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Vor der Polizeiwache lehnt rauchend ein Beamter. In Höhe seines Gesichts drückt er die Zigarette aus und sieht dem Auftritt unserer monströsen Zirkustruppe zu: der Leviathan Smuts und die haifischflossige Sphinx, umwimmelt von Cowboys. Vorneweg die Fischproben – flankiert von Beamten und bombensicher verpackt passieren sie die Schwelle der Wache.

Von hinten schlägt Marius klirrend die Stunde.

Der Beutel mit dem Wein ist mir zugeschrieben worden, und ein Polizist ist abgestellt, um ihn zu tragen. Ich freue mich über die Ablenkung, die sein Klirren verursacht, während der Polizist versucht, nicht in Smuts’ Wasserspur zu treten, mal nach links ausweichend, mal nach rechts, als wäre sie ansteckend. Ich verliere mich in dem Anblick, so wie man sich auf einem Bahnsteig stehend in Erinnerungen an den eben zu Ende gegangenen Urlaub verliert. Was vermutlich daran liegt, dass der nächste Halt des Zuges, den ich gerade besteige, meine Tasche voller Rauschmittel ist.

Beim Betreten des Gebäudes schließt ein Polizist meine und Smuts’ Handschellen zusammen und setzt uns auf eine Stuhlreihe vor einem Verhörzimmer. Zwei Typen aus der Gegend hängen am anderen Ende der Reihe, beide gleichermaßen zerschmettert vom samstagnächtlichen Holzhammer. Während ich darüber nachdenke, wie unerfreulich der Beruf des Polizisten rund um die Welt ist, das ramponierte Inventar, der Wandschmuck aus Karten und Flugblättern, zieht sich Smuts’ Mund zum Schildkrötenrüssel zusammen, wie immer, wenn er scharf nachdenkt. Normalerweise stellt man sich das Gehirn ja als ein Schaltbrett vor, auf dem Begriffe und Lösungen blinken, aber bei Smuts ist ein Gedanke wie eine Kugel auf einem hölzernen Tivolispieltisch: Man kann ihren Nachhall auf dem gesamten Weg bis runter zu einem der Löcher hören, in das sie mit einem Klacken fällt, um für immer dort liegen zu bleiben. So wie jetzt.

»Ich bin so was von geliefert«, krächzt er.

Dann passiert lange nichts – Polizeibeamte wieseln durch die Gegend, zeigen auf Dinge und schauen grimmig aus der Wäsche. Offenbar soll bald ein Übersetzer da sein, zusammen mit dem ersten Zeugen des Abends. In der Zwischenzeit höre ich, wie Smuts hin und wieder eine beiläufige Frage auf Japanisch beantwortet. Es klingt wie sein Küchenfranzösisch: In einem Affenzahn rutscht und holpert er darüber hinweg.

Als wir alleine sind, zischt er: »Ich glaube, der Krake hat Keiko gebissen. Sie haben Mäuler, verstehst du. Deswegen ist auch der Chef noch nicht hier. Sie muss im Krankenhaus sein. Was für eine Symmetrie: Alle sind entweder im Krankenhaus oder im Gefängnis. Was für ein Abend, ha. Was für ein Stoff. Hast du noch was?«

Ich sehe zu Boden und kratze mich am Kopf.

»Du bist so was von geliefert.«

Der Schreibtisch des Sergeants, beziehungsweise der seines hiesigen Äquivalents, steht uns direkt gegenüber und zieht in Ermangelung von irgendetwas Hoffnungsvollerem unsere Blicke auf sich. Nach einem weiteren langen Schweigen sagt Smuts, ohne sich mir zuzuwenden: »Hoffentlich kannst du im Gefängnis deinen Anwalt und dein Essen selbst bezahlen. Es wird schon schwer genug für mich, mich um mich selbst zu kümmern.«

»Hm. Und dein Förderer …?«

»Peilst du’s noch – er hat mir einen Gefallen getan. Was nicht heißt, dass er mir Taschengeld schickt. Und was auch nicht heißt, dass er für meine Erziehung verantwortlich ist und mir bekackte Namensschildchen in die Schulkleidung näht. Siegel-Saftsack. Wach auf!«

Überflüssig zu sagen, dass unser Nimbus in Scherben vor uns liegt.23 Und wie auch der menschliche Geist von Zeit zu Zeit die Außenbedingungen abtastet, um seinen Metaphernschatz auf den neuesten Stand zu bringen, so hat sich dieser als schweifender Blick über Sonnenliegen anhebende Limbus in schlechten Sex in einem Travelodge-Kettenhotel verwandelt. Scheinbar haben alle Dinge eine gewisse Lebensdauer in Unschuld, bevor sie aufs Entsetzen zusteuern. Die ganze Schöpfung ist wie die erste in der Schule getöpferte Tonvase. Was soll man sagen? Das ist die Natur, diese grausame, durchtriebene Kackwurst.

Sehnsüchtig erinnere ich mich früherer Zeiten.

»Aber ich bin doch viel schlechter dran als du«, sage ich. »Mein Vergehen steckt noch in meiner Tasche, und als Tourist komme ich ziemlich wahrscheinlich nicht auf Kaution raus. Wohingegen deine einzige nachweisbare Straftat ein Quickie in einem Aquarium ist. Zu Hause würden sie dich auf Kaution laufen lassen, und du wärst dein Lebtag lang eine Legende.«

»Völlig unerheblich. Hier können sie dich wochenlang ohne Anklage einbuchten. In der Zwischenzeit kriegt mich dann das Sardinengesicht wegen Vergiftung und sonst noch was dran. Wegen Keiko kriege ich aber im Knast sowieso ein Schwert ins Auge.« Smuts wirft mir einen fiesen Blick zu: »Und dabei weiß ich immer noch nicht, was zum Teufel du hier eigentlich willst. Heute Morgen hatte ich alles noch unter Kontrolle.«

Was für ein trostloser Moment. Noch nie hat ein Weggefährte die Wahrheit mehr verdient gehabt. Doch im Grau des anbrechenden Tages erscheint mein Plan völlig idiotisch. Ich stehe vor der schwierigsten Wahl, die man als Freund treffen kann: brutal sein oder dem Freund nach dem Mund reden. Brutal zu sein würde bedeuten, ihn auf meinen Limbus-Zustand hinzuweisen, was in diesem Kontext reichlich absurd wirken und Smuts’ sturen Schädel dazu bringen würde, ihn kaputt zu machen. Ich muss den Limbus vor dem Absurden beschützen, ihn vor allem bewahren, was ihn zerfressen könnte – er ist alles, was mir bleibt, und seine Eigendynamik wird von Stunde zu Stunde größer. Todeswünsche wie meiner können sich selbstständig machen, sie können gleich zu Beginn einen Schalter umlegen, eine Lawine des Schicksals lostreten und es unmöglich machen, Entscheidungen zu steuern oder zu revidieren.

Gründliches Nachdenken ist vonnöten. Mein Schicksalsschema taugt nichts mehr. Aber ich bin mir in diesem Moment auch bewusst, dass Smuts mich ansieht und auf eine Antwort wartet.

»Ich wollte nur was trinken gehen mit dir«, sage ich schließlich.

»Was trinken?« Sein Mund klappt auf. »Du wolltest einfach mal in Tokio aus dem Flugzeug steigen und was trinken gehen? Echt, Mann …« – sein Kopf kippt vornüber – »Mann, Putain.«

Ein Beamter kommt, kettet uns voneinander los und führt Smuts einen langen Flur hinunter, am Verhörschreibtisch vorbei. Smuts dreht sich nicht nach mir um. Ich sehe, wie er sich in seiner glänzend nassen Hose mit pappigem Gang entfernt und höre ihn weit hinten im Flur murmeln. »Was trinken! Tss.«

Mein Körper krümmt sich zu einem Fötus. So viel zum Thema Enthusiasmen. Meine Limbus-Zwischenwelt hat sich zu ungestüm entwickelt, man hätte sie gar nicht erst in die Nähe anderer lassen dürfen. Dafür ist sie viel zu despotisch, ein Mahlstrom aus Chaos und Tod. Außerdem hat sie mein Schicksal quasi luftdicht besiegelt, weil sie mit ihrer Behauptung, ich hätte nichts mehr zu verlieren, Dinge hervorgelockt hat, die ich doch noch zu verlieren hatte.

Und mittlerweile verloren habe.

Nach einer Weile kommt mich ein Polizist holen. Eine drahtige ältere Frau läuft hinter ihm her. Die Übersetzerin. Hinter Brillengläsern gleitet ihr Blick von hier nach dort. Sie erklärt mir, dass ich zunächst durchsucht werde, während woanders Aussagen aufgenommen werden, um die Ereignisse der Nacht klarzustellen. Ich werde den Korridor hinuntergebracht, wobei mir auffällt, dass der Limbus im Grunde eine Form hatte – eine lange Passage auf einen Zielpunkt zu, ein sich nach vorne verjüngender Kegel, dessen Form sich allerdings etwas in Auflösung befindet, weil das Ziel plötzlich wieder außerhalb meiner Reichweite liegt. Weder die Enthusiasmen noch das Glück werden länger in ihn hineingesaugt, denn der Tod ist fürs Erste unmöglich geworden.24

Whoosh. Es ist vorbei.

Wir betreten ein kleines Verhörzimmer. Obwohl Tisch und Stühle vorhanden sind, heißt man mich, stehen zu bleiben. Mir fällt die Merkwürdigkeit unseres Zusammentreffens auf – die Sphinx, die Dame und der Wachtmeister, irgendwie gemeinsam in Japan. Der Beamte bedeutet mir, Arme und Beine auszubreiten.

Eine Hand fährt in meine linke Tasche, durch den Stoff hindurch tasten Finger mein Bein ab. Mein Portemonnaie wird herausgezogen und auf den Tisch geworfen. Nachdem meine Zigaretten aus der Manteltasche aufgetaucht sind, heißt es warten, während jede einzelne untersucht und beschnuppert wird, bevor der Beamte sie nebeneinander aufreiht. Nachdem er auch Pass und Notizblock aus der Mantelinnentasche gezogen, mein Gesicht mit dem Passbild verglichen und meine Notizen flüchtig durchgeblättert hat – kommt er auf meine rechte Seite.

Genau in dem Moment, als ich seine Hand an meinem Bein spüre, geht die Tür auf. Ein Gesicht sieht herein. Wegen seiner leichenblassen, froschähnlichen Erscheinung und dem unvorteilhaften Haarschnitt komme ich zu dem Schluss, dass es einem Polizisten in Zivil gehört. »Nerusan Smatosu?« Er mustert mich vom Scheitel bis zur Sohle, während ich aus seinen Worten langsam »Nelson Smuts« destilliere.

Hinter ihm im Dunkeln schleicht eine weitere Gestalt herum, und als sich die Sicht zwischen uns klärt, kann ich erkennen, dass es Tomohiro ist. Als Erstes entdeckt er meinen Notizblock auf dem Tisch, dann erkennt er mich, beugt sich mit ausgestrecktem Zeigefinger vor und flüstert den Beamten etwas zu.

»Ah!«, ruft der Zivil-Polizist.

»Oh!« Mein Polizist tritt zurück.

Einen kurzen Augenblick lang stehen alle einfach nur da und sehen mich prüfend an. Dann gibt es einen Wortwechsel, und Tomohiro drängt sich, begleitet von heftigem Genicke, in den Raum. Urplötzlich tauen die grimmigen Gesichter auf. Die Übersetzerin blinzelt und sagt: »Sie sind ein Gast – des Restaurants?«

Eine Offenbarung bahnt sich an, was meine Kopfhaut dazu bringt, sich zu entspannen. Es ist eine überwältigende Erkenntnis, von ihrer turmhohen, perlmutternen Spitze weht bereits ein leichter, von Fledermäusen schützend begleiteter Windhauch.

»Das ist der Küchenchef«, erklärt sie.

»Ja, weiß ich«, sage ich.

»Er bittet für die Geschehnisse des heutigen Abends um Verzeihung. Der Mann, der das zu verantworten hat, gehört nicht zum eigentlichen Personal. Er hofft, dass Ihr Essen ein überzeugendes Beispiel der Arbeit des Restaurants war, das als eines der besten in Tokio gilt. Falls nicht, bittet er Sie, noch einmal wiederzukommen und ihm zu erlauben, Sie so zu verwöhnen, wie Sie es verdient haben.«

»Versichern Sie ihm, dass ich das Essen in allerbester Erinnerung behalten werde.«

Diese Antwort, die ja irgendwie stimmt, bringt Tomohiro zum Lächeln.

Hinter ihm im Flur läuft ein Polizist mit dem Leinenbeutel vorbei, bleibt dann aber doch stehen und fragt etwas. Tomohiro greift nach der Tasche und sieht hinein. Für meinen Geschmack dauert dieser Blick zu lange, und ich spanne mich innerlich wieder an. Aber schließlich überreicht er mir den Beutel.

»Das hier kann Sie vielleicht für einige Ihrer Unannehmlichkeiten entschädigen«, übersetzt die Dame. »In aller Bescheidenheit bittet Sie der Meister, sich hiervon dabei helfen zu lassen, nur Gutes im Gedächtnis zu behalten.«

Der Koch sieht mir in die Augen, und als wir uns voreinander verbeugen, bricht eine Offenbarung über mich herein – mich hat gerade der Parallel-Limbus des Kapitalismus gerettet. Wie ein Schiff, das in meinen Gewässern kreuzt, hat er seinen Kurs geändert, um mich von den Wogen in sein summendes Inneres zu ziehen. Der Limbus des freien Marktes – nicht unterkomplex und einzellig wie meiner, sondern ein Koloss von einem Limbus, bei dem jeder Zentimeter der Außenhülle verkabelt und verlötet ist mit den Magistralen von Ausweg und Belohnung – hat eine Sphinx an Bord genommen, obwohl sie ein Vasall des Verdächtigen ist und zumindest mitschuldig an den Ereignissen des Abends.

Und warum? Weil er glaubt, dass ich ein Gastrojournalist bin.

Und folglich in der Lage, Einfluss auf die Gewinnspanne zu nehmen.

Whoosh – der Master-Limbus hat mich aufgenommen.

Wer weiß, wie lange ich einfach nur dastehe und diese Neuigkeit verarbeite, aber ich muss ziemlich benommen aussehen, weil mir der Polizist, nachdem er mir Zigaretten, Pass und Notizblock sorgfältig wieder in die Taschen gesteckt hat, auf die Schulter tippt und Richtung Tür nickt.

»Sie dürfen gehen«, lächelt die Übersetzerin.

Augenblicklich bläht sich mein Limbus neu auf, seine Kegelform stellt sich wieder her, die Enthusiasmen fluten zurück. Und ich verlasse das Zimmer mit einem formidablen neuen Verbündeten – einem Mentoren-Limbus, nach dessen Vorbild ich meinen eigenen modellieren kann.

Und dieser Mentor ist kein geringerer als der Master-Limbus des Kapitalismus selbst.

Unter dem Vorwand, den Namen meines Hotels erfragen zu müssen, bitte ich darum, Smuts sehen zu dürfen, und sie gestatten es – kurz und in Begleitung eines Beamten. Bevor sie geht, notiere ich mir noch die Nummer der Übersetzerin, damit ich über sie die Polizeiwache kontaktieren kann; dann warte ich im Flur, während Smuts in einem angrenzenden Zimmer durchsucht wird.

Ich warte und koste den Schmerz.

Leute hinter mir zurückzulassen gefällt mir gar nicht.

Etwas, das vielleicht die Stärke dieses Gefühls erklärt und das ich mit Ihnen teilen kann, ist folgende vertraulich zu behandelnde Geschichte: Als ich klein war, kam mein Großvater für ein paar Wochen zu Besuch. Tommy, wie wir Opa Brockwell nannten, lachte sich unaufhörlich ins Fäustchen, was seine Zunge bis zu einem erstaunlichen Grad zugespitzt hatte und sie wie einen Kuckucksuhrkuckuck aus seinem Mund herausstehen ließ. Aber als er alt war, fing sein Körper an, ihm nicht mehr zu gehorchen, und sein Gesichtsausdruck wurde erst unsicher, dann ängstlich.

Eines Tages fiel er bei uns zu Hause hin.

Die Generation meines Vaters war die erste, die sich nicht mehr um ihre Eltern kümmerte. Mein Vater meinte, es sei modern, sich um die eigenen Probleme zu kümmern und sich nicht allzu sehr von Opas Problemen runterziehen zu lassen, außerdem hätte Opa das ja sowieso nicht gewollt. Tommy allerdings hätte sich sehr wohl gewünscht, dass jemand sich um ihn kümmerte. Er fiel hin und lag auf der Seite, zuckend wie ein Insekt. Er sah zu uns hoch. Aber mein Vater – auf seinem neuen Psychogesundheitstrip – hatte für uns Kinokarten reserviert. Eine Freundin von Tante May, die früher Krankenschwester gewesen war, sollte vorbeikommen, um auf Tommy aufzupassen, während wir unterwegs waren.

Als er stürzte, war sie noch nicht da.

Mein Vater schaute auf die Uhr, fragte Tommy, ob soweit alles in Ordnung sei, setzte ihn ans Bett gelehnt hin und ließ ihn da sitzen, die Dame würde ihn schon finden. Denn sonst hätte der Film ohne uns angefangen – und das hätte Tommy doch sicher nicht gewollt. Ich erinnere mich, wie ich mich an der Tür zu seinem Zimmer noch einmal umdrehte. Er folgte uns mit den Augen. Sicher, zu seinen besten Zeiten, als er noch den Schalk im Nacken hatte, hätte er nicht gewollt, dass wir uns wegen ihm Umstände machten. Aber diese Zeiten waren vorbei.

An dieser Stelle eine Frage an Sie: Was sollten wir respektieren? Wünsche, die sich in der Blüte des Lebens artikulieren, oder solche, die aus der Situation heraus entstehen, womöglich gar in schlechten Zeiten, wenn sämtliche Prinzipien passé sind?

Später an jenem Abend fuhren wir auf unserer Straße einem stillen Krankenwagen bis nach Hause nach. Beim Prüfen der Hausnummern goss er Lampenstrahlen auf den Bordstein. Ich wusste, er kam wegen Tommy. Tommy öffnete seine Augen nie wieder.

Ich fand, Das Piano war ein klebriger, schlammiger Film. Für ihn hatten wir Tommy im Stich gelassen. Und dasselbe Gefühl wie an jenem Tag habe ich heute. Stechender Schmerz. Ich darf niemanden zurücklassen. Es kommt jetzt auf mich an. Wie ich hier stehe, beschließe ich, Smuts alles zu gestehen, auf der Stelle, und mich ohne Wenn und Aber für jeden Einsatz anzubieten, der ihm helfen könnte.

Das Zwischenreich des Limbus wird noch ein bisschen länger Bestand haben müssen.

Als ein Polizist mich endlich in Smuts’ Zimmer winkt, finde ich ihn barfuß auf einer Bank sitzend und unter eine Löschdecke gekauert vor.

Ich setze mich neben ihn. Die Stille lastet schwer auf mir.

»Sie lassen mich laufen«, sage ich. »So kann ich dir besser helfen.«

»Ja, tolle Hilfe«, krächzt er.

»Falls du eine eidesstattliche Aussage brauchst oder so – jederzeit. Ich ruf an, sobald sich die Wellen etwas gelegt haben. Sag Bescheid, was ich tun kann, und ich tu’s.«

»Du sagst mir jetzt erstmal, was zur Hölle du hier zu suchen hast.«

»Also«, seufze ich. »Ich war in der Reha. Eigentlich hat das alles schon vorher angefangen, aber egal – ich war auf jeden Fall in der Reha und musste da raus.«

»Aha, klar, und bei Burger King hast du genug verdient fürs Peninsula.«

»Das war kein Burger King, das war ein Zweihundert-Plätze …«

»Du bist frisch aus der Reha und verjubelst Geld, das dir nicht gehört. Dazu kann ich nur sagen: Das mit dem Rauskommen ist dir gelungen – du bist in Tokio. Raus aus der Reha und direkt zu meinem Arbeitsplatz, herzlichen Glückwunsch.«

»Eigentlich wollte ich nach Berlin. Mit dir, das war die Idee.«

»Aber dann ist dir niemand eingefallen, den du dort in die Scheiße reiten konntest.«

»Mir geht’s hundsmiserabel, Smuts. Es tut mir leid.«

»Macht doch alles keinen Sinn.« Smuts’ Denkerschnute ist wieder da. »Weder Tokio noch Berlin.«

»Berlin schon, du kennst doch meine Vergangenheit. Weißt du noch, dass Dad da einen Club hatte?«

»Das war also die Wahl? Feiern oder Smuts an den Arsch kriegen.«

»Nein, nein – Berlin war …«

»Club – oder Smuts.« Die Kugel auf dem Tivolitisch kullert los. »Feiern oder …«

»Mit dem Club hat das doch gar nichts zu tun.«

»Und warum sagst du dann Club? Ich hab nicht Club gesagt, du hast Club gesagt.«

»Schon, aber es ist doch nur so, dass mein Vater …«

»Berlin, Club, dein Vater.« Smuts’ Lider flattern.

Die Kugel nähert sich den Löchern. Der unbeeinflussbare Mechanismus wird sich völlig willkürlich entscheiden, und ich merke, wie ich hinter der Kugel her renne und versuche, sie zu steuern: »Mein Vater hat in Erinnerungen geschwelgt, das ist alles. Und er hat erzählt, dass es den Club immer noch geben müsste, betrieben von seinem alten Partner. Das war eine fette Sache, damals. Der Punkt ist, dass er mich nicht hinfahren lassen wollte, weil dieser Partner wohl ein ziemlich dekadenter Typ ist. Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Jedenfalls, ich war in der Reha und …«

Smuts hält eine Hand hoch: »Jetzt kommt so langsam Sinn in die Sache. Musst du dir dafür derart einen abbrechen? Dekadenter Typ, großer Club – mit Küche?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Smuts legt die Stirn in Falten. Dahinter rollt eine ganze Batterie Kugeln los: »Dekadenter Club, keine Küche, Smuts, Berlin – du willst mit richtiger Gastro starten, hab ich recht?«

»Nein, hör zu …«

»Ein monsterdekadenter Club. Smuts. Essen.«

»Smuts, Smuts.« Ich rüttle an seiner Schulter, aber mein Ton ruft den Polizisten vor der Tür auf den Plan. Er sieht auf die Uhr und winkt mich hinaus.

Smuts’ starrer Blick folgt mir von der Bank aus. »Ich bin dabei. Darum geht’s doch, oder? Dass ich zurück nach Europa komme? Berlin, Alter – ich Küchenchef. Scheiße, das macht das Spiel mit dem Basken einen Tacken spannender, da käme ein bisschen Druck in den Kessel. Die Symmetrie ist perfekt! Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Smuts, wir haben zwanzig Jahre nichts mehr von diesem Typen gehört.«

»Ha. Putain! Du bist unglaublich.«

In mir wütet der Konflikt wie ein Aufeinandertreffen schwarzer und roter Ameisen: Meine Seele ist von Smuts’ wilden Hoffnungen viel zu gerührt, um sie ihm zu zerschlagen, und mein Hirn ist von der Dimension des Missverständnisses viel zu geschockt, um es einfach durchgehen zu lassen. Beim Versuch, das Tivolispiel anzuhalten, versagt mir die Stimme.

Smuts’ Blick schießt von hier nach dort. »Keine Frage, ich bin dabei. Wir verkaufen ihm Bankette, wir locken ihn mit Dekadenz. Ich weiß, wie er tickt. Wir kommen ihm mit Michelin-Glamour. Maskenbälle, Hummerschwänze. Verkaufen, verkaufen, verkaufen. Kollege? Wenn’s sein muss, lass Didiers Namen ruhig fallen. Wenn ich für ihn ein fettes Event in Europa organisiere, kann er hier zwischenfunken, ein paar Strippen ziehen.«

»Warte doch mal …«

»Krasse Scheiße, ich bin zurück im Geschäft. Ich glaub’s nicht, dass du es erst so weit hast kommen lassen! Das stellt alles in ein ganz neues Licht. Okay, der Abend im Fischladen ist übel in die Hose gegangen – aber nur, weil ein Scout kam, um mich in eine viel größere Sache reinzuziehen. Ein abgefahrenes Riesending in Europa! Klar ging alles drunter und drüber, wir reden ja nicht von einem x-beliebigen Scout – nein, es ist der Sohn des Gründers! Das wird Didier verstehen!«

Bevor ich es schaffe, eine Richtigstellung an den Mann zu bringen, nimmt mich der Polizist am Arm, führt mich hinaus und zieht die Tür hinter uns zu.

»Putain«, ruft Smuts mir hinterher: »Mach die Sache klar.«

»Smuts …«

»Gestern hatte ich alles noch im Griff. Klar?«

Der Beamte deutet auf den Beutel Marius und eskortiert mich zur Pforte. Dort steht Tomohiro, schon halb aus der Tür. Ich sehe ihn an. Ich bekomme nichts anderes hin als ein leichtes Zusammenpressen der Lippen. Er gibt es zurück und verbeugt sich.

Und damit verlasse ich diesen Schauplatz.

Im Peninsula Hotel flutet Licht durch das Fenster. Wie alle Geschöpfe es tun, blicke ich so weit wie möglich nach unten und prüfe, wie tief man fallen würde. Mein Kopf sinkt gegen die Scheibe. Sie beschlägt vom Atem.

Der Check-Out rückt näher, auf den Fluren laufen Staubsauger. Der Nimbus hat sich in Übelkeit verwandelt, Smuts ist verhaftet, ein alter Mann kämpft um sein Leben, ich bin nicht tot.

Ich brauche einen Club.