal – der Wagen da drüben gibt Essen umsonst aus. Wieso kennst du dich eigentlich mit den Terminal-Regeln aus?«
Ich stehe da, sage nichts, schwanke vor mich hin und gehe dann zum nächsten Baum, wo ich mich abstütze und wie ein Dreifüßler aufrecht halte. »Hm, tja – muss ich wohl irgendwo aufgeschnappt haben.«
Sie fährt fort: »Und wegen dieser Veranstaltung dürfen wir am Freitagabend noch nicht mal mehr das Gebäude betreten. Gerd spricht gerade mit einem Anwalt, so geht’s einfach nicht.«
Ich nicke und sehe weg, versuche, gegen den aufwallenden Schmerz anzugehen. Das also ist der Master-Limbus des Kapitalismus, ein Feuersturm, der nicht nur alles verheert, was ihm im Weg ist, sondern auch den Sauerstoff der ganzen Umgebung verbraucht, um seinem gefräßigen Vakuum Futter zu geben, der sogar Lungen aussaugt, die weit entfernt sind von seinen Siedlungen. Neben uns wendet ein nachdrücklich piepender Lkw, und in seinem Piepsen höre ich den Limbus krähen: »Verlierer, Verlierer.«
Gerd sieht zu uns herüber. »Ach, Frederick, hat Anna es dir schon erzählt? Sie wollen die Party verbieten, aber ich habe den Kampf noch nicht aufgegeben. Nein, mein lieber Herr Gesangsverein. Nicht, solange ich noch Luft in den Lungen habe.« Er nickt kurz vor sich hin, dann sieht er hinüber zu dem Mobil. »Hast du Gottfried gesehen? Jemand hat ihm erzählt, dass es eine Filmproduktion ist – haa.«
Nach diesem kurzen Einbruch des Leichtsinns fällt sein Gesicht in sich zusammen, in einen Zustand entschlossenen Trauerns, und sein Blick heftet sich starr auf die andere Straßenseite.
Anna sieht auf die Uhr und sagt zu ihm:
»Ich gehe jetzt«, sagt sie. »Soll ich dieselben holen wie immer?«
»Ja, die billigsten«, nickt Gerd. »Vielleicht hilft dir der Dichter ja beim Tragen.«
»Pff.« Anna mustert mich. »Der Dichter? Das erklärt so einiges. Nicht, dass es darauf hinausläuft, dass ich ihn tragen darf.« Sie wendet sich an mich: »Bist du fit genug für einen Spaziergang?«
»Ja«, sage ich, »wenn ich behilflich sein kann.« Ehrlich gesagt, bin ich froh, hier wegzukommen, wo alles piepst und summt wie ein Schwarm Killerinsekten, die jeden Augenblick losschlagen.
Annas Eclair-große Tasche hängt über ihrer Schulter, und ich stelle fest, dass ich mir wünsche, sie enthielte genau das Eclair, für das sie entworfen wurde. Aber Anna zieht ein Taschentuch daraus hervor und reicht es mir. Unter meinem Nasenloch zeigt sich Blut; ich tupfe es ab.
»Und wo soll ich sie hinstellen?«, fragt sie Gerd.
»Bring sie runter in den Lagerraum – hier sind die Schlüssel.«
Wir gehen also auf Mission für Gerd, wer weiß, wohin oder wozu, aber es ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann, und vorwurfsvoller als hier kann es sich dort auch nicht anfühlen. Vielleicht stabilisiert ein Spaziergang meinen Zustand sogar so weit, dass ich ein bisschen Weisheit zusammengekratzt bekomme, denn während ich hinter Anna hertapere und dem Auf und Ab ihres Hinterns in der Jeans zusehe, werde ich daran erinnert, dass mein Leben vorbei ist. Mich erwartet nur noch der Tod, wo sich rein gar nichts mehr bewegt, weder auf noch ab. Ich schlurfe als Gespenst durch die Gegend, und während der Flughafenlärm hinter uns abebbt, wird mir klar, dass ich die Ruhe dieser Stunden, den Raum der breiten, pragmatischen Berliner Straßen und das Fehlen profitgieriger Zwischenwelten nutzen muss, um auf einen raschen Tod zu sinnen – und zwar einen ohne Bankett.
Bis zur Ampel an der Schöneberger Straße ist Anna schweigsam.
»Warst du schon immer so?«, fragt sie dann. »Oder hat dich Gerds Spezialparty so ruiniert?«
»Du wurdest vermisst bei dieser Party«, sage ich.
»Pff, ich habe bittere Tränen vergossen, dass ich nicht da war.«
»Hm. So ist es mir immer bei Familienfesten gegangen.«
»Mit denen habe ich kein Problem«, sagt sie und sieht mich missbilligend an. »Außer, dass sie in Dresden stattfinden.«
Als wir die Straße überqueren, gibt sie sich alle Mühe, den Abstand zwischen uns zu wahren. Erst als ein imposantes Gebäude vor uns auftaucht, denke ich daran, sie nach unserem Auftrag zu fragen.
»Aufbewahrungskisten«, sagt sie. »Um den Kiosk wegzupacken.«
In meinem Magen rumort es.
Was da vor uns aufragt, ist Ikea.
Der Laden ist riesig, ein FLUGHAFEN für Produkte. Allein um den Parkplatz zu überqueren, brauchen wir gefühlte Stunden. Mein Herz schlägt nur noch schwach, als der Schatten des Gebäudes auf uns fällt, und unser Gespräch verläuft im Sand, während ich nach Notausgängen und Fluchtorten Ausschau halte. Links vom Eingang, wo Horden ameisenartiger Käufer mit ihren Waren auf- und abwogen, erstreckt sich wie an einer Landesgrenze ein Wall aus Kassen ins Unendliche. Dort geht es nur raus. Türen zur Rechten führen in eine Eingangshalle mit einem Fahrstuhl, der ein Stockwerk nach oben fährt, wo wir in einen gekennzeichneten Kanal geraten, der sich durch Fluten von Möbeln und Hausrat windend in der Ferne verliert. Mir bricht kalter Schweiß aus. Der Weg führt durch Untiefen, Wogen und Ströme elementarer Einrichtungsgegenstände, vorbei an Schöpfkellen und Regalen, Töpfen, Kissen, Sofas und Tischen.
Alles bewegt sich nur in eine Richtung. Ich fühle mich zunehmend unwohl.
»Ich glaube, ich gehe mal schnell auf eine Zigarette raus.« In einer Ansammlung von Badezimmerlösungen bleibe ich stehen, in einer Art Nebengewässer abseits des Gezeitenstroms. Auch zwei andere Ladenbesucher strudeln kurz hierher, werden aber bald in tiefere Möbel weitergespült. Ich sehe zu, wie sie in einem Treibgutstrom aus Getränkehaltern, Seifenschalen und Mülleimern hinweggequirlt werden.
»Was ist los mit dir?«, fragt Anna spöttisch.
»Es kommt mir so vor, als wären wir schon meilenweit gelaufen.«
»Pff – wir sind noch nicht mal halb durch.«
Ein Akteur auf meiner inneren Bühne kippt tot um. Eisige Panik lässt alles um mich herum rotieren, ich mache kehrt und fliehe, zurück und vorbei an Schöpfkellen, Bücherregalen und Sofas, bis ich mit dreschflügelartig rudernden Armen kopfüber auf den Fahrstuhl zustürze.
Aber die Türen sind geschlossen. Es gibt keinen Abwärts-knopf.
Über das Geländer hinweg kann ich durchs Fenster die Welt sehen, Leute, die draußen in Freiheit umhergehen, plaudern, rauchen.
Doch für mich gibt es kein Entkommen.
Der Laden ist ausbruchssicher entworfen worden.
Ich atme durch. Ein Schwede hat mich in einem Möbelmarkt gefangen. Verkatert. Irgendwo weit weg hat ein boshafter, in Kaschmir gekleideter Agent des Master-Limbus diese Menschenfalle perfektioniert. Für ihn sind wir Ratten, Profiteinheiten von so dürftigem Wert, dass er Einweg-Aufzüge für angebracht hält, für den Fall, dass besseres Wissen eine der Ratten dazu verleitet, dem Labyrinth nicht bis zur Kassenschleuse folgen zu wollen.
Es ist ein Shopping-Laboratorium. Ein Gehege menschlicher Schwäche.
Das Werk von Kräften, die in ihrer Gier nach Gewinn vor nichts zurückschrecken.
Und das in Berlin! Der Stadt des Volkes! Der Schmerz wird zu groß. Wenn sie sich schon bis hierher ausgebreitet hat, diese Infektion – dann muss sie wirklich überall sein.
Ich sehe mich nach Leichen um. Unmöglich, dass jede Ratte kräftig genug gewesen ist, das hier durchzustehen. Dann stürze ich zurück durch das Kaufhaus, passiere Meilen nordischer Kiefer und lege mich vorsichtig in die Kurven, bis sich das Erdgeschoss vor mir öffnet wie eine Hafenmündung. Vor mir am Ufer rollen Einkaufswagen über im Chaos versinkende Kaianlagen, und ich bewege mich auf den dahinterliegenden Damm aus Kassen zu. Eine wundersame Kraft treibt mich dorthin, meine Schritte werden länger, meine Arme arbeiten wie Kolben, mein Blick schießt pfeilschnell nach links und rechts, um die kürzeste Schlange ausfindig zu machen.
Aber es gibt keine kürzeste.
Die Kassen sind verstopft mit transportfähigen Verwundeten.
Ich husche hierhin, ich husche dorthin, aber meine Hände sind leer, die Verbraucher verstehen meinen Mangel an Waren nicht, das hier ist ein Club für diejenigen, die welche haben, die den Waren fest verbunden sind. Ich bin ein Ketzer, eine entartete Zelle, und wie alle Organismen in der Gegenwart von Abweichlern rotten sie sich zusammen, um mir den Weg zu versperren und mich abzuwehren. Meine Freiheitsberaubung ist total, es ist eine Szene aus Orwells entsetzlichstem Alptraum: Ratten wuseln wie betäubt durch die Gegend, mit Produkten, die noch nicht mal zusammengebaut sind.
Der Schwede hat das Immunsystem von Menschenmengen berechnet!
In Todesangst und mitten durch ein Flakfeuer aufgebrachter Rufe und Ellbogenchecks durchbreche ich schließlich eine nicht ganz so dicht gefügte Schlange und springe über den Einkaufswagen einer älteren Dame hinweg in die Freiheit.
Irgendwann findet Anna mich mit zuckenden Gliedmaßen neben einem Hot-Dog-Wagen auf dem Parkplatz wieder. »Lass mich raten.« Sie stellt ihre Kisten ab. »Ein Mann, der nicht gerne shoppen geht.«
»Das ist Freiheitsberaubung, ferngesteuerte Sodomie.«
»Pff.« Sie wirft einen Blick gen Himmel. »Ohne Ikea würde ganz Berlin auf dem Boden schlafen. Ikea passt hier total gut hin – schlicht, günstig und cool. Der Laden des Volkes.«
»Das Volk steht also auf Massenvergewaltigung?«
»Was soll das denn? Hat dir jemand eine Knarre an den Kopf gehalten? Das ist ein Geschäft! Man kauft ein und geht wieder. Und wer nicht will, geht halt nicht hin.« Sie schickt ihren Worten einen stieren Blick hinterher und sieht sich dann halbherzig um, als würde sie schauen, ob jemand anderes sie nach Hause begleiten könnte.
»Du findest mich nicht besonders sympathisch, oder?« Ich zünde mir eine Zigarette an.
»Hast du denn irgendwelche sympathischen Eigenschaften?«
»Ich glaube schon.«
»Und zwar?«
»Na ja.« Ich nehme einen tiefen Zug und stoße eine Rauchtrompete aus.
Sie wartet, bis mein Schweigen Antwort genug ist. Beim Hochschauen sehe ich ihre kleinen, scharfen Zähne auf mich herablächeln, Haarsträhnen hängen ihr über die Stirn.
»Hm«, sage ich, »dann sind wir uns wohl in einer Sache einig.«
»Ha, ha, genau. Du bist furchtbar – und komplett egozentrisch.«
Das ist so atemberaubend unverschämt, dass ich lachen muss.
»Und du bist voreingenommen und grob. Ein trübseliges deutsches Mädchen.«
»Dankeschön.« Sie macht einen verächtlichen Knicks.
Wir müssen wieder lachen, ein Lachen, das vor Erleichterung über eine ausgesprochene Wahrheit glockenhell klingelt, und ich denke daran, wie wenig Wahrheit mein bisheriges Leben geziert hat, und frage mich, woher Anna die Stirn hat, es just jetzt damit zu zieren. Vielleicht ist sie der erste Akt des vor meinem inneren Auge rückwärts ablaufenden Lebens, die Wegbereiterin fürs Bekenntnis meiner Sünden und für die Begegnung mit meinem Schöpfer. Es würde durchaus zu den Enthusiasmen passen, mir erst jemanden wie sie zu schicken und mich dann mit dem Geist der zukünftigen Weihnacht zum Horror-Shopping zu schicken, damit ich mit eigenen Augen sehe, wie sich die Welt der Menschen in einen Irrgarten wuselnder Ratten verwandelt. Der Tod ist also nahe, und als ich aufblicke, merke ich, dass Anna mich mustert, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Wahrheiten auch ankommen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen derart offenen Austausch mit einem fremden Menschen gehabt zu haben. Es fühlt sich an wie eine Ohrfeige.
»Du bist ja völlig hinüber«, sagt sie schließlich. »Brauchst du ein paar Pommes mit Mayo?«
»Gern, aber nur, wenn deine Meinung über mich dann nicht noch schlechter wird.«
»Ha, ha.« Sie geht auf den Wagen zu. »Wie soll das denn gehen.«
Für einen Euro bekommt man ein kleines Tablett voller Pommes Frites. Wahrscheinlich hat eine Wohltätigkeitsorganisation den Wagen im Rahmen eines Opferhilfeprogramms geschickt. Duft steigt von den Fritten in mein Gesicht, süß schmerzen die Kanäle und Drüsen meines Körpers, als sie mir die Kehle hinuntergleiten. Beim Essen sehe ich dem Strom von Geiseln zu, die mit ihren Lasten aus dem Warenhaus quellen, während Vögel ganz in der Nähe herumhüpfen und unsere Nahrung bedrohen. Wie es aussieht, sind die Natur, ein nordischer Systemvergewaltiger und eine verachtenswerte Sphinx die Eckpfeiler eines Tableaus, in dem sich das gesamte moderne Leben in all seiner Entsetzlichkeit zeigt.
»Ich glaube, auch Gisela kann mich nicht besonders gut leiden«, sage ich bedächtig.
»Leiden? Gisela hasst dich. Sie kann dich nicht ausstehen.«
»Oh? Hm.«
»Bist du da noch nicht drauf gekommen? Deswegen ist sie doch weggefahren! Gerd und sie hatten einen Riesenkrach. Nachdem du bei der Party aufgetaucht warst, hat der Streit angefangen. Sie war dagegen, für dein Essen aufzukommen. Und Gerd hat immer nur gesagt: Aber er hat doch den besten Wein mitgebracht, Gabriel hat den besten Wein mitgebracht. Es nahm kein Ende, irgendwann sind sie bei seinem Club damals in Prenzlauer Berg gelandet. Stimmt es, dass dein Vater ihn damals bestohlen hat?«
»Na ja – zumindest sagt Gerd das. Ich war noch ein Kind.«
»Deswegen also.« Sie hält inne und starrt mich an. »Dein Vater bestiehlt ehrliche Menschen, und du stellst dich als grässlich und egomanisch heraus.«
»Könntest du nicht mal wenigstens ein ganz kleines bisschen lügen, nur so aus Höflichkeit?«
»So was wie: Vielleicht gibt es noch Hoffnung für dich?«
»Ha, ha, ha.« Mein Kopf kippt mir in den Schoß.
Sie sieht, dass das gesessen hat, und fängt ebenfalls an zu lachen.
»Ha, ha, ha.« Ich stolpere zu einem Mülleimer, hebe den Deckel und bespritze ihn mit halbverdautem Pommesschaum.
Anna wendet sich ab, wobei sie bestätigend vor sich hinnickt. Als es irgendwann wieder geht, schleppe ich ihre Kisten zum Flughafen. Mein Tag hat sich aufgelöst, mein Körper ist ein Wrack, mein Charakter wurde runtergebrochen auf das, was er ist: nicht viel wert.
»Hat Spaß gemacht«, keuche ich, als der Flughafen wieder auftaucht.
»Dir vielleicht. Du scheinst ja die Zeit zu haben, blutend in der Gegend rumzurennen und Ehen kaputt zu machen. Warum bist du eigentlich wirklich hier?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen. Du bist auch nicht gerade die typische Kiosk-Angestellte. Bist du so was wie eine Wahrheitswächterin? Ein frei herumlaufender stumpfer Gegenstand?«
»Pff, ich tue, was ich kann. Ich spare mir einen Urlaub zusammen.«
»Bei dem, was du im Kiosk verdienst, findet der dann schätzungsweise im nächsten Jahrtausend statt.«
»Ich helfe Gerd aus, bevor ich losfahre. Im letzten Jahr habe ich am Potsdamer Platz gearbeitet. Als die Schließung verkündet wurde, war Gerd sicher, dass das Geschäft während der letzten Wochen brummen würde. Er hat bergeweise Ware eingekauft.«
»Hm.« Ich stelle die Kisten ab. »Das tut mir leid, wirklich.«
»Ich sage ja gar nicht, dass es dir nicht leid tut. Außerdem ist es typisch Gerd, dass er wegen der Party in Panik gerät und den Laden einfach dicht macht. Ich verstehe ja, dass er sich aufregt, immerhin plant er die Feier schon das ganze Jahr. Aber er könnte sie auch irgendwo anders abhalten. Plötzlich macht er hier einen auf Platzhirsch. Herr Pietsch ist genauso, hängt hier rum wie ein verlassener Liebhaber.« Mit ihren klaren, grünen Augen sieht sie zu mir hoch. »Ich habe nur Sorge, dass Gerd sein Auto verkauft oder eine andere Dummheit macht, um vor Gericht einen Prozess anzustrengen. Er hat kein Geld für Anwälte. Seitdem Gisela weg ist, ist er nur noch erschöpft, und jetzt auch noch diese Konkurrenz von dem Cateringmobil.«
Mit dem Dröhnen eines Düsenflugzeugs kommt vom Flughafen her einen Luftzug auf. Wir passieren den Baum, unter dem Gerd saß, und suchen an dem Cateringwagen nach Spuren von ihm oder Gottfried. Wir finden keine. Als ich stehen bleibe, um zu verschnaufen, setzt sich Anna in einen der Lieferanteneingänge und behält mit gerunzelter Stirn die Straße im Blick. Zwischen allen Welten hängend setze ich mich zu ihr – Leben und Tod auf der einen, Tiger und Bockwürste auf der anderen Seite.
»Ich wünschte, ich könnte vor meiner Abreise bei Gerd etwas wiedergutmachen«, sage ich.
»Das ist nicht einfach, er hat seinen Stolz und hasst es, jemandem etwas zu schulden. Ich sollte dir das nicht sagen, nach dem ganzen Stress zwischen ihm und Gisela – aber Gerd mag dich sehr, nur für den Fall, dass du das nicht wusstest. Er hat keine eigenen Kinder, er konnte sich keine leisten. Aber er hat dich seit deiner Kindheit in guter Erinnerung und hat dich vor Gisela verteidigt. Allein durch deinen Besuch hast du ihm also schon ein bisschen was zurückgezahlt. Er ist jemand, der Menschen und Dinge, die er schon lange kennt, sehr wertschätzt. Ich bin mir sicher, dass er es nur deswegen mit Gisela aushält – sobald der Schock nachgelassen hatte, war sie einfach immer da, er hat sich an sie gewöhnt.«
»Hm, tja, danke. Es rührt mich, dass du mir das sagst.«
»Pff, krieg dich wieder ein – du bist und bleibst erbärmlich.«
Dem kann nur Schweigen folgen. Aber diesem Schweigen entwachsen Ranken, die Fremde aneinanderbinden, anfangs höchstens rauchähnlich und vermutlich kaum fester als eine Spinnwebe, als die Gesprächspause beendet ist. Aber ich frage mich, wie lange es wohl – wäre ich nicht auf dem Weg zu sterben – dauern würde, bis dieses Mädchen einen Efeu der Zuneigung wachsen lassen würde, dessen blättrige Ranken sich vom Gesims herunterkringeln. Vielleicht gar nicht so lange.
»Ich muss zugeben, ich hätte nicht erwartet, dass du dich so öffnest«, sage ich.
Darüber denkt sie einen Moment lang nickend nach. »Es ist wirklich komisch, dass du ohne ersichtlichen Grund hier auftauchst und sich in der Folge alles zum Schlechteren wendet. Ich will einfach nicht, dass Gerd etwas passiert, er hat genug am Hals, auch ohne deine geheimnisvollen Pläne.«
»Ganz ehrlich, es tut mir leid, was passiert ist. Und als ich ankam, hatte ich keine Ahnung, wie die Sache zwischen Gerd und meinem Vater ausgegangen war.«
»Pff – bevor du das alles wie einen zarten, unschuldigen Fehler aussehen lässt, unterbreche ich dich lieber mal.« Mit finsterem Gesicht wendet sie sich ab. »Was Gerd nicht merkt, ich aber schon, ist, dass du hier nach Selbstzerstörung suchst. Und Selbstzerstörung kenne ich gut. Auch Berlin kennt sie gut. Du kommst aus England und findest uns wahrscheinlich alle mausig und kleinkariert, du meinst, wir hätten noch nie schnellere Zeiten erlebt und wären noch nie mit Dekadenz in Berührung gekommen. Das stimmt aber nicht. Was Egoisten wie du nämlich nie auf dem Schirm haben, ist, dass Selbstzerstörung eine Mannschaftssportart ist, die alle anderen mit hineinzieht, als Gelackmeierte, als Zeugen, als Opfer und als Trauernde. Vielleicht findet man bei euch Totalitarismus als Zukunftsperspektive noch schick – aber wir hatten das schon, und deinen Geruch, der uns daran erinnert, wie damals alles losging, können wir echt nicht brauchen. Wir wollen nicht die Zeugen von deinem Chaos sein, das sollen andere machen. Es ist nicht unser Problem, dass du nicht gelernt hast zu leben.«
»Whoosh.« Mein Blick fällt zu Boden. »Ganz schön hart.«
»Das Leben ist auch kein Zuckerschlecken.«
»Hm – ich schätze, ich sollte deine Offenheit als Kompliment nehmen.«
»Du solltest begreifen, dass ich dir einen Gefallen tue, indem ich so schonend mit dir umspringe. Wenn du kein Künstler wärst, wie Gerd zu glauben scheint, würde ich noch viel deutlicher werden.«
Hören Sie sich das an, mein Freund, treten Sie ruhig näher – ich, der ich hier am Rand des Todes wandle und dem jeder Schritt Schmerzen bereitet, muss mir doch tatsächlich ein Lächeln verkneifen angesichts dieser harten Nuss neben mir. Gott allein weiß, warum – nach einer Tracht Prügel wie dieser. Ihr Rasiermesser schneidet so scharf, dass ich mir die Lippen zusammentackern muss, um nicht ihrer schieren Energie wegen an Ort und Stelle loszukichern.
Sie sieht es, und ihre Miene verdüstert sich noch mehr. »Pff, was soll das?«
»Hm.« Ich drehe mich weg. »Eigentlich magst du mich schon ein bisschen, oder?« Die Worte bleiben kurz in der Luft hängen und beobachten uns; als ich dann hoch schaue, sehe ich, wie sie mit sich kämpft, wie sie in derselben Situation steckt wie ein Kind, das gegen seinen Willen aus dem Schmollwinkel herausgelockt wird und das Gesicht verzieht.
»Jetzt weich nicht aus. Du hast selbst zugegeben, keine sympathischen Eigenschaften zu haben.«
»Aber findest du das auch? Warum solltest du dich sonst so ins Zeug legen?«
»Weil du wie alle erfolgreichen Zerstörer genug Courage und Verstand hast, um eine auf deinen Erfahrungen basierende Ethik zu formulieren – und diese Erfahrungen beinhalten eindeutig Verrat und Schmerz. Aber du hast die falsche Ethik formuliert. Niemand kann sie mögen oder respektieren. Und ich will dir ja nur sagen: Möglicherweise hat die Dekadenz in deiner Stadt Einzug gehalten, weil sie mal die großartigste aller Städte war und das plötzlich nicht mehr ist – aber wenn du dich zerstören willst, bist du falsch hier. Entweder du hast was beizutragen, oder du nimmst den nächsten Easyjet-Flug nach Hause und gehst mit deinen Kumpels kotzen.«
»Whoosh«, sage ich. »Heftig. Easyjet? Klingt, als hätte ich davon schon eher hören sollen. Als hätte ich so was schon ganz zu Anfang gebraucht.«
Sie dreht sich so, dass sie mir direkt ins Gesicht fauchen kann, wobei sie ihre scharfen, kleinen Zähne zeigt und den Kopf schüttelt, als hätte sie das ungezogenste Kind aller Zeiten vor sich. Und sie sagt: »Was du ganz zu Anfang gebraucht hättest, wäre eine ordentliche Kissenschlacht gewesen. Eine, bei der du am Ende heulend auf dem Boden liegst.«
Und whoosh. Ein alter Wunsch flutet mit Macht zu mir zurück. Was für ein Limbus.
Hernach senkt sich Schweigen auf uns, es gibt keine Erwiderung, und mein Spiel ist schon zu weit gediehen, um noch die Arme nach ihr ausstrecken zu können. Obwohl ich ihr Gesicht hin und wieder auf Anzeichen besserer Laune überprüfe, wende ich mich irgendwann anderen Dingen zu. Ich habe eine Idee, und zwar folgende: In meiner Tasche steckt ein gelber Diamant. Wenn ich es schaffe, für Gerds Verluste eine Entschädigung aufzubringen, sterbe ich vielleicht doch noch als irgendwie Erlöster, nicht zuletzt in Annas Augen, was mir plötzlich sehr erstrebenswert erscheint. Schon komisch, warum wir manche Leute in unsere mentale Jury aufnehmen, in jenes Tribunal, vor dem wir uns verteidigen und auf Strafmilderung plädieren.
Mein erster Gedanke ist, den Diamanten in Bares zu tauschen; aber ich fürchte, dass Gerd Schulden peinlich sind, weswegen er sie lieber einfach vergessen würde. Dann aber fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Wenn er den Stein selbst findet, irgendwo auf dem Flughafengelände – was durchaus plausibel wäre bei dem Trubel, der hier neuerdings herrscht –, dann kann er ihn auch nicht ablehnen! Er findet ihn, ich bin ihm behilflich dabei, den Stein zu identifizieren, gratuliere ihm zu dem Glücksfall, rufe Zeugen herbei – und Bingo.
Beim Gang nach unten rolle ich den Stein in der Tasche herum.
Die Luft erzittert, als die Sicherheitstür aufschwingt. Obwohl wir uns nicht weit in den Tunnel hineinwagen, halte ich sehnsuchtsvoll Ausschau und kann in einiger Entfernung neben den Schienen Bewegung ausmachen. Auch Anna fällt etwas auf, wir bleiben stehen und recken die Hälse. Zwei Männer in Overalls tauchen auf, die auf einem Rollwagen einen Käfig vor sich herschieben. Als der vordere uns entdeckt, wirft er hastig eine Decke über den Käfig – wir hören nur ganz kurz, dass im Inneren etwas herumschwirrt.
Winzige, sirrende Vögel, wie es scheint. Kolibris.
Anna sieht mich an.
Ich zucke mit den Schultern und will die Sache gerade herunterspielen, als ich von Gerds durchs Treppenhaus hallender Stimme gerettet werde: »Hallo!«, ruft er. »Anna?«
»Wir laden gerade die Kisten ab«, gibt sie zurück.
»Das hat aber lange gedauert.« Sein Kopf erscheint am Treppenabsatz.
»Dein Dichter musste sich erst noch übergeben.«
»Danke, Anna, sehr nett«, huste ich.
»Frederick? Alles in Ordnung bei dir? Ich fühle mich aber auch nicht so gut – kommt doch mit den Schlüsseln zu Ende, Anna, dann kann ich nach Hause gehen. Es reicht auch für einen Tag, bah.«
»Dann können wir zusammen bis zur Ecke gehen«, sage ich. »Ich wollte auch los.«
Als Gerd und ich loszotteln, streichle ich in der Tasche den Diamanten. Zwischen dem Eingang zur Abfertigungshalle und dem Gedenkgarden steht ein großer Adlerkopf aus Bronze auf einem Sockel – offensichtlich der Rest eines Nazi-Adlers. Ich bleibe stehen, um die Bronze zu bewundern und warte ab, dass uns eine Familie überholt; dann, als Gerd mir zeigt, wo der Adler einst auf dem Dachfirst des Terminals hockte, lege ich den Stein auf den Gehweg.
»Gerd.« Ich strecke den Finger aus: »Wie sieht das deiner Meinung nach aus?«
»Äh – was?«
»Hier unten. Wie ein Diamant.«
»Bah.« Er beugt sich runter. »Das ist Glas. Woher sollte hier ein Diamant kommen?«
Der Edelstein funkelt in seiner Hand. Wir stupsen ihn an.
»Und außerdem ist er gelb«, sagt er. »Diamanten sind weiß.«
»Nein, es gibt auch gelbe Diamanten.«
»Ach, aber die sind unglaublich selten. Das muss Modeschmuck sein.«
Nichtsdestoweniger schließen sich seine Finger um den Stein, und wir laufen weiter. Meine Stimmung hebt sich, denn obwohl keine Zeugen zugegen waren, wird er auf dem Heimweg sicher in der Piratenburg einkehren, wo allwissende Freunde ihm den Fund bestätigen.
Als wir die Familie wieder überholen, sehe ich, wie Gerd langsamer wird und die Eltern anlächelt. Dann streckt er in Zeitlupe die Hand zu dem kleinen Mädchen aus, das am Arm der Mutter hängt:
»Hier, meine Kleine.« Er drückt ihr den Stein in die Hand. »Für eine Prinzessin.«