Fünftes Kapitel
„Du musst los?“ Johanna Frohloff drehte sich zu ihrem Mann um, der bereits mit einem Bein aus dem Bett war.
Roman Frohloff beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. „Notfall, Schatz, sorry.“
Sie griff seine Hand und schob sie auf ihren Bauch. „Fühl mal, ich glaub, es hat sich bewegt.“
Er ließ seine Hand einen Moment verweilen und tatsächlich, war da nicht ein kleiner Stoß? Und da, noch einer. Ihn durchflutete eine ganze Welle von Gefühlen gleichzeitig. Freude, Liebe, Stolz, und er konnte nicht sagen, welches am stärksten war. Es war unglaublich. Da wuchs ein Leben im Bauch seiner Frau heran, das er mit ihr gezeugt hatte. Wie hatte er das nur fertig gebracht?
Wenn er daran dachte, wie er noch vor ein paar Monaten gegen diese Schwangerschaft gewesen war, konnte er über sich selbst nur den Kopf schütteln. Wie, um alles in der Welt, hatte er nur dieses Erlebnis verpassen wollen? Was war da nur in ihm vorgegangen? Er schämte sich immer noch dafür, wie er sich aufgeführt hatte. Dass Johanna bei ihm geblieben war, grenzte an ein Wunder, das war ihm jetzt klar, wenn er damals auch zunächst nicht verstanden hatte, warum sie ihn vorübergehend verlassen hatte. Zum Glück hatte er seine Kollegin Doreen Siewers an seiner Seite gehabt, die ihm gründlich den Kopf zurechtgerückt hatte. Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre? So aber hatte er Johanna zur Rückkehr bewegen können und er tat alles, was in seiner Macht stand, sie seinen Fehler vergessen zu machen.
Sanft streichelte er über ihren Bauch hin zur Brust, die um einiges voller war als noch vor ein paar Wochen. Sofort spürte er, wie er hart wurde. Verdammt! Das war einfach zu dicht an der Löffelchenstellung. Er seufzte. Was hätte er darum gegeben, jetzt noch bei ihr zu verweilen? Sex in den frühen Morgenstunden war früher nie ein Thema gewesen, aber seit ihrer Schwangerschaft hatte Johanna einen Appetit darauf entwickelt, der ihn angesteckt hatte. Sie liebten sich fast jeden Morgen und ihrer Beziehung hatte es einen ganz neuen Schwung verliehen. Er wusste, dass sich das alles ändern konnte, sobald das Baby erst einmal da war, und so kostete er jede Sekunde davon weidlich aus. Besonders schön war es die letzten beiden Wochen über gewesen, weil sie beide Urlaub gehabt und deshalb nicht früh raus gemusst hatten.
Aber diesen Morgen musste er darauf verzichten, so sehr er sich auch wünschte, es wäre nicht so. Dabei hatte er seinen ersten Arbeitstag absichtlich auf einen Donnerstag gelegt, in der Hoffnung, es ruhig angehen lassen zu können, weil das Wochenende nicht mehr weit entfernt war, aber das war jetzt wohl nichts. Sein Chef Holger Funke hatte ihn soeben zu einem Leichenfundort gerufen und das ließ sich beim besten Willen nicht aufschieben, auch wenn sein Dienst offiziell erst in gut drei Stunden anfing.
Nach einem weiteren Kuss und einer engen Umarmung entzog er sich ihr. „Ich muss.“
Sie seufzte und zog die Bettdecke enger um sich. „Ich weiß.“
Er sah, wie sie sich in die Decke kuschelte und wäre am liebsten wieder zu ihr ins Bett gesprungen, aber er hielt sich zurück, wenn auch nur mühsam.
„Schlaf noch ein bisschen. Ich zieh mich nebenan an.“
„Ist gut“, sagte sie und ihre Stimme klang schon wieder ein wenig schläfrig. Es war klar, dass sie nicht lange brauchen würde, um im Land der Träume anzukommen. „Grüß die anderen und sag deinem Boss, dass er das nächste Mal für einen Ersatz sorgen muss, wenn er dich noch mal mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt.“
„Mach ich“, grinste er und überließ sie sich selbst.
Eine gute Viertelstunde später saß er frisch geduscht und rasiert in seinem Wagen und lenkte ihn von der Auffahrt der Reihenhauszeile auf die Straße. Beim Abbiegen fiel sein Blick auf sein Gesicht im Rückspiegel und er zuckte unwillkürlich zusammen. Es war nach wie vor ungewohnt ohne seinen Schnurrbart. Er strich sich über seine Oberlippe. Wie anders es sich anfühlte. Und wenn er auch zugeben musste, dass Johanna Recht hatte, wenn sie behauptete, es machte ihn um Jahre jünger, vermisste er doch den Bart, den er so lange sorgfältig gezüchtet hatte. Er hatte die Pflege regelrecht zelebriert, sodass andere es sicher als übertrieben und albern bezeichnet hätten. Aber er war eben immer besonders stolz auf ihn gewesen, er kannte niemanden mit einem ähnlichen Exemplar, außer vielleicht diesem Pseudoanwalt aus dem Fernsehen, und ohne ihn fühlte er sich irgendwie nackt, entblößt. Nein, er konnte sich mit seinem neuen Spiegelbild einfach nicht anfreunden.
Er bereute zutiefst, dass er am vergangenen Wochenende dieser bescheuerten Wette zugestimmt hatte. Dabei wettete er sonst nie, hatte dem Ganzen noch nie etwas abgewinnen können, aber er war leicht beschwipst gewesen und überzeugt davon, dass er Recht hatte. Nur deshalb war er darauf eingestiegen und prompt auf die Schnauze gefallen. Seine Schwester und ihr Mann waren Johannas Einladung zu einem Abendessen bei ihnen zu Hause gefolgt. Johanna wollte die beiden bitten, die Patenschaft für ihr Kind zu übernehmen und als Rahmen dafür schien ihr ein gemütliches Essen angemessen. Er selbst hatte gemeint, sie könnte das genauso gut übers Telefon erledigen, aber davon wollte Johanna nichts hören. Sein Argument, dass sie mit ihrem Vorgehen die beiden geradezu nötigte, ihre Bitte anzunehmen, ließ sie nicht gelten. Er selbst hatte schon ein paar Mal das drohende Unheil abbiegen können, weil er sich am Telefon schnell eine Ausrede hatte einfallen lassen können, und fand, dass man jedem die Chance lassen musste, mit Anstand ablehnen zu können, was von Angesicht zu Angesicht weit schwieriger war. Was sollten die beiden anderes tun, als anzunehmen, wenn sie den gemeinsamen Abend nicht im Fiasko enden lassen wollten, weil sie ihre Gastgeber enttäuschten?
Nicht jeder war scharf auf so eine Aufgabe, bedeutet sie doch auch immer ein gewisses Maß an Verantwortung. Na, wie er es von seinen Kollegen gehört hatte, endete es hauptsächlich in unzähligen finanziellen Aufgaben, auch wenn die Eltern zuvor noch so sehr bekundet hatten, dass man sich auf keinen Fall zu etwas verpflichtet fühlen sollte. Es gab ja kaum einen Anlass, für den kein Geschenk vom Paten vorausgesetzt wurde, angefangen bei Geburtstag und erstem Schultag bis hin zum Verlust des ersten Milchzahns. Besonders unter Freunden konnte sich die ganze Geschichte mit der Patenschaft als Bumerang entpuppen. Immerhin band man sich damit ziemlich eng aneinander und wenn man mit den Eltern eigentlich nicht mehr befreundet sein wollte, weil etwas vorgefallen war oder weil man sich einfach voneinander entfernt hatte, hatte man trotzdem noch Verbindung, weil man irgendwie das Gör am Hals hatte.
Nein, er konnte jeden verstehen, der dazu keine Lust hatte. Aber Johanna interessierten seine Worte überhaupt nicht. Sie war davon überzeugt, wahrscheinlich wie jede werdende Mutter es war, dass alle Bekannten Schlange stünden, um Pate bei ihrem Kind zu werden. Dass, nachdem Angela und Kurt zu Frohloffs Erstaunen regelrecht begeistert reagiert hatten, alle anderen Freunde und Bekannte sich vor Erleichterung bestimmt erst einmal irgendwo ein Bier bestellt hatten, weil der Kelch noch mal an ihnen vorüber gegangen war, das hätte Johanna nicht verstanden. Na, vielleicht ging hier auch seine Fantasie mit ihm durch.
Jedenfalls saßen sie nach dem Essen und zwei Flaschen Rotwein, die die Männer allein geleert hatten, im Wohnzimmer beieinander, und quasselten über dies und das, als Kurt irgendetwas von den USA und ihren fünfzig Staaten murmelte.
„Einundfünfzig“, verbesserte Frohloff ihn.
„Fünfzig“, sagte Kurt erneut.
Frohloff machte sich gerade. „Glaub mir, es sind einundfünfzig.“
„Wollen wir wetten?“
„Die gewinn ich locker. Ich weiß genau, dass Hawaii der einundfünfzigste Staat ist.“
„Okay, wenn du so sicher bist, lass uns wetten.“
„Aber nicht um Geld.“
„Spinnst du? Natürlich nicht.“
Warum nicht? Er hatte nichts zu verlieren. „Na schön. Worum dann?“
„Es muss richtig wehtun.“
Frohloff überlegte einen Moment und grinste dann. „Gut. Wenn ich Recht habe, gibst du mir im Sommer für einen Monat dein Motorrad.“ Er war sicher, dass sein Schwager daraufhin einen Rückzieher machen würde. Seine Suzuki war ihm heilig. Aber er wurde eines Besseren belehrt.
„Einverstanden.“
„Okay. Aber ich hab nichts, das ich dir geben könnte.“
Kurt schien eine Weile zu überlegen und dann erhellte sich sein Gesicht. „Du musst mir auch nichts geben. Ich wette um deinen Bart.“
Frohloff starrte ihn an. „Wie bitte?“
„Komm, Roman. Der ist sowieso längst überfällig. Kein Mensch läuft heutzutage noch mit so etwas herum.“
„Vielen Dank“, sagte Frohloff ironisch.
„Womit läuft niemand herum?“ Johanna kam aus der Küche, Angela im Schlepptau, beide mit Schalen von Knabberzeug in der Hand.
Frohloff seufzte. „Was soll’s? Okay, ich bin einverstanden.“
Sie gaben sich die Hand darauf, was von den beiden Frauen mit verständnislosen Blicken quittiert wurde.
„Was ist? Womit bist du einverstanden?“
Kurt erzählte ihnen daraufhin von der Wette und Johanna zog nur missbilligend die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, aus dem Alter seid ihr heraus.“
„Ich hol dann mal unser Lexikon.“ Frohloff stand auf, verließ das Zimmer und kam einen Augenblick später mit dem Brockhaus wieder, der in ihrem Arbeitszimmer im Regal gestanden hatte. Mit siegessicherer Miene schlug er die betreffende Seite auf und begann vorzulesen.
„Vereinigte Staaten von Amerika, englisch United States of America, blablabla. Verfassung von 1787. Verwaltungsgliederung in…“ hier wurde seine Stimme deutlich leiser, „fünfzig Bundesstaaten und den unter Bundesverwaltung stehenden District of Columbia.“
Fassungslos ließ er das Buch sinken. Kurt hatte Recht. Es waren nur fünfzig. Schön, er konnte sagen, wenn man Washington DC mitzählte, waren es einundfünfzig, aber das wäre ihm peinlich gewesen, weil es ihn wie einen schlechten Verlierer hätte aussehen lassen.
Kurt prostete ihm mit seinem Rest Wein zu. „Dann mal ab mit dem Bart.“
„Du hast um den Bart gewettet?“ Johanna starrte ihn an.
Er zuckte mit den Achseln. „Ich war mir sicher, dass ich gewinne.“
Einen Moment lang war es totenstill, dann brach Johanna in schallendes Gelächter aus. „Geschieht dir ganz recht“, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte. „Vielen Dank, Kurt. Obwohl ich schon sagen muss, dass ich ein bisschen beleidigt bin.“ Dabei sah sie alles andere als beleidigt aus. „Ich rede mir seit Jahren den Mund fusselig und nichts passiert. Und dann kommst du mit so einer blöden Wette und das war es dann.“
Sie waren alle ins Badezimmer gegangen und hatten zugesehen, wie Kurt ihm den Bart abrasierte. Er hätte heulen können, aber er hatte sich zusammengerissen. Was sollte es? Zur Not konnte er ja einen nachwachsen lassen, obwohl es wahrscheinlich Monate dauern würde, ihn wieder in so eine Form zu bringen.
Er warf erneut einen Blick in den Spiegel. Da waren ein paar Kratzer vom Rasieren zu sehen. Kein Wunder, war er doch völlig aus der Übung, was die morgendliche Rasur betraf. Was die anderen wohl dazu sagen würden? Na, heute gab es wohl Wichtigeres als seine Veränderung, über das sie reden konnten.
Philipp König schreckte hoch. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, entfuhr es ihm, als das Telefon erneut klingelte. Wer wagte es, ihn zu wecken? Das Telefon läutete erneut und er stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Verwirrt kniff er die Augen zusammen und machte sie wieder auf, wobei sein Blick auf den Mann neben ihm fiel, der auf dem Rücken lag und leicht vor sich hin schnarchte. Glen. Ach ja, er war ja gar nicht zu Hause. Er warf einen müden Blick auf den Radiowecker neben dem Bett. Was sagten die roten Leuchtziffern? Kurz vor fünf. Das konnte eigentlich nur eins bedeuten.
„Glen“, rief er und rüttelte seinen Freund leicht.
„Was?“ fuhr er hoch.
Philipp hielt ihm den klingelnden Hörer hin. „Da will jemand was von dir.“
„Mein Gott“, rief er und nahm ihm das Telefon ab. „Behrend“, sagte er und gähnte. „Hallo Holger...Ja, ist gut. Wo ist es?...Ja, ich weiß, wo das ist. Gib mir ne halbe Stunde, dann bin ich da.“
Er drückte das Gespräch weg und reichte Philipp das Telefon, der es zurück auf den kleinen Nachttisch neben seinem Bett legte.
„Und?“
Glen wischte sich gähnend über die Augen. „Ich muss weg.“
„Das hab ich auch mit bekommen.“
Glen sah ihn an. „Es tut mir wirklich leid, Philipp.“
Philipp nahm das Kissen, auf dem er gelegen hatte, und stopfte es hinter sich in den Nacken. „Du kannst ja nichts dafür."
„Das nicht, aber ich hätte mir für unsere erste Nacht schon ein anderes Ende gewünscht.“
„Mach dir mal keinen Stress“, winkte Philipp gähnend ab. Aber es stimmte schon. Sie waren erst gegen halb zwei zum Schlafen gekommen, sie konnten ja nicht wissen, dass diese Nacht ein so abruptes Ende finden würde, und er hatte sich sehr darauf gefreut, mit Glen gemeinsam aufzuwachen und dann vielleicht zu frühstücken. Er hatte Donnerstags keine Vorlesung an der Uni und Glen hatte sich ursprünglich einen Tag frei genommen, Überstunden abbummeln. Es war schade, dass daraus jetzt nichts wurde.
Er beobachtete, wie sein Freund sich aus dem Bett pellte, sah seine sportliche Rückenpartie, seinen knackigen Hintern und seinen verwuschelten dunklen Hinterkopf und ihm wurde ganz warm ums Herz. Niemals zuvor hatte er etwas Ähnliches für einen anderen Menschen empfunden. Er konnte es selbst nach wie vor nicht fassen, was dieser Mann in ihm ausgelöst hatte. Wenn ihm jemand vor einem halben Jahr gesagt hätte, dass er mal eine Beziehung mit einem Mann führen würde, hätte er ihn ausgelacht. Und jetzt war er dabei, sein ganzes Leben umzukrempeln und es fühlte sich unwahrscheinlich gut an.
Das Schöne an Glen war, dass er ihn zu nichts drängte. Er wusste, dass das alles Neuland für ihn war und hatte nicht vor, ihn mit irgendwelchen Forderungen zu verschrecken. Das hatte er ihm gleich zu Anfang versichert und er hatte sich daran gehalten. Sie kannten sich jetzt etwa vier Monate, in denen er eine wahnsinnige Geduld bewiesen hatte.
Sie hatten sich zufällig kennen gelernt, als Philipp für seine Diplomarbeit recherchierte. Dabei hatte es zunächst einige Irritationen mit Glens damaligem Freund gegeben, bis ihnen klar war, dass sie es miteinander versuchen wollten. Sie hatten sich ganz behutsam angenähert. Philipp hatte Glen klargemacht, dass er nicht wusste, was ihn erwarten würde und ihn gebeten, alles ruhig angehen zu lassen. Er konnte ihm nicht garantieren, dass es ein Leben war, in dem er sich wohl fühlen würde, und trotz dieser Unsicherheiten hatte Glen sich darauf eingelassen und alle seine Bedingungen akzeptiert, was ihm zeigte, wie viel ihm an ihm lag. Und er selbst hatte feststellen müssen, dass sich seine Gefühle für Glen, die ihn anfangs sehr verunsichert hatten, über die Zeit noch verstärkt hatten.
Glen schwang sich in seine Unterhose und verschwand aus dem Schlafzimmer. Philipp hörte die Klospülung und danach den Wasserhahn im Bad. Einen Augenblick später kam Glen zurück, sich mit der rechten Hand die Zähne putzend. Philipp sah ihm zu, wie er sich mit links seine Jeans überzog und anschließend vergeblich versuchte, sich sein T-Shirt überzuziehen.
„Vielleicht solltest du erst mal zu Ende putzen“, schlug er ihm grinsend vor.
Glen zeigte ihm den Mittelfinger, warf das Shirt auf das Bett und ging zurück ins Bad. Kurz darauf war er wieder da, dieses Mal ohne Zahnbürste, griff sich sein Shirt, streifte es über und zog darüber das blauweiß karierte Hemd, das er tags zuvor bereits getragen hatte und das ihm, wie Philipp fand, unheimlich gut stand.
„Das hatte ich zwar gestern schon an“, sagte Glen, als ob er seine Gedanken erraten hatte, und hob nacheinander beide Arme, um mit der Nase zu prüfen, ob er Schweißgeruch wahrnehmen konnte. „Aber ich denke, es geht noch.“
Er kam auf Philipp zu, beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss, den Philipp leidenschaftlich erwiderte. Er schmeckte nach Zahnpasta und roch nach Seife. Seine Bartstoppeln pieksten und er hatte das Gefühl, noch nie etwas Schöneres erlebt zu haben.
„Bleib ruhig liegen und schlaf dich aus“, sagte Glen nachdem er sich von ihm gelöst hatte. „Ich kann dir allerdings nicht sagen, wann ich wieder da bin.“
Philipp winkte ab. Ihm war klar, dass es nur um einen Mord gehen konnte, wenn Glen um diese Zeit zum Dienst gerufen wurde, aber er hütete sich davor, nach Einzelheiten zu fragen. Er wusste, dass sein Freund nicht über seine Arbeit reden durfte und wollte ihn auf keinen Fall in Verlegenheit bringen. Bei der kurzen Dauer des Gespräches mit seinem Vorgesetzten war es ohnehin fraglich, ob er überhaupt schon Genaueres wusste.
„Ich mach es mir einfach ein bisschen gemütlich.“
Glen nahm seine Brille, die auf dem Nachttisch lag und setzte sie auf. Für seine Kontaktlinsen war es noch zu früh. „Tu das. Aber du musst nicht hier bleiben und den ganzen Tag auf mich warten. Es kann wirklich bis abends dauern.“
„Mach dir keinen Kopf. Ich kann mich schon beschäftigen.“
Glen seufzte und gab ihm noch einen Kuss auf die Wange. „Dann bis später. Ich melde mich zwischendurch mal.“
„Jetzt sieh zu, dass du los kommst.“
Und eine Minute später war Philipp allein,
leider aber auch putzmunter. Er verschränkte die Arme hinter dem
Kopf und blickte zur Decke. Der vorangegangene Abend war super
verlaufen. Er hatte in den letzten Wochen schon häufiger das
Verlangen gespürt, die Nacht über bei Glen zu bleiben, aber kurz
vorher hatte er immer wieder einen Rückzieher gemacht. Gestern
nicht und er hatte es nicht bereut. Es war nicht zum Äußersten
gekommen, weil er zu diesem Schritt noch nicht bereit war, aber in
Glens Armen einzuschlafen, hatte ihn mit einem Glücksgefühl
erfüllt, das er kaum beschreiben konnte. Hätte er vorher noch
Zweifel gehabt, waren diese jetzt auf jeden Fall ausgeräumt. Er
liebte Glen, auch wenn er sich hüten würde, ihm das jetzt schon zu
sagen, aberund er wusste, dass er alles dafür tun
würde, um dieses Gefühl zu bewahren.
Der Junge sah aus wie fünfzehn, obwohl er laut der von den Kollegen aufgenommenen Personalien bereits zwanzig war. Hauptkommissar Funke war so überrascht, dass er ein weiteres Mal auf das Geburtsdatum schaute. Der Junge hatte kurzes, mittelblondes, strubbeliges Haar, mehr als eine Unreinheit im Gesicht und musste sich allem Anschein nach noch nicht mal rasieren. Er machte auf Funke nicht den Eindruck, als ob er an diesem Morgen noch Appetit auf Frühstück verspüren würde. Er saß hinter der Absperrung auf einer Bank und sah angestrengt in die andere Richtung, während sein kleiner Beagle unruhig vor ihm auf und ab lief.
Funke hatte Mitleid mit ihm, schließlich war der Fund einer Leiche nicht etwas, das einem alle Tage passierte. Es konnte noch eine Weile dauern, bis die Kollegen eintrafen. Daher entschloss er sich, den Jungen zu erlösen, und ging auf die Bank zu. Der Beagle freute sich wie wild, dass er endlich Gesellschaft bekam, und sprang an ihm hoch. Er beugte sich lächelnd zu ihm hinunter und streichelte ihn.
„Na, du bist aber ein Feiner“, sagte er mit einschmeichelnder Stimme. „Wie heißt du denn?“
„Snoopy“, sagte der Junge.
Wie bei den Peanuts.
„Ich weiß, es ist nicht besonders einfallsreich“, sagte der Junge, als ob er seine Gedanken erraten hatte und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Aber meine kleine Schwester bestand darauf.“
Die hieß wahrscheinlich Luzie. „Hallo, Snoopy“, sagte Funke, sich ein Grinsen verkneifend, und kraulte dem Hund den Kopf.
„Sagen Sie, dauert es jetzt noch lange? Mir wird langsam ein wenig kalt.“
Kein Wunder, wenn er bei den Temperaturen auf einer Stelle verharren musste. Und seine Jacke sah auch nicht gerade dick gefüttert aus. Funke schüttelte den Kopf. „Sie sind gleich fertig.“ Er zeigte auf die Bank. „Kann ich mich einen Augenblick setzen?“
Der Junge zuckte mit den Achseln, was Funke als Aufforderung ansah, neben ihm Platz zu nehmen. Prompt stellte sich Snoopy auf seine Hinterpfoten und landete mit den Vorderpfoten auf Funkes Knien, zweifellos um ihn dazu zu bringen, ihm weiterhin den Kopf zu kraulen. Er war erfolgreich.
„Er muss Sie wirklich mögen. Das macht er sonst niemals bei Fremden.“ Der Junge sah Funke durch seine Brille entschuldigend an und gab ihm damit Gelegenheit, ihn sich genauer anzusehen. Von dichtem war der Anblick ziemlich unschön. Sein Gesicht hätte etwas mehr Sonne vertragen können, war jetzt von der Kälte ein wenig gerötet, und die Brille hatte ein Gestell, das wohl seine Großmutter ausgesucht hatte. Der eine oder andere Pickel war aufgegangen und er pulte wohl auch gern an den Stellen herum, sodass sie sich entzündet hatten. Es war ein Jammer. Eigentlich hatte er ein recht hübsches Gesicht mit feinen Zügen, aber durch die Akne wurde das Bild komplett zerstört.
„Ist schon in Ordnung. Das geht mir häufiger so. Wissen Sie, ich mag Hunde recht gern und die meisten merken das.“
„Es wäre wirklich gut, wenn wir bald fertig sind. Es ist gleich fünf und ich muss um sieben bei der Arbeit sein.“
Er war irgendwie davon ausgegangen, dass er noch zur Schule ging, aber da fiel ihm wieder ein, dass er ja schon zwanzig war, also durchaus alt genug für einen Job.
„Was arbeiten Sie denn?“ Es steckte kein echtes Interesse hinter seiner Frage, aber der Junge wirkte nervös und er wollte ihm etwas Sicherheit geben, indem er über ein für ihn gewohntes Thema sprach.
„Ich arbeite bei Bernies PC Shop. Kennen Sie den?“
„Der ist in der Schwartauer Allee oder?“
„Genau. Es gibt auch noch einen in der Lachswehrallee, aber ich bin in der Schwartauer.“
„Machen die so früh auf?“
„Nein, aber ich bin für Reparaturen und PC-Reinigungen zuständig und erstelle individuelle Angebote. Wenn ein Kunde etwas vorbestellt, stelle ich ihm seinen persönlichen PC zusammen. Da fange ich immer so früh an, weil ich dann meine Ruhe habe.“
„Klingt interessant.“ Nicht wirklich. Computer waren für Funke ein Gräuel. Er war froh, wenn er mit einem Textverarbeitungsprogramm umgehen konnte oder eine Tabelle hinbekam. Aber alles, was über das Grundlegende hinausging, waren für ihn böhmische Dörfer. Es war sicherlich ein Generationsproblem und er beneidete seine Kinder, die mit der Technik aufwuchsen und einen unverkrampften Umgang damit lernten. Wenn er da an Helen dachte, die mit ihren knapp zehn Jahren perfekt Emails schreiben und absenden konnte, war es ihm regelrecht peinlich, dass er damit solche Schwierigkeiten hatte.
„Ist nur ein Job“, sagte der Junge achselzuckend. „Ich warte auf einen Informatikstudienplatz im Sommer und vertreibe mir damit die Zeit.“
Und Geld verdiente er wohl auch damit. „Sie sind gleich entlassen, aber können Sie mir vorher noch kurz schildern, wie Sie die Leiche entdeckt haben?“
„Das hab ich alles schon Ihren Kollegen erzählt.“
„Ich weiß, aber ich würde es gern selbst hören. Ich bin übrigens Hauptkommissar Funke.“ Er streckte ihm seine Hand entgegen. Der Junge nahm sie mit diesem für Jugendliche typisch läppischen Händedruck, der sich für Funke immer wie ein kalter Fisch anfühlte.
„Ronny Andresen.“
Funke unterdrückte den Impuls, sich die Hand an seiner Hose abzuwischen. Ronny? Das klang nach neuen Bundesländern. „Also?“
„Ich bin mit Snoopy raus, weil er total wild an der Tür gekratzt hatte, als ich kurz auf die Toilette gehen wollte.“
„Wie spät war es da?“
„Keine Ahnung. So gegen vier. Vielleicht etwas früher. Normalerweise braucht er um diese Zeit jedenfalls nie raus. Ich dachte mir, wahrscheinlich hat er Durchfall oder so. Also hab ich mir schnell was übergezogen und wir sind los. Er zog wie verrückt. Da hab ich ihn los gemacht und weg war er. Ich hab ihn gerufen, aber nichts. Und dann hab ich ihn bellen hören. Vom Friedhof her.“
Er sah Funke an. „Ich habe keine Ahnung, wie er darauf gekommen ist. Ich dachte, er ist einem Kaninchen gefolgt. Dann kann ihn nichts halten.“
Funke nickte verständnisvoll, auch wenn ihn diese Hundestory nicht wirklich interessierte. Er fragte sich allerdings, wieso Ronny seinen Hund von der Leine ließ, wenn er nicht auf ihn hörte. War es da nicht vorprogrammiert, dass es beim Anleinen Probleme gab? Und waren Beagle nicht ohnehin Jagdhunde? In England zumindest wurden die in Scharen zur Treibjagd eingesetzt. Es war doch klar, dass der jedem Tier hinterher rannte, ohne sich darum zu kümmern, was Herrchen wollte. Nicht zum ersten Mal wünschte Funke sich, dass mehr Hundehalter über ihre Hunde informiert waren und sich schulen ließen, um den richtigen Umgang mit ihnen zu lernen oder sich zumindest Hunde anschafften, die zu ihren Gewohnheiten passten und sie nicht nach ihrem Aussehen aussuchten.
„Weil er nicht wiederkam und ich nicht wollte, dass er mit seinem Bellen hier noch alle aufweckt, bin ich über den Zaun geklettert. War übrigens nicht gerade einfach. Und da stand er in diesem Container und zog an etwas herum. Ich bin hin und wollte ihn wegziehen, als ich gesehen habe, was er da in der Schnauze hatte.“
Er schauderte. „Es war eine Hand. Und ich hab gesehen, dass da noch mehr dran hing. Ich hab Snoopy weggezogen und dann hab ich die Polizei angerufen. Zum Glück hatte ich mein Handy dabei.“
„Das haben Sie richtig gemacht“, lobte Funke ihn. „Was meinen Sie, wie lange hat es gedauert, von dem Fund bis zu Ihrem Anruf?“
„Ich bin nicht gut im Schätzen. Und dann die Leiche… Ich würde sagen, keine zwei Minuten, aber beschwören kann ich das nicht.“
Funke nickte. „Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als Sie auf dem Friedhof waren?“
Er schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“
Ob er das nach dem Fund allerdings wirklich gemerkt hätte?
„Und vorher, als Sie mit Ihrem Hund draußen waren? Vielleicht ein Auto, das hier nicht in die Eschenburgstraße gehört oder so?“
Er überlegte einen Moment. „Nein, tut mir leid, da war nichts.“
Täuschte er sich, oder wich er seinem Blick aus?
Doreen Siewers zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und ging die knarrende, alte Holztreppe ihres Hauses in der Gartenstraße hinunter. Sie war hundemüde und hatte das Gefühl, als könnte sie jeden Knochen in ihrem Körper spüren. Anscheinend brütete sie irgendeine Erkältung aus. Ein bisschen mehr Schlaf hätte ihr sicher gut getan, aber andererseits war sie auch froh, dass sie an diesem Morgen so früh los musste. Somit entging sie der Möglichkeit, Timo im Flur über den Weg zu laufen. Oder noch schlimmer, seiner neuen Flamme, der blöden Schlampe. Obwohl, wie eine Schlampe hatte sie eigentlich nicht gewirkt. Im Gegenteil, unter anderen Umständen hätte sie sie womöglich sympathisch gefunden, doch das war jetzt natürlich völlig ausgeschlossen.
Seit der peinlichen Begegnung vor ein paar Wochen, die sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte, hatte sie es tatsächlich geschafft, den beiden aus dem Weg zu gehen und sie hoffte, dass ihr das auch weiterhin gelang. Sie musste über sich selbst den Kopf schütteln. Wo hatte sie sich da nur wieder hinein manövriert? Dass sie kaum unbefangen die Treppe rauf und runter gehen konnte, durfte echt nicht wahr sein.
Scheiße! war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, als sie ihren Corsa sah, der neben Timos Golf auf der Auffahrt stand. War ja klar, dass sie Eis kratzen musste. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn ihr das mal erspart geblieben wäre. Sie nahm den Eiskratzer, den sie in der Abseite der Fahrertür ihres Corsas aufbewahrte, und legte los. Sie hatte mal gehört, dass man nur in eine Richtung kratzen sollte, damit man nicht mit dem Dreck, der unter dem Eis war, die ganze Scheibe zerkratzte, aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie wollte es nur so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich nicht länger als nötig in der Kälte aufhalten. Nachdem sie alle Scheiben vom Eis befreit hatte, stieg sie ein, gurtete sich an und startete den Motor. Während sie vom Grundstück fuhr, fiel ihr der alte Polo auf, der nun schon seit dem Wochenende jeden Morgen an der Straße stand. Kein Zweifel, das war ihrer, und der Anblick versetzte ihr einen Stich. Na, zumindest hatte Timo seine Wohnung wieder entdeckt, was in den letzten Wochen nur selten der Fall gewesen war. Sie mochte es sich kaum eingestehen, aber sie sah wirklich jeden Abend, bevor sie ins Bett ging, aus dem Fenster, um zu kontrollieren, ob Timos Wagen da war oder nicht. Und in der Regel war er es nicht gewesen. Dann war sie mit einem üblen Gefühl im Magen ins Bett gegangen, noch einige Zeit lauschend, ob sie seinen Wagen vielleicht doch noch kommen hörte. Aber wenn sie morgens das Haus verließ, war ihr Corsa stets das einzige Fahrzeug auf dem Grundstück. Sie hatte sich schon gefragt, wozu Timo eigentlich die Wohnung noch hatte. Sollte er doch gleich zu ihr ziehen. Sie hatte auch bereits den Plan gefasst, ihm genau das vorzuschlagen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Das hatte sich mittlerweile erübrigt, da sie scheinbar jetzt in seine Wohnung umgesiedelt waren und sie mit ihrer Anwesenheit konfrontierten.
Na super! Sie war noch keine halbe Stunde auf und alle Gedanken drehten sich schon wieder um ihn. Eigentlich komisch, denn sie war sich immer noch nicht sicher, was sie für ihn empfand. Es war irgendwie schizophren. Innerlich war sie längst zu dem Schluss gekommen, dass eine Beziehung mit Timo nicht in Frage kam, als plötzlich diese andere Frau auftauchte. Das hatte ihn für sie unerreichbar gemacht und damit auch wieder interessant. Echt typisch! Ging es nicht den meisten Frauen so, dass sie das langweilte, was für sie immer verfügbar war, und sich eher für denjenigen erwärmten, der sich rar machte? Außerdem hatte sie im Stillen gehofft, dass Timo sich weiterhin nach ihr verzehrte und dass er das nicht tat, nahm sie ihm übel, weil es sie verletzte.
Mein Gott, sie war echt nicht mehr ganz dicht. Sie wollte ihn nicht, aber eine andere Frau gönnte sie ihm auch nicht. So konnte das nicht weitergehen. Sie musste einen Schlussstrich unter diese Beziehung oder, besser gesagt, Nichtbeziehung ziehen. Entweder sie schlug sich Timo endgültig aus dem Kopf oder sie musste sehen, dass sie eine neue Wohnung fand. Sie seufzte. Das war an sich das Letzte, das sie wollte. Wenn sie daran dachte, wie lange sie damals nach etwas Passendem gesucht hatte, bis sie ihre Wohnung gefunden hatte. Schrecklich! Und sie spürte kein Verlangen nach einer raschen Wiederholung, vor allem nicht, weil sie sich in der Wohnung selbst pudelwohl fühlte. Na, vielleicht löste sich das Problem ja auch von anderer Seite. Auf Dauer war das ja für die beiden kein Zustand, denn die Wohnungen hier waren an sich nicht auf zwei Personen ausgerichtet. Sie zwang sich, mit diesen negativen Gedanken aufzuhören und um sich abzulenken, stellte sie das Radio laut. Es lief gerade Gloria Gaynors I will survive und sie sang aus voller Kehle mit, obwohl sie den Song eigentlich überhaupt nicht leiden konnte.
Sie brauchte keine zehn Minuten, aber sie war trotzdem die letzte. Als sie aus ihrem Wagen stieg, sah sie Glens Wagen auf der anderen Straßenseite stehen und Romans direkt daneben. Toll, da hatte man sie mal wieder zuletzt informiert. Aber wahrscheinlich musste sie noch dankbar sein, dass sie überhaupt benachrichtigt worden war. Bestimmt hatten sie zunächst gar nicht daran gedacht. Wieso auch? Um acht zum Dienstbeginn war doch eh früh genug. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Roman dann irgendwann vorgeschlagen hatte, sie ebenfalls zu rufen, damit er es nicht ausbaden musste, wenn er dann wieder mit ihr ein Team bildete.
Sie schloss ihren Wagen ab und überquerte die Straße. Na, das war mal ein origineller Fundort für eine Leiche. Sie fragte sich nur, wer um diese Uhrzeit auf dem Friedhof herumspazierte. Und überhaupt…war der nicht abgesperrt, damit irgendwelche Gruftis hier keine Hühner oder Katzen opfern konnten? Sie näherte sich dem Beamten in Uniform, der vor dem Eingangstor Wache hielt, und holte soeben ihren Dienstausweis aus ihrer Handtasche, die sie über ihrer Schulter trug, als sie jemanden rufen hörte.
„Hallo!“
Sie fuhr herum und sah einen Mann eilig auf sie zu kommen. „Warten Sie bitte einen Moment.“
Erstaunt blieb sie stehen und ein Blick auf den Polizisten zeigte ihr, dass er ebenfalls neugierig war, was der wohl wollte. Zwei Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und verschnaufte. „Gott sei Dank, ich dachte schon, es käme überhaupt niemand mehr.“
Verwirrt wechselte Doreen einen Blick mit ihrem Kollegen. „Entschuldigen Sie bitte, kennen wir uns?“
Er musterte sie einen Moment, was ihr Gelegenheit gab, dasselbe zu tun. Er war mittelgroß, schlank, blond und etwa Mitte Zwanzig. Er war sportlich gekleidet mit Jeans, dazu passender gefütterter Jacke und knöchelhohen Halbschuhen und hatte eine kleine Tasche quer über den Rücken geschnallt. Er streckte die Hand aus.
„Nein, noch nicht. Aber Sie sind doch von der Kripo, oder nicht?“
Ehe Doreen sich bremsen konnte, hatte sie seine Hand gegriffen. „Doreen Siewers, K1. Und Sie?“
„Mirco Hachmeister.“ Er lächelte sie an.
Sie entzog ihm ihre Hand. „Und?“
„Sie haben doch eine Leiche gefunden, oder?“
Was war das hier? „Was soll das? Sind Sie von der Presse?“
„Schuldig“, grinste er. „Es ist ein Mädchen, oder?“
Ohne ihm zu antworten, wandte sie sich von ihm ab. Sie zeigte dem Beamten vor dem Eingang ihren Ausweis und er nickte sie durch.
„Ich kann Ihnen helfen.“
„Passen Sie bloß auf, dass der Spinner hier nicht durch kommt“, sagte sie zu dem Polizisten.
„Machen Sie sich da mal keine Gedanken“, beruhigte er sie. Dann zeigte er mit der Hand an ihr vorbei. „Sie lassen die Kapelle hier links liegen und nehmen den nächsten Gang rechts. Dann immer geradeaus und sie kommen genau darauf zu. Sie können es nicht verfehlen.“
Sie bedankte sich und machte sich auf den Weg. Wieso wollte der Typ wissen, dass es ein Mädchen war, das man gefunden hatte? Hatte er den Funk abgehört? Diese Presseleute waren wirklich das Letzte. Sie zog ihre Jacke etwas enger, da es sie etwas fröstelte. Ob das an der winterlichen Kälte oder der düsteren Atmosphäre auf dem Friedhof lag, wusste sie nicht. Sie war zwar keine gebürtige Lübeckerin, aber sie kannte den Burgtorfriedhof bei Tageslicht, weil sie vor gut einem Jahr an der Trauerfeier für ein Mordopfer in der Kapelle teilgenommen hatte, und da war er ihr weit weniger bedrohlich vorgekommen. Was schummeriges Licht so alles ausmachen konnte. Sie schüttelte sich leicht, bog rechts ab und wäre beinahe mit einem Mann zusammengestoßen.
„Entschuldigung“, sagte sie.
Er winkte ab. „War doch nichts.“
Er passierte sie und hinter ihm kamen zwei Männer, die einen Sarg trugen. Also waren sie schon fertig mit der Leiche. Innerlich atmete sie auf. Auch wenn sie sich ärgerte, dass sie so spät benachrichtigt worden war, war sie insgeheim doch erleichtert, dass ihr der Anblick erspart blieb. Sie warf ihnen ein Blick nach und erst jetzt fiel ihr die Tasche auf, die der erste Mann bei sich trug. Dann musste das der Professor sein, der Gerichtsmediziner, dieser Braun, der immer gerufen wurde, wenn ein ungeklärter Todesfall auftrat. Ob der schon Andeutungen gemacht hatte? Sie wusste, dass er das nur ungern tat und mit seiner Zurückhaltung ihren Boss, Hauptkommissar Funke, schon mehrmals zur Verzweiflung getrieben hatte, aber manchmal ließ er sich doch zu der einen oder anderen Äußerung hinreißen.
In der hintersten Ecke des Ganges sah sie mehrere Menschen in und um einen Container herum kriechen. Ein Mann entfernte sich von der Gruppe und kam ihr entgegen. Er sah aus wie Roman, Oberkommissar Frohloff, ihr ständiger Partner, makellos gekleidet in dunklem, halblangem Mantel und dunkler Hose, aber irgendwie anders. Als er vor ihr stand, wusste sie, was ihn so verändert aussehen ließ.
„Himmel! Wo ist dein Bart?“
„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, sagte er mit verkniffenem Mund.
Dass sie noch erleben würde, wie er ohne Bart aussah, hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie hatte den Bart nie ausstehen können und war nicht verwundert, dass er ohne sehr viel attraktiver war.
„Super! Endlich siehst du nicht mehr aus wie eine Witzfigur.“ Es war raus, ohne dass sie vorher darüber nachgedacht hatte. Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint.“
Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Du sagst doch nie etwas, das du nicht meinst.“
„Komm“, sagte sie. „Sei nicht sauer. Das sieht so viel besser aus.“
Er winkte ab. „Lass gut sein. Wir haben andere Sorgen. Wir sollen gleich los.“
„Ohne dass ich die anderen begrüßt habe?“
Er nahm sie beim Arm. „Komm.“
Sie ging mit ihm zurück, wo sie hergekommen war. „Dürfte ich vielleicht noch erfahren, was genau passiert ist?“
„Ein Mädchen, zwischen dreizehn und sechzehn. Erstochen.“
„Mein Gott!“ entfuhr es Doreen. Der Typ vorne hatte tatsächlich Recht gehabt. „Wie schrecklich.“
„Ja. Furchtbar.“
„Vergewaltigt?“
Roman zuckte mit den Achseln. „Kann man noch nicht genau sagen. Es sieht aber ganz danach aus. Sie ist nackt.“
Doreen spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Auf einmal war sie dankbar dafür, dass sie erst später gerufen worden war. „Was gibt es nur für Schweine auf der Welt. Und ist das Mädchen dort ermordet worden?“
„Die vom Erkennungsdienst meinen nein. Es sieht so aus, als ob sie dort lediglich abgelegt wurde. Ein paar Spuren auf dem Boden deuten darauf hin. Und sie ist mindestens schon seit zehn Stunden tot, also zu einer Zeit, als noch etwas Betrieb auf dem Friedhof war. Wenn sie dort ermordet worden wäre, hätte das jemand mitkriegen müssen. Die Leiche war nicht gerade versteckt.“
„Also ist sie im Dunkeln dort abgeladen worden.“
„So sieht es aus.“
„Schon eine Ahnung, wer sie ist?“
„Die Kollegen haben zwei Vermisstenmeldungen seit gestern Abend, die passen könnten.“ Er sah auf seinen Notizblock. „Sina Keller und Merle Grothe, beide vierzehn Jahre alt, beide blond, etwa dieselbe Größe.“
„Seit gestern Abend? Dann war das Mädchen schon tot, als sie als vermisst gemeldet wurde?“
„Wenn es eines von den beiden ist.“
Roman reichte ihr ein Foto, das sie nachdenklich betrachtete. Es zeigte ein Mädchen, dessen Gesicht ziemlich stark geschminkt war, was aber irgendwie nicht zu ihr zu passen schien. „Sie sieht aus, als ob sie schläft.“
„Zum Glück.“
Doreen stockte der Atem, weil ihr jetzt erst klar wurde, was ihr bevorstand. „Wir sollen die Eltern aufsuchen, stimmt’s?“
„Wir fahren zu den Grothes. Funke und Behrend haben hier noch ein wenig zu tun und suchen dann die Kellers auf. Gerechte Verteilung.“
Hilfe! Das Überbringen solcher Horrormeldungen war nie schön, aber sie konnte sich nichts Furchtbareres vorstellen, als Eltern zu bitten, ihre ermordete Tochter zu identifizieren. „Dann hoffe ich, dass es nicht die Grothe ist.“
Roman seufzte. „Ich auch. Das kannst du mir glauben.“
„Wieso diese Eile?“
„Funke will keinen Fehler machen. Falls es eine von den beiden ist, und das ist ziemlich wahrscheinlich, kann es ja sein, dass es da einen Zusammenhang gibt. Deshalb will er so schnell wie möglich vorgehen, damit wir das andere Mädchen vielleicht noch lebend finden.“
Sie hatten die Tür zum Friedhof erreicht und Doreen warf dem Beamten einen fragenden Blick zu. „Ist er noch da?“
„Nein. Ist gerade weg.“
„Von wem sprecht ihr?“
Doreen erzählte ihm von dem jungen Mann und Roman runzelte die Stirn. „Seltsam. Und du bist sicher, er war von der Presse?“
„Das hat er zumindest behauptet. Sag mal, nehmen wir deinen oder meinen Wagen?“
„Meinen. Um diese Zeit traue ich deinen Fahrkünsten nicht.“
„Haha“, machte Doreen.
„Im Ernst. Wir fahren zunächst mal ins BH und holen uns die Unterlagen über die Vermisstenmeldung. Dann können wir sehen, was wir die Eltern noch fragen müssen. Du weißt ja, wie das ist, wenn jemand vermisst gemeldet wird. Ich will den Kollegen nichts unterstellen, aber so hundertprozentig ernst genommen wird das oft nicht, besonders wenn es sich um einen Teenie handelt. Bei einem kleinen Mädchen wäre die Reaktion sicher anders, aber hier besteht schließlich immer die Möglichkeit, dass sie wegen Krachs mit den Eltern einfach abgehauen ist. Viel hängt von dem Eindruck ab, den die Kollegen bei der Befragung der Eltern haben. Ich würde deshalb vorschlagen, wir fahren getrennt, dann hast du deinen Wagen dort und nachher nehmen wir meinen.“
„Klingt logisch. Und was machen wir, wenn es nicht, wie heißt sie, Merle Grothe ist? Befragen wir die Eltern trotzdem?“
Roman betätigte die Zentralverriegelung seines Audis und öffnete seine Tür. „Das hängt davon ab, wie gründlich die Kollegen waren, würde ich sagen.“
Hauptkommissar Funke saß mit verkniffenem Gesicht hinter dem Steuer seines Wagens. Wie er in solchen Momenten seinen Job hasste. Als das Telefon bei ihm zu Hause klingelte und sein Kollege Goll vom Erkennungsdienst dran war, war ihm klar, dass der Tag schlimm beginnen würde. Dass es sich nun auch noch um ein junges Mädchen handeln musste, war fast zuviel. Wer tat nur so etwas? Wie krank war der Typ nur? Er wollte sich lieber nicht ausmalen, was er mit ihm machen würde, wenn er ihn in die Finger bekam. Er hielt nichts von Lynchjustiz, aber in solchen Fällen konnte er jeden Vater verstehen, der dadurch zum Mörder wurde. Es war schließlich nicht lange her, dass er sich in einer ähnlichen Situation befunden hatte.
Die bevorstehende Aufgabe lag schwer auf seiner Seele. Eltern zu sagen, dass sie vielleicht ihre Tochter gefunden hatten und sie zu einer Identifizierung zu bitten, schlimmer ging es nicht. Und gewöhnen konnte er sich auch nicht daran, diese Nachrichten zu überbringen. Dafür war er einfach nicht abgestumpft genug. Er war sicher, dass die Tote eine von den beiden Mädchen war, die gestern Abend als vermisst gemeldet worden waren. Die Beschreibung passte auf beide, und dass ein drittes Mädchen mit gleichem Aussehen in derselben Woche in Lübeck verschwand, war wohl eher unwahrscheinlich. Aber das machte die Sache nicht leichter. Für die einen Eltern würde eine Welt zusammen brechen, die anderen würden erneut Hoffnung schöpfen, dass ihr Kind wieder wohlbehalten bei ihnen auftauchen würde, und weiter in Ungewissheit leben.
Und ihm und seinen Kollegen würde die Hölle heiß gemacht werden, dass man erstens versäumt hatte, das Verschwinden ernst zu nehmen und dass man zweitens auf jeden Fall einen zweiten Mord verhindern musste, auch wenn das alles gar nichts miteinander zu tun hatte.
Er gab sich keinen Illusionen hin. Spätestens am Samstag würde er in der Zeitung von einem Zusammenhang lesen können, soviel stand fest. Er verfluchte den ganzen Mist. Warum verstand die Presse nicht, dass es zwar Pressefreiheit gab, dass man sie aber auch sinnvoll einsetzen konnte? In Fällen wie diesen behinderte die Presse lediglich ihre Ermittlungen.
„Bevor du losfährst, kannst du mir mal den Ausdruck geben?“ fragte sein Kollege Glen Behrend, der neben ihm saß. Funke griff in die Innentasche seiner Lederjacke und reichte ihm den Zettel, den ihm die Kollegen vom Erkennungsdienst gegeben hatten. Sie hatten sofort im Computer nach Vermisstenmeldungen gesucht und die in Frage kommenden ausgedruckt. Behrend warf einen Blick darauf. „Sina Keller“, las er vor. „Vierzehn Jahre alt, etwa einsfünfundsechzig, blond und schlank. Vermisst gemeldet vom Vater gestern Abend um halb elf. Zuletzt gesehen am Nachmittag gegen halb zwei.“ Er hob den Kopf. „Kannst du mir mal sagen, warum den Leuten so spät auffällt, dass ihre vierzehnjährige Tochter nicht zu Hause ist?“
Funke hatte die Hand am Schlüssel, um zu starten und hielt in der Bewegung inne. Er starrte seinen Partner an. „Ist das dein Ernst? Hast du vergessen, wie das mit Vicky war?“
Seine Tochter Vicky war vor einiger Zeit selbstverschuldet in Lebensgefahr geraten, und sie hatten nicht einmal bemerkt, dass sie gar nicht zu Hause war, weil sie einen Trick angewandt hatte, um sich heimlich aus dem Haus zu schleichen.
Er sah Behrend erröten. „Sorry, daran hatte ich gar nicht gedacht. Wie geht es ihr eigentlich? Du hast lange nichts von ihr erzählt.“
Er ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein, um den Parkstreifen zu verlassen.
„Sie ist ein wenig verschlossener als vor dieser Sache, aber ich denke, so langsam wird es wieder.“
Das hörte sich etwas harmloser an, als er es tatsächlich erlebt hatte. Vicky hatte sich in den ersten Wochen danach regelrecht eingeigelt. Sie verließ kaum noch ihr Zimmer und zur Schule ging sie nur in Begleitung ihres großen Bruders Kevin und wenn der verhindert war, bestand sie darauf, gefahren zu werden. Maggie und er hatten sich ernsthafte Sorgen gemacht, vor allem weil sie nicht mit ihnen redete. Er hatte schon überlegt, die Kosten für den Psychotherapeuten zu sparen und die Sitzungen abzublasen, weil trotz unzähliger Termine keine Besserung in Sicht schien, doch Maggie hatte ihn gebremst und ihn überredet, sich noch weiterhin in Geduld zu üben.
Mittlerweile hatte sich Vickys Angst gelegt, soweit er das beurteilen konnte. Jedenfalls ging sie wieder allein zur Schule und der Therapeut hatte die Anzahl ihrer Sitzungen beträchtlich verringert. Außerdem wollte sie sich zu einem Selbstverteidigungskurs anmelden. Nach dem, was sie erlebt hatte, ein durchaus nachvollziehbarer Schritt, wenn ihm vielleicht auch etwas anderes lieber gewesen wäre. Zumindest kam sie wieder unter Leute.
Was sich nicht verändert hatte, war, dass sie weiterhin nicht mit ihnen sprach. Falls sie etwas bedrückte, machte sie es mit sich selbst aus und sie fühlte sich eingeengt, sobald man sie nach ihrem Befinden fragte. Jetzt war es Maggie, die der Verzweiflung nahe kam, weil sie fürchtete, ihre Tochter zu verlieren. Er selbst sah das etwas gelassener, wenn auch nicht gänzlich unbesorgt. Aber er vertraute instinktiv darauf, dass Vicky schon irgendwann wieder bereit sein würde, sie in ihr Leben zu lassen.
„Weißt du, es gibt viele Gründe, warum die Eltern nicht früher reagiert haben. Vielleicht haben sie gedacht, dass sie zu Hause ist, so wie wir damals. Oder sie sind davon ausgegangen, dass sie bei einer Freundin ist. Außerdem, würdest du gleich die Polizei anrufen, wenn dein Kind einmal nicht rechtzeitig zu Hause ist? Da kann man sich auch ganz schön lächerlich machen.“
„Ja, das stimmt wohl“, räumte Behrend ein. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm, wie er da so an seiner Brille herumnestelte. Er ärgerte sich im Nachhinein sicher, dass er so eine unbedachte Äußerung getätigt hatte. „Sag mal, hat Kevin eigentlich schon was gefunden?“
Kevin war Funkes ältester Sohn. Er besuchte das letzte Schuljahr des Gymnasiums und plante, danach für eine Weile ins Ausland zu gehen. Auch wenn seiner Frau und ihm das ganz schön bevor stand, wusste er doch, dass es eine gute Entscheidung war. Nach dem Scheitern seiner ersten großen Liebe hatte Kevin gerade ein paar schwere Wochen hinter sich und für sie alle war es sicher am besten, wenn er ein bisschen Abstand bekäme. Froh, für einen Moment die Gedanken an das tote Mädchen beiseite schieben zu können, ging er darauf ein.
„Wegen England, meinst du?“
„Ja. Du sagtest doch, dass er nicht zu Maggies Familie will.“
Maggie Funke war Engländerin und hatte ihren Mann während ihres Studiums an der Hamburger Universität kennen gelernt. Ihre Eltern und die beiden Schwestern lebten mit ihren Familien in der Nähe von London. Kontakt war vorhanden, allerdings nur sporadisch. Ihre Eltern hatten es nicht einmal zu ihrer Hochzeit geschafft, was Maggie ihnen niemals verziehen hatte. Sie hatten sie bislang tatsächlich erst einmal in Deutschland besucht, und das war zu Kevins Konfirmation gewesen. Ihre Schwestern waren nicht viel anders, auch wenn er die schon öfter zu Gesicht bekommen hatte. Funke vermutete, dass es daran lag, weil sie sich in Deutschland irgendwie unwohl fühlten, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. Umgekehrt waren sie mindestens einmal im Jahr für ein paar Tage drüben und seit Ryanair Flüge von Lübeck-Blankensee nach Stansted anbot, war Maggie auch schon kurz entschlossen allein oder mit ihrer jüngsten Tochter Helen übers Wochenende hingeflogen.
„Ja. Er meint, er hätte dann das Gefühl, dass er uns noch zu nah wäre.“ Funke seufzte.
„Trifft dich das?“
„Na ja, er wird halt erwachsen. Und nach den letzten Monaten kann ich verstehen, dass er zu sich selbst finden will. Andererseits finde ich es gut, dass er nicht zu Maggies Eltern will. Da würden wir uns sonst immer so verpflichtet fühlen.“
„Ich hab neulich mit einer Freundin aus Salisbury telefoniert. Du weißt doch, aus der Zeit, die ich dort gelebt habe, und sie hätte ein Zimmer in ihrem Haus frei. Für den Übergang wäre das doch vielleicht gut.“
Funke bog in die Travemünder Allee ein. „Das ist nett von dir. Aber ich finde, dass Kevin das alleine bewerkstelligen muss.“
Behrend wandte sich wieder seinem Ausdruck zu. „Das andere Mädchen, Merle Grothe, vierzehn, wurde als vermisst gemeldet ebenfalls gestern Abend um dreiundzwanzig Uhr. Der Vater hat angerufen. Das Mädchen wurde zuletzt gesehen gegen vier Uhr nachmittags.“
„Klingt irgendwie ähnlich, findest du nicht?“
„Wäre interessant zu wissen, ob die beiden sich kannten.“
Funke stöhnte auf. „Hör bloß auf. Ich hoffe
wirklich, dass es da keinerlei Zusammenhang gibt.“