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Eichhörnchen entzücken in den Parks von London, Tokio wird von den Schreien der Karasu-Krähe berieselt, in Berlin bedrohen Wildschweine die Jogger. Das ist in etwa die Whoosh-Dimension, mit der wir es hier zu tun haben, mein Freund.

Lassen wir mal den größeren Zeitraum von drei Jahrhunderten beiseite, in denen Berlin der Fixpunkt eines Königreichs, einer Provinz, eines Kaiserreichs, einer Republik, eines faschistischen Reichs und einer marxistisch-leninistischen Kommune war, und vernachlässigen wir auch die Tatsache, dass die Straßen dieser Stadt den Kommunismus, die moderne Architektur, den Faschismus, die Relativitätstheorie und die Atombombe geboren haben: Allein in der Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren schafften es Berliner Foyers, nackte Sexsklavinnen mit dressierten Affen und koksgefülltem Schmuck, Adolf Hitlers Befehle, russische Massenvergewaltigungen, eine amerikanische Mittelschicht und einen Sowjetstaat zu beherbergen, der die Leute allein fürs Durchqueren der Stadt erschoss.

Niemand kann Berlin noch etwas beibringen.

Nach allem, was ich in den Jahren, nachdem ich dort war, gelesen und gesehen habe – wie ein Welpe habe ich Berlin-News erschnüffelt –, ist mein Eindruck von der Situation dieser Stadt folgender: Wenn London eine Trinkerin ist, die kurz davor steht, ihre Wohnungsschlüssel zu verlieren, ist Berlin eine Trinkerin, die gerade aufwacht und überrascht feststellt, dass sie noch am Leben ist, und das an einem Sonntag. Obwohl die höchste Erhebung der Stadt immer künstlich sein wird – ein Berg aus dem Schutt von circa vierhunderttausend zerbombten Häusern –, ist die neue, Einschusslöchern und Bunkern entsprungene Ära doch real. In meiner Wahrnehmung sind überall dort, wo keine Bäume und Blumen wachsen, so lange Kunst und Ideen gediehen, bis die ikonischen Graffitis die seit Neuestem dekorativ am Bordstein in Flammen stehenden Porsches, die Clubs, die Stars den Einlass verwehren, die brodelnden Subkulturen, Gegenkulturen und sturköpfigen Normalos irgendwann aus einem Munde riefen:

Berlin ist nicht für die Eliten, sondern für die Menschen da.

Und die stehen heute mit beiden Beinen auf der Erde. Limbus war gestern.

Als der Flieger bebend durch altrosa Abendwolken nach unten fällt, fügt sich Marlene Dietrichs Stadtstaat unter mir aus Wäldern und Seen zusammen. In mir kribbelt es. Im Sinkflug wird ein an ein gut organisiertes Schienennetz erinnerndes, ordentliches Labyrinth sichtbar, eine Modelllandschaft aus Gebäuden, Behältern, Gehäusen und Takelwerk, die über das marschige Hinterland hinaus in Richtung polnische Grenze funkelt, noch immer unter der Aufsicht der blinkenden Spitze des Fernsehturms am Alexanderplatz, einem riesigen Augapfel auf einem Zahnstocher, einst errichtet, um den Westen hinter der Mauer zu verspotten. Während ich mein Gesicht ans Fenster drücke und hinuntersehe, denke ich über meine Odyssee bis hierhin nach. Eigentlich merkwürdig, dass sie, sobald ich sie Odyssee genannt hatte, auch zu einer geworden ist, voll von monströsen Prüfungen und dekadenten Talismanen namens Jicky und Marius.

Ich frage mich, was die neue Etappe bringen mag. Als Berliner Luft die Kabine füllt, durchspült mich eine Mischung aus Angst und Hoffnung.

Kurz vor meiner Abreise hat Smuts’ Tivolihirn noch im Peninsula angerufen. Es war ohne Frage das Tivolihirn, bestand der Anruf doch aus einem Monolog, der auf eine Art hoffnungsvoll klang, wie ein Verrückter vor einem brennenden Haus hoffnungsvoll klingt. Das Tivolihirn diktierte mir folgenden Ablaufplan: Direkt nach der Landung solle ich zu dem Club des dekadenten Moguls fahren, von dort aus Smuts anrufen und ihm Angebote unterbreiten, die er dann an Didier Le Basque weiterleiten könne. Es hat mir dafür insgesamt zwei Stunden gegeben, die Zeit eingerechnet, die es braucht, am Zoll die Weinflaschen zu erklären und den Mogul darüber schmunzeln zu lassen, wie groß ich geworden bin.

Bei meiner Abreise war Smuts’ Chef Yoshida noch nicht verhört worden. Das bedeutet, Smuts kann noch freikommen, wenn man dem Boss die richtigen Anreize liefert, beispielsweise von Didier Le Basque. Trotz des auf mir lastenden Drucks war ich in der ersten Stunde des Flugs vollkommen begeistert von meiner Mission. Ich sah Smuts und mich schon lachend durch die baufälligen Straßen Ostberlins ziehen. Dann schniefte ich eine Line auf dem Klo, und meine Visionen verflüchtigten sich. Eine rauschmittelbedingte Inversion fand statt: Die Wirklichkeit erstrahlte plötzlich heller als die Hoffnung.

Was ein Schock war. Also machte ich mich daran, Wirklichkeit und Hoffnung, die beiden trügerischen Flussufer der Existenz, ein bisschen genauer zu betrachten.25 In Wirklichkeit lande ich ohne Geld in Berlin und will einen Mann ausfindig machen, den ich als Kind zum letzten Mal gesehen habe und den ich dazu überreden soll, für einen Freund, der in Tokio im Gefängnis sitzt, ein Restaurant zu eröffnen. Die Hoffnung diktiert ein anderes Szenario: Mich erwartet ein unermessliches Imperium der Gastfreundschaft, in dem sich ein jovial Schultern klopfender Grande, der seine Geschäfte per Münzwurf abschließt, wohlwollend an mich erinnert.

Solcherlei Schattierungen des Potentiellen füllten den langen Flug nach München und den sehr viel kürzeren nach Berlin. Irgendwo zwischen diesen Möglichkeiten lag das Wahrscheinliche, aber wo, darauf kam ich nicht, und diese Unbestimmtheit, dieser Verlust des Fettgedruckten, verschob mich, den temporär Wahnhaften, in die Kategorie des dauerhaft Verrückten, der mit geklautem Geld und einer einzigen Wechselgarnitur ziellos durch die Weltgeschichte reist. Das ist das Objektiv der Wirklichkeit: Hüten Sie sich davor, mein Freund, ich warne Sie. Ich war ein Mensch von der Sorte geworden, wie man sie normalerweise erst viel später im Leben antrifft – im Hawaiihemd und mit mehr als einer Thai-Ehe hinter sich.

Ich brauchte eine ganze Weile, um damit klar zu kommen. Ich bestellte Courvoisier und Soda und lieferte mir mit jemandem namens Thong ein paar überflüssige imaginäre Schreiduelle, bei denen es um Geld ging, bevor ich das Gefühl hatte, mir wieder ein bisschen Hoffnung leisten zu können. Und tatsächlich: Es gibt einige hoffnungsfrohe Zeichen. Wenn mein Vater nach zwanzig Jahren den Club als Riesending bezeichnet, mag er damit recht haben oder nicht – sein Widerstreben, mich wegen der Dekadenz seines Ex-Partners hierherkommen zu lassen, verheißt auf jeden Fall Gutes. Warum sonst sollte er sich so anstellen? Das lässt wahren Exzess erahnen, einen reichen, abenteuerlustigen Libertin, genau die Person also, die wir suchen – jemanden, der zumindest eine gewisse Sympathie für unsere Situation hat. Vielleicht ist diese Situation auch gar nicht so irrwitzig. Vielleicht ist sie im Kontext eines Limbus vollkommen gang und gäbe. Denn erblicken nicht die großartigsten Geistesblitze immer aus einer Laune heraus das Licht der Welt? Ergreifen sie ihre Gelegenheiten nicht immer in sehr dünner Luft? Das ist Smuts’ angestammtes Terrain. Vielleicht hat unsere kleine Ausschweifung einfach nur seine Instinkte geschärft, ihn die uns umgebenden Möglichkeiten wahrnehmen lassen. Immerhin hat sich der Zickzack-Kurs seiner Karriere immer aus genau solchen Launen des Schicksals ergeben. Warum nicht Berlin? Ihm sind schon wundersamere Dinge passiert.

Das alles musste ich erstmal durchkauen, bevor ich mich wieder der Frage meines Todes widmen konnte. Was dann allerdings neues Unwohlsein zur Folge hatte. Natürlich kann ich nicht einfach sterben und Smuts im Gefängnis sitzen lassen. Sicher, ich habe ihn nicht mit vorgehaltener Waffe in den Ruin getrieben, Sie können das bezeugen – aber ich habe auch nicht gerade an seine höhere Natur appelliert. Ich bin mitschuldig, und das weiß er.

Unter dem einsamen Strahl einer Leselampe in einer rauschenden Flugzeugkabine hoch über der Nacht versuchte ich mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich mich selbst schachmatt gesetzt hatte. Aber wie in einem Traum zauberten daraufhin meine alten Feinde, die Verbrauchermärkte, ein wirkmächtiges Werkzeug aus dem Hut. Eine Argumentationsroutine, eine Art moralische Inversion, die neue Hoffnung spendete. Als ich beim Durchblättern des Bordmagazins die Vorgehensweise des heutigen kapitalistischen Master-Limbus nachvollzog, blieb meine Aufmerksamkeit an einer Kreditkartenanzeige hängen. Sie schien in jeder Hinsicht völlig gewöhnlich zu sein – außer in einer: Sie versprach keinerlei positiven Nutzwert, den die Karte mit sich bringen sollte. Dafür verhieß sie Schlechtes in Form von Ungemach und Unannehmlichkeit für denjenigen, der keine solche Karte besaß. Der »Nutzen« dieser Karte wurde in negativer Logik dargestellt, zweifellos, um von ihrem Mangel an tatsächlichen Vorzügen abzulenken.

Ich war perplex.

Mein Tod passt in dasselbe Muster. Ich muss den »Nutzen« einfach nur negativ darstellen. Ja, ja, mein Mentoren-Limbus und seine Methoden! Aus Smuts’ Perspektive mangelt es nämlich auch meinem Tod an Sinnfälligkeit. Für jemanden, der das Für und Wider auf normale Weise abwägt, wäre es undenkbar, zu sterben und einen Freund im Gefängnis zurückzulassen. Aber unter den Vorzeichen einer invertierten Moral wäre es sogar erstrebenswert – denn wenn mein Leben anderen derart schadet, dass sie sogar im Gefängnis landen, dann verhindert mein Tod nur weiteren Schaden.

Ein Heureka-Moment. Und was mich noch stärker macht: Jetzt, wo ich eine Möglichkeit gefunden habe, um weiterzumachen, stehen mir sofort wieder die skrupellosen Werkzeuge der Limbus-Zwischenwelt zur Verfügung, die ich vor allem dazu nutzen kann, Smuts zu helfen.

Was, um den Markt selbst zu zitieren, eine Win-win-Situation ist.

Schnell kopiere ich Verdrahtung und Verkabelung dieser Ethik in meinen eigenen Limbus. Plötzlich kann er schon krabbeln und legt erste Ausdifferenziertheiten an den Tag.

Derart gerüstet steige ich im Vollbesitz meiner Kräfte aus dem Flugzeug.

Ach, die Enthusiasmen. Warum nicht Berlin? Ich werde für Smuts die Performance meines Lebens hinlegen. Ich werde aus meinem Limbus herausholen, was geht. Und wenn ich es recht bedenke, kann ich auch den Anteil meines Vaters mit in die Waagschale werfen. Er hat gesagt, dass er seinen Geschäftsanteil einfach aufgegeben hat, Sie haben es doch auch gehört. Das ist es! Ich werde seinen Anteil einfordern – dieser Gerd Specht wird die Schwere seiner Schuld spüren und sich für jeden Plan offen zeigen. Bankette in Berlin – was sollte er dagegen haben? Und für Smuts’ Zwecke muss ja noch kein Feuer unter den Töpfen sein, es braucht nur ein zustimmendes Nicken, ein paar Details und eine einstweilige Referenzliste, um den Sponsoren zu beeindrucken.

Wie dumm meine Ängste im Licht der Wirklichkeit betrachtet waren!

Ich fege aus dem Flieger und warte ungeduldig auf meine Tasche. Es dauert nicht lange, Berlin-Tegel ist ein zweckmäßiger, wie ein Donut geformter Flughafen, in dem jedes Gate eine eigene Passkontrolle, ein eigenes Gepäckband und einen eigenen Zoll hat, jeweils nur ein paar Schritte von der Straße entfernt und ohne den geringsten Anflug von Bedrohung, Übergriffigkeit oder Shopping.

Als ob einfach nur gewollt wird, dass ich passiere.

So kommt es, dass ich fünf Minuten später auf dem Bürgersteig im Inneren des Donuts unter einem Abendhimmel stehe und eine Flasche Marius aussuche, mit der ich den Lüstling Specht beeindrucken will. Während ich eine Zigarette rauche, erwäge ich sogar, mit Tapeten behelfsmäßig ein Weißes Zimmer zu errichten. Um ihm zu zeigen, was er erwarten kann. Während ich darüber nachdenke, wo ich um die Zeit noch Tapete herbekomme, wuchtet ein alter Taxifahrer meine Tasche in sein Taxi. Ich steige ein und betrachte ihn mit der Ehrfurcht, mit der man manchmal den ersten Einheimischen eines mythischen Ortes begegnet.

»Zum Pego Club, bitte«, sage ich auf Deutsch und mustere seine preußischen Hängebacken.

»Wohin? Piko?« Er verharrt auf halbem Weg hinters Steuer.

»Pe-go. In der Brunnenstraße?«

Der Mann steht immer noch gebückt in der Tür, so, als ob wir die Mission am besten direkt wieder aufgeben sollten. Allzu sehr entmutigt mich das nicht; er gehört zu einer Generation, die sich aus dem Clubleben zurückgezogen hat, und realistischerweise gestatte ich auch dem Pego, in einer mit Clubs voll gestopften Stadt seit Anfang der Neunziger umgezogen zu sein oder den Namen geändert zu haben. Ein solch unbeholfener Moment nimmt mir genauso wenig die Hoffnung wie meine Eingeborenen-Ehrfurcht bei meinem ersten authentischen Berliner. Außerdem: Er könnte ja auch Ostberliner sein; in meiner Erinnerung war es ein Merkmal aller Ostberliner, mürrisch und seltsam zu sein. Joie de vivre war bei den Kommunisten nicht gerade angesagt, konnte es doch bedeuten, dass man mehr hatte als der Nächste. Und was das Seltsame anbelangt: Aus meiner Kindheit erinnere ich mich an einen Westler, der in eine WG mit Ossis zog. Wenn beim Telefonklingeln einer von denen dranging, lief das Gespräch so:

Anrufer: »Hallo, ist Wessi-Klaus da?«

Ossi: »Ja.«

Dann legte der Ossi auf und ging wieder seiner Beschäftigung nach – er hatte die gewünschte Auskunft ja gegeben. Offenbar waren Telefone im alten Osten verdächtige Objekte, so oft, wie sie von der Geheimpolizei abgehört wurden; und überhaupt: Übereifer konnte die Genossen schlecht dastehen lassen und war deswegen als egoistisch verpönt.

Jetzt dirigiere ich den Fahrer in mein altes Revier, Prenzlauer Berg, Heimat des ursprünglichen Pego Club. Als wir in den alten Osten einfahren, habe ich einen Kloß im Hals. Aus dem Fenster sehend stelle ich fest, dass stylishe Bohemiens die hart gesottenen Proletarier der Nachwendezeit abgelöst, dass ergometrische Buggys die Einkaufswagen und Biosupermärkte die Ruinen von damals ersetzt haben. Während es zu meiner Zeit durchaus vorkam, dass Balkone von den Häusern brachen und zusammen mit den darauf Feiernden auf die Straße stürzten, sind die Fassaden heute zu großen Teilen saniert; da, wo einst Schatten lauerten, ist heute alles voller brummender Läden und Cafés. Eigenartig, denke ich – dass ich mit fünfundzwanzig schon sagen kann, wie anders es zu meiner Zeit war, ist kennzeichnend für unsere und Berlins schnelllebige Zeit.

Trotz allem sieht es hier immer noch nach einem Ort für Frederick die Maus aus, auch wenn er heute mit einer Espressomaschine genauso gute Geschäfte machen würde. Was ich sehe, bringt mich zum Nachdenken darüber, wie falsch unser Bild von Deutschland immer noch ist – obwohl natürlich jeder Deutsche Berlin als einen Sonderfall bezeichnet. Dessen ungeachtet scheint es im britischen Interesse zu liegen, Deutschland als einen verbissenen, mechanistischen, unromantischen Ort und seine Bewohner als humor- und stillos wahrzunehmen. Aber die deutsche Sprache von heute ist weicher, sie birgt Überraschungen, Weite und Flexibilität, hat sogar ihre Schrullen, und die Leute haben wenig gemein mit den Hunnen, die wir so gerne in ihnen sehen. Vielleicht bleibt uns Briten heute, wo der letzte Schatten des Empire gerade hinter den Wellen versinkt, nur der Krieg als Verbindung zu Triumph und Identität. Während Europa sich um seine Neuerfindung kümmert, summen wir die Titelmelodie von Gesprengte Ketten und warten darauf, dass man uns sagt, was als Nächstes kommt. Das einzige plündernd und brandschatzend umherziehende Volk heute sind die neuen Hunnen: wir.

Für mich als Kind war die Kastanienallee die nächstgelegene Durchgangsstraße, ein langer, gerader Hang, der auf das Zentrum von Ostberlin zukippt, dorthin, wo die blinkende Spitze des Alex steht. Man erkennt die Straße kaum wieder, betriebsam und hell erleucht, wie sie heute ist. Nachdem er die Straße zur Hälfte durchquert hat, wird der Fahrer langsamer und sucht, auf weitere Anweisungen wartend, über den Rückspiegel meinen Blick. Ich weiß noch, dass der Club irgendwo an der Brunnenstraße war, er aber sagt, das sei eine sehr lange Straße, wenn ich mein Geld nicht rauswerfen wollte, sollte ich besser die Adresse rausfinden und zu Fuß gehen. Die Argumentation ist stichhaltig. Da meine Landung noch keine halbe Stunde her ist und jetzt das Hotel Kastanienhof vor mir auftaucht, weise ich ihn an, mich dort rauszulassen. Es ist sinnvoll, mir ein Zimmer zu nehmen, mir Orientierung zu verschaffen und mich frisch zu machen, bevor ich den Oberschlemmer Specht treffe.

Ich bete darum, dass der Club montags geöffnet ist.

»Also dann«, grunzt mein Erster Echter Einheimischer und hebt die Ladung Marius aus dem Wagen. »Hier in der Gegend wissen die mehr über die Clubs.«

»Danke«, sage ich.

»Jedenfalls mehr als ich, ich bin aus Hannover.«

Mein Einheimischen-Ideal ist leicht angekratzt, als ich die alte Hotelpension betrete. Sie ist nicht das Peninsula, aber sauber, modern und auf eine Weise anheimelnd, wie es nur der Fall ist, wenn das Personal seit Jahren nicht gewechselt hat, wenn es quasi dort zu Hause ist und seine Gastfreundschaft schon in manch einer Winternacht auf die Probe gestellt wurde. Ich erfahre zum Beispiel, dass ich an der Rezeption ein Schachbrett ausleihen, während des Wartens auf den Fahrstuhl meine Schuhe polieren lassen und beim Frühstück in einem extra Raucherfrühstücksraum rauchen kann.

Das ist Zivilisiertheit.

Nur vom Pego haben sie noch nie gehört.

Als es auch im Telefonbuch nicht steht – zumindest nicht unter Pego –, kriecht kribbelnd die Angst in mir hoch, gefolgt von einer kleineren Offenbarung, die gute wie schlechte Neuigkeiten mit sich bringt. Ich stehe an der Rezeption und lasse mich von ihr durchdringen, während ein anderer Einheimischer hereingestürmt kommt, der ebenfalls noch nie von dem Club gehört hat. Das Gute ist: Wir sind hier in Berlin – je toller der Club, desto weniger ist er auf Werbung bedacht. Tatsächlich sagt der Einheimische genau in dem Moment, als mir das einfällt, dass es immer noch Clubs gibt, zu denen nur Inhaber von in den Neunzigern ausgegebenen Marken Eintritt haben. Die schlechte Nachricht, die den Nukleus der Offenbarung bildet, hat allerdings mit derselben Tatsache zu tun: Die besten Dinge werben nicht für sich, die außergewöhnlichen Orte suchen nicht nach neuen Mitgliedern. Und Taxifahrer wollen mein Geld nicht zum Fenster hinauswerfen.

Ostberlin ist kein Anhänger des Master-Limbus.

Ich bin auf mich allein gestellt.

Ein stechender Realitätsschmerz greift nach mir. In der Clubszene Ostberlins kann Riesending bedeuten: trostlos. Der beste Club kann der unscheinbarste sein, mit winzigem Keller und winziger Getränkeauswahl. Hier ist eine gegenläufige Ethik am Werk. Specht könnte Purist sein. Und auch wenn ich das für den Zenith des Fortschritts halte – Smuts ist damit nicht geholfen.

Ich habe noch etwas mehr als eine Stunde, um ihn anzurufen, und jetzt kündigt sich eine Master-Offenbarung an. Diesen Tagen in der Schwebe wächst so langsam ein Format zu, eine Symmetrie, wie Smuts sagen würde, und zwar folgende, sehen Sie her: Die Auswirkungen meines dekadenten Limbus verlangen nach einer durch und durch dekadenten Lösung. Einer kapitalistischen Lösung. Hier helfen weder Schmuddeligkeit noch Purismus; was wir brauchen, ist eine ungeheuerliche Unternehmung in Sachen Gastlichkeit, wir brauchen einen Kapitalisten, der in null Komma nichts ein Restaurant eröffnet. Wir brauchen die nackten Mechanismen des Marktes. In Tokio haben sie mir geholfen, sonst wäre ich nicht hier – aber jetzt brauche ich mehr, sehr viel mehr.

Sehen Sie die Symmetrie?

Ach ja, der Markt. Den Club zu finden ist plötzlich einschüchternder als ihn nicht zu finden. Was, wenn er eine puristische Kaschemme ist? Ich stelle meinen Beutel im Zimmer ab und gehe hinaus auf die Kastanienallee, in der Hand eine Flasche Marius für Specht, den Puristen oder den Mogul. In der schneidenden Kühle der Nachtluft beruhigen sich meine Nerven ein bisschen. Ob Mogul oder nicht, nach zwanzig Jahren im Geschäft sollte der Mann zumindest gut vernetzt sein. Wir brauchen ja nichts weiter als einen guten Hinweis. Solcherart Überlegungen bringen mich wieder ins Gleichgewicht, während ich einer Tram ausweiche und die Straße überquere. Plötzlich löst es gemischte Gefühle in mir aus, als ich mich umsehe und keinen Starbucks oder McDonald’s entdecken kann. Wir brauchen keine Maus Frederick, wir brauchen keine Taxis, die unser Budget im Blick haben. Was wir brauchen, ist zügelloser Konsum, Exzess.

Wir brauchen den Master-Limbus des zeitgenössischen Kapitalismus.

Die auf der Kastanienallee Flanierenden sind eine Mischung aus abendlichen Fußgängern und Nachtschwärmern, und ich untersuche sie auf Überbleibsel des alten Ostens – eine zu eng getragene Plastikjacke, eine zu kurze Hose –, und obwohl es Zeichen von Ost-Chic gibt, sirrt die Luft doch hauptsächlich von Designprojekten auf Zeichenblöcken. Projekte, die gut zu dem heutigen Soundtrack des Prenzlauer Bergs passen: Gulag-Orkestar, Gnossiennes und Gymnopédies in wehmütiger Endlosschleife – all die melancholischen Schlaflieder, die der neuen Bio-Bougeoisie dabei helfen, ihre Kinderwagen inmitten von Trümmern und Gänseblümchen zu imaginieren.

In gewissem Sinne bin ich in diesem neuen, aufgemöbelten Osten sehr allein. Auf keinen der beiden aktiven Extrempole der Menschheit kann ich hier zurückgreifen, weder auf die Gossenlinke noch auf meine neue Verbündete, die teuflische Rechte. Der Osten scheint heute ein vernünftiges Zentrum zu sein, ohne Revolution und ohne etwas, wogegen es sich zu revoltieren lohnte – kaum ein Bettenlager, Hypothekenmakler oder Hyundai-Händler in Sicht. Eine Art stillvergnügtes Joghurt-Land, das zu sehen mich schmerzt, denn es ist genau das, was ich so lange für erstrebenswert gehalten habe – aber ironischerweise entspricht es jetzt, wo ich es gefunden habe, überhaupt nicht meinen Anforderungen.

Zufriedenheit schürt nämlich keinen Exzess.

Ach, ach. Vorbei an einem Bartträger, der mich an meinen Vater als jungen Mann erinnert, betrete ich eine Bar Ecke Zionskirchplatz. Aus der Kirche in der Mitte des kopfsteingepflasterten Platzes wehen Fetzen des Deutschen Requiems herüber.

In der Bar bestelle ich ein Bier und nutze die ersten anregenden Schlucke, um meine Erkundigungen in Sachen Pego zu präparieren. Nur nichts überhasten, für den Fall, dass Specht sehr gut bekannt ist. Es könnte sein, dass Späher ihm sonst berichten, ich hätte übereifrig gewirkt. Sehen Sie? Nach dem ganzen Tumult von vorher habe ich ein bemerkenswertes Maß an Konzentration erreicht. Es reicht sogar so weit, dass ich beschließe: Wenn ich den Club finde, nehme ich mir fünf Minuten Zeit, um die Räumlichkeit in aller Ruhe zu erfassen und nach Specht Ausschau zu halten. Habe ich sein Äußeres und sein Auftreten erstmal im Kopf und die Räume, auf denen unsere Hoffnungen ruhen, gesehen, kann ich mich auf eine Zigarette zurückziehen und mir die entsprechende Haltung für ein offizielles Verkaufsgespräch zulegen. Innerhalb dieser Zeitspanne werden sich das Publikum, die Art des Türpersonals, die Musik und die Ausstattung in mir verankern, mich impfen wie die Hormone einer Marius-Traube. Enthusiasmen sind eine Kraft, die gleich und gleich gesellt, weswegen es einfach helfen muss, eine Dosis Pego aufzunehmen.

Wie aufregend die Enthusiasmen sein können! Es ist, als würde man einen Umhang tragen. Genussvoll trinke ich mein Bier, bestelle einen Schnaps, und als die Barfrau damit zurückkommt, fange ich auf Deutsch mit meiner Ermittlung an:

»Entschuldigung …«

»Was wollen Sie?«, blafft sie auf Englisch.

»Ich suche den Pego Club.«

»Piggo?«, sagt sie. »Den Piggo Club?«

»Pego. Pe-go.«

Sie zuckt mit den Schultern und gibt die Frage ruppig an eine andere Kellnerin weiter, die ausdruckslos zurückstarrt.

»Es gibt zwar immer noch ein paar angesagte Clubs in der Gegend«, ruft mir ein abgerissener Mann ein paar Barhocker weiter zu. »Aber du hättest in den Neunzigern kommen sollen. Dein erster Tag?«

Ich betrachte den Mann. Obwohl eindeutig Deutscher, spricht er amerikanisches Fernsehenglisch und hat das begrenzt gute Aussehen und die vorsätzliche Ungepflegtheit des Vollzeitkneipenhockers, der es auf Touristen mit kleinem Budget abgesehen hat.

»Ich war in den Neunzigern schon hier«, sage ich. »Kennen Sie das Pego?«

»Dude«, lacht er, »du warst in den Neunzigern in keinem Club. Du warst mit deinem Teddy im Bett.«

Ich merke, wie sich in mir alles sträubt, und halte kurz ein. Wie erstaunlich – ich habe jetzt schon eine Besitz ergreifende Attitüde gegenüber Berlin. Wie kann er es wagen, größeren Anspruch auf die Stadt zu erheben als ich. Und dann auch noch auf die Neunziger. Einen Moment lang grolle ich vor mich hin und wundere mich über meine territoriale Marotte. Mit einigem Unbehagen erkenne ich sie schließlich als ziemlich britische Macke. Es ist die Eifersucht der Familie Jones, wenn im Urlaub eine frisch angereiste rothaarige Familie ihrem Kellner Miguel zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Da haben sie ihn im Laufe einer Woche von Samstag bis Samstag so umsichtig gepflegt und sein Lachen zu dem ihren gemacht, und plötzlich:

Nennen fürchterlich fette neue Rotschöpfe ihn Manuel.

»Gibt’s das Pego noch?« Ich starre in meinen Schnaps. »Ich glaube, es war irgendwo an der Brunnenstraße.«

»Wow, da hat aber jemand den Stadtplan studiert. Brunnenstraße. Wir betonen das ›unn‹ mehr, so: Brunn-en-sh-traße.« Er schiebt sich die Theke entlang an meine Seite. »Wenn du Mädchen suchst, dude …«

»Tu ich nicht, danke.« Ich bezahle meine Getränke und gehe.

»Hey, mein Freund!«, ruft er mir nach. »Mein Freund!«

Aber ich trete in mein eigenes Berlin, ein weitläufiges, friedliches Berlin, in dem überall die Straßenbahnen quietschen. Mein lebenslanger Sonntag, meine gestrenge alte Frau.

Mein heimlicher Miguel.

Auch in zwei weiteren Bars und einer Döner-Bude hat man noch nie vom Pego oder vom Giganten Gerd Specht gehört. Ich halte vier Studenten an – dasselbe. Auf halber Strecke die Straße hinunter finde ich einen Imbiss, der noch offen hat, und befinde, dass ein kleiner Laden dieser Art, der auch Süßigkeiten, Zigaretten und Getränke verkauft, für den Stadtteil so etwas sein muss wie eine Pförtnerloge. Neuigkeiten sammeln sich hier bestimmt wie Müll.

Aber der Mann darin weiß von nichts.

Nun denn. Bei jedem Unterfangen kann der Moment kommen, in dem die Welt, die man sich erschaffen hat, die faktische Verankerung in der Wirklichkeit verliert – das ist beim Glauben an Gott nicht anders. Die Erkenntnis ereilt mich in genau dem Augenblick, als meine zwei Stunden rum sind. In Tokio ist jetzt früher Morgen, Smuts wartet. Der Imbissbetreiber verkauft mir eine Telefonkarte. Als er sie mir über den Tresen reicht, scheint er mitfühlend zu nicken, vielleicht spürt er, dass diese Karte niemanden zum Lachen bringen wird. Und merkwürdigerweise habe ich nicht das Gefühl, dass ich vor dem Anruf eine Line ziehen sollte. Unklare Nachrichten sollten vielleicht nicht allzu zackig überbracht werden. Tatsächlich habe ich seit der Landung kein Bedürfnis mehr nach besinnungslosem Vergessen gehabt. Obwohl mich hier mein Limbus nicht gerade schützend umhüllt.

Obwohl ich den kalten Stahl der Wirklichkeit auf meiner Haut spüre.

Ein paar Meter weiter finde ich eine Telefonzelle und wähle die Nummer der Polizeiwache in Tokio, wobei ich beschließe, sicherheitshalber von jetzt an mehr zu trinken. Der diensthabende Wachtmeister nimmt ab, und nach einigen Grunzlauten kommt Smuts’ Stimme wie ein Echo aus längst vergangenen Tagen aus der Leitung:

»Putain?«

»Smuts – ich hab’s geschafft. Alles in Ordnung bei dir?«

»Schieb einfach nur die Eckdaten rüber – Name der Lokalität, Zahl der Gedecke etc. Hier drüben wird die Sache immer heißer.«

»Wieso, was ist los?«

»Die Kumpel von dem Alten behaupten, er habe keine Innereien bestellt. Sie sagen, dass er viel zu betrunken war, um überhaupt was zu bestellen. Yoshida hat sich bis jetzt noch nicht geäußert, das Labor untersucht immer noch die Fischproben. Ich habe dem Anwalt gesagt, dass du dabei warst, als der Typ bestellt hat, aber er meint, weil du kein Japanisch sprichst, zählst du nicht. Ich hab nicht die Spur einer Ahnung, was als nächstes passiert. Alles offen. Aber irgendwie sieht’s scheiße aus für mich. Ich halte einfach den Ball flach und denke mir Menüs für Berlin aus. Wir haben es geschafft, dem Basken eine Botschaft zu übermitteln. Er ruft morgen an.«

»Wann genau?«

»Komm endlich zur Sache! Putain! Was soll die Scheiße!«

»Also, Smuts – ich hab’s noch nicht geschafft, den Mann zu treffen.«

»Was? Sag so was nicht. Sag mir doch jetzt so was nicht.«

»Die Sache ist …«

»Ich flehe dich an, verfluchte Scheiße.«

»Smuts, ich bin dran – aber es ist Montagabend, und ich komme gerade vom Flieger.«

»Du musst die Sache wasserdicht machen. Und damit meine ich wasserdicht. Der Anwalt meint, alles hängt an einem beruflichen Wohnsitz in Europa. Für einen hospitierenden Fachmann sieht alles anders aus als für eine vagabundierende Küchenhilfe. Ich habe ihm von Berlin erzählt. Und er sieht es genauso: Wenn wir den Basken an Bord kriegen, sind wir aus dem Schneider – der Baske hat den Fisch geliefert, es sollte also in seinem Interesse sein, mich da rauszuholen. Aber in beiderlei Hinsicht brauchen wir morgen einen Ort. Und zwar, Putainel …«

»Hm?«

»Einen verdammt geilen Ort.«