15
Als ich mich am frühen Morgen wieder rege, habe ich noch immer meinen Notizblock umklammert. Im Auftrag der Natur bombardieren Vögel mit ihren Schreien das Fenster, Herolde ihrer Herrschaft. Auch Babys erwachen in ihren Bettchen und können es genau wie die Geschäftsmänner und Banker nicht erwarten, ihren tyrannischen Griff geltend zu machen.28 Wie kommt es, frage ich mich, dass diese Geschöpfe, die sich am allerliebsten aufplustern und in die Welt hinauskrähen, wie wertvoll sie sind, den frühen Morgen so schätzen? Ein solches Verhalten zeugt eindeutig nicht von zivilisatorischem Fortschritt, sondern von einer Rückentwicklung zur plumpen Zoologie stolzierender Gockel und sich auf die Brust trommelnder Gorillas.
Der einzige Unterschied ist doch, dass Gorillas sich Anzug und Krawatte sparen.
Ich stütze mich auf einen Ellbogen und mache mich an einem Popel zu schaffen, der in meiner Nase hart geworden ist. Nach akribischen Grabungsarbeiten schaffe ich es, einen diamantenen Gitterschlauch herauszuziehen, einen perfekten kleinen Abguss meines Nasenlochs, mit Kokain kandiert und kleinen Blutrubinen durchsetzt.
Ich stecke ihn mir in den Mund und schnelle ruckartig in den Tag.
In mir stapeln sich Gefühle und Pläne zu einer turbulenten, nach mutigen Entscheidungen rufenden Mischung. Und wieder sehen wir die invertierte Proportion am Werk, die am Punkt der geringsten Hoffnung das Maximum an Heldenmut verlangt. Ach, diese elenden Kegel. Klar ist, dass ich tot sein sollte, bevor dieses Wurmloch noch tiefer oder dunkler wird. Bevor ein weiterer Morgen wie dieser hohnlachend heraufzieht. Erschöpft falle ich auf mein Kissen zurück, und aus irgendeinem Grund erscheint mir beim Einnicken das Bild meiner Mutter, so, wie ich mich an ihre hochgewachsene, weiche Figur und ihre schnellen, demütigen Augen erinnern kann. Da ist sie und grinst durch eine Phalanx gesunder Zähne, wie damals, als sie noch nicht wusste, dass ihrem Mann seine Marotten wichtiger waren als sie, wichtiger als wir, bevor sie wusste, dass eine dringliche, unerledigte Angelegenheit ihn immer wieder fortziehen würde, und dass diese unerledigte Angelegenheit schlicht und ergreifend seine Kindheit war. Da ist sie, bevor all das, was sie erzogen wurde, wichtig zu nehmen, nicht mehr modern war, bevor es verachtet wurde, weil man mit Verachtung mehr Produkte verkaufen kann, und bevor sie selbst dafür verachtet wurde, dass ihr größter Ehrgeiz darin bestand, ein Haus mit Liebe zu füllen. Da ist sie, diese schöne Seele, und lächelt.
Bevor sich alles in Rauch auflöste.
Bevor das Entsetzen kam.
Bevor.
Wie sehr ich mir wünsche, sie zu umarmen. Was würde ich dafür geben, sie jetzt in die Arme schließen zu können, diese lächelnde, schemenhafte Person. Wie wichtig die Umarmungen sind, die uns immer gefehlt haben. Manche Dinge sind eben doch von Bedeutung. Manche sind sogar von großer Bedeutung.
Andere hingegen zählen überhaupt nicht.
Hitze steigt mir in die Augen, und ich ringe mich mit aller Gewalt zurück ins Jetzt. Ich muss mit Smuts’ Kontaktmann sprechen. Vielleicht lässt er sich mit ein paar vagen Worten abspeisen, mit der Zusicherung, dass etwas in der Mache ist. Wenn die Sache allerdings zu krass wird, ist der Tod ja auch nicht weit. Ich könnte eine eidesstattliche Erklärung zurücklassen, den Fisch betreffend. Ich könnte meinen Tod mit der Ungerechtigkeit dieses Falls in Zusammenhang bringen oder mich an Smuts’ Statt ins Schwert stürzen, den Alten auf japanische Art rächen. Das Unehrenhafte ehrenhaft machen, einen Selbstmord als Harakiri verkaufen. Mir stehen Myriaden von Möglichkeiten zur Verfügung. Hilfsmittel ohne Zahl, die aber alle auf das Eine hinauslaufen: den Tod.
Trotzdem: Meine Hauptsorge wird durch diese hoffnungsfrohen Aufgeregtheiten auch nicht kleiner. Nach dem Anruf werde ich eine Verabredung haben mit dem Master-Limbus. Das habe ich mir gewünscht, seit ich in Berlin bin – doch jetzt will der Master etwas von mir, was ich nicht habe; und ich kann mir nur vorstellen, wie er reagiert, wenn seine Wünsche nicht befriedigt werden.
Vom Bett aus greife ich nach meinem Segeltuchsack und ziehe eine Flasche Wein heraus. Eine Palliativtherapie. Meine Wahl fällt auf Simpatico – der Name erscheint mir passend für die Zeit vor dem Frühstück. Aber ich habe noch nicht mal den Hals der Flasche leer getrunken, als das Telefon zu klingeln beginnt. Bevor ich abhebe, zünde ich mir eine Zigarette an.
»Guten Tag«, sagt ein Mann auf Deutsch. Er hat eine weiche, klare, angenehm modulierte Stimme. »Mir scheint, wir haben gemeinsame Freunde.«
Ich warte ruhig ab, bis er hinzufügt: »Und einem von ihnen zufolge sollte ich es, solange ich keinen Todeswunsch verspüre, vermeiden, mit Ihnen trinken zu gehen. Sollte das wahr sein? Klingt verheißungsvoll. Ich hole Sie in, sagen wir, einer Stunde ab?«
»Ähh – hallo«, gebe ich zurück. »Ich fürchte, das passt mir gerade jetzt nicht besonders gut. Vielleicht könnten wir uns zu einem anderen Zeitpunkt treffen? Oder kann ich Sie anrufen?«
»Unbefriedigend. Denn wenn ich es richtig verstehe, haben wir möglicherweise ein gemeinsames Interesse – und wir sollten so bald wie möglich herausfinden, ob dem so ist oder nicht. Eine einleitende Frage können wir allerdings auch sofort klären: Ich gehe davon aus, Sie wissen, dass gewisse öffentliche Bereiche des fraglichen Objekts auf offiziellem Weg für private Nutzungszwecke von der Stadt gemietet werden können?«
»Hm? Selbstverständlich«, flunkere ich.
»Gut, gut. Dann sprechen wir also über etwas außerhalb des öffentlichen Zugriffs. Etwas, wie sollen wir sagen – Außergewöhnliches. Etwas ›richtig Geiles‹, wie Ihr Freund in Tokio es formuliert hat.«
»So könnte man sagen.«
»Vorzüglich. Ich glaube, ich kann mir denken, was Sie anbieten wollen – und falls es das ist, dann bin ich beeindruckt. Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen. Tatsächlich habe ich schon, als ich hörte, wo Sie abgestiegen sind, an unseren Mann in Paris weitergegeben, dass sich die Sache gut anfühlt. Sie wissen, Diskretion ist alles für ihn. Dieses Geschäft nicht im Hotel de Rome oder im Adlon abzuwickeln, beweist wahre Disziplin, Sie müssen ja sterben da oben inmitten der Cappucchino-Kommunisten – ich wette, sie können keine Pasta mehr sehen. Da ist ein Drink doch dringend geboten. Könnten wir denn zumindest sagen: heute Abend? Wir müssen uns ein wenig sputen, unser Freund wartet auf einen Anruf.«
»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«
»Am Telefon ist das unwichtig, das verstehen Sie sicher. Fürs Erste bin ich Ihr Freund in Berlin. Sollen wir sagen um neun? Vor Ihrem Hotel? Sie werden erfahren, wer ich bin. Von Angesicht zu Angesicht können wir offen sein, am Telefon Kalter Krieg zu spielen, ist ermüdend. Ich sehe unserem Abend schon mit Freude entgegen, mit großer Freude sogar. Es ist eine Zeit her, seit ich mich das letzte Mal – in das Netzwerk eingeklinkt habe.«
»Ach – das Netzwerk. Ja.«
»Und wissen Sie was – ich habe so ein Gefühl, dass wir eine seiner Sternstunden erleben könnten.«
Nachdem ich mich von dem Mann verabschiedet habe, sitze ich einen Augenblick da und beobachte, wie der Zigarettenrauch das Licht zwischen den Vorhängen gerinnen lässt. Als ich schließlich den Hörer wieder auf seine Basis stelle, schüttle ich unwillkürlich den Kopf. Smuts und seine kulinarische al-Qaida. Smuts und der Küchen-KGB mit seinen undurchsichtigen Schergen. Ob da zwischen den Intrigen überhaupt mal einer Zeit zum Kochen oder Essen findet? Wahrscheinlich hocken sie die ganze Zeit bei Burger King und hecken Revolutionen aus. Ich nehme einen großen Schluck Marius und mache es mir gemütlich, um in Ruhe über alles nachzudenken. Aber nach nicht allzu langer Zeit fahre ich innerlich vor Schreck zusammen. Mir kommt die Erkenntnis, dass Smuts’ Schicksal tatsächlich an dieser Unterwelt hängt – oder Überwelt, genauer gesagt. Seine Situation ist weit davon entfernt, nur in rechtlicher Hinsicht eine missliche zu sein, dazu ist sie viel zu sehr von kommerziellen Interessen durchzogen. Es ist also angebracht, den Schlüssel zu seiner Freilassung in den Händen dieser Interessengruppen zu vermuten. Aber ich habe ein zweifaches Problem – soweit ich überhaupt helfen kann: Erstens liegt kein konkreter Deal auf dem Tisch, um ihn frei zu kriegen. Die Freilassung wird immer nur stillschweigend angedeutet, und das eigentlich auch nur von Smuts. Zwei Fremde treffen sich wegen eines Veranstaltungsortes – ein Schachspiel mit völlig im Dunkeln liegenden Interessen. Zweitens, und nicht weniger entscheidend: Es gibt keinen Veranstaltungsort. Das Treffen ist ein Bluff.
Und in Situationen wie dieser bin ich dem Master-Limbus nicht gewachsen.
Die Situation ist verhängnisvoll und plötzlich sehr real. In meiner alten Wohnung in London hätte ich einen solchen Anruf als schlechtes Theater abtun können. Wahrscheinlich, weil der öffentlich Dienst die Menschen im Lauf der Jahre mit ihrer unheilverkündenden Sprache überstrapaziert hat, haben die Londoner heute ein gutes Abwehrsystem gegen alles Verhängnisvolle und Ominöse.
Aber ich bin eben nicht in London. Es gibt zu viele unredliche Interessen in der Welt, als dass diejenigen, die sie vertreten, nicht gelernt hätten, sich unauffällig zu verhalten. Und es gibt tatsächlich Menschen, die im Geheimen operieren, die mit ihren Anliegen hinterm Berg halten und die nur den allerseltensten Beutetieren nachstellen. Die Einhörner jagen, wie Smuts sagen würde.
Vielleicht nirgendwo häufiger als im Limbus-Reich des zeitgenössischen Kapitalismus.
Ein Frösteln durchsickert mich. Blindlings habe ich eine Hand in diese Schaltkreise gehalten, in einen Wirrwarr seltsamer, abgehobener Praktiken und Benimmregeln, die mit der Ausnahme einiger Auserkorener auf der ganzen Welt nie jemand kennenlernen wird. Ich muss daran denken, was Smuts erzählt hat: »Ich könnte dir Gerüchte über den Basken erzählen, da bleibt dir sofort das Herz stehen. Ich kenne Köche, die für seine Events gearbeitet haben und die dir sofort den Rücken zukehren, wenn du auch nur eine Frage danach stellst. Sie wechseln noch nicht mal mit einem höflichen Lächeln das Thema. Sie sagen nicht: ›Dazu darf ich nichts sagen.‹ Sie drehen sich einfach um und gehen.«
Whoosh. Die Überwelt.
Und jetzt, da sie ihren Kegel um mich herum enger werden lässt, habe ich nichts anderes anzubieten als – einen Kiosk.
Und noch nicht mal das – zumindest so lange Gerds Frau ein Wörtchen mitzureden hat.
Kurz ziehe ich in Erwägung, das Hotel zu wechseln oder mich vor eine U-Bahn zu werfen. Aber dafür spricht eigentlich nichts – ich bin Smuts verpflichtet, also bin ich auch dazu verpflichtet, diesen Mann zu treffen und ihm ein Luftschloss zu bauen. Umso besser, dass er vorschlägt, sich auf ein Getränk zu treffen – ich werde ihm einfach das nötige Schloss entwerfen und den Abend zu meinem Abschied machen.
Nachdem das entschieden ist, verbringe ich den Rest des Tages so, wie ein Tourist seinen letzten Tag im Leben verbringen würde: ein Sandwich im Café unten, dann Trinken und Fernsehen im Bett, bei geschlossenen Vorhängen. Trotzdem passiert etwas: An einem bestimmten Punkt könnte ich schwören, dass die sagenumwobene Marius-Korrektur in mir vonstatten geht. Ich halte sogar kurz inne, während vormenschliche Minerale und Energien in meinen Genen einen locker sitzenden Schalter umzulegen scheinen. Das – vielleicht auch ganz allgemein die Wirkung der Rauschmittel – lässt mich kurz darauf feststellen, dass ich tatsächlich dabei bin, mich für ein Zusammentreffen mit dem Master zu rüsten. Ich lege Anzug und Pelz an, bespritze mich mit Jicky und packe eine Flasche Symphony in eine Plastiktüte, bis es um neun Uhr vor dem Hotel ein merkwürdiges Zusammentreffen gibt. Zum einen wankt ein Penner, der die Flasche sieht, auf mich zu: »Für mich?« Er streckt die Hand aus. »Sie sind ein großer, großer Mann. Ein ganz großer.«
Hinter ihm nähert sich ein schweres Motorengeräusch, kurz darauf schält sich aus dem Licht der Straßenlaternen ein schwarzer Mercedes, der mit einem Satz am Bordstein ist, schimmert, als wäre er flüssig, und den schwankenden Obdachlosen die Straße hinabschickt.
Ich atme tief durch. Jetzt schon kann ich einen Kater heraufziehen fühlen, aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. Er könnte mir dabei helfen, die Lektion der Reife zu lernen und weitgehend einfach den Mund zu halten.29 Die Mission des heutigen Abends verlangt nicht nach Logistik. Es geht nur darum, Andeutungen auf einen Veranstaltungsort fallen zu lassen. Wenn Smuts dann frei ist, kann die Wahrheit nach Belieben ans Licht kommen. Denn seien wir realistisch: Ein derartiger Schuljungenstreich kann nur eine typische Smuts-Idee sein, die sowieso nie umgesetzt wird. Die so schnell, wie sie in der Welt ist, schon wieder von einer anderen ersetzt wird, von Hotels auf Eisbergen oder Bistros in Bagdad – von allem eben, was sich so auf dem Karussell des Vielleicht dreht und ein grüblerisches Genie zwischen zwei Zigaretten hinter der Küche bei Laune hält.
Ich habe das Gefühl, dass diese Sichtweise einigermaßen klug ist.
Sich aber bestimmt nur Trauben mit korrigiertem Genom verdankt.
Ich gehe einen Schritt auf den Wagen zu, zögere aber, als ich eine Frau hinter dem Lenkrad entdecke. Sie sieht makellos aus und hat so sauberes schwarzes Haar, dass es mit der Limousine um die Wette schimmert. Im Glauben, ein Shampoo-Model für die Küchenüberwelt gehalten zu haben, weiche ich zurück, aber blitzschnell öffnet sich vollkommen geräuschlos die Hecktür, und eine Hand bedeutet mir einzusteigen. Auf der anderen Seite der Mittelkonsole sitzt ein gepflegter, schwarz gekleideter Mann mit dunklen Haaren. Er ist um die vierzig und hat das jungenhaft gute Aussehen eines Schauspielers. »Thomas«, sagt er lächelnd und reicht mir die Hand.
Obwohl glatt und charmant, ist nichts Bedrohliches an Thomas. Ich kann mich schon für ihn erwärmen, als der Wagen so schnell anfährt, dass er uns in ein Nest aus weichem Leder drückt.
»Gabriel«, gebe ich zurück und überreiche quer über den Sitz die Tüte.
Er sieht hinein. »Ahh, Symphony – der 2004er!« Sein Gesicht leuchtet auf, und er hält kurz inne, bevor er zu mir hersieht und sagt: »Weißt du – ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.«
Ein mandelförmiges Augenpaar richtet über den Rückspiegel seinen Blick nach hinten, dann werden eine Knopfnase und ein Lächeln sichtbar. »Cooler Duft«, sagt die Fahrerin. »Jicky?«
»Bettina«, sagt Thomas. »Sie hat eine ganz erstaunliche Nase.«
»Und Sie haben es gerade erst aufgetragen«, sagt sie, »die Zitrusnote ist noch stark.«
Ich sehe in den Spiegel: »Ja, eine erstaunlich hübsche Nase.«
Damit bricht das sowieso nicht allzu dicke Eis im Wagen, und in mir bricht so etwas wie ein neuer Tag an. Wie Freunde fahren wir ins Herz von Berlin, draußen rauscht eine sternenklare Nacht vorbei, unsere Stimmen ticken so leise wie Armbanduhren; und wenn gelegentlich Bettinas Blick im Spiegel erscheint, steigen in mir Fantasien hoch, in denen ich ihre Eitelkeit bezwinge.
Was sicher ein Zeichen neu erwachender Hoffnung ist. Was für ein Limbus!
»Also dann.« Thomas nimmt meine Hand. »Das Programm für heute Abend ist simpel. Ich habe eine Frage und eine Bitte. Jetzt, da ich deinen Stil kenne, bin ich mir sicher, du wirst die Frage beantworten können und mir die Bitte nicht abschlagen. Aber lass uns die Dinge nicht überstürzen. Wenn du gestattest, würde ich das Mysterium gern noch für die Dauer des Abendessens bewahren.« Er pausiert, bevor er hinzufügt: »Es könnte eine lange Nacht werden.«
Wir erreichen die Spree an der Stelle, wo sie sich unter der Friedrichsstraße hindurchwälzt und die riesigen Fahnen auf dem Reichstag am Himmel flattern. Der Wagen hält neben einer Treppe, die hinunter zum Flussufer führt, an dem entlang sich eine Front von Glasfenstern zieht. Thomas’ Eintritt in das Restaurant ruft ein Kreuzfeuer an Blicken auf den Plan, und obwohl das Servicepersonal sehr beschäftigt ist, wird uns schnell ein Tisch mit allerbestem Blick zugewiesen. Am Fenster sehe ich ein Ausflugsschiff vorbeigleiten, das Gold und Quecksilber über die gallertartigen Wirbel der Spree ausgießt, und hier, bei schmeichelhafter Beleuchtung und über Leinen und Silber gebeugt, finde ich zu einer derartigen Ebene des Wohlgefühls, dass ich kurz innehalten und Sie, meinen Freund, hinzuziehen muss. Bitte treten Sie nah an diese leuchtenden Tischtücher und funkelnden Gläser heran, atmen Sie den Duft von heißem Essen und das Bouquet des Weins, leihen Sie Ihr Ohr der gepflegten Unterhaltung kultivierter Seelen und stimmen Sie mir zu:
Der Master-Limbus hat so seine Qualitäten.
Wie könnten schwache Geschöpfe wie wir sich gegen Annehmlichkeiten wehren? Und warum sollten wir? Wenn Wein, frisches Bauernbrot und geeiste Butter vor uns stehen, müssen wir uns diesen Fragen stellen – und uns auch fragen, warum Annehmlichkeiten eine solche Ausgeglichenheit mit sich bringen, wie sie es schaffen, gedanklichen Großmut und Seelenfrieden zu spenden, und warum ihr Licht sogar Hautunreinheiten verschwinden lässt, bis wir am Ende stolz wie Starlets in die Welt strahlen. Möglicherweise tatsächlich, weil wir es uns wert sind.
So ist der Master-Limbus. Sehen Sie hin, verfolgen Sie sein Wirken.
Denn plötzlich erscheint nichts an dieser Nacht mehr anstrengend. Plötzlich riecht sie nach reiner Zivilisiertheit. Wie absurd meine Ängste im Lichte dieser Wirklichkeit anmuten! Das ist der vorrangigste und begrüßenswerteste Effekt des Masters: Er stellt einen Zustand größter Gelassenheit her. Wie könnte ich mich in einer solchen Umgebung unwohl fühlen? Zugegeben, ich habe befürchtet, von einem Chefkoch oder Auftragsschläger verhört zu werden, aber etwas an Thomas – sein Flair, seine Umgangsformen – legt nahe, dass er mit der Cateringindustrie überhaupt nichts zu tun hat. Man hat nicht den Eindruck, dass er persönlich mit Verhören jedweder Art allzu viel anfangen kann. Möglicherweise ist er einfach ein früherer Gast oder ein Freund dieses mysteriösen Basken. Jedenfalls scheint er in diesem Vorgang ein Laie zu sein, genau wie ich; wahrscheinlich denkt er, dass ich mehr weiß, als ich tatsächlich tue. Und ich kann mich zurücklehnen, muss nur den Mund halten und schauen, was kommt.
Als Austern und Schwarzbrotstreifen auftauchen, fängt er an, in sich hineinzukichern: »Hast du das mit dem Fisch gehört, in Tokio?«
»Hm? Ich war dabei. Hab selbst davon probiert.«
»Gerade eben – diese Woche?« Lachend starrt er mich an. »Und du bist noch am Leben? Das wird ja immer besser mit dir. Tokio, Tempelhof, Marius – ich habe versucht, Mutmaßungen über deine Verbindung zu Berlin anzustellen, aber an dieser Stelle gebe ich auf, ehrlich.«
Ach, die Enthusiasmen. Oder könnte es sein, dass ich endlich mit dem Schwarm schwimme, zu dem ich von Geburt an gehöre? Hat mich der Kapitalismus endlich da abgeliefert, wo ich sein sollte? Ich hätte nie gedacht, dass die Welt der Lächelnden, Eloquenten und elegant Gekleideten mein Schwarm sein könnte. Aber ich gebe zu, dass etwas an einem gewohnheitsmäßigen Lächeln das Leben erleichtert, mein Problem mit dem Lächeln ist nur, dass der Markt es als praktische Fassade der Verarsche einsetzt. Wegen dem, was hinter einem Lächeln noch alles mitläuft, kann man ihm nicht mehr trauen. Und so finde ich mich merkwürdigerweise zwischen zwei Welten wieder. Was für unterschiedliche Welten es sind! Den mürrischen Gesichtern in Gerds Kiosk zum Beispiel habe ich vertraut – weil sie mir nichts versprachen.
Ich habe dann ja auch tatsächlich nichts bekommen.
Thomas stellt Blickkontakt mit mir her. »Und stimmt es, dass er sich im Aquarium mit einem Mädchen amüsiert hat? Dein Koch? Als der Baske mich angerufen hat, konnte er vor Lachen kaum sprechen.«
»Hm. Ich glaube, bis Smuts darüber lachen kann, dauert es noch.«
»Soweit ich weiß, passiert Didiers Jungs so etwas häufiger. Er kann sicher irgendetwas unternehmen, mach dir nicht zu viele Gedanken. Ich gehe davon aus, deine Umlaufbahn im Netzwerk ist ähnlich wie meine – eine Armlänge Abstand, nur gelegentlicher Kontakt. Wahrscheinlich die sicherste Position. Ich konnte zuerst gar nicht fassen, was da abläuft. Aber so sieht es auf diesem Niveau eben aus.«
»Auf jeden Fall bin ich in einer besseren Position als Smuts.«
Unsere Blicke trennen sich, aber Thomas beugt sich vor und schüttelt leicht meinen Arm. »Du weißt, der Baske schätzt Querköpfe. Seine besten Leute sind alle so. Deswegen arbeiten sie wahrscheinlich auch so schlecht zusammen. Meine erste Veranstaltung mit ihm fand in einem preußischen Hotel statt, auf Schloss Neuhardenberg nahe der polnischen Grenze. Er hatte drei genialische Küchenchefs und sechs großartige Souschefs eingeflogen. Schon beim Fischgang gab es in der Küche eine Messerstecherei. Und als der Hauptgang serviert wurde, brannten zwei Autos, und drei Leute wurden vermisst, die nie wieder aufgetaucht sind. Wenn ich heute das Schloss besuche, ist mir das immer noch peinlich.«
»Klingt, als müsste das die Polizei magnetisch angezogen haben.« Ich nippe am Wein.
»Es war definitiv sein letztes Hotelevent. Und das letzte mit mehreren Küchenchefs. Danach ist er abgetaucht und hat richtig ernst gemacht.«
Während wir uns an den gekühlten Chablis gewöhnen und uns Zeit für die Austern und das Brot nehmen, während ich mich mit Thomas und der Situation immer wohler fühle, merke ich irgendwann, dass ich mein Gedächtnis nach Smuts-Anekdoten durchforste, die ich in die Unterhaltung einfließen lassen könnte.
»Was aber genauso heikel ist«, sage ich. »Ich meine – wie erklärt man einem Polizisten eine Weinfontäne?«
Thomas nickt und späht über den Rand seines Glases. »Soweit ich weiß, hat er nie Probleme gehabt. Na ja – man muss sich nur die Dimension der Örtlichkeiten anschauen, die er genutzt hat. Fontänen sind da noch gar nichts. Und von Anfang an war die Warnpistole das wichtigste Utensil jedes Events. Alles wird von ihr ausgehend aufgezogen, das ist heilige Tradition. Der erste Mensch, der angestellt wird, ist immer der Wachposten mit der Schreckschusspistole. Der Aux Armes. Und was bei einem Veranstaltungsort immer als Erstes überdacht wird, ist die Evakuierung. Ich glaube, es ist erst einmal dazu gekommen. Dabei hat man festgestellt, dass der Schuss die Aufmerksamkeit weg von den Evakuierten, hin zum Wachposten lenkt und so gleich einen doppelten Zweck erfüllt. Und weil nur eine Schreckschusspistole zum Einsatz kommt, ist es für den Posten nicht so schlimm, gefasst zu werden. Natürlich bekommt er in einem solchen Fall einen finanziellen Zuschlag, das muss ich nicht extra erwähnen.«
Wir stochern in unseren Austernschalen auf ihrem Eisbett herum, tunken Brot in Pfützen aus Meerwasser und Zitrone und baden unsere Finger darin.
»Mittlerweile fließt ein unglaublicher Planungsaufwand in diese Events.« Thomas lässt eine letzte Molluske über seine Zunge gleiten. »Zumindest in diejenigen, die ich mitbekommen habe. Typisch Le Basque – er ist wie ein Rich Kid, das Juwelen klaut. Sein größtes Problem ist der ihm vorauseilende Ruf; heute erwarten seine Gäste das Ungeheuerliche. Symbolismus, nicht Pragmatismus. Als Nächstes wollen sie Alcatraz oder den Louvre. Ein singuläres Event. Ein geheimer Augenblick in der Geschichte der Welt.«
Thomas hält inne, und als er Luft holt, um weiter zu sprechen, werde ich eines dicklichen Typen im grauen Anzug gewahr, der mit arroganter Ausstrahlung auf uns zuhält.
»Brandy!« Er winkt Thomas zu. »Brandy-Boy!«
»Werner.« Thomas nickt ihm zu. »Bist du gefeuert worden oder was?«
»Ich bin der Chef, soll ich mich selber feuern?« Die Gestalt setzt sich unaufgefordert und wirft großkotzig anzügliche Blicke über die umstehenden Tische. Mich begrüßt er nicht.
»War ein Scherz. Du hier? Ist schon reichlich spät für dich.«
»Bitte verschone mich – ich habe gerade meine Frau verloren.«
»Oh nein, die Alberne? Oder die Montenegrinerin?«
»Die andere – zusammen mit meinem Haus und meinen Kindern.«
»Uff, klingt kostspielig – mein herzlichstes Beileid.«
»Erinnere mich bloß nicht daran – ich wohne schon seit einer Woche im Adlon. Sie lässt mich nicht mehr ins Haus. Ich brauch Wein – sie sollen noch ein Glas bringen.«
»Nimm meins.« Thomas füllt das Glas.
»Schon gehört, wer wegen Lehman vor die Hunde gegangen ist?«
»Ssch, Werner, nicht hier.« Thomas sieht sich um.
»Was? Das ist längst keine Neuigkeit mehr, die Devisenhändler reden über nichts anderes. Madoff zieht die ganze Presse. Und in der Zwischenzeit kannst du zusehen, wie überall die Hintertüren auffliegen. Sogar bei der Weltbank soll Richtung 2012 eine Zeitbombe ticken. Weißt du, woher ich das weiß? Bei denen ist auch die Hintertür aufgegangen. Keine Ahnung, wohin die rennen wollen.«
»Kommt drauf an, wie groß die Bombe ist«, sagt Thomas. »Aber uns kann das ohnehin egal sein.«
»Uns kann das egal sein? Das ist das Ende der Theorien, Brandy. Diese ersten Crashs sind nur der Tropfen auf dem heißen Stein. Versuch mal, in diesen Tagen in Zürich ein Freizeichen zu kriegen, du schaffst es nicht – die Leitungen sind total überlastet von den eingehenden Barzahlungen.«
»Sagen wir doch einfach: Es ist eine Umstrukturierung.« Bedächtig legt Thomas seine gefaltete Serviette auf den Tisch.
»Eine Umstrukturierung! Zurück zur Subsistenzwirtschaft vielleicht. Oder zum Jagen und Sammeln. Willst du wissen, was ich über die Bank of Scotland gehört habe?«
»Wir wollten eigentlich gerade gehen.« Thomas erhebt sich. »Das ist übrigens Rufus – ein Freund von einem Freund, dem ich zufällig über den Weg gelaufen bin. Aber jetzt muss ich erstmal eine Stange Wasser in die Ecke stellen.«
»Ihr geht schon?«, ruft Werner. »Stinke ich seit Neuestem oder was?«
Als Thomas darauf nichts erwidert, fährt der Eindringling fort, unseren Wein in sich hineinzuschütten. Irgendwann grummelt er: »Rufus. Wie kommt man denn zu so einen Namen?«
»Fragen Sie nicht mich.«
Er starrt mich an. Dann mümmelt er weiter unser Brot weg.
Die Stimmung am Tisch ist gestört. Thomas’ Instinkte sind vollkommen richtig. Die Zivilisiertheit, die eine überaus empfindliche Textur haben muss und vielleicht sogar nur gasförmig ist, hat sich verflüchtigt. Nachdem ich minutenlang Zeuge davon werde, wie Werner sich den Rest von unserem Brot einverleibt und schlürfend wie ein Schwein unseren Wein austrinkt, starte ich einen Gesprächsversuch:
»Habe ich richtig gehört, Sie haben Brandy zu ihm gesagt?«
»Ja«, grummelt er. »Das Leben ist viel zu kurz, um sich seinen ganzen Namen zu merken. Georg Philip Frederick Florian von Brandenburg-Stendal-Sachsen-und-keine-verdammte-Ahnung-was-noch. Der braucht eine Visitenkarte, die einen Meter lang ist. Der scheiß Kleine Prinz, hat noch nie eine Frau mit Haaren am Arsch gesehen.«
Thomas kommt gerade rechtzeitig zurück, um das zu hören, und bedeutet mir aufzustehen. »Im Gegensatz zu dir kann ich einen Frauenarsch von einem Männerarsch unterscheiden.«
»Verpiss dich.« Werner trinkt den letzten Tropfen Wein, und wir lassen ihn sitzen, während er eine Mutter und deren Tochter dreckig angrinst.
Als wir Richtung Ausgang gehen, nickt uns die Belegschaft zu. Im Vorbeigehen schnappt sich Thomas von einem Servierwagen eine volle Flasche Rochelt Vogelbeere und klemmt sie sich unter den Arm. »Herr Bauer übernimmt die Rechnung«, lächelt er. »Das hier gehört dazu.«
»Selbstverständlich, Herr Stendal.«
Als wir draußen sind, drückt er eine Taste auf seinem Handy, und als wir wieder oben an der Friedrichstraße stehen, ist der Mercedes schon da.
»Dass man zu Arschlöchern höflich sein muss«, sagt er und steigt seufzend ein, »ist eine der Schattenseiten der Geschäftswelt. Schade ums Abendessen. Dass Bauer hier aufläuft, ist ungewöhnlich – normalerweise ist er drüben im Borchardt. Entspricht mehr seinem Temperament. Einmal hat er den Basken mit rübergenommen. Schlechte Idee. Da hat der Herr Kapitän doch gedacht, der Baske verstünde kein Deutsch und hat ihm vor seiner weiblichen Begleitung die Schuld für einen Fehler mit dem Tisch in die Schuhe geschoben. Was für ein schlechter Ton, unglaublich.«
»Ein Söldner der Sünde«, sage ich bedeutungsschwanger, verstehe mich im Grunde aber selbst nicht.
Thomas sieht trotzdem zu mir herüber. »Genau das ist Bauer – nur Geld, keine Klasse. Typisch Berlin, dass wir gerade dem über den Weg laufen, aber du weißt ja, wie’s ist. Der Mauerfall ist jetzt zwanzig Jahre her, und trotzdem gibt es in unserer Liga erst eine Handvoll Lokale, in die man gehen kann. Ansonsten bleiben nur Pasta und Döner. Oder da oben, wo du wohnst, Joghurt und Bionade. Erstaunlich, dass du überhaupt überlebt hast.«
»Mein Gepäck wiegt zwanzig Kilo, alles Marius.«
Thomas nickt erst und dreht sich dann zu mir. »Du gefällst mir, Gabriel.«
Wir fahren durch ruhige Straßen und halten schließlich schnurrend vor einem Baby-Hochhaus, das sich hinter anderen Gebäuden auf der Stresemannstraße versteckt. Keinerlei Beschilderung ist zu sehen, und die Eingangstür ist verschlossen. Aber hinter einer Scheibe zeichnet sich eine schemenhafte Gestalt ab, die nach draußen schaut. Wir warten einen kleinen Moment, dann geht die Tür auf, und das Gesicht eines jungen Mannes erscheint, das sich bei Thomas’ Anblick aufhellt. Wir werden eingelassen; zuerst zu einer Garderobe, wo eine Frau uns die Mäntel abnimmt, dann geht es in einen gläsernen Aufzug hoch zu einem Penthouse, einem Lokal, dessen Wendeltreppe sich zu einer zweiten Ebene, einem dunklen, experimentellen Raum emporschwingt. Auf drei Seiten öffnen sich bodentiefe Fensterfronten, davor Sofas und Hängesessel, auf denen sich schöne Menschen räkeln und von coolen Rhythmen befächelt werden. Hinter einer Bar, wo Cocktails leuchten und im Takt der Musik pulsieren, flimmern Filme über die einzige Wand des Raumes.
»So«, sagt Thomas, »und jetzt reden wir.«
Wir nehmen Wodka Martinis mit in einen Raucherbereich, wo King-Size-Lederbetten an einer Wand entlang aufgereiht stehen und die gesamte Stadt überblicken. Ein Pärchen und eine Dreiergruppe lümmeln auf zweien der Betten, und wir belegen ein drittes, wo rotes Licht, Rauch und eine gewisse Schwermut für Opiumhöhlenatmosphäre sorgen. Beim Platznehmen lasse ich den Blick durch die Fenster über die niedrige Skyline Berlins schweifen; nur einen Moment später bleibt er an einem Flecken Dunkelheit hängen, einem regelrechten Loch im Ausblick auf die nähere Umgebung. Es sieht aus, als sei ein ganzer Straßenblock vom Weltraum verschluckt worden. Ich mache Thomas darauf aufmerksam.
»Topografie des Terrors«, sagt er.
»Ist das ein Park? Sieht nach krass dichtem Gestrüpp aus, das Licht schafft’s ja noch nicht mal von der Straße auf das Gelände.«
»Das ist das ehemalige Gestapo-Hauptquartier. Das Hotel Prinz Albrecht, wo die SS ihren Sitz hatte, stand da auch. Das war die Adresse von Himmler, Heydrich und Eichmann.«
»War das nicht alles zerstört?« Ich recke meinen Hals, um genauer hinzusehen, aber kein Licht entkommt der Dunkelheit, nicht einmal der Glutpunkt einer Zigarette ist zu sehen. Eine gelöschte Fläche inmitten von Berlins blinkender Landkarte.
»Sicher, am Ende des Krieges. Dann kamen die Russen, und die Geschichte ging weiter. In der DDR wussten sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Einen Kinderspielplatz bauen?«
Die Rauschmittel des Abends beginnen, sich am Fuß des nächsten Anstiegs zu sammeln, auf einem Pfad hinauf auf die Hochebenensteppe des Nimbus, wo es gilt, mit weisen Gedanken unter Sternen zu schweifen. Ich beschließe, mir diese Nimbus-Stufe dienstbar zu machen, um den Abend seinem Zweck nicht entgleiten zu lassen.
»Smuts ist in ein Gefängnis verlegt worden«, sage ich.
Thomas lehnt sich zurück und kneift hinter seinem Martini-Glas ein Auge zu. Müßig münzt er Smuts’ Namen in ein deutsches Wort um: »Schmatz«, sagt er. »Schmatz – ein guter Name für einen Koch. Pass auf, der Baske weiß, dass wir uns heute treffen. Augenscheinlich ist die Situation nicht so einfach. Japan ist schwierig und liegt etwas abseits seines Territoriums. Aber er steht zu Smuts. Das solltest du wissen. Vor einiger Zeit hat er mir mal erzählt, wie er ihn im Kempinski in Brügge gefunden hat. Hat Smuts dir das auch mal erzählt? Vielleicht ist ihm gar nicht klar, was für einen Eindruck er damals hinterlassen hat.«
»Ein paar Geschichten aus dem Kempinski kenne ich.«
»Der Baske hatte so das eine oder andere Gerücht gehört, ist hingegangen und hat so getan, als sei er ein einfacher Gast. Er kam spät und verlangte nur amuse-bouches. Und zwar zehn verschiedene amuse-bouches, und offensichtlich hat Smuts seinen Kopf aus der Küche gesteckt, um nachzusehen, wer dieses Franzosen-Arschloch war. Aber weder schlug er ihm seinen Wunsch ab, noch machte er ihm ein paar amuses von der Karte. Nein, er fuhr mit einem Servierwagen voller Zutaten an den Tisch, schnappte sich die hübscheste Kellnerin und dachte sich an Ort und Stelle kleine Gedichte aus. Direkt am Tisch. Beim letzten nahm er ein Scheibchen Fisch, zog ein Feuerzeug und grillte den Fisch zwischen seinen Fingern. Dann fütterte er Didier Laxalt mit der Hand, wie ein Baby. Kannst du dir das vorstellen?«
»Klingt nach Smuts.«
»Hör zu, Didier erzählt nicht über jeden Koch, dem er begegnet, gleich Geschichten. Er schnappt sich Talente und zieht sie nur für sich heran. Talente, die nicht auf die reine Küchenlehre festgelegt sind, sondern sich als Teil der sinnlichen Welt begreifen und aus allem Vorgefundenen etwas machen können. Es ist eine Art zu fliegen. Ich selbst habe so etwas auch erst ein paar Mal miterlebt. Das ist auch der Grund, weshalb der Baske nicht auf Michelin-Sterne aus ist, ja, sie sich sogar lieber wieder aberkennen lässt. Denn ein Stern verlangt Beständigkeit über eine gewisse Zeitspanne. Das ist etwas für Verheiratete, die dasselbe immer und immer wieder tun. Aber wer solche Talente für Routine verschwendet, stellt ihr Licht unter den Scheffel. Der Baske sucht nach dem autonomen Genie, dem wilden, freien Naiven – und natürlich geht er dabei auch das Risiko ein, dass solche Leute auf spektakuläre Art und Weise scheitern. Aber wenn nicht, trotzen sie der Natur eine derart atemberaubende Erfahrung ab, dass niemand sie je wieder vergisst oder Worte der Beschreibung dafür findet. Und das ist, denke ich, auch der Fall bei unserem Freund in Tokio. Ich wollte es einmal laut gesagt haben, damit wir beide verstehen, was uns hier zusammenbringt. Und damit du dir sicher bist, dass er mächtige Freunde hat. Der Baske kommt aus der Fremdenlegion, denk dran. Er lacht vielleicht über ein paar Tage im Gefängnis – aber er weiß auch, was Bruderschaft bedeutet.« Weit ausholend verpasst Thomas mir einen Klaps aufs Bein. »Also, entspann dich. Kopf hoch. Niemand wird ihn einfach so verschwinden lassen.«
Ein Hochgefühl durchflutet mich, eine Art hoffnungsfroher Entschlossenheit. Dieser Master-Limbus ist nicht von Nörglern oder Theoretikern bevölkert, sondern von Männern der Tat.
Thomas leert sich den Martini in den Mund, lässt ihn dort kreisen, schluckt und sucht dann meinen Blick: »Was uns zur entscheidenden Frage bringt.«
Kurz kann ich wegen meines eigenen Glases vor Augen sein Gesicht nicht mehr deutlich erkennen. Aber als ich mir den flüssigen Inhalt zur Gänze in den Mund gekippt, mit der Zunge umgerührt und hinterher noch die Eiswürfel meinen Hals hinab habe gleiten lassen, als meine Zunge still steht und das Glas sich von meiner Lippe löst – stelle ich fest, dass ich von seinen schwarzen Augen durchbohrt werde.
»Das Offensichtliche kann ich mir selbst zusammenreimen«, sagt er. »Aber fassen wir noch mal zusammen, damit wir uns auch richtig verstehen: Smuts spricht von einem dekadenten Club im Flughafen Tempelhof. Wie du wissen wirst, gibt es unter den dort ansässigen merkwürdigen Unternehmen auch ein altes Varieté – aber für die von Smuts beschriebenen Zwecke ziehe ich es nicht in Betracht. Und da der Flughafen diesen Monat schließt, rechne ich auch alle anderen festen Veranstaltungsorte raus. Wir haben uns ja bereits darüber verständigt, dass man einige Gebäudeteile, die sich in öffentlicher Hand befinden, für private Anlässe mieten kann – nach Betriebsschluss auch die Abfertigungshalle. Aber wir beide wissen, dass das Gebäude über Räume verfügt, von denen einige seit Jahren nicht betreten wurden.« Thomas’ Lächeln beginnt zu flackern. »Es läuft also auf einen Punkt hinaus. Worüber ich anfänglich, als mich der Baske nach meiner Meinung gefragt hat, nur gelacht habe.«
Ich fühle mich in eine Ecke des Lounge-Sofas gepresst.
»Aber nach seinem Anruf habe ich noch mal nachgedacht. Ich habe über Smuts’ Behauptung nachgedacht. Diese unglaubliche Behauptung. Die, offen gesagt, fast lächerlich ist: Smuts hat nämlich behauptet, dass ihm mehrere Kilometer des Tempelhofer Flughafens zur Verfügung stünden.«
Mein Puls fängt an zu hämmern.
Thomas lehnt sich vor und fährt fort, fast flüsternd jetzt: »Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, habe ich den Basken angerufen und ihm gesagt, dass es eine einzige vorstellbare Möglichkeit gibt, dass es wahr ist. Ein eigentlich vernachlässigbarer Bruchteil einer Wahrscheinlichkeit. Aber wenn es wahr wäre, würden wir im Leben keine zweite derart elektrisierende Gelegenheit bekommen. Und wenn wir dann noch schnell zuschlügen, würde auch das Timing nie mehr perfekter werden. Deswegen, Gabriel Brockwell, eine kleine Frage.«
Mein Herz bleibt stehen.
»Nenn jetzt keine Namen«, flüstert er. »Sag mir nur: Hast du Zugang zu dem Komplex? Dem einzigen, den Smuts meinen kann?« Ohne zu blinzeln starrt er mich an.
Meine Zunge zuckt über die Lippen. Langsam fange ich an zu nicken, als würde ich mir genau diesen Ort vorstellen, als würde ich sein Bild vor meinem geistigen Auge zusammensetzen. »Ja«, höre ich eine Stimme schließlich sagen.
Thomas lässt sich zurückfallen, sieht flüchtig nach links und rechts. »Wie zum Teufel hast du das geschafft?«
Ich sitze schweigend da. »Du hast gesagt, nur eine Frage.«
Wir verharren in absoluter Bewegungslosigkeit und beobachten uns gegenseitig. Dann stürzt er sich auf mich, ringt mich zu Boden, strubbelt mir durch die Haare, boxt mir gegen den Arm. »Du hast es drauf. Lass uns trinken.«
Whoosh. Mit dem Aufzug fahren wir hinunter zu dem wartenden Wagen, aus dem Thomas zwei edle Zigarettenetuis holt, von denen er mir eines mit dem Wort überreicht: »Überlebensausrüstung.« Dann schnappt er sich die Flasche Rochelt und flitzt los wie ein Junge mit einem Drachen. Wir fliegen um die Ecke und befinden uns auf der Straße, an der sich das schwarze Loch der Topographie des Terrors entlangzieht, mit ineinander verwachsenen, knarzenden Gehölzen und Ranken, die sich auf den Bürgersteig schlängeln. Kurz vor der nächsten Straßenkreuzung drückt ein schmales, mit hohem Gras bewachsenes Stück Niemandsland den Dschungel vom Zaun weg, und hier bleiben wir keuchend stehen. Thomas sieht prüfend die Straße hoch und runter, aber nur sein Mercedes schleicht mit gehörigem Abstand hinter uns her. Wir konzentrieren uns auf den höchstens schulterhohen Zaun, der dafür, dass er eine Art Hölle unter Quarantäne stellt, ziemlich dürftig ist. Thomas findet eine Stelle, wo er zusätzlich noch verbogen ist, und rüttelt daran.
Mit einem angestrengten Laut überspringt er das Drahtgeflecht und drückt es hinunter, damit ich hinüberklettern kann.
Wir entschwinden aus der heutigen Zeit.
Auf dem Weg ins Herz der Wildnis wird unsere Verbindung mit der Stadt schwächer und die Dunkelheit so undurchdringlich, dass wir uns den Weg durch das Gestrüpp ertasten müssen. Es ist der Schauplatz eines Hexenmärchens: Äste drehen und winden sich wie drahtige Fasern, Wurzeln kratzen an unseren Füßen; und wie als warnende Mahnung, besser kehrtzumachen, kommt ein Wind auf, der die Wipfel über uns schüttelt. Thomas lässt sein Handydisplay aufleuchten, und sofort greifen monströse Gehölze nach uns, Schemen von eingeringelten Schlangen und kopfgroßen Spinnen.
Das alles hat einen Angstnimbus, aber ich kann darin auch den Kern von etwas anderem ausmachen, einer noch jungfräulichen, berauschenden Energie. Als ich versuche, ihr auf die Spur zu kommen, stelle ich Folgendes fest: An diesem Ort ist der Intellekt von der Wahrnehmung abgeschnitten. Wir fliegen mit Autopilot, denn nur das Hirn weiß noch, dass wir uns im Herzen einer Hauptstadt befinden – der Sinneswahrnehmung wird nichts geboten, was das belegen würde, ja, es sieht alles nach dem exakten Gegenteil aus. Diese innere Zerrissenheit zeitigt ihre eigene sensorische Hochspannung, ein bisschen wie das, was Fallschirmspringer empfinden müssen. Es ist, als würden die Sinne dem von der Natur grob zusammenstückelten Gehirn keinen Glauben mehr schenken.
Zusätzlich sind unsere Atemwege vom Laufen weit geöffnet. Wir saugen Urwaldnebel in uns auf, dessen rauschhafte Energie so klar ist, dass ich mir fast sicher bin, dass Sport Teil des Plans war. Vor mir leuchtet Thomas mit seinem Handy das Dickicht an, und ich frage mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich einen Großmeister des Nimbus vor mir habe. Wer sonst wäre mit einer Flasche Schnaps an der furchteinflößendsten Adresse der Welt unterwegs?
»Achtung.« Er deutet auf ein Loch vor uns.
Durch eine Bresche im Unterholz geht es über einen Haufen aus Ranken und Schutt in den Untergrund. Wir brauchen ein paar Sekunden, um uns an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber dann werden symmetrische Strukturen aus Ziegeln und Beton erkennbar. Eine Lichtung inmitten der Grundmauern, die einen Blätterteppich umschließt. Irgendwie einladend, und wir setzen uns, wobei wir die Krägen hochklappen und die Mäntel fest um uns ziehen. Mir geht durch den Kopf, wie selten man auf eine derart ungebändigte Natur in ihrer kannibalischen, chaotischen Reinform trifft, wo ein Parasit auf dem anderen hockt – den freien Markt mal ausgenommen. Mit dem Handy leuchtet Thomas in seinem Zigarettenetui ein kleines Döschen Koks, eine Rasierklinge und einige Joints oder Zigaretten an. Ich ziehe mein Etui ebenfalls hervor und finde dasselbe, aber er hält mich davon ab, das Kokain zu öffnen: Ganz zuunterst liegt ein Zellophanbriefchen, das ein rechteckiges Löschpapier mit LSD enthält. Mit der Klinge schneidet er für jeden von uns ein Eckchen ab.
»Koks würde uns auskühlen«, sagt er. »Das hier ist auch schnell, hält aber länger an. Wir brauchen gar nicht viel, nur genug, um ein Basislager einzurichten.«
Ein Basislager. Die Worte eines Hexenmeisters. Die Papierstückchen spülen wir mit der Vogelbeere runter, und er zündet eine Zigarette an, deren bitterer Rauch sich mit dem Bodennebel mischt. Ich ahne, dass es Heroin ist. Ich sitze also im Gestapo-Hauptquartier und konsumiere mit einem Hexenmeister des Nimbus Heroin und Vogelbeerenschnaps. Wie kann das sein? Vor meinem geistigen Auge spannt sich ein historischer Faden von der Bistroküche nach der Schule bis hierher. Smuts hat den Faden aufgenommen und diesen Augenblick aus dem Meer der Möglichkeiten an Land gezogen; ein Augenblick, der zu einem Leben voller Genie, Wolllust und animalischem Glück gehört.
Und jetzt sitze ich ohne Smuts am Ende des Fadens.
Und es liegt an Thomas, Smuts wieder an Land zu ziehen.
Er reicht mir den Schnaps und zündet sich einen Haschjoint an. Mir dämmert, dass mein Limbus ein paar Nummern kleiner ist als der Alltag dieser Männer. Die Kultur hat meinen Geist längst klein gekriegt. Was für mich Besinnungslosigkeit ist, ist für Thomas ein ganz normaler Donnerstagabend. Schwindelnd falle ich auf das Blätterbett und spüre mein Bewusstsein an seinen Bandagen zerren. Und frage mich, was erschreckender ist: Über einen Geist zu verfügen, der sich in höchste Höhen aufschwingen kann – oder eben nicht. Als eine Bö über unseren Köpfen raschelnd in die Blätter fährt, funkelt Thomas’ mich aus den schwarzen Augäpfeln einer Krähe an. Meine gedankliche Auseinandersetzung muss in die Luft gesickert sein, denn er sagt geheimnisvoll: »Beim Genießen Maß zu halten ist gar nicht nach meinem Geschmack. Göttlichkeit erreicht man über die Sinne; ob man sich der Sinneseindrücke erwehrt oder in sie eintaucht – wir leben proportional zur Tiefe unserer Empfindungen.«
Die Worte bringen den Nimbus zum Aufflammen. Das LSD erreicht seinen Höhepunkt. Thomas legt sich auf den Rücken, und ich sehe sein Gesicht im Profil, seine offen stehenden Lippen, die herausstehende Zungenspitze. Er ist jetzt ein Mensch in Grundeinstellung, sein Körper nur noch Instrument; Ambition und Psychologie sind ausgeschaltet. Die Drogen haben uns abgekoppelt, wir sind wie leere Tunnel, durch die Stürme blasen können. Er dreht sich um, sieht, wie ich ihn betrachte, und wir lächeln in dem Wissen, dass wir uns wirklich kennengelernt haben. Um uns herum schäumt die Dunkelheit. Irgendwann klingelt sein Handy. Er hält es sich ans Gesicht, erleuchtet es in geisterhaftem Grün, aber was er sagt, höre ich nicht. Ich versuche, den Splittern auszuweichen, die aus dem Klingeln gefallen sind, werde aber trotzdem in beiden Augen getroffen.
Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Natur.
Sie hat mich in ihr Boudoir gelockt, und so liege ich hier. Nachdem ich mich so abfällig über sie geäußert habe. Ein rachsüchtiges Schicksal hat mich ihr ausgeliefert, vielleicht auch Smuts’ Faden oder das Bistro meines Vaters oder mein Limbus oder Himmler. In dieser Nacht besteht eine perfekte Verbindung zur einen oder anderen Ordnung, das spüre ich – zu welcher, ist mir noch nicht ganz klar. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Natur um uns lauert, so sicher wie der Geruch nach Scheiße die Nähe des Teufels anzeigt. Und tatsächlich fangen jetzt auch Blätter und Stängel an, sich auf mich zu stürzen, sie rucken und zucken, verschlingen und würgen mich, und unter meinem Schädel verwest die Erde. Ich habe eine Offenbarung – und zwar, dass es nicht in der Hölle heiß ist, sondern im Himmel: heiß und flüssig. Die Hölle dagegen ist kalt und faulig.
Thomas reicht mir eine Zigarette, und ich klammere mich an sie wie an einen Rettungsring. Ihre Spitze brennt Löcher in die Dunkelheit, und wenn ich sie kurz stillhalte, bleiben flammende Kleckse zurück, die nicht mehr weggehen. Der Nimbus fordert seinen Tribut. Ich versuche, die Zigarette über meinem Gesicht ruhig zu halten und daran zu ziehen, ohne hinzusehen. Doch dann kommen Stimmen. Es japst und kichert im Dunkeln. Zwei Frauen treffen ein, und eine beugt sich zu mir hinab und vergräbt ihre Hände in meinem Körper, verteilt meine Essenzen über die Ruine. Mit ihrer Zunge sticht sie in sie hinein, und der Dunst der Erde vermengt sich mit Vaginalschweiß und dem Bouquet von Küssen, die Dünste beizen uns, legen sich scharf auf unsere Haut, pressen uns schmatzend ineinander, bis unsere Säfte zu Boden laufen und wir gemeinsam sterben, um hier im Schoß der Natur zu verrotten. Ah, es ist ein Schlachtschiff von einem Nimbus.
Nie wieder werden meine Einzelbestandteile sauber zusammenpassen.
Dann übermannt mich der unruhige Schlaf des Erkalteten, der Schlaf des Gewürms, und hält mich in seinen Armen, bis ich in einem anderen Leben erwache.
Licht piekst durch das Blätterdach. Die gebieterische Natur lockert ihren Griff, ist doch die Nacht ihr Reich, weil sie sich besser zum Töten und Verwunden eignet. Jetzt verspotten die Speichellecker der Natur, die Vögel, jene Seelen, die vor Anbruch des Tages gestorben sind. Ein Mädchen ist bei mir. Ich schmiege mich an sie und taste nach einem Hintern, zwischen dessen Backen ich eine Hand schieben kann, dorthin, wo noch Weichheit und Wärme sind. Thomas liegt mit weit von sich gestreckten Gliedern neben mir, eine andere Frau hängt wie ein nasser Sack über ihm und fängt gerade an, sich zu regen. Wir sind hosenlos. Ein gepunkteter Slip weht in den Wipfeln über uns an einem Ast.
Nadeln aus Sonnenschein durchbohren die Blätter.
Thomas’ Mädchen hat dicke Lippen. Die Wimpertusche ist auf ihren Wangen verlaufen. Sie streckt die Hand aus, um einen Korbkoffer durch die Blätter heranzuziehen, dem Thomas Injektionsbeutel mit Schläuchen entnimmt. Er hängt sie über unseren Köpfen an einen Baum, und Pfirsichnektar entströmt ihnen und lässt uns blinzeln, als er uns in den Mund läuft. Dann taucht ein armenischer Weinbrand auf, und wie in einer Notaufnahme folgt ein mehrstufiges Therapieverfahren, das unsere Körper im Schnelldurchlauf durch Äußerungsformen von Übelkeit, Kopfschmerz, Benommenheit, Angst, Lust und schließlich Hunger jagt. An diesem Punkt angelangt, löffelt Thomas uns Kokain in die Nase, bei den Mädchen angefangen.
»Hier«, sagt er, »weil ihr nur Objekte für uns seid.«
»Gott sei Dank«, sagt das Mädchen schniefend, »sonst müssten wir noch so tun, als würden wir euch respektieren.«
Sonnenlicht überstäubt dieses Plateau der Erholung. Die Luft schmeckt frisch gereinigt. Wir fühlen uns wie Berlin: nach heftiger Bombardierung bei lebendigem Leibe aufgewacht. Dann spendet Ingwer-Limetten-Schokolade von Lauenstein neue Hoffnung, Zigaretten erwecken den Humor, und am Ende fällt mir sogar auf, dass meine weibliche Begleitung stechend blaue Augen hat. Auf diesen Pfeilern errichten die Instanzen des Lebens eine provisorische Herrschaft, die stabil genug ist, um eine wilde Knutscherei auszulösen, die solange dauert, bis aus dem Korb von der Natur perfekt gekühltes Bier auftaucht. Motiviert von dieser beherzten Therapie wirbeln wir – der Aristokrat, die Sphinx und die ranken Mägdelein – kurz darauf wie Nymphen und Satyre aus der Unterwelt empor.
Auf der Anhalter Straße ist früher Morgen. Die Stadt und das Sonnenlicht treffen uns wie ein Beckenschlag. Ein Stück die Straße hoch steht wartend unser Wagen, mit einer neuen Fahrerin. Und genau in diesem Moment habe ich eine Epiphanie von solch monströser Größenordnung und blendender Wirkung, dass es sich anfühlt, als hätte sich meine Haut in der Sonne von außen nach innen gestülpt, als wären meine Innereien Magneten, die unübersehbare Mengen an Glücksfällen anziehen. Sie lautet: Alles kann passieren, wenn ich nur will.
Der Master hat meine gesammelten Zweifel zur Hölle gebombt.
Ein dekadentes Bankett im Flughafen Tempelhof – warum eigentlich nicht?
»Gleisdreieck!«, singen die Mädchen. »Gleisdreieck!« Wir lassen den Korb stehen und fliegen über leere Straßen bis zu einer sandigen, mit Gebüsch bestandenen Prärie, die sich aus dem Nirgendwo auftürmt, dann kommen ein Wäldchen, überwucherte Schienen und bröckelnde Bahnhöfe, die nach dem Krieg aufgegeben und irgendwie im Herzen Berlins vergessen wurden. Die Stadt verschwindet, an ihrer Stelle öffnet sich ein Land namens Gleisdreieck, wo einst der Hauptbahnhof des Dritten Reichs stand. Unsere Sinne schwirren ungezügelt umher, unsere Schuhe liegen vergessen in Himmlers Dschungel, und so schweifen wir plaudernd und lachend durch Ruinen, über Dünen, zwischen Schienensträngen, folgen Schildern zu längst versunkenen Orten, bis der Morgen zu einer Collage wird, zu einem Sonnentanz, bei dem wir schließlich schwer atmend zusammenbrechen, umfangen von weitläufigem, buschigem Dickicht, staubig wie Cowboys, einander liebkosend, bis wir erneut verschwitzt vor Sex sind.
So liegen wir unter einem grasbewachsenen Vorsprung, Zeit vergeht, ein Luftzug streicht über uns hinweg, hebt Rocksäume an, verweht Haare – bis eines der Mädchen plötzlich gähnt.
Und als hätte man einen Schalter umgelegt, ist die Nacht vorbei.
Im Licht des Tages altern wir schnell, werden zu Höllenwesen, gefangen in Untiefen. Warnend fallen die langen Schatten des Unterholzes auf uns. Der Himmel wird blau, die Erfüllungsgehilfen der Natur sind sicherlich schon dabei, sich zusammenzurotten, um sich gegenseitig zu töten und zu zerfleischen. Wir entscheiden uns für einen Pfad entlang der Schienen, vorbei an alten Lagerhäusern, bis nach einer letzten Sandbank schlussendlich die Stadt wieder auftaucht. Direkt vor uns verläuft eine große Straße, und ich sehe, dass es die Yorckstraße ist. Wir sind in Kreuzberg. In Minutenfrist schnurrt der Mercedes heran, und wir fallen hinein, die Mädchen liegen kichernd auf uns; in der Gedämpftheit des Wagens schürt ihr modriger Geruch in mir den Wunsch, eine von ihnen mit nach Hause zu nehmen und dann bei einer Dose voller Kekse einzuschlummern. Doch ich spüre, es wird nicht passieren. Traurigerweise. Diese Mädchen besitzen die Fähigkeit, zu kommen und zu gehen.
Ich lehne meinen Kopf ans Fenster und freue mich auf mein Bett, bis ich irgendwann merke, wie das Auto langsamer wird und wendet, als würde es sich einem Ziel nähern. Ich öffne ein Auge. Wie eine Festung dräut neben uns der vom Morgen noch nicht angeleuchtete ZENTRALFLUGHAFEN.
»Du weißt schon noch, dass ich in Prenzlauer Berg wohne?«, krächze ich.
»Hm?« Thomas’ Lider flattern: »Aber lass uns doch kurz mal unseren Komplex besichtigen.«
Hämmernd springt mein Puls an.
»Wir rufen den Basken gleich von hier aus an. Den Schlüssel hast du doch dabei, oder?«