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Ich hole die tropfende Zitronenscheibe aus dem Wasser. Dann lehne ich mich übers Sofa, knipse die Lampe an und fummle den Stecker ein kleines Stück aus der Wand. Er hat einen Federmechanismus, der ihn eigentlich ab einem bestimmten Punkt herausspringen lässt, aber ich nehme ein paar Zeitschriften vom Tisch und schiebe sie zwischen Boden und Steckdose. So wird der Stecker in einem Abstand zur Steckdose gehalten, durch den immer noch Strom fließt. Und da schiebe ich die Zitrone rein.

Whoosh. Peng! Ein Schlag schießt durch meinen Arm. Im gesamten Haus gehen Maschinen und Lichter aus. Mit schwindenden Sinnen fliege ich rückwärts.

Eine dunklere Stille legt sich über alles. Der Tod?

Dann Schritte hinter der Tür.

Mechanismen zur Arbeitssicherheit haben sich zwischengeschaltet. Ich dehne meinen Kiefer, bewege ihn nach links und rechts, blinzele ein paarmal. Als mein Bewusstsein zurückkehrt, breitet sich ein neues Gefühl in mir aus. Ich bin durch die nächste kleine Tür geschlüpft. Zurück in der Limbus-Zwischenzone – aber diesmal tiefer drin, auf einer neuen Ebene. Verglichen mit dieser Hochglanzsturmbö war der erste Limbus gerade mal ein laues Lüftchen. Vielleicht, weil ich unter Beweis gestellt habe, dass ich mutig genug bin für tödliches Risiko und Schmerz.9 Vielleicht legt einem der Limbus, wenn man sich auf der Treppe nach oben zu seinem Boudoir befindet, auch Prüfungen in den Weg, so wie bei einer echten Odyssee. Als ich mich umsehe, merke ich, dass ich mich ein weiteres Stück aus der Objektwelt entfernt habe, fast so, als würde ich einen iPod tragen; was nur hilfreich sein kann, um mit meinem Vater zurande zu kommen, der, wie Geräusche an der Tür nahelegen, die nächste Prüfung sein wird. Klar ist: Mein Limbus muss ausgedehnt werden. Vielleicht muss er noch die ganze Nacht dauern – oder sogar noch ein, zwei Tage lang. Vielleicht müssen Smuts und ich für unser letztes Besäufnis ja sogar verreisen.

Warum nicht – wenn sowieso alles egal ist?

Ich parke diesen Gedanken im Arbeitsspeicher meines Gehirns, wo die Enthusiasmen Wünsche zur Bearbeitung vorfinden. Der Gedanke sitzt da jetzt ganz allein; sämtliche alten Wünsche sind weg. Neben meinem Wunsch zu sterben existiert nur noch dieses eine Vorhaben. Mal sehen, welche Grillen die Enthusiasmen noch geltend machen – wie Sie sicher wissen, werden Wünsche in aller Regel von ihnen noch zusätzlich ausgeschmückt.

Das Licht geht wieder an, und kurz darauf kommt mit angesäuertem Gesicht David herein. »Rauchen Sie hier drin?« Er schnuppert. »Bitte rauchen Sie hier drin nicht. Ihr Vater möchte Sie sprechen.« Erst fahndet er noch schnell nach Zigaretten, dann reicht er mir das Telefon.

In meinem Arm pocht es, als ich es entgegennehme. Mit immer noch prüfendem Blick bedeutet mir David, in den Flur zu treten, und schließt hinter uns die Tür. Beim Verlassen des Raumes höre ich erst ein Zischen, dann ein Knistern. Mit einem Klicken geht das Licht wieder aus. Ein Pfleger eilt über den Gang heran.

Mein Vater sagt: »Was ist denn da eigentlich los?«

»Ich werde gegen meinen Willen festgehalten.«

»Wie bitte? Du hast es nicht anders gewollt, würde ich sagen. Rauchst du da drin etwa?«

Ich lasse ein paar Sekunden des Schweigens ins Land gehen, um seinem Tonfall die Spitze zu nehmen. Dann sage ich: »Ein Gefängnis sollte es aber nicht sein.«

»Du kannst froh sein, dass du nicht im Gefängnis bist. Deine Kommunistenfreunde sind ständig in den Nachrichten.«

»Übertreib nicht. Und Kommunisten sind die auch nicht, sondern Anti-Kapitalisten.«

»Vandalen sind das, genau wie diese Rotte von Tierschützern. Rauchst du etwa?«

»Hör mal …«

»Alle angeklagt, das ganze Pack.«

»Der Punkt ist: Ich habe nichts gemacht.«

»Und immer sind es eure Eltern, die euch dann da rausholen müssen, das finde ich herrlich.«

Ich halte den Mund, während er über dies und jenes Dampf ablässt, über die »Parasiten, die nichts zur Gesellschaft beitragen« und so weiter. Älterwerden macht unweigerlich konservativ, da führt kein Weg dran vorbei, es sei denn, man ist Franzose. Irgendwann ist es an meinem Ende der Leitung still genug, dass David sich wegen der Therapiegruppe entschuldigen kann und weggeht. Ich bin alleine im Flur.

»Ich bin auf ein paar Probleme gestoßen«, sage ich schließlich.

»Ach, tatsächlich. Es ist ein Wunder, dass du diesen Brandsatz überhaupt noch hochheben konntest.«

»Das meine ich nicht, meinen ersten Drink hatte ich erst viel später.10 Ich versuche gerade, dir zu sagen, dass ich den Glauben an die Sache verloren habe. Das Haus war viel zu schön, um es zu beschädigen. Es waren Kapitalisten, die es restauriert haben, dieses stolze viktorianische Denkmal mit seinen Pfeilern und Volants. Geld hat es restauriert. Es war wie eine Offenbarung. Mir war plötzlich klar, dass nicht das Kapital das Problem ist – sondern dass ich das Problem bin. Dass wir das Problem sind. Dass die Natur das Problem ist. Warum war ich gekommen, um so ein schönes Gebäude zu beschädigen?«

»Noch mal zwei Schritte zurück«, sagt mein Vater. »Du bist also das Problem.«

»Ich habe meine Bankkarte an die Tür zur Bank gehalten – und sie haben mich reingelassen. Die Leute von der Aktionsgruppe haben Beifall geklatscht, weil sie dachten, ich hätte eine Bresche in die Verteidigung geschlagen. Für sie. Dabei stand ich einfach nur drinnen und habe zugesehen, wie sie auf den Stufen verhaftet wurden. Ihre Gesichter werde ich nie vergessen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Egal, mit wem ich mich verbünde, die Mehrheit wird mich immer ausstoßen. Meine Bemühungen, eins mit der Menschheit zu werden, waren sinnlos. Es gibt nicht nur den einen rechten Weg. Das eine wirklich Wahre. Gott ist tot, die Märkte haben ihn ersetzt. Und auch die sind gerade dabei, sich zu verabschieden. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, weil es nämlich kein Wir mehr gibt.«

»Was meinst du mit Gott ist tot? Du hast jede Freiheit, dich für ein Glaubenssystem deiner Wahl zu entscheiden, das ist doch gerade das Tolle an der heutigen Zeit!«

»Dad – es gibt einen Film, der heißt Die Zeugung Jehovas

»Du bist ja komplett von der Rolle. Haben sie dir Beruhigungsmittel gegeben?«

»Vor ein paar Wochen habe ich angefangen, Heart FM zu hören, und ich musste weinen. Wegen Popmusik. Mir ist klar geworden, dass ich mein Leben damit verplempert habe, mich von etwas zu verabschieden, ohne zu wissen, wovon. Haben wir alle. Ich rede nicht von Nostalgie oder Retro-Mode – wir sind einfach am Ende unserer Blütezeit. Es lohnt nicht mehr, in den Fortschritt der Menschheit zu investieren.«

Zunächst ist Guy Brockwell still. Dann kommt in effektvoll voneinander abgesetzten Salven: »Was für ein billiger Erstsemester-Humbug. Zu meiner Zeit …«

»Das sind die Folgen von deiner Zeit

»Ach ja? Ich gehe davon aus, etwas Totalitäreres wäre dir lieber gewesen, eine Kindheit wie die von Gerd Specht, mit einer Polizei, die deinen Geruch archiviert, damit man Hunde auf dich ansetzen kann.«

»Nichts ist totalitärer als der Profit. Und Hunde kommen sowieso als nächstes, da brauchst du nicht mehr lange warten. Die Wirtschaft hat dieses Land zu einem afghanischen Hinterhof gemacht.«11

»Mein Gott. Und so einer feiert demnächst seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag.«

»Im Grunde ist jedes einzelne globalisierte … «

»Stopp – und jetzt zum Thema harte Drogen.«

»Ich bin …«

»Harte Drogen, Gabriel. Sanitäter sind keine Blödmänner. Die glotzen nicht in der Gegend rum und suchen nach Volants in Häusern. Gestern Abend hätte man mit einem Bus durch deine Pupillen fahren können. Wenn du für einen derartigen Exzess um Unterstützung werben willst, musst du schon mit mehr kommen als mit Heart FM. Ich kann dir nur sagen: Die Reha ist das Letzte, was du von mir zu erwarten hast. Danach bist du auf Gedeih und Verderb auf dich allein gestellt.«

»Wenigstens mal was anderes.«

»Hör mal, mein Aschenputtelchen: Du hast deinen Job als Frittenaufwärmer verloren. Und das war noch der beste, den du je hattest – nur für den Fall, dass du dich wunderst, wo die Scharen von Investoren hin sind, die Geld in deine Zukunft stecken.«

»Entschuldige mal – der Speisesaal hatte zweihundert Plätze.«

»Gabriel, ich fahre jede Woche durch South Mimms. Es ist eine Autobahnraststätte. Ein beschissener Burger King.«

»Es war vielleicht im selben Gebäude wie der Burger King, aber der Essbereich war größer als …«

»Wenn du so weitermachst, stehst du als noch größerer Idiot da. Und jetzt gib mir den Doktor.«

»Ich habe einen großen Schritt gemacht, hörst du? Die Reha ist einfach der falsche Weg.«

»Es ist mir egal, welche Schritte du in philosophischer Hinsicht machst, wenn du dich dabei so tief in die Scheiße reitest. Gabriel, du hast dich fast umgebracht gestern Abend. Ich will mir gar nicht vorstellen, was die Leute denken! Jetzt gib mir den Doktor wieder, du bist ja vollkommen von der Rolle.«

David West kommt den Korridor hinunter, bleibt aber wie von einem unsichtbaren Seil gehalten zehn Schritte von mir entfernt stehen. Schräg nach vorne geneigt streicht er sich übers Kinn.

»Ich muss hier einfach raus«, sage ich zu meinem Vater. »Du musst nur die üblichen Hebel in Bewegung setzen.«

»Schwachsinn, du würdest dich postwendend mit Nelson Smuts aus dem Staub machen, falls der nicht schon längst tot ist.«

»Nach Irland zum Beispiel. Oder nach Berlin – was hältst du davon? Weg von dieser täglichen Paintball-Schlacht der Märkte. Und überhaupt: Was soll die Reha schon in zwei Wochen lösen.«

»Du kannst so lange bleiben, wie sie dich lassen. Und krieg bloß keine feuchten Augen wegen Berlin, es ist fast zwanzig Jahre her, dass wir da waren. Wundert mich, dass du dich überhaupt daran erinnerst.«

»An diesem Ort habe ich mich zum letzten Mal frei gefühlt.«

»Gabriel: Seit damals ist Berlin wieder Hauptstadt geworden, und zwar die Hauptstadt der drittgrößten Industrienation der Welt. Das ist heute ein einziger riesiger McDonald’s. Ein beschissener Parkplatz. Niemand singt da mehr russische Wiegenlieder und streichelt Mauerstücke. Schon bevor wir gegangen sind, hat es angefangen, sich zu verändern – ich bin aus einem wunderbar laufenden Geschäft ausgestiegen, denk dran. Nicht, dass du dir ohne Job eine Reise überhaupt leisten könntest. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Knie dich in die Therapie rein. Und sollten sie dich nicht von deinem zwanghaften Drang heilen können, über alles ins Philosophieren zu geraten, dann finde wenigstens moralische Grundsätze, die dich vorwärts bringen im Leben.«

»Die Grundsätze habe ich schon – aber das Leben selbst bewegt sich leider rückwärts. Egal: Zwei Wochen Therapie für einmal über die Stränge schlagen ist absurd. Und wenn sie, sagen wir mal, ein paar verdrängte Traumata entdecken – wem ist damit geholfen? Dann bleibe ich auf dem Batzen sitzen, für den ganzen Rest meines Lebens.«

David steht Gewehr bei Fuß, bereit, mir das Telefon abzunehmen. Ich drehe mich weg.

»Kein Problem«, sagt mein Vater. »Es kann nicht falsch sein, in ein paar Angelegenheiten Licht zu bringen. Und von wegen einmal – mit dir stimmt schon länger was nicht. Da muss einiges ans Licht.«

Damit ist er in die Falle getappt. Ich warte ab, bis ihm dämmert, was dieses »Licht« bedeutet: Professionelle Manipulatoren untersuchen den Glastür-Vorfall. Ich kann hören, wie sich vor seinem geistigen Auge ein Dialog abspult. Auf der einen Seite ich, schluchzend, auf der anderen der Therapeut, triumphierend. Und dann wieder ich, erfolgreich bis zum Abwinken, denn für meine Heilung hat es nicht mehr gebraucht, als meinen Vater in der Presse anzuklagen und ein Hilfsprojekt für misshandelte Kinder zu starten.

Der Name des Wohltätigkeitsprojekts: Splitter.

Das Logo: eine zersplitterte Tür.

Ich sage nichts. Das Praktische an Schuldigen ist, dass ihre Ängste ohne Zutun der Außenwelt immer größer werden. Das kenne ich aus der Zeit zwischen der Scheidung meiner Eltern und dem Tod meiner Mutter – da kam sogar mein Vater unter der Last seiner Schuld ins Schlingern.

»Berlin, Berlin«, sagt er schließlich ganz bedächtig, als ob er gerade zum ersten Mal davon gehört hätte. »An Gerd, meinen Partner im Pego Club, erinnerst du dich sicher nicht mehr. Er hat mich nie richtig ausbezahlt. Wahrscheinlich sollte ich meinen verdammten Anteil einfordern. Das muss ein Riesending sein heute – kannst du dir das vorstellen, so ein Club, heutzutage? Unglaublich. Gerd Specht. Damals musstest du ihm noch die Lunte unter den Arsch halten.«

»Darum könnte ich mich ja vielleicht für dich kümmern. So à la Familienbetrieb.«

»Du und Gerd Specht? Du spinnst wohl. Auf gar keinen Fall. Er ist ein sehr dekadenter Mensch. Jetzt gib mir endlich den Doktor.«

»Das ist kein Doktor.«

»Gib ihn mir.«

Ich reiche das Telefon weiter. David scheucht mich den Korridor hinauf in Richtung Empfang, wo Dalí dabei ist, Schließfächer hinter dem Tresen zu öffnen.

David bittet meinen Vater, einen Moment dranzubleiben, legt die Hand über die Muschel und lächelt mich an: »Mineralwasser?« Als ich den Kopf schüttele, winkt er Dalí heran und sagt sanft: »Ein Wasser. Und sehen Sie doch nach, ob Roman heute Zeit für eine Nachtwache hat. Ich brauche auch ein Überwachungszimmer, ich glaube, die Acht ist frei.«

Er meint Beobachtung wegen Suizidgefährdung. Ich verspanne mich, als das Dalí-Mädchen mit den Fingern irgendwas hinter dem Tresen drückt. Auf der Tischplatte wird eine Seite umgeblättert. Aus der Gegensprechanlage tönt es: »Roman bitte zum Empfang – Roman bitte.«

Ich bin schon fast dabei, mich dem Trübsinn anheimzugeben, als plötzlich, mitten in die Pause des Szenenwechsels und die ineinanderfließenden Klangteppiche hinein, der Feueralarm die Stille erschüttert.

Whoosh. Die Enthusiasmen stehen mir bei. Vom hinteren Flurende kommt ein Pfleger gerannt, sieht in jedes Zimmer und wirft die Türen hinter sich zu, während David in plötzlichen Aktionismus ausbricht. Klienten kommen den Gang entlanggewatschelt, froh über die Abwechslung, und sogar die Küchenkatze – der so genannte vierbeinige Ko-Therapeut – wird aufgescheucht.

»Rauch!«, brüllt der Pfleger. »Im Raum der Stille!«

Die Sirene schrillt, David stürzt den Korridor hinunter, und während die Klienten hinaus auf den Vorplatz schlurfen, bleibe ich zurück und mache den Schlüsselkasten hinter dem Tresen ausfindig. Kaum ist das Dalí-Mädchen außer Sichtweite, suche ich nach meinem Schlüssel, öffne das Schließfach und schnappe mir mein Portemonnaie und mein Handy, dann beeile ich mich, nach draußen zu den anderen Evakuierten zu kommen.

Dort geht unter den Scheinwerfern ein Nieselregen nieder, von den Launen des Windes getrieben schießt er durch die Gegend wie Diamanthagel, während sich alle zusammenrotten und auf eine Explosion warten – ziemlich hoffnungsvoll, wie mir scheint. Sobald ich sicher bin, dass alle abgelenkt sind, tauche ich zwischen die Bäume, die die Auffahrt säumen, und schleiche mich in ihrem Schatten Richtung Straße davon.

Mein Weg führt am Raum der Stille vorbei.

Schabend geht ein Fenster auf, und Stimmen wehen heraus:

»Sieht nach einer Zitrone aus.«

»Einer Zitrone?«

»Das ist Vorsatz. Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Mit einer scheiß Zitrone