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David West ist ein blässlicher Mann, der sich sicher leicht blaue Flecken holt. Seine Augen sind wie gekochte Eier, glanzlos, unter dem Weiß deutet sich sogar ein schemenhaftes Gelb an. Augenhöhlen wie Eierbecher halten sie an Ort und Stelle. Ich kann mich nicht für ihn erwärmen.

»Sie sind ja nicht einfach zu finden«, sagt er. »Die Sitzung hat angefangen, wollen Sie nicht zu uns kommen?«

»Nein«, sage ich.

Gleichzeitig lächelnd und mich missbilligend musternd führt er mich aus dem Raum der Stille. »Sie sehen furchtbar aus. Wir haben uns schon gefragt, ob Sie überhaupt noch mal aufwachen.«

»Mir geht’s gut. Ein Stück Kuchen wäre allerdings nicht schlecht.«

»David, da sind Sie ja.« Hocherfreut über sein Erscheinen reckt das Dalí-Mädchen den Kopf über den Empfang. »Mister Brockwell braucht ein bisschen Unterstützung.« Stumm formt sie die Worte: »Er wirkt ziemlich auf-ge-regt

Das ist ein Alarm-Code. Sie sehen sich an, eine Pause entsteht. Das Dalí-Mädchen versucht mit Gezwinker, David zu meinem Formular auf dem Tresen zu locken, und richtet es der Einfachheit halber schon mal richtig aus. Mit einer Geste falscher Kameraderie, einer zynischen Technik der Vortäuschung menschlicher Wärme, legt er kurz die Hand auf meine Schulter, als er an mir vorbeigeht, um es zu lesen. Kaum hat er ein Auge darauf geworfen, scheint ihn Mattheit zu überkommen, wie einen Wanderer, der feststellt, dass die Entfernung größer ist als gedacht.

Schließlich wendet er sich an das Mädchen – »Könnten Sie mir Gabriels Akte holen?« – und sagt dann zu mir: »Gabriel, Gabriel – so barock! Da weiß ich ja gar nicht, ob ich Sie behandeln oder verlegen soll!«

Jetzt ist er plötzlich ein Mann mit Humor. Was mir erheblich gegen den Strich geht. »Hm.« Ich sehe mich um. »Wenn ich einfach nur meine Sachen kriegen könnte.«

Auf der Lippe herumkauend, schiebt er sich wieder näher an mich heran. »Wissen Sie, ich bin enttäuscht. Wir sind ja für Sie da, aber den ersten Schritt müssen Sie selber machen. Lassen Sie uns an sich ran, Gabriel. Es ist ein Vertrag – beide Seiten müssen etwas davon haben. Ich kann nicht zulassen, dass Sie ausweichen.«

Nachdenklich kratze ich mir die Kopfhaut. »Mr. West – eine Rechnung über zwei Wochen für eine einzige Übernachtung sieht mir nicht danach aus, als ob hiervon wirklich zwei Seiten profitieren.«

»Hören Sie«, sagt er, »ich weiß, dass Sie nicht der allerzufriedenste Kunde sind. Das ist auch in Ordnung. Aber Sie kommen vom selben Planeten wie wir, Sie wissen also, wie die Dinge laufen. Das hier ist kein Hotel. Wenn es uns ernst damit ist, Ihnen zu helfen, dann müssen wir Ihr Zimmer für die Zeit des gesamten Kurses abschließen. Auch ich halte nicht mehr von Geschäftsbedingungen als Sie, aber …«

»Warum machen Sie dann nicht das, von dem Sie selbst wissen, dass es nur fair wäre?«

»Gabriel, so läuft es eben in unserem Geschäft. So leben wir. Von niemandem, in keinem System, kann erwartet werden, dass er seine Existenzgrundlage aufgibt. Überleben ist keine kapitalistische Kategorie.«

»Entschuldigung – aber eine tausendprozentige Geldbuße im Kleingedruckten ist sehr wohl eine kapitalistische Kategorie. Und hat auch irgendwie was mit Überleben zu tun.«

»Aber das ist doch keine Geldbuße; Sie haben ein Produkt von zweiwöchiger Dauer gebucht. Der Vertrag sagt klar und deutlich, dass Sie annehmen oder ablehnen können – die Bedingungen sind klar.«

»Alles schön und gut, wenn da nicht dieser eine Punkt wäre: Ich persönlich habe keinerlei Produkt von keinerlei Dauer und unter keinerlei Vertrag gebucht.«

David sagt nichts und sieht auf die Uhr. Dann seufzt er: »Ob Sie oder Ihr Vater, das ändert nichts an der Sache. Und da es Ihr Vater war, der sich für die Buchung verbürgt hat: Sollen wir jetzt etwa darüber diskutieren, dass Sie drauf und dran sind, ihm das Vertrauen aufzukündigen? Nach allem, was passiert ist? Könnte man Ihre Zwangseinweisung nicht auch als eine Art Diebstahl interpretieren? An Ihrem Vater?«

»Ich habe geschlafen, als er mich eingeliefert hat.«

»Geschlafen.« Das zeitigt ein Funkeln in seinen Augen. »Oder waren Sie vielleicht bewusstlos?«

Mein Gesicht erinnert ihn daran, dass beide Zustände nichts anderes als Schlaf sind. Aber er macht weiter: »Sehen Sie, Gabriel, der Kurs dauert zwei Wochen, weil es mindestens so viel Zeit braucht, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist komplex. Sie sind komplex. Sie können sich nicht nach weniger als einem Tag hier hinstellen und sich über ein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis beschweren. Zweiundvierzig Sitzungen, täglich eine Einzel-, eine Gruppen- und eine Ad-hoc-Sitzung – versuchen Sie mal, das zu unserem Preis in London zu kriegen.«

Das Dalí-Mädchen kommt mit einem fliederfarbenen Ordner zurück und gibt ihn David.

Ich raunze sie an: »Können Sie jetzt einfach mal meine Sachen holen!« Sie fährt zusammen.

»Also bitte.« David hebt die Hand. »Susanna hat Anspruch auf ein gesittetes Arbeitsumfeld.«

Während er redet, fällt mir seine Haut auf: Sie ist trocken und dünn wie Papier. Zusammen mit seinen verhärmten Gesichtszügen verhilft mir das zu der Erkenntnis, dass die Enthusiasmen mir ein Zeichen geben:

David West ist ein Origami-Mensch.7 Von der Kultur geschickt zur Illusion eines Menschen geglättet, geknickt und gefaltet, eine Schmuckserviette, deren Ideen nicht über die eigenen Falze hinausreichen und die andere auffaltet, um sie dann als ihr Ebenbild neu zusammenzufalten. Als David vom Ordner aufblickt, muss ihm das Entsetzen in meinem Blick auffallen, denn sein Gesicht wird fast noch schärfer.

»Langsam werde ich böse«, sagt er. »Ich habe viel Geduld gehabt, obwohl ich wegen Ihnen zu spät zu den anderen Klienten komme. Sind deren Probleme nicht genauso wichtig wie Ihre? Sollen nur wegen Ihres Verhaltens alle ihr Recht auf Behandlung verlieren?«

Ich warte ab, während ihm diese Kackwürste aus der Psyche glitschen. Wir erfahren soeben, wie sehr er die analen Tricks eines Polizisten schätzt. Nur Polizisten und achtjährige Mädchen nämlich steigen mit derart geistlosen Fragen in die Abwicklung ihrer Geschäfte ein: »Lassen Sie Ihren Wagen immer mitten auf der Straße stehen, Sir? Ich gehe davon aus, Sie würden das hier als korrektes Verhalten bezeichnen, Sir? Wie würden Sie es finden, Sir, wenn jemand Ihnen das antäte?« Und so weiter. Diese Formulierungen drücken einerseits eine angeborene Spießigkeit aus, sind aber gleichermaßen Werkzeuge, die Unterwerfung erzwingen sollen: Eine ehrliche Antwort nämlich würde Sie als Volltrottel dastehen lassen, für eine angemessen scharfe Replik dagegen kämen Sie ins Gefängnis.

Ich habe David West überschätzt.

Ich nehme mir eine Zigarette aus der Tasche.

»Nicht hier drin, also wirklich.« Er senkt die Stimme: »Wir wollen doch keinen derart verhunzten Start haben. Sie durchleben gerade eine harte Phase, und das tut mir sehr leid. Sie haben Ihre Freundin und Ihren Job verloren. Sie haben alles verloren, was damit zusammenhängt. Sie haben …«

»Das steht alles in der Akte, ja?«

»Vergessen Sie nicht, Ihr Vater hat Sie angemeldet. Was ich sagen will, Gabriel: Das alles ist nicht leicht für Sie gewesen, und Sie haben mein vollstes Mitgefühl – aber Sie sind nicht auf sich allein gestellt. Sie müssen es sich nicht so schwer machen. Erweisen Sie mir einfach nur die Höflichkeit, setzen Sie sich einen Augenblick zu mir und beginnen Sie ein Gespräch. Wir können überall anfangen – zum Beispiel bei diesen manisch-depressiven Problemen, von denen hier die Rede ist.«

»Das war früher.« Ich suche nach meinem Feuerzeug. »Jetzt ist alles wieder gut.«

Er klappt den Ordner zu. »Tja, da habe ich so meine Bedenken – manische Depression pendelt ja nicht zwischen Depression und alles-wieder-gut. Sonst würde sie ja Alles-wieder-gut-Depression heißen. Meinen Sie nicht?«

Ich zünde mir die Zigarette an.

»Ich werde gleich sehr, sehr böse.«

Ich nehme einen tiefen Zug und lasse meinen erhobenen Blick über die Kranzgesimse des Raums schweifen, über elegante Schlingpflanzen und hornförmige Blumen und Blätter, auf denen sich an einigen Stellen Wassertröpfchen gesammelt haben. Das alles ist in einem muffigen Beige gestrichen. Ich stelle es mir vergoldet vor, als Rahmen für ein aquamarinblaues Fresko aus Baumkronen und Himmel, wie beim Blick aus einem Grab nach oben.

»Gabriel, Sie verstoßen gegen das Gesetz.«

Dalí sondert ein Husten ab. Es ist nicht überzeugend. Sie möchte nach Krebs klingen, kommt aber wie eine Hausfrau rüber, die jemanden darauf aufmerksam machen will, dass ihm ein Popel an der Lippe klebt. Schweigend treibe ich die Restaurierung dieses demoralisierten Gebäudes voran, ich werfe italienischen Marmor auf die Böden und errichte im Eingangsbereich einen Frascati-Villa-Brunnen, überwachsen mit heiligem Lotos und Froschbiss.

»Gabriel, Sie verletzen unsere Rechte und verstoßen gegen das Gesetz.«

Was für eine Psychokloake dieser Ort ist. Wie verdorben und dumpfbackig. Nach einem gedankenvollen Zug an der Zigarette wende ich mich schließlich an David:

»Wie können Sie es wagen, diesen Ort derart zu entweihen. Sie Fotze.«