Zwanzigstes Kapitel
Merle hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde nicht länger darauf warten, dass die Verrückte sie unter dem Sofa hervorzog. Sie würde all ihren Mut zusammennehmen und rennen, was das Zeug hielt. Wenn sie erst mal auf der Straße war, konnte ihr nichts mehr passieren. Dass ihr Geheimnis aufgeflogen war, konnte sie nicht mehr ändern, aber sie wollte keine Sekunde länger als nötig mit dieser Frau in einem Raum sein.
„Wie ist es für dich, einen älteren Mann zu ficken?“
Merle hätte vor Schreck fast aufgeschrieen. Da wäre sie der Frau um ein Haar direkt in die Arme gelaufen. Sie hatte sie gar nicht zurück ins Zimmer kommen hören. Sie drehte den Kopf leicht nach rechts und sah, warum sie nichts gehört hatte. Die Frau war barfuß. Sie drehte sich wieder weg. Je weniger sie von ihr sah umso besser. Sie begann zu zittern. So langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Was hatte die Frau mit ihr vor?
„Komm sag es mir. Wie oft habt ihr es hier auf der Couch getrieben?“
Die Verrückte klopfte mit der Hand auf das Sofa.
„Los! Spuck’s aus. Wart ihr nackt? Oder hattest du noch deinen Schlüpfer an. Du weißt doch, den mit dem roten Bund.“
Hatte sie den Slip entdeckt, den sie ihm geschenkt hatte und sich daraufhin alles zusammen gereimt? Was sich in deren Kopf so abspielte...Jetzt war sie sicher, dass sie es mit einer Irren zu tun hatte. Ihre Stimme ging Merle mittlerweile durch Mark und Bein. Oh Gott, sie musste hier raus. Wer wusste, was diese Frau alles mit ihr anstellen würde? Wenn sie noch mal in die Küche ging, oder noch besser ins Bad, würde sie es riskieren. Sie zählte innerlich bis drei und drehte langsam den Kopf wieder nach rechts. Dieses Mal schrie sie tatsächlich auf, denn sie blickte direkt in das Gesicht der Frau, das nicht gerade freundlich aussah.
„Na, willst du jetzt endlich rauskommen? Zu einem Gespräch von Frau zu Frau? Oh entschuldige, von Frau zu Flittchen.“
Und Merle schrie immer noch, als die Frau sie an den Haaren packte und unter dem Sofa hervorzog.
„Vielleicht könnt ihr mich aufklären, aber ich blicke da nicht mehr durch.“ Siewers saß mit Roman hinten, während Behrend den Wagen fuhr.
„Retzlaff hat was mit Merle Grothe“, sagte Funke, sich zu ihr nach hinten drehend.
„Das hab ich auch verstanden. Aber was hat das mit dem Mord zu tun?“
Das wusste Funke auch noch nicht genau, aber deshalb waren sie ja auf dem Weg zu den Retzlaffs. Sie würden schon rauskriegen, was da vor sich ging.
„Waldow hat aber nur Birthe gesehen und nicht ihren Mann“, sagte Roman. „Stimmt doch, oder nicht?“
„Das muss gar nichts heißen“, meinte Funke. „Waldow ist ja mit Judith herumgefahren und in der Zeit könnte Retzlaff ins Haus gegangen sein.“
„Dann meint ihr, dass er seine Nichte ermordet hat.“
„Zumindest glaubt seine Frau das.“
„Und Sie nicht?“
Behrend bremste scharf und Funkes Kopf flog wieder nach vorne, während er sich am Armaturenbrett abstützte. „Meine Güte, Glen. Ras doch nicht so.“
„Tut mir leid, aber die Alte hat nicht geblinkt.“
Funke drehte sich wieder um. „Ich bin mir nicht sicher. Was könnte das Motiv sein?“
„Na ja“, begann Roman. „Sina könnte herausgefunden haben, dass Retzlaff was mit einem Mädchen laufen hatte.“
„Mit Merle?“ schlug Siewers vor.
„Vielleicht gab es da ja auch noch andere.“
„Und das könnte ihn seinen Job kosten.“
Funke musterte beide. „Könnte sein, dass ihr da richtig liegt. Aber wenn, kann sie das erst an ihrem Todestag herausgefunden haben, denn in ihrem Tagebuch steht nichts davon. Wie auch immer, seine Frau ist jedenfalls diejenige, die die Leiche entsorgt hat, das steht jetzt außer Frage.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie hat uns die ganze Zeit verarscht und wir sind prompt darauf hereingefallen.“
Roman schaltete schnell. „Du meinst die Sache mit der angeblichen Übernachtung beim Vater.“
„Ja. Sie musste verhindern, dass wir auf die Idee kommen, das Haus auf Spuren zu untersuchen. Deshalb hat sie kurzerhand erfunden, dass Sina bei ihrem Vater schlafen wollte. Damit war klar, dass wir denken, sie hat sich dadurch ein Alibi verschaffen wollen, um jemanden zu treffen.“
„Wie haben wir uns das also vorzustellen?“ fragte Behrend vom Fahrersitz aus.
„Pass du schön auf den Verkehr auf“, riet Funke ihm. „Ich möchte heute Abend in einem Stück nach Hause kommen.“
„Reg dich ab.“
Funke ignorierte ihn. „Ich denke, die Retzlaff ist rüber, um Sina was zu essen zu machen oder vielleicht um noch mal in ihren Sachen rumzuwühlen.“
„Und dabei hat sie die Leiche entdeckt.“
„Ja.“ Er nickte Siewers zu. „Sie denkt, ihr Mann hat das Mädchen ermordet und versucht daraufhin, alle Spuren zu verwischen.“
„Aber warum kommt sie sofort auf ihren Mann?“
Funke bedachte Behrend mit einem Seitenblick. „Keine Ahnung. Vielleicht gab es da doch immer irgendwelche Geschichten mit ihm und Minderjährigen. Vielleicht hat Sina bei dem Streit mit ihr am Tag vorher ja auch irgendeine Bemerkung in der Richtung gemacht. Jedenfalls hat sie sofort alles Mögliche unternommen, um alle Spuren zu verwischen.“
„Und da kam ihr Masio als Sündenbock gerade recht“, sagte Roman.
„Genau.“ Funke nickte grimmig. „Ich kann mich noch an ihre Reaktion erinnern, dass die Leiche auf dem Friedhof gefunden wurde. Sie war völlig überrascht und hat gleich danach gefragt, ob wir das für den Tatort halten. Das hat ihren Plan natürlich ziemlich durcheinander gebracht.“
„Wie hat sie die Leiche entsorgt und warum ist sie dabei nicht gesehen worden?“
„Keine Ahnung.“
„Aber ich“, ließ Behrend sich vernehmen. „Erinnerst du dich an die Garage bei den Kellers? Da gibt es einen Durchgang zum Haus. Sie ist einfach mit ihrem Wagen in die Garage gefahren und hat die Leiche reingepackt.“
„Wir können von Glück sagen, dass Waldow an dem Tag dort war“, sagte Roman. „Wer weiß, ob wir sonst jemals einen Hinweis bekommen hätten, dass Birthe in dem Haus war. Ich meine, es war ja normal, dass sie dort ein- und ausging, vielleicht fuhr sie auch häufiger mit ihrem Wagen in die Garage. Keiner der Nachbarn hätte uns erzählt, dass er sie gesehen hat, weil es nicht ungewöhnlich war.“
„Das stimmt wohl.“ Funke nickte ihm zu.
Ein Handyklingeln ertönte vom Rücksitz und er sah, wie Siewers in ihre Jackentasche griff. Sie warf einen Blick auf das Display und wurde rot. „Entschuldigung“, sagte sie in seine Richtung und ging ran. „Ja?…Du, es passt im Moment nicht so gut. Kann ich dich…Aha…Was? Ja, das sagt mir was…Ich ruf dich zurück. Tschüß.“
Sie drückte das Gespräch weg und sah aufgeregt in die Runde. „Das war mein Freund, Sie wissen schon, Tuchels Halbbruder. Frau Tuchel hat ihm von Christophers damaliger Freundin erzählt. Einer gewissen Marina Schulze.“
Funke verzog das Gesicht. „Ja und? Was hat das mit unserem Fall zu tun?“
„Sie hat ihm erzählt, dass das Mädchen keine Eltern mehr hatte, bei ihrer Schwester aufgewachsen war und einen Schwager hatte, der Zahnarzt war.“
Funke verstand sofort. „Sie meinen, Birthe Retzlaff war Tuchels damalige Freundin?“
„Scheiße“, entfuhr es Roman. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“
„Wir sind da“, rief Behrend, lenkte den Wagen an den Straßenrand neben dem Block, in dem Ole und Birthe Retzlaff ihre Wohnung hatten und schaltete den Motor aus.
Funke ließ seinen Gurt zurückschnellen und riss die Tür auf. „Los, kommt. Lasst uns den beiden mal ordentlich einheizen.“
Er lief voran, fand den Klingelknopf und läutete Sturm. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis der Summer ertönte und sie hineinließ. Sie eilten nacheinander die Treppe in den ersten Stock hinauf und fanden dort einen sichtlich erstaunten Ole Retzlaff vor.
„Ich bin eigentlich auf dem Sprung.“
„Das muss warten“, sagte Funke entschlossen. „Wir dürfen doch?“ fragte er und schob sich an ihm vorbei, ohne seine Antwort abzuwarten.
„Also schön, worum geht es?“ fragte Retzlaff,
nachdem sie alle in seinem Flur standen und er dsie Tür
geschlossen hatte. „Es scheint ja wichtig zu sein, wenn Sie hier
gleich zu viert auflaufen.“
Funke hörte die Ironie heraus, aber ihm fiel noch etwas anderes auf. Retzlaff war nervös. Er hatte einen unsteten Blick und seine rechte Hand fuhr unablässig an seinem Oberschenkel auf und ab.
„Kommissar Behrend kennen Sie ja schon“, begann er. „Und das sind Oberkommissar Frohloff und Kommissarin Siewers. Herr Retzlaff, wir sind noch einmal wegen Ihres Alibis hier. Sie hatten uns gesagt, dass Sie den Mittwochnachmittag letzte Woche gemeinsam mit Ihrer Frau verbracht haben.“
„Ja.“ Bildete er es sich ein oder kam die Antwort wirklich etwas zögerlich?
„Wenn das so ist, wie erklären Sie es sich dann, dass man Ihre Frau ganz woanders gesehen hat?“
Wo das war, musste er ihm ja nicht sofort auf die Nase binden.
Wieder zögerte er leicht. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte, dunkle Haar. „Um welche Uhrzeit geht es noch mal?“
Funke schüttelte den Kopf. „Kommen Sie, Herr Retzlaff, das wissen Sie ganz genau. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit. Sie waren nicht mit Ihrer Frau zusammen, ist es nicht so?“
Er hob entschuldigend beide Hände. „Okay. Ich geb es zu. Meine Frau und ich waren an jenem Nachmittag nicht zusammen.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „War es das? Ich hab es wirklich verdammt eilig.“
Da konnten sie ihm nicht helfen. „Tut uns leid, aber es wird noch eine Weile dauern. Wo waren Sie dann, wenn nicht zu Hause?“
„Sie haben mich falsch verstanden. Ich war so gegen halb drei zu Hause, aber meine Frau war nicht dort. Sie kam erst gegen sechzehn Uhr.“
Klar, nachdem sie die Leiche auf den Priwall gebracht hatte. Funke warf einen Blick in die Runde. „Und wo waren Sie vorher?“
„Bis kurz nach vierzehn Uhr war ich in meinem Büro. Und dann war ich noch tanken, bevor ich nach Hause gefahren bin.“
Funke sah Roman den Kopf schütteln. Er wusste, was das hieß. Wenn seine Angaben stimmten, hatte er mit dem Mord nichts zu tun und seine Frau hatte die Spuren umsonst verwischt.
„Gibt es dafür Zeugen?“
„Der Pförtner hat mich sicherlich aus dem Gebäude gehen sehen und ansonsten können Sie gern meine Stechkarte kontrollieren, wann ich ausgecheckt habe. Und eine Tankquittung hab ich auch noch irgendwo. Wenn es das jetzt war, würde ich wirklich gern gehen.“
„Wo ist eigentlich Ihre Frau?“ mischte Siewers sich ein.
Merle spürte die kalte Klinge des Messers an ihrem Hals und tat ihr Bestes, sich nicht zu bewegen. Wer wusste denn, was diese verrückte Frau zum Ausrasten brachte? Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was passierte, wenn sie ihren Hals ritzte, sie hatte schließlich genug Schlitzerfilme gesehen. Es war besser, sie nicht zu reizen, denn im Falle eines Kampfes hätte sie keine Chance gehabt. Die Frau hatte eine enorme Kraft, wie sie feststellen durfte, als sie sie mit einer Hand unter dem Sofa hervorgezogen und aufs Sofa gedrückt hatte.
Jetzt stand sie in gebückter Haltung vor ihr und hielt ihr ein riesiges Küchenmesser an die Halsschlagader. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen und sie fühlte, wie ihr Blut durch ihre Adern gepumpt wurde. Sie mochte die Frau kaum ansehen, weil deren Augen sie zu durchbohren schien. Gott, warum kam ihr denn niemand zur Hilfe? Es konnte doch wohl nicht sein, dass hier alles zu Ende gehen sollte.
Die Zeit war ihre einzige Verbündete.
Instinktivrgendwie spürte sie, dass die Frau noch
nicht fertig mit ihr war, auch wenn sie nicht wusste, was sie genau
von ihr wollte. Aber wenn sie es gewollt hätte, hätte sie sie schon
längst abstechen können. Wollte sie noch ein wenig mit ihr spielen?
Wie auch immer, je länger sie durchhielt, umso wahrscheinlicher
war, dass er vielleicht doch noch nach ihr suchte. Sie merkte, wie
die Verrückte sie musterte und begegnete schließlich ihrem
Blick.
„Du warst es also“, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Es waren deine Schlüpfer, die ich im Schreibtisch gefunden habe. Dabei war ich so sicher, als ich die anderen Slips in Sinas Schrank entdeckt hatte.“
Sina? Das ermordete Mädchen? Was hatte die denn mit dieser Frau zu tun? Sie spürte, wie sich ihre Augen weiteten. Oh Gott, hatte sie hier etwa eine Mörderin vor sich stehen?
„Wer sind Sie?“ stieß sie hervor, selbst überrascht, dass sie überhaupt etwas herausbekam.
„Ich bin die Frau des Mannes, mit dem du herumhurst.“
Sie räusperte sich, was ihr schwer fiel, da sie mit jeder Bewegung das Messer deutlich an ihrer Haut fühlte. „Ich habe nicht mit Ihrem Mann geschlafen. Das müssen Sie mir glauben.“
Die Frau packte sie an den Haaren und riss ihren Kopf mit einer plötzlichen Bewegung nach hinten. Merle hörte ein Knacken in ihrem Genick und schrie vor Schmerz auf.
„Erzähl mir keinen Scheiß“, zischte die Frau. „Ich hab deine Nachrichten an ihn gelesen.“
Tränen schossen ihr in die Augen. „Bitte. Sie tun mir weh.“
„Gut so. Was glaubst du, wie weh du mir getan
hast?.“
„Ich wollte das nicht, wirklich nicht.“ Sie hatte doch lediglich ihren Spaß haben wollen.
„Das hättest du dir früher überlegen müssen.“ Sie ließ ihre Haare los und schubste sie zurück, dass sie mit dem Kopf gegen die Rückenlehne knallte. „Was dachtest du denn, was passiert, wenn du dich mit einem verheirateten Mann einlässt?“
Das war es ja. Außer an sich
und ihr VergnügenSie hatte
sie an gar nichts gedacht.nur ihren Spaß gewollt,
an mehr hatte sie nicht gedacht. Aber das
behielt sie in diesem Moment lieber für sich. Die Frau war
eindeutig nicht ganz klar im Kopf und jede unbedachte Bemerkung
konnte sie ausrasten lassen.
Frau Retzlaff, so musste sie ja wohl heißen, griff hinter sich nach einem Sessel, zog ihn an sich heran und setzte sich dann vor sie. „So. Jetzt erzählst du mir mal genau, was ihr gemacht habt, Ole und du.“
Merle überlegte fieberhaft. Was sollte sie sagen? Es war ja wirklich noch nichts Schlimmes passiert, aber ob sie das auch so sah?
„Gar nichts, wirklich nicht.“
Sie griff nach ihrem Handgelenk und presste das Messer dagegen. „Willst du, dass ich hier mit dem Schneiden anfange? Du brauchst es nur zu sagen.“
Ihre Stimme klang ganz sanft und jagte ihr damit erst richtig Angst ein. „Nein, bitte nicht. Lassen Sie mich doch gehen. Ich hab nichts getan, ehrlich nicht.“
„Hör auf zu heulen. Du hättest dir mal ein Beispiel an Sina nehmen sollen. Das war nicht so eine Memme wie du.“
Hatte sie dieses Mädchen tatsächlich umgebracht? War es das, was sie ihr sagen wollte? Wenn ja, dann sollte sie lieber sofort damit aufhören. Sie wollte kein Geständnis hören. Damit würde sie zur Mitwisserin und musste demzufolge ausgeschaltet werden. Also bloß ablenken von dem anderen Mädchen.
„Ich hab Ole geküsst“, sagte sie hastig.
Frau Retzlaff nickte und machte ein zufriedenes Gesicht. „Das ist schon mal ein Anfang. Weiter. Was habt ihr noch gemacht?“
Ein Telefon läutete und die Frau sah sich um. „Scheiße.“ Sie sprang auf und hielt ihr das Messer entgegen. „Du bleibst hier, verstanden? Keine faulen Tricks.“
Merle nickte nur. Sie hätte sich sowieso
nicht fortbewegen können, so gelähmt wie sich
ihre Beine anfühlten. Sie beobachtete, wie die Frau in den Flur
ging und sah sich hastig im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf die
Balkontür und sie merkte, wie sie innerlich Hoffnung
schöpfte. Wenn sie die aufmachen
konnte, konnte sie sich vielleicht über die Brüstung
schwingen und entkommen. Die Frau
kehrten ach einer
knappen Minute mit einem Handy in der Hand
wieder in das Zimmer zurück und betratdurchbrach
ihre Gedankengänge.
„Es ist Ole“, sagte sie mehr zu sich als zu ihr, ohne Anstalten zu machen, das Gespräch entgegen zu nehmen. „Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass ich sein Handy habe.“
Merle flehte innerlich, dass er daraus die richtigen Schlüsse zog.
„Sie meldet sich nicht“, sagte Ole Retzlaff
zu den vier Beamten, die gespannt auf eine Reaktion warteten. Oh
Gott, warum ging Birthe nicht ran? Wo mochte sie sein? Er wusste,
dass sie nicht zur Arbeit war und bei Almut war sie auch
nicht. Dass sie sein Handy hatte, war doch kein
Zufall. Und warum hatte sie sein Handy?
Hatte sie es
absichtlich genommen? Aber warum hatte sie es
genommen? Hatte sie Verdacht geschöpft? Ihm fiel wieder ein,
dass er neulich schon die Vermutung hatte, dass sie die Slips
gefunden hatte. Hatte sie da Verdacht geschöpft? Hatte sie
sich daraufhin noch genauer umgesehen? Glaubte sie, auf dem Handy
eine Spur zu finden, wo die Slips her waren? Zum Glück löschte er
seine SMS immer sofort, nachdem er sie gelesen
oder abgeschickt
hatte. Er konnte nur beten, dass Merle ihm keine Nachricht
geschickt hatte, seit Birthe sein Handy hatte.
Ihm wurde auf einmal bewusst, dass Hauptkommissar Funke ihm eine Frage gestellt hatte. „Wie bitte?“
Es war klar, dass er ihn für schwachsinnig hielt. „Können Sie uns sagen, wie Ihre Frau vor ihrer Hochzeit mit Ihnen hieß?“
Er zog fragend die Augenbrauen hoch. „Birthe Keller, wieso ist das wichtig?“
„Keller?“ Die Frau meldete sich zu Wort. „Aber ist das nicht der Name ihres Schwagers? Oder hat Dr. Keller damals den Namen seiner Frau angenommen?“
„Nein. Aber Sie wissen doch, dass die Eltern meiner Frau lange tot sind. Almut und ihr Mann haben sie sozusagen adoptiert.“
Ihm entging nicht, wie die Beamten sich untereinander mit Blicken verständigten. „Wie hieß sie vorher?“
„Schulze.“
„Und hat sie den Vornamen auch geändert?“
Was waren das für Fragen? Er starrte die Frau an. „Warum sollte sie?“
„Sie hieß nicht zufällig Marina?“
Wie kamen Sie darauf? „Marina ist ihr zweiter Vorname. Nach ihrer Mutter. Sagen Sie, wieso interessiert Sie das eigentlich?“
„Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie Merle Grothe kennen?“
Ole hatte das Gefühl, ihm würde das Herz stehen bleiben. Er ließ seinen Arm mit dem Handy in der Hand sinken und starrte die Frau an. „Was?“
„Sie brauchen jetzt nicht den Ahnungslosen zu spielen. Wir wissen über Sie und das Mädchen Bescheid. Sie haben ihr geholfen, ein anderes Mädchen dumm aussehen zu lassen.“
Er hatte es gewusst. Er hätte es nicht tun dürfen. Schon als Merle ihm sagte, dass es ganz einfach sein würde, die Zettel in Jacquelines Arbeit im Fach der Sonntag zu deponieren, war ihm klar, dass ihm genau das zum Verhängnis werden konnte. Warum hatte er nicht auf seine innere Stimme hören können? Er hätte ihr doch auch anders beweisen können, dass er es ernst meinte. Jetzt hatte er den Salat. Er hatte das Gefühl, als würde sein ganzes Leben über ihm einstürzen und ihn darunter begraben.
„Wenn Sie eh schon alles wissen, was wollen Sie dann noch hier?“
„Das ist eine berechtigte Frage“, sagte Funke gedehnt. „Wir wissen eben noch nicht alles. Aber vielleicht können wir mit Ihrer Hilfe das alles aufklären. Wir wissen, dass Ihre Frau die Leiche Ihrer Nichte aus dem Elternhaus in Bent Masios Hütte gebracht hat.“
Was? Er glaubte, nicht richtig zu hören. „Aber warum sollte sie das tun?“ Und warum hatte sie ihm nichts davon gesagt?
„Wir haben angenommen, weil sie Sie schützen wollte.“
Ole dachte einen Moment darüber nach. „Nein. Das kann nicht sein. Sie wusste ja, dass ich bei der Arbeit bin.“
„Oh nein“, ließ sich der blonde Beamte vernehmen. Wie hieß der noch? Irgendetwas mit F. „Wir sind doch bescheuert. Sie hat die Leiche nicht weggebracht, weil sie ihren Mann schützen wollte. Sie selbst hat ihre Nichte getötet.“
„Was? Sie sind ja von Sinnen.“ Aber noch während er es aussprach, beschlich ihn das Gefühl, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
„Wollen Sie nicht rangehen?“ traute sich Merle nun doch zu fragen.
„Und dann?“ Sie stellte das Klingeln ab und warf das Handy hinter sich auf den Tisch. „Wo waren wir gerade?“
Wenn sie das nicht wusste…Merle beobachtete sie, wie sie mit der Klinge auf ihre Handfläche schlug. Oh Gott, wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie ausflippte? Sie warf einen verstohlenen Blick zurück zur Balkontür. Nein, das konnte sie vergessen. Sie würde es nie unversehrt dorthin schaffen, solange die Frau mit ihr in dem Zimmer war.
„Ach ja“,. erhellte
sich deren Miene schließlich.
„Du sagtest eben, du hättest mit meinem Mann
rumgeknutscht.“
Ganz so hatte sie es zwar nicht gesagt, aber
sie was würde es bringen, sie auf irgendwelche Feinheiten in der
Formulierung hinzuweisen?
„Was noch?“ Sie kam wieder auf sie zu und setzte sich vor sie auf den Stuhl. „Und jetzt komm mir nicht damit, dass du ...“
Sie wurde erneut durch ein Klingeln unterbrochen, aber dieses Mal war es Merles Handy. Und zwar das, das Bent ihr damals besorgt hatte und dessen Nummer nur er und Ole hatten. Das musste doch Ole sein, oder? Bitte, leg nicht auf, flehte Merle innerlich. Das war vielleicht ihre Chance. Wenn die Frau noch einmal aus dem Raum ging, musste sie es versuchen.
Frau Retzlaff zog die Augenbrauen hoch. „Verdammt, wo ist dein Handy?“ schrie sie sie an.
„In meiner Jacke. Im Flur.“
Frau Retzlaff sprang erneut auf und lief in den Flur. Warum sie es nicht einfach klingeln ließ, war Merle ein Rätsel, aber vielleicht wollte sie einfach Gewissheit, dass es womöglich ihr Mann war, der da anrief. Wie auch immer. Merle zögerte keine Sekunde, sondern sprang auf und flog zur Balkontür. Sie zog den Hebel an der Seite nach unten und riss die Tür auf. Eiskalte Luft strömte ihr entgegen, aber das war ihr egal. Sie wollte einfach nur weg. Weg aus der Wohnung und weg von dieser verrückten Frau, die ihr solche Angst einjagte. Sie schwang ihr rechtes Bein über den Rand des Balkons, als sie von hinten gepackt wurde.
„Na so was“, hörte sie die Frau in ihr Ohr zischen. „Da lässt man dich eine Sekunde aus den Augen und dann das.“
Der Unterarm der Frau schnürte ihr die Luft ab. Sie versuchte, um Hilfe zu schreien, aber sie bekam keinen Ton heraus. Sie wehrte sich mit aller Kraft, aber es war zwecklos. Die Frau war ihr einfach zu sehr überlegen. Sie zog sie rücklings zurück in die Wohnung, drückte sie auf den Boden und setzte sich auf sie.
„Ich hab es im Guten versucht, aber jetzt werde ich andere Seiten aufziehen.“
Merle sah in ihre weit aufgerissenen Augen und wusste, dass sie hier nicht lebend herauskommen würde.
„Die Mailbox springt an“, sagte Retzlaff, der eingeklemmt zwischen Roman und Siewers auf der Rückbank saß und aussah, als ob er nicht fassen konnte, was da im Moment alles vor sich ging. „Schon wieder.“
„Versuchen Sie es weiter“, sagte Funke.
Sie waren auf dem Weg
in Retzlaffseine
Ferienwohnung am Brodtener Ufer in
Travemünde, die
Retzlaff gehörte. Er hatte eingeräumt, sich dort häufiger mit
Merle Grothe getroffen zu haben, wenn er auch bestritt, ein
sexuelles Verhältnis mit ihr eingegangen zu sein.
Funke hatte an Karsten
Waldow gedacht, der bezüglich Judith
Keller das gleiche behauptet hatte.
Warum sollte sich ein erwachsener Mann sonst mit einem
minderjährigen Mädchen heimlich treffen, wenn er nicht
sexuelle Hintergedanken hatte? Gab es eigentlich keine normalen
Männer mehr? Er hätte kotzen können, aber für seinen
Ekel gab es momentan keine Zeit.
Da das Mädchen zu Hause nicht anzutreffen war, war
es durchaus möglich, dass sie in besagterder Wohnung war.
Retzlaff hatte ihr angeboten,
dass sie dort immer Zuflucht finden konnte, wenn sie es zu Hause
nicht mehr aushalten würde. Sie hatte einen Schlüssel und
war auch dort untergetaucht, als ihre Eltern
sie als vermisst gemeldet hatten. Warum
sollte sie sich also nicht auch jetzt dort aufhalten?
RetzlaffEr hatte ihnen erzählt,
dass sein Handy im Besitz seiner Frau war und
Funke schwante Böses. Hatte die Frau im Namen ihres
Mannes Kontakt mit dem Mädchen aufgenommen? Ziemlich
wahrscheinlich. Und dann befand sich das
Mädchen in akuter Gefahr. Warum waren sonst beide
nicht zu erreichen?
Romans Theorie hatte echt etwas für sich und Funke konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Retzlaff mittlerweile dasselbe dachte, auch wenn er sie zunächst als lächerlich abgetan hatte.
„Versteht ihr nicht?“ hatte Roman aufgeregt gerufen. „Birthe hat gedacht, ihr Mann hätte ein Verhältnis mit Sina. Sie ist zu ihr, um das mit ihr zu klären und dabei ist sie durchgedreht.“
„Das könnte sein“, stimmte Behrend mit ein. „Vielleicht hat Sina ihr gegenüber auch noch so getan, als ob sie tatsächlich etwas mit ihrem Onkel hatte. Ich meine, zuzutrauen wäre es ihr.“
Da musste Funke ihm Recht geben, nach dem, was da alles im Tagebuch stand, hätte das absolut zu ihr gepasst. „Und ihr meint, jetzt hat sie ihren Irrtum erkannt und will das richtige Mädchen zur Strecke bringen.“
„Das kann nicht sein“, hatte Retzlaff gesagt. „Woher soll sie denn von Merle und mir wissen?“
Roman hatte den Kopf geschüttelt. „Ihre Frau weiß inzwischen, dass zwischen Ihnen und Ihrer Nichte nichts gelaufen ist. Aber sie vermutet nach wie vor, dass es da auf jeden Fall ein Mädchen gibt. Wer das ist, braucht sie ja gar nicht zu wissen. Um das herauszufinden, hat sie Ihnen Ihr Handy entwendet.“
Damit war Retzlaff nachdenklich verstummt.
„Also“, hatte Funke gesagt. „Wo könnte Ihre Frau sich aufhalten?“
Birthe Retzlaff sah das junge Mädchen unter sich liegen und verspürte den unwiderstehlichen Drang, ihr eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Was bildete sich dieses Gör überhaupt ein? Sich einfach an ihren Mann heranzumachen. Und dann tat sie auch noch so, als ob die Wohnung hier ihr gehörte. Unglaublich. Aber sie würde ihr diese Überheblichkeit schon austreiben. Niemand ließ sich ungestraft mit einem Mann ein, der ihr gehörte.
Sie holte aus und schlug zu. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl der Genugtuung, das nach dem Schlag durch ihren Körper ging. Sie fühlte sich zurückversetzt an das erste Mal, dass sie einem Mädchen die Grenzen aufgezeigt hatte, als sie noch Marina Schulze war. Komisch, wie alles vor ihrem inneren Auge wieder auftauchte, was sie so erfolgreich jahrelang verdrängt hatte.
Von ihm unbemerkt war sie Chris damals auf die Party gefolgt, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass er ihr etwas verschwieg. Mit Argwohn hatte sie aus der Ferne beobachtet, wie Chris ein Bier nach dem anderen in sich hinein kippte und diese kleine Nutte Stella die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hatte, um sich an ihn heranzumachen.
Sie hatte gehofft, dass er sie abblitzen ließ, obwohl sie es hätte besser wissen müssen, er war schließlich ein Mann. Natürlich sprang er darauf an. Sie sah, wie die beiden wild miteinander herumknutschten, die Schlampe seine Hand unter ihre Bluse führte. Sie hatte fast gekotzt. Alle ihre Ängste schienen sich in jenem Augenblick zu bewahrheiten. Er würde sie verlassen und sie wäre wieder allein gewesen. Das wollte sie nicht erleben, konnte sie nicht ertragen. Lieber hätte sie ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Wie von Sinnen war sie in die Küche des Hauses geeilt, in dem Party stattfand, und hatte sich ein Messer geschnappt. Es war einfach so passiert, ohne dass sie genauer darüber nachgedacht hatte, was sie damit anstellen sollte.
Vielleicht hätte sie sich tatsächlich irgendwo die Pulsadern aufgeschnitten, wenn sie nicht gesehen hätte, wie Chris knutschend mit Stella die Party verlassen hatte. Wie fremd gesteuert war sie den beiden gefolgt und hatte sie dann dabei beobachtet, wie sie es im Schatten einer Hecke unter freiem Himmel miteinander trieben und war fast wahnsinnig geworden. Wie konnte Chris ihr das nur antun?
Nachdem sie fertig waren,
hatte Stella sich den Rock glatt gestrichen und
sIhr Entsetzen war einer unbändigen Wut gewichen, die sie
nicht mehr kontrollieren konnte. Wie von Sinnen war sie in die
Küche des Hauses geeilt, in dem Party stattfand, und hatte sich ein Messer
geschnappt. Es war einfach so passiert, ohne dass sie genauer
darüber nachgedacht hatte, was sie damit anstellen
sollte.
Sie war den beiden gefolgt,
hatte sie dabei beobachtet, wie sie es in seinem Wagen
miteinander trieben und war
fast wahnsinnig geworden. Nachdem sie fertig waren, hatte
Stella den Wagen verlassen. Sichtlich beschwingt
hatte
sie den Weg zurück zur Party
eingeschlagen,
während Chris einfach liegen geblieben war.
und Da Birthe
waren
bei Birthe die Sicherungen
durchgebrannt. Ihr Entsetzen war einer
unbändigen Wut gewichen, die sie nicht mehr kontrollieren
konnte. Sie hatte Stellasie aufgehalten und zur Rede gestellt, die Hand mit dem Messer
hinter ihrem Rücken.
„Warum hast du dich an meinen Freund rangemacht?“
Stella hatte sie höhnisch angegrinst und dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne gezeigt. „Deinen Freund? Wer bist du überhaupt?“
„Das weißt du ganz genau.“
„Lass mich in Ruhe.
Wenn du den Typen meinst, der da hinten
in der Heckem Auto
pennt, ich kann
mir nicht vorstellen, dass der auf dich stehen
würde.“
„Was fällt dir ein?“ Birthe war außer sich.
„Wenn du es ihm nicht richtig besorgst, ist es doch kein Wunder, wenn er es sich dann woanders holt.“
Das war zuviel für sie
gewesen. Ihre Hand war wie von einer Schnur gezogen nach
vorne geschnellt und hatte zugestochen. Immer wieder. Sie wollte
nur, dass das Grinsen vom Gesicht des Mädchens verschwand.
Diesen Anblick konnte sie einfach nicht
ertragen. Sie kam zu sich, als sie über dem leblosen Körper
kniete, entsetzt darüber, was sie getan hatte,
doch sie fing sich
schnell. Sie hatte sich hastig
umgesehen, aber ihre Tat war scheinbar unbemerkt geblieben.
Sie zog die Leiche des
Mädchens in die nächste Hecke und machte sich auf den
Heimweg, in der Hoffnung, dass niemand sie in ihren
blutbefleckten Klamotten sah. Als sie an dem
schlafenden Chris’ Wagen
vorbeikam und ihn tief schlafend darin
sitzen sah vorbeikam, spürte
sie den Ekel wieder hochkommen und fasste spontan
einen Entschluss. Warum sollte erChris nicht für den Mord die Schuld bekommen? Er war
doch auch verantwortlich dafür. Wenn er sich nicht mit der Nutte
eingelassen hätte, wäre ja gar nichts passiert.
An das Risiko, dass er
aufwachen könnte, hatte sie keinen Gedanken verschwendet.
Sie hatte ihn schon häufiger betrunken erlebt und
wusste, wenn er erst mal schlief, konnte ihn so leicht nichts
wecken. Sie hatte sich kurzerhand
über ihn gebeugt die Tür des
Wagens geöffnet
und ihre blutigen
Hände an seiner Kleidung abgewischt. Dann war sie nach
Hause. Auf
dem Weg dorthin hatte sie den Griff des Messers an ihrer Kleidung
abgewischt, um ihre Fingerabdrücke zu
entfernen, und in eine
Mülltonne geworfen, die nicht weit von Chris’ Wohnung
entfernt war.
Sie hatte die nächsten Tage in furchtbarer Angst gelebt. Bei jedem Klingeln hatte sie gefürchtet, die Polizei käme, um sie zu verhaften, aber nichts dergleichen geschah. Sie wurde als Zeugin vernommen, aber es war klar, dass jedermann Chris für schuldig hielt. Also beschloss sie, dass es dabei bleiben sollte und dachte sich Geschichten aus, die dieses Szenario untermauerten. Dass Chris sich allerdings so leicht geschlagen geben würde, hätte sie niemals vermutet. Nachdem er neulich aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte sie kurzzeitig Panik bekommen, dass er sich mit ihr in Verbindung setzen würde, um herauszufinden, was damals wirklich passiert war, aber das war nicht geschehen. Okay, sie hatte ihren Namen geändert, damit man sie nicht ständig mit dem Fall in Verbindung brachte, aber Chris kannte ja Almut und hätte jederzeit herausfinden können, wo sie steckte, wenn er es denn gewollt hätte. Anscheinend hatte er mit ihr und der Vergangenheit abgeschlossen.
Ein Schluchzen riss sie aus ihren Gedanken. Es kam von dem Mädchen, das sie unter sich begraben hatte. Blut lief aus ihrer Nase und ihr Gesicht war feuerrot.
„Hör auf zu heulen“, schrie sie das Mädchen an. Wie hieß die noch mal? Ach ja, Merle.
Wieder klingelte ein Telefon. Konnten die sie nicht in Ruhe lassen? Ihr Kopf fing an zu schmerzen. Und dann dieses Geheule von dem Gör.
„Jetzt sei endlich ruhig, verdammt noch mal.“
„Bitte“, sagte Merle. „Lassen Sie mich gehen. Ich hab wirklich nichts getan. Es war alles nur Spaß.“
„Spaß?“ Birthe beugte ihr Gesicht ganz nah zu dem des Mädchens hinunter. „Du machst dich an einen verheirateten Mann heran und nennst das Spaß?“
Statt einer Antwort gab das Mädchen nur ein Wimmern von sich. Was für ein Unterschied zu Sina. Die hatte sie ganz ungerührt angeguckt, als sie in die Küche gestürmt war.
„Hallo Birthe“, hatte sie emotionslos gesagt. „Willst du wieder rumschnüffeln? Hast du Pech gehabt. Heute bin ich da.“
Sie hatte sich umgedreht und wollte sich etwas aus dem Kühlschrank holen. Birthe war hinter sie getreten und hatte die Tür wieder zugedrückt. Sina war herumgefahren.
„Was willst du? Geh nach Hause.“
Sie hatte ihr die Slips gezeigt, die sie in Oles Schreibtisch entdeckt hatte. „Das sind doch deine, oder?“
Sina hatte die Slips angeschaut und sich auf die Arbeitsplatte gesetzt. Sie war geschminkt, wie immer in letzter Zeit und hatte einen extrem kurzen Rock an. Sie merkte, wie ihr Blick darauf fiel und gab absichtlich den Blick auf ihr Höschen frei, indem sie ihre Beine spreizte.
„Kann schon sein“, sagte sie.
Birthe knallte die Slips neben sie auf die Platte. „Sieh sie dir an.“
Sina blieb ungerührt. „Warum sollte ich? Ich kenne meine Unterhosen.“
„Du streitest es also nicht mal ab.“
„Wo hast du sie her?“
„Jetzt tu mal nicht so, als ob du das nicht ganz genau weißt. Wenn du das nächste Mal mit meinem Mann vögelst, pass auf, dass du auch alles wieder anziehst.“
Sina strich sich mit ihrer Hand durch das Haar und leckte sich die Lippen. Birthe durchzuckte ein kalter Schauer.
„Ich hatte wohl keine Zeit.“
Birthe merkte, wie die Wut in ihr hochkam. „Halt den Mund.“
Das Mädchen schien Gefallen daran zu finden, sie auf hundertachtzig zu bringen. „Bei Ole muss es aber auch immer so schnell gehen.“
Birthe presste sich die Hände auf die Ohren. „Hör auf. Halt dein Maul.“
Sina grinste nur und fuhr sich mit der Hand über die Brust. „Er liebt es, mich überall zu berühren. Und wieso regst du dich auf? Wenn du es mit ihm treiben würdest, hätte er auch nicht solchen Druck.“
Das war zuviel gewesen. Sie hatte hinter sich gelangt und nach einem der Messer gegriffen, die in einem Block steckten, der neben der Spüle stand. Ohne zu zögern hatte sie zugestochen. Das Grinsen auf Sinas Gesicht gefror. Triumphierend stieß sie ein weiteres Mal zu und sah dann die Leiche ihrer Nichte langsam auf den Boden sinken. Sie hatte auf das Messer in ihrer Hand gestarrt und hatte für einen Moment das Gefühl gehabt, als würde die Welt still stehen. Was hatte sie getan?
Doch es dauerte nicht lange und ihr Pragmatismus setzte sich durch. Was war zu tun? Als erstes wusch sie das Messer ab und steckte es zurück in den Block. Sie hatte es schon einmal geschafft, ihren Mord jemand anderem in die Schuhe zu schieben. Warum sollte ihr das nicht ein zweites Mal gelingen? Wer kam dafür in Frage? Ole hätte es verdient, aber er würde ahnen, dass sie dahinter steckte, also musste es jemand anderes sein.
Bent war der erste, der ihr einfiel und sie war schnell sicher, dass er der am besten geeignete Sündenbock war. Sie musste nur dafür sorgen, dass die Polizei möglichst bald auf ihn kam, ohne dass sie lange in der Familie nachbohrten. So kam ihr die Idee, die Leiche in seine Hütte zu bringen. Wenn sie dort gefunden wurde, würden sich die Ermittlungen automatisch auf ihn konzentrieren, und dass er Dreck am Stecken hatte, war eh klar.
Sie eilte aus dem Haus, um ihren Wagen zu holen, und betete, dass in der Zwischenzeit niemand das Haus betrat. Mit klopfendem Herzen fuhr sie in die Garage und eilte anschließend zurück in die Küche. Das Schicksal meinte es gut mit ihr, denn alles war so, wie sie es verlassen hatte. Sie entkleidete Merle, wickelte sie in einen alten Teppichrest, den Nachbarn bei ihnen im Keller liegen gelassen hatten, trug sie in die Garage und legte sie in den Kofferraum ihres Wagens. Anschließend säuberte sie die Küche, holte Sinas Rucksack und ihre Jacke von oben und versteckte beides mit ihrer Kleidung in der Mülltonne.
Die Leiche in Bents Hütte zu bringen, war keine Schwierigkeit. Sie fuhr von hinten auf das Grundstück, das von außen nicht einzusehen war. Von Judith wusste sie, wo Bent einen Ersatzschlüssel aufbewahrte. Sie deponierte die Leiche im Wohnzimmer und legte den Schlüssel anschließend wieder unter die Fußmatte. Dann fuhr sie nach Hause. Auf dem Weg hielt sie zweimal an. Einmal, um den Teppichrest in einer Mülltonne zu entsorgen und beim zweiten Mal saugte sie an einer Tankstelle den Kofferraum aus.
Alles in allem hatte es ganz gut funktioniert. Niemand hatte sie gesehen und auch wenn die Leiche letztendlich nicht in Bents Hütte gefunden worden war, hatte sie den Verdacht von sich und Ole abgelenkt. Nur war Sina leider nicht das Mädchen, mit dem Ole was am Laufen hatte. Sie war fast in Ohnmacht gefallen, als sie erfuhr, dass ihre Nichte noch Jungfrau war. Sie hatte schon vorher Zweifel gehabt, weil Ole so wenig betroffen schien und als Judith ihr vom Tagebuch erzählte, hatte sie Gewissheit. Sie hatte das falsche Mädchen umgebracht. Die Slips gehörten einer anderen. Und die traf sich immer noch mit ihrem Mann. Na, das würde sich jetzt bald erledigt haben.
Sie stutzte einen Moment. War das nicht ein Geräusch? An der Tür? Es hatte fast wie ein Schlüssel geklungen. Ein Blick auf das Mädchen sagte ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Na, wer immer da auch an der Tür war, würde nicht reinkommen. Sie hatte den Schlüssel von innen stecken.
Sie sah das Mädchen unter sich liegen und spürte, wie der Hass von ihr Besitz ergriff. Das Mädchen war schuld daran, dass Sina tot war. Wenn sie sich nicht mit Ole eingelassen hätte, wäre ihre Nichte noch am Leben gewesen. Sie hatte ihr den Mann und ihre Nichte genommen. Dafür musste sie bezahlen.
Das Klingeln an der Tür ließ sie zusammenfahren.
„Wer zum Teufel...“
„Hilfe!“ schrie Merle unter ihr. „Helfen Sie mir.“
„Halt die Schnauze.“ Birthe gab ihr erneut eine Ohrfeige.
„Frau Retzlaff“, hörte sie jemanden durch die Tür rufen. „Hier spricht die Polizei. Wir wissen, dass Sie da drin sind. Machen Sie auf.“
Das Mädchen wand sich unter ihr, beflügelt von dem Gedanken, dass die Rettung nah war, während Birthe fieberhaft überlegte, was sie tun sollte. Dass die Polizei hier war, konnte nur bedeuten, dass Ole sie hergebracht hatte. Es war alles aus. Sie spürte, wie sich ihr die Luft abschnürte. Hatte Ole sie tatsächlich verraten? Na klar, woher sollten sie sonst den Schlüssel bekommen haben?
„Frau Retzlaff, wenn Sie nicht aufmachen, kommen wir auch so herein.“
„Hilfe“, rief Merle wieder und erntete dafür wieder einen Schlag ins Gesicht.
Birthe hörte, wie sie sich an der Tür zu schaffen machten und rang nach Atem. Gleich waren sie drin, sie konnte es gar nicht verhindern. Sie würde nicht davonkommen. Man würde sie verhaften und Merle zurück nach Hause bringen. Die kleine Schlampe würde sich weiter mit Ole treffen, während sie im Knast verrottete. Nein, das würde sie zu verhindern wissen. Wenn sie ohnehin unterging, warum sollte sie dann nicht Nägel mit Köpfen machen?
Sie sah, wie das Mädchen die Veränderung in ihr bemerkte und versteifte.
„Du hast dich mit dem falschen Mann eingelassen.“
Sie nahm das Messer mit beiden Händen und zielte auf die Brust des Mädchens.
„Das ist es“, sagte Retzlaff und zeigte auf einen der Blocks auf der rechten Seite. Es war ein hell gestrichenes Haus mit zwei Eingängen und drei Stockwerken. Glen Behrend lenkte den Wagen an den Straßenrand und killte den Motor.
„Oh Gott“, kam es von hinten.
„Was ist?“ hörte er Funke fragen.
„Das ist der Wagen meiner Frau.“ Retzlaff zeigte auf einen grünen Peugeot, der direkt vor dem Block stand, in dem sich seine Wohnung befand.
„Na, dann los. Roman, du bleibst mit ihm hier.“
„Aber...“
Funke legte ihm seine Hand auf den Arm. „Bitte, halte ihn hier fest. Ich möchte nicht, dass er uns in die Quere kommt.“
„Okay.“
Glen wusste, dass Roman gern mitgegangen wäre, aber er akzeptierte Funkes Wunsch ohne weitere Widerrede.
„Welche Wohnung ist es?“ fragte Funke Retzlaff.
„Die rechte im Erdgeschoss.“
Funke nickte. „Also gut. Geben Sie mir den Schlüssel.“
Retzlaff griff in seine Hosentasche und reichte ihm ein kleines Bund. „Der kleine Silberne ist es.“
„Danke. Dann wollen wir mal sehen, ob Merle tatsächlich da ist. Siewers, Sie kommen mit mir. Glen, du gehst hinten herum und versperrst den Weg, falls sie abhauen will.“
„Alles klar“, sagte Glen und machte sich auf den Weg.
Er ging an den beiden Eingängen vorbei und um das Haus herum. Es hatte etwas geregnet die letzten Tage und so war der Boden ziemlich matschig. Zum Glück hatte er wohlweislich seine alten Schuhe angezogen. Langsam näherte er sich besagter Wohnung. Die zwei kleinen Fenster, die zu dieser Seite gingen, waren dunkel. Entweder war kein Licht eingeschaltet oder Rollos heruntergelassen. Er machte sich lang, um in die Fenster zu sehen, aber es handelte sich um Hochparterre und er war nicht eben der Größte. Er seufzte. Also blieb der Balkon. Er überlegte einen Moment, ob er dort hinaufklettern sollte. Es war der einzige Fluchtweg und so konnte er sofort eingreifen, falls ein Versuch in der Richtung unternommen würde. Andererseits konnte er das Mädchen in Gefahr bringen, wenn die Frau ihn auf dem Balkon sah.
Er zählte langsam bis zwanzig und ging vorsichtig um den Balkon herum. Er konnte sehen, dass die Tür rechts war. Kurzentschlossen hievte er sich von der linken Seite auf den Balkon und ließ sich sofort unterhalb des großen Fensters zu Boden sinken. Sein Herz klopfte laut, ob von der Anstrengung oder der Aufregung konnte er nicht sagen. Einen Augenblick blieb er liegen, abwartend, ob sich drinnen etwas regte. Nichts. Dann kroch er zur Tür, um einen Blick ins Wohnzimmer werfen zu können. Zuerst konnte er nichts ausmachen, weil die Scheibe sein Gesicht zu sehr widerspiegelte. Nachdem er aber ganz dicht herangerückt war und zur Unterstützung die Hand über seinen Augen an die Scheibe gelegt hatte, sah er Birthe Retzlaff. Unverkennbar durch ihr rotes Haar. Sie saß auf dem Fußboden. Seltsam. Er sah genauer hin und was er dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Da waren doch Beine, die sich bewegten und die unmöglich zu Birthe gehören konnten. Sie saß auf jemandem drauf, wahrscheinlich Merle. Und sie hielt ein riesiges Messer in der Hand. Oh Gott! Wollte sie das Mädchen töten? Hastig griff er nach seiner Waffe, die er unter seiner Jacke trug, und entsicherte sie. Mit rasendem Herzen und schweißnassen Händen sah er, wie Birthes Kopf zur Seite schnellte. War Funke dabei, die Wohnung zu betreten? Wieso war er nicht längst drin?
Die Frau schien einen Moment nachdenklich zu werden. Und dann ging alles ganz schnell. Er sah, wie sich beide Hände um das Messer krallten und wie sie ihre Arme nach oben nahm. Er zögerte keine Sekunde, sprang auf, zielte und drückte ab.
Merle Grothe hatte sich schon keine Chance mehr ausgerechnet, diese Wohnung lebend zu verlassen, als sie die Geräusche an der Tür vernahm. War da wirklich jemand oder bildete sie sich das ein? Nein, die Verrückte hatte es ebenfalls gehört. Es klang nach einem Schlüssel. Sollte Ole etwa doch noch kommen? Hatte er aus dem Tausch der Handys doch die richtigen Schlüsse gezogen?
Die Frau ignorierte die Geräusche, aber das Läuten an der Tür ließ sich nicht wegleugnen. Es war die Polizei und sie waren da, um sie zu retten. Merle schrie um Hilfe und erntete dafür Schläge ins Gesicht. Es war ihr egal. Sollte sie doch auf sie einprügeln, soviel sie wollte, die Rettung war nah und sie würde alles tun, sie auf sich aufmerksam zu machen. Wenn sie nur ihre Arme freibekommen hätte, aber die Verrückte saß mit ihren Oberschenkeln drauf und die waren kräftig.
Auf einmal vernahm sie einen ungeheuren Lärm an der Tür. Kein Zweifel, sie wurde eingetreten. Was sich danach abspielte, war eine Sache von Sekunden, aber ihr kam es vor wie Minuten.
Sie wollte schreien, aber es blieb ihr im Hals stecken, weil ihr Blick auf Frau Retzlaff fiel. Es war, als ob ein Ruck durch sie ging, als ob sie mit allem abgeschlossen hatte. Und Merle wusste genau, was das bedeutete. Sie würde sie töten, weil sie eh nichts mehr zu verlieren hatte. Die Polizei würde sie nicht mehr retten können. Sie sah, wie die Irre das Messer hob, schloss die Augen und betete, dass es schnell vorüber ging.
Dann gab es einen
ohrenbetäubenden Knall, ein Klirren und
einen Moment später spürte sie, wie das Gewicht der Frau nicht länger
auf ihr lastete. Sie atmete tief durch und schlug
schließlich die Augen auf. Ein älterer
Mannjunger
Mann kniete über ihr und fragte sie
anscheinend irgendetwas, das sie nicht verstehen konnte. Sie starrte ihn verständnislos
an.
„Was ist passiert?“ fragte sie, wobei sie ihre eigene Stimme wie durch Watte hörte.
„Ist alles in Ordnung?“ hörte sie ihn fragen.
„Mir geht es gut.“
Sie sah seinen zweifelnden
Blick und, aber sie
nickte. „Ehrlich.“
Er half ihr hoch und dabei fiel
ihr Blick auf die Frau Siewers, die über der
regungslosen Frau neben ihr kniete.regungslos neben ihr lag. Sie zog den Atem ein.
„Ist sie...?“
Frau Siewers wandte sich ihr zu
undEr nickte. „Ja. Sie ist
tot.“
Sie folgte ihrem Blick, der
Richtung Fenster ging. Wie festgewurzelt
stand dort ein
junger MannErst vor der
Balkontür, die Arme schlaff an ihm
herunterhängend. In der
rechten Hand konnte sie etwas sehen, das wie eine Pistole
aussah. Er hatte einen Gesichtsausdruck, als ob er einen
Geist gesehen hätte.jetzt sah sie, dass er eine
Waffe in der anderen Hand hielt.
Der ältere Mann ging zu ihm. „Glen, ist alles in Ordnung?“
Er reagierte wie in Trance. „Was ist mit ihr?“ fragte er gedehnt.
Sie sah, wie der Mann ihm vorsichtig die Waffe abnahm. „Sie ist tot.“
„Mein Gott, das wollte ich nicht. Ich hab gesehen, dass sie zustechen wollte, da hab ich abgedrückt.“
„Ist schon gut. Du hast getan, was nötig war.“
„Was ist
passiert?“ Merle hätte es nicht
treffender formulieren können. Er schien geschockt zu sein, dass er
jemanden getötet hatte, aber sie war ihm unendlich dankbar
dafür.