Drittes Kapitel
Simon Grothe ließ das heiße Wasser der Dusche im Fitness-Center auf sich hinabprasseln. Herrlich. Er spürte sämtliche Knochen. Es war eine anstrengende Partie gewesen, die er knapp verloren hatte. Revanche für vergangene Woche. Nächsten Mittwoch war er auf Geschäftsreise aber die Woche drauf war er wieder dran. So liebte er die Matches mit Lars, seinem Kumpel aus Schultagen. Kampf um jeden Punkt, ohne dass dem anderen etwas geschenkt wurde. Obwohl Lars zugegebenermaßen leider besser in Schuss war als er, was sicherlich damit zu tun hatte, dass er ab und an beim Verein als Aushilfstrainer beim Handball tätig war. Da musste er schon auf sich achten.
„Nächstes Mal zeig ich es dir“, rief er Lars zu, der ihm gegenüber duschte.
Der grinste, während er sich die Haare mit Duschgel einschäumte. „Da musst du dich aber mehr ins Zeug legen. Das heute war doch gar nichts.“
„Ha ha“, machte Simon.
„Und? Wollen wir gleich noch ein Bier trinken?”
Eigentlich rechnete Cordula damit, dass er gleich nach Hause kam. Aber was erwartete ihn da schon?
„Warum nicht?“
Eine knappe Viertelstunde später saßen sie an der Bar und prosteten sich mit Hefeweizen zu. Gierig nahm Simon einen Zug. Es schmeckte fantastisch. Nichts ging über ein eiskaltes Bier, nachdem man sich beim Sport verausgabt hatte. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen.
„Und? Wie läuft es zu Hause?“
Eine Frage, die er immer fürchtete. Was wollten die Leute hören, wenn sie sie stellten? War es nur eine Floskel oder steckte wahres Interesse dahinter? Er konnte das nie sagen. Das war auch bei Lars nicht anders. Sollte er so etwas erwidern wie alles bestens und dann zum Wetter übergehen? Oder sollte er sagen, wie es wirklich war? Dass Cordula und er sich kaum etwas zu sagen hatten, dass er froh war, wenn er länger arbeiten musste, weil dann weniger Zeit blieb, die er mit ihr verbringen musste. Dass seine Tochter Merle ihm völlig fremd war. Dass er nichts über sie wusste, weder ihre Interessen kannte noch über ihre schulischen Leistungen im Bilde war. Dass er über ihren Umgang nur mutmaßen konnte. Er betrachtete sein Bierglas nachdenklich, bevor er seinem Freund eine Antwort gab.
„Alles beim Alten“, sagte er schließlich. Eine elegante Beschreibung, mit der er nicht gelogen, gleichzeitig ihm aber auch nichts verraten hatte.
„Wie alt ist Merle jetzt eigentlich schon?“
So schnell gab Lars sich wohl nicht zufrieden. „Vierzehn.“ Als ob er das nicht genau wusste.
„Schwieriges Alter, oder? Schon ein Freund in Sicht?“
Simon warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Was war das für eine Frage? Warum interessierte ihn das? Was sollte er darauf erwidern?
„Nicht, dass ich wüsste.“
Lars lachte. „Na, ich denke, der Vater erfährt so was sowieso immer als Letzter.“
Wie überaus witzig! Er hatte gut lachen. Er hatte schließlich keine Tochter, die sich in der Pubertät befand und sich mit wer weiß wem herumtrieb. Aber irgendwie fand er seine Andeutung komisch. Lars’ jüngerer Sohn ging mit Merle in eine Klasse und vielleicht hatte der etwas zu Hause erzählt. Sollte er danach fragen? Lieber nicht. Damit gab er ihm zu verstehen, dass er bei seiner Tochter im Dunkeln tappte. Er entschied sich für den indirekten Weg.
„Und Rouven? Wie ich höre, hat er ein paar Schwierigkeiten in der neuen Klasse.“ Das war vollkommen aus der Luft gegriffen, aber so gab er Lars zumindest das Gefühl, seine Tochter würde ab und an mit ihm sprechen. Außerdem war es ja durchaus möglich. Schließlich wiederholte Rouven das achte Schuljahr und da musste man sich doch immer umgewöhnen. Neue Schüler, neue Lehrer und die unangenehme Situation, dass alle wussten, dass man das vergangene Schuljahr nicht geschafft hatte, machten es sicher nicht leicht.
Lars winkte ab. „Das ist wohl ziemlich normal. Aber ich glaube, dass es gut war, dass er nicht versetzt wurde. Weißt du, er hatte da ziemlich seltsame Kumpels in der Klasse, mit denen er immer abhing. Marina war eine Zeitlang ganz schön beunruhigt. Aber du glaubst nicht, was ein etwas veränderter Stundenplan alles so ausmacht.“
Simon konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht mit den Augen zu rollen, als Lars seine Frau erwähnte. Marina war so was von besorgt um ihre Familie, dass es nicht mehr normal war. Schon als die beiden Jungs klein waren, konnte nichts abgesichert genug sein. Absolut alles wurde kontrolliert. War der Boden auch sauber? Waren die Kinder auch warm genug angezogen? Saß der Gurt im Auto fest genug? Und so weiter. Die richtigen Freunde waren natürlich ebenfalls wichtig. Nicht auszudenken, wenn Rouven oder Patrick jemanden mit nach Hause brachten, dessen Vater auf dem Bau arbeitete oder womöglich arbeitslos war, was ja in der heutigen Zeit keine Seltenheit war. Marina selbst stammte aus einer gutbürgerlichen Familie, ihre Eltern betrieben ein Juweliergeschäft in Lübecks Innenstadt, und darauf bildete sie sich allerhand ein. Simon war sicher, dass sie niemals mit jemandem ausgegangen wäre, der aus einer Arbeiterfamilie kam. Auch Lars mit seinem Schrotthandel war nur so eben noch durchgegangen, weil der Betrieb eine Menge Geld abwarf. Wenn er also sagte, dass Marina besorgt war, hatte das rein gar nichts zu bedeuten, außer dass es ein schlimmer Schock für sie gewesen sein musste, dass Rouven das letzte Schuljahr nicht geschafft hatte und dass alle Bemühungen ihrerseits, ihre Söhne zu Höchstleistungen anzutreiben, nicht gefruchtet hatten. Simon fragte sich nicht zum ersten Mal, wann die blöde Kuh endlich mal den Stock aus ihrem Arsch nahm.
„Aber es wundert mich, dass Merle so etwas erzählt. Soweit ich gehört habe, ignoriert sie Rouven die meiste Zeit.“
Wurde es jetzt vielleicht interessant? Simon nahm einen Schluck aus dem Glas und wischte sich über die Lippen. „Hat er das gesagt?“
„Nicht, dass er sich beschwert hätte oder so.“ Lars hob verteidigend beide Hände. „Wir haben uns nur ganz normal unterhalten. Er hatte ziemliche Bedenken wegen der Wiederholung und der neuen Klasse. Und da meinte ich, es wäre sicher nicht so schlimm, denn er würde da ja zumindest Merle kennen. Da hat er nur abgewinkt.“
Das war alles? Sollte er nachbohren? Na, lieber nicht. Sonst fragte er sich womöglich, warum er an der Meinung seines Sohnes so interessiert war. Für Lars war das Thema scheinbar beendet. Oder wollte er nicht ins Detail gehen?
„Wie geht es Cordula?“ fragte er. „Ich hab sie ja ewig nicht gesehen.“
Das war auch besser so. Lars wäre sicher überrascht gewesen. „Gut. Sie lässt dich grüßen.“
Als ob. Cordula hatte Lars nie leiden können. Sie fand ihn zu großkotzig. Aber Simon hatte ihn immer verteidigt. Sie kannten sich schließlich schon ewig und da akzeptiert man die Schwächen des anderen, einfach weil man ihn auch anders kennt. Natürlich verhielt er sich ein wenig wie ein Platzhirsch, wenn andere Frauen anwesend waren, und machte auf dicke Hose. Aber Simon wusste aus Erfahrung, dass das nichts zu bedeuten hatte. Wie oft hatte er damals einen Rückzieher gemacht, wenn es mit einem Mädchen ernst wurde. Er hätte sich gewundert, wenn Lars vor Marina überhaupt mit einer Frau intim gewesen war. Aber gerade weil das alles bei ihm nicht zusammenpasste, bestärkte das Cordula noch in ihrer Meinung. Warum konnte man sich nicht so geben, wie man war?
Zu Beginn ihrer Beziehung waren sie häufiger zu viert ausgegangen. Ihm zuliebe war Cordula über ihren Schatten gesprungen. Aber wirklich genossen hatte sie die Treffen nie, auch weil sie mit Marina so gar nichts anfangen konnte. Als Marina dann schwanger wurde, ging sie aus Angst vor Passivrauchen gar nicht mehr aus. Die Schwangerschaft sollte schließlich nicht gefährdet werden. Simon hatte sich sehr zusammenreißen müssen, nicht lauthals zu lachen, als Lars es ihm erklärte. Für Cordula war das wie eine Erlösung, bedeutete es doch, dass sie sich ebenfalls zurückziehen konnte. Damit hatten sich die Treffen zu viert erledigt. Außer bei Einladungen zu Geburtstagen kamen sie nicht mehr zusammen. Simon hatte das lange Zeit bedauert, hätte er sich doch gern mal mit ihr gemeinsam mit Lars getroffen. Mittlerweile war er froh, wenn er ohne sie aus dem Haus kam.
Lars nahm seine Lüge mit einem Nicken zur Kenntnis und trank einen Schluck.
„Schöne Grüße zurück.“
Sein Ton ließ keinen Zweifel zurück. Wenn er auch nicht der sensibelste war, so war er auch nicht blöd. Er wusste genau, dass Simon keine Grüße ausrichten würde. Es war ihm nicht verborgen geblieben, dass die Chemie zwischen Cordula und ihm nicht stimmte.
„Wie lange will dein Vater eigentlich noch in der Firma bleiben?“
Der Schrotthandel der Familie Müller lief wie geschmiert. Simon hätte niemals für möglich gehalten, was damit für ein Geld zu verdienen war. Als Kind hatte er Lars immer belächelt, ihn mit seinen Freunden aufgezogen. Schrott-Lars hatten sie ihn gerufen oder Müllverkäufer. Dass sie auch noch Müller hießen, machte es natürlich noch schlimmer. Müllmüller passte da natürlich hervorragend. Vielleicht lag darin begründet, dass er anderen gegenüber jetzt häufig den Macker heraushängen ließ. Er hatte ihm mal gestanden, dass er sich immer für den Beruf seines Vaters geschämt und erst spät die Vorteile erkannt hatte.
Das Riesenhaus, in dem Familie Müller wohnte, hatte Simon erst später nachdenklich gemacht. In der Pubertät, als es immer wichtiger wurde, dass man die richtigen Klamotten trug, um dazuzugehören, hatte er erstmalig Neid empfunden. Sein eigener Vater war auf einem Stellwerk bei der Bahn beschäftigt gewesen und hatte die fünfköpfige Familie allein ernährt. Die Abzahlung für das kleine Reihenhaus ließ nicht mehr viel Spielraum und somit war für Mätzchen wie Turnschuhe mit der richtigen Anzahl von Streifen, damit man in der Schule nicht gehänselt wurde, kein Budget vorhanden. Solche Engpässe gab es bei Lars nicht. Er hatte nie ein Problem, sich das zu kaufen, was er wollte. Dabei prahlte er damit nicht etwa herum, er trug einfach immer genau die richtigen Sachen.
Zu der Zeit freundeten sie sich an. Es begann wie eine Art Deal. Simon hatte viele Freunde und gehörte zu der Gruppe, die den Ton angaben. Dadurch war es umso wichtiger für ihn, dass sich das auch an seinem Äußeren zeigte. Um das zu erreichen, musste er jede Mark zusammenhalten. Er schluckte seinen Stolz hinunter und bettelte bei Verwandten, schleimte sich regelrecht bei ihnen ein, in der Hoffnung, dass dann etwas für ihn abfiel. Und wenn es gar nicht anders ging, klaute er auch schon mal. Jedenfalls war es ein ständiger Kampf. Lars, auf der anderen Seite, verfügte über Unmengen an Geld, wie es schien, gehörte aber irgendwie nicht richtig dazu, so sehr er sich auch bemühte. Eines Nachmittags hörte Simon jemanden hinter sich rufen, nachdem er ein Geschäft verlassen hatte.
„Simon!“
Er fuhr herum und ärgerte sich im selben Augenblick. Warum war er nicht einfach schnell weggelaufen? Es war Lars.
„Hallo.“
Er drehte sich wieder um und ging weiter.
„Warte doch mal“, rief Lars und beeilte sich, ihn einzuholen.
Scheiße! Er hatte absolut keine Lust auf Gelaber. Er hatte wirklich Wichtigeres zu tun.
„Ich hab dich beobachtet.“
Abrupt blieb Simon stehen. Was meinte er?
„Wieso beobachtest du mich?“
„Gerade eben“, sagte Lars, ohne auf seine Frage einzugehen. „Das T-Shirt, das du mit in die Kabine genommen hattest. Wo ist es?“
Simons Augen verengten sich. „Im Geschäft, wo sonst.“
Lars blieb ungerührt. „Das ist gelogen. Du hast es mitgehen lassen.“
„Hab ich nicht.“
„Doch, hast du.“
Was sollte das jetzt hier?
„Was ist? Willst du mich verpfeifen? Oder soll ich dir Geld geben, damit du die Klappe hältst?“
Lars sah ihm fest in die Augen. „Das dürfte wohl schwierig werden. Deshalb hast du doch geklaut, oder nicht? Du hast kein Geld.“
Verdammt! Reichte es nicht, dass er ihn beim Klauen erwischt hatte? Musste er ihn auch noch demütigen?
„Lass mich in Ruhe.“ Er wollte weitergehen, doch Lars hielt ihn am Arm fest.
„Ich will dir einen Vorschlag machen.“
Simon blinzelte verwirrt. „Was für einen Vorschlag?“
„Meine Eltern haben Geld wie Heu.“ Er sagte das ohne jeden Anflug von Arroganz. Es war einfach eine Tatsache. „Ich kann dir aushelfen.“
„Wie meinst du das? Aushelfen...?“
„Wenn du kein Geld hast für Klamotten oder so, dann helfe ich dir. Ich bezahle.“
Simon glaubte sich zu verhören. „Du willst mir Sachen kaufen? Ehm, hör mal, Lars, so einer bin ich nicht.“
„Was für einer?“
Er druckste herum. „Na, du weißt schon.“
Lars riss erschrocken die Augen auf. „Bist du bescheuert? Ich bin nicht schwul.“
„Aber wieso...“
„Ich will, dass du mich zu euren Treffen mitnimmst. Tu so, als ob wir befreundet wären.“
Sein erster Impuls war, ihn auszulachen. Aber ein Blick auf Lars zeigte ihm, dass er es äußerst ernst meinte.
„Auf einmal sollen wir ganz dick sein? Wer soll das denn glauben?“
„Wir müssen es ja nicht gleich übertreiben. Zu deiner nächsten Verabredung mit einem von deinen Leuten nimmst du mich mit. Du kannst mich doch auf dem Weg zufällig getroffen haben. Dir wird da schon was einfallen.“
Na ja, der Gedanke war zwar absurd, aber er hatte echt was für sich. Nie wieder betteln oder stehlen zu müssen. Warum nicht? Versuchen konnten sie es ja.
Dass sich aus dieser Geschichte eine enge wirkliche Freundschaft entwickelt hatte, hätte er damals nicht für möglich gehalten. Aber Tatsache war, dass sie beim Abitur die besten Freunde waren, während alle anderen Freundschaften deutlich an Bedeutung eingebüßt hatten. Auch nach der Schule hatten sie sich nicht aus den Augen verloren. Er selbst hatte mit Hilfe von Bafög Betriebswirtschaft studiert und arbeitete jetzt als Mitglied der Geschäftsleitung in einer Internetfirma. Lars hatte sich Zeit gelassen. Für ihn war es ja auch leicht. Er konnte ja immer zurück nach Hause und den Betrieb seines Vaters übernehmen. Da war es kein Problem, erst etwas zu reisen und dann zu studieren, was ihm Spaß machte, ganz ohne darüber nachzudenken, ob das in Zukunft auch lukrativ sein würde. Er konnte volles Risiko gehen, er fiel ja weich. Und in der Tat hatte er sich nach sechs Jahren Uni dafür entschieden, bei seinem Vater einzusteigen, der davon natürlich begeistert war.
Simon wusste, dass die Zusammenarbeit von Vater und Sohn kein Zuckerschlecken war. Es gab immer wieder Tage, an denen Lars alles hinschmeißen wollte. So großzügig er seiner Familie gegenüber außerhalb des Unternehmens auch war, so unerbittlich führte der alte Müller seinen Betrieb. Und das schloss Lars mit ein. Er bekam nichts geschenkt, musste sich seinen Respekt verdienen. Für jeden entgangenen Auftrag musste er sich rechtfertigen und er wurde auch vor anderen abgekanzelt. Da machte Müller keine Unterschiede. Es war eine harte Schule, aber Lars hatte nicht aufgegeben. Sein Aufgabenbereich war stetig gewachsen und er hatte viele Handlungsvollmachten, aber immer noch war sein Vater alleiniger Geschäftsführer. Und das mit fast siebzig.
„Du kennst ihn ja“, meinte Lars achselzuckend. „Glaub ja nicht, dass er sich dazu irgendwie äußert. Wir witzeln schon darüber, ob wir ihn irgendwann auch in der Firma beerdigen sollen.“
„Makaber.“
„Ist ja nur Spaß. Nein, aber ich denke, dass er höchstens noch ein Jahr bleibt.“
„Und deine Söhne? Meinst du, dass einer von ihnen einsteigt?“
Lars leerte sein Glas. „Ganz ehrlich? Ich kann es mir nicht vorstellen. Interesse haben sie beide nicht gezeigt. Patrick hat so viel mit seinem Fußball um die Ohren. Und Rouven? Der arme Junge hat leider zwei linke Hände. Nicht die beste Voraussetzung.“
„Und? Wärst du sehr enttäuscht?“
„Nein. Ich weiß selbst nicht, ob ich es im Nachhinein noch mal genauso machen würde.“
„Aber für deinen Vater wäre es sicher schlimm gewesen, wenn du nicht eingestiegen wärst.“
„Das ist aber auch was anderes. Er hat das Unternehmen aus dem Nichts aufgebaut. Sein Herzblut hängt daran. Das kann ich von mir nicht gerade behaupten.“
Es klang irgendwie traurig, wie er das sagte.
„Und du? Wie läuft es bei euch?“
„Alles im grünen Bereich. Morgen geht es nach Shanghai, ein neues Geschäft abwickeln.“
Es wäre schön gewesen, wenn wirklich alles gut gelaufen wäre, aber in Wahrheit war das Geschäft mit den Chinesen längst nicht unter Dach und Fach. Es sah längst nicht mehr so rosig aus wie noch vor einem Jahr vielleicht. Die Konkurrenz wurde immer größer. Es gab immer mehr Unternehmen, die ihre Dienste anboten. Der Preiskampf war immens. Ob sie dem noch lange standhalten konnten, war fraglich. Ihm graute davor, dann womöglich Mitarbeiter entlassen zu müssen. Er seufzte innerlich. Er hatte gehofft, dass das Bier ihn auf andere Gedanken würde, aber irgendwie hatte ihn die Unterhaltung mit Lars deprimiert.
Cordula Grothe wischte sich mit beiden Händen über die Augen und gähnte. Meine Güte, fühlte sie sich gerädert. Musste sie schon aufstehen? Sie blickte an sich hinunter und stellte erstaunt fest, dass sie nicht im Bett, sondern vollständig bekleidet auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Ach, sie war nur eingenickt. Wie spät war es eigentlich?
Sie schaute auf ihre Armbanduhr und erschrak. Mist! Schon fast acht Uhr. Da musste sie wohl komplett weggetreten sein. Wann hatte sie sich hingelegt? Sie hatte keine Ahnung, aber es war sicher am Nachmittag gewesen. Himmel! Wieso war sie überhaupt so müde gewesen? Sie kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um wieder ganz klar zu werden. Ihr Schädel brummte. Mal wieder. Welcher Tag war heute? Mittwoch? Ja, es musste Mittwoch sein, sonst wäre Simon schon zu Hause. Er kam meistens gegen sechs, aber Mittwochs spielte er immer nach der Arbeit mit seinem Kumpel Squash. Dann war er selten vor halb neun zurück.
Sie richtete sich auf und ein stechender Kopfschmerz ließ sie aufstöhnen. Sie blieb noch einen Moment sitzen und rieb ihre Schläfen. Ihr Blick fiel auf die beinahe leere Flasche vor ihr und unwillkürlich beleckte sie ihre Lippen. Nein, sagte sie sich. Sie hatte schon mehr als genug. Andererseits, was schadete ein weiterer Schluck? Sie drehte die Flasche auf und kippte den restlichen Inhalt auf ex hinunter. Sie spürte den Wodka ihre Kehle hinab laufen und seufzte. Tat das gut. Aber jetzt musste sie sich beeilen. Simon würde in der nächsten halben Stunde nach Hause kommen und sie musste doch noch etwas zu essen vorbereiten. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die vor der Couch lagen, und schraubte den Deckel auf die Flasche. Sie ging in die Küche und holte eine Plastiktüte aus dem Hängeschrank, in der sie die Flasche verstaute. Es sollte schließlich niemand sehen, was sie da bei sich trug. Sie ging nach draußen in den Garten. Es war Mitte Februar und damit eigentlich viel zu kalt, um ohne Jacke an der frischen Luft zu sein, aber sie wollte sich eh nicht lange dort aufhalten. Sie eilte den Weg links neben dem vom Regen feuchten Rasen entlang zum Schuppen und nahm den Schlüssel vom Haken. Sie öffnete die Tür und ging in die hinterste Ecke, in der sie in einem Beutel ihren Vorrat und die leeren Flaschen versteckt hatte. Sie nahm die eben entleerte Flasche aus der Tüte und warf sie in den Beutel. Herrje. Es waren schon wieder ganz schön viele. Sie musste morgen unbedingt mal wieder ein paar entsorgen, sonst merkte Simon womöglich noch was. Sie verließ den Schuppen und lief zurück ins Haus.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Küchentür hinter sich schloss. Mann, war das kalt. Sie rieb sich die Arme vor der Brust und überlegte, was zu tun war. Abendessen wäre nicht schlecht gewesen. Wenn Simon vom Sport kam, hatte er immer einen Bärenhunger. Und seine schlechte Laune, wenn nichts für ihn auf dem Tisch stand, wollte sie nicht erleben. Hatte sie schon was vorbereitet? Sie konnte sich wirklich nicht erinnern. Wenn ihr Kopf nur nicht so gebrummt hätte.
Sie öffnete den Kühlschrank und sah hinein. Nichts, Scheiße. Vielleicht hatte sie ja noch etwas in der Truhe? Sie ging in die Speisekammer und öffnete die Kühltruhe. Ungeduldig wühlte sie in den Tupperdosen herum. Warum schrieb sie auch nie drauf, was sie darin eingefroren hatte? Ach, da war was. Hühnerfrikassee. Sie schnappte sich die Packung, öffnete sie und schüttete den Inhalt, der nur ein undefinierbarer Kloß war, in eine Schüssel. Anschließend deckte sie den Kloß ab und stellte die Schüssel in die Mikrowelle. Dann setzte sie einen Topf mit Wasser für den Reis auf.
So. War noch etwas zu tun? Gegen den pelzigen Geschmack auf der Zunge sollte sie noch etwas unternehmen. Sie ging ins Bad und putzte sich ausgiebig die Zähne. Sie spülte den Mund aus und trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Dabei sah sie unweigerlich in den Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht war. Und was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Ihr blondes Haar fiel ihr in Strähnen auf die Schulter und wirkte seltsam farblos und stumpf. Vielleicht sollte sie es mal mit einer neuen Tönung versuchen.
Aber es waren ja nicht nur die Haare. Früher hatte man sie wegen ihrer hohen Wangenknochen bewundert. Heute wirkten ihre Wangen einfach nur eingefallen. Ihr Mund sah nicht so aus, als ob er viel lachen würde. Aber die größte Veränderung sah sie in ihren Augen, die sie früher immer lebendig hatten wirken lassen. Sie versprühten längst keine Lebensfreude mehr. Es schien beinahe so, als ob das klare Blau irgendwie verwaschen geworden war. Unglaublich.
Sie fragte sich, seit wann das so war. Was hatte sie so verändert? Die Ehe? Sicher, die Gefühle änderten sich, wenn man lange verheiratet war. Die rosa Wolken verschwanden irgendwann, wenn man den Alltag gemeinsam bewältigen musste. Aber das schafften andere Paare doch auch, ohne sich gegenseitig aus den Augen zu verlieren. Das konnte sie nicht als Entschuldigung gelten lassen. Wieso hatten sie es nicht geschafft, ihre Gefühle über die Zeit zu bewahren? Wie schon so oft dachte sie an die erste Zeit in ihrer Ehe zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es zwischen ihnen wieder so wurde wie damals. Das erste Jahr nach ihrer Hochzeit war alles unverändert. Sie verbrachten ihre Zeit gemeinsam, waren viel unterwegs und hatten täglich Sex. Sie redeten miteinander und lachten viel. Dann ging beider bis dato größter Wunsch in Erfüllung. Sie wurde schwanger. Sie konnte sich noch gut an den Besuch beim Arzt erinnern, als er ihr ihren Verdacht bestätigte. Es war der glücklichste Moment in ihrem Leben und sie hatten den Tag gefeiert wie keinen anderen zuvor.
Und doch war das genau der Tag, an dem sich alles veränderte, auch wenn ihr das erst im Nachhinein klar wurde. Sie hatte schon häufiger gehört, dass Männer Schwierigkeiten hatten, mit ihrer Frau zu schlafen, wenn sie schwanger war. Manche wohl aus Angst, dass dem Baby etwas passieren könnte, andere vielleicht auch, weil durch die Veränderung der Körper ihrer Frau für sie an Attraktivität verlor. Cordula wusste nicht, was es bei Simon war, aber Tatsache war, dass er sich ihr gegenüber plötzlich deutlich zurückhielt. Immer wenn sie einen Schritt auf ihn zu machen wollte, merkte sie, wie er sich zurückzog. Sie hatte es mehrfach angesprochen, aber er war jedes Mal ausgewichen, hatte sich mit Stress und zuviel Arbeit herausgeredet. Und irgendwann hatte sie von der Zurückweisung genug und gar nicht mehr gefragt.
Als ihre Tochter schließlich geboren wurde, war sein Interesse auf einmal wieder größer. Doch dann war es an ihr, ihn abzuweisen. Also wirklich, sie hatte schließlich gerade erst entbunden. Und was erwartete er? Monatelang hatte er sie an der langen Hand verhungern lassen und jetzt sollte sie Gewehr bei Fuß stehen? Das konnte er vergessen. Rückblickend wusste sie natürlich, dass das ein Fehler gewesen war. Es hatte dazu geführt, dass keiner von beiden wusste, wann der andere vielleicht Lust hatte und wann nicht. Und gesprochen hatten sie auch nicht wirklich darüber, vermutlich weil beide Angst davor hatten, wie die Antwort des anderen ausfallen könnte. Sicher kam es dann doch dann und wann dazu, aber so richtig erholt hatte sich ihr Sexleben nicht.
Sie sah die Schatten unter ihren Augen und schüttelte den Kopf. Wenn sie so aussah, war es kein Wunder, dass Simon keine Anstalten machte, mit ihr zu schlafen. Sie konnte sich kaum noch an das letzte Mal erinnern. Aber irgendwie wies ihre Situation mit Simon Ähnlichkeit mit der Frage auf, ob nun das Ei oder das Huhn zuerst da war. Hatte Simon das Interesse an ihr verloren, weil sie sich gehen ließ oder vernachlässigte sie sich, weil sie seine Gleichgültigkeit spürte?
Sie seufzte und wandte den Blick ab. Sie löschte das Licht und verließ das Bad. Vielleicht sollte sie wirklich an sich arbeiten. Ein Besuch beim Friseur tat ja nicht weh. Ja, gleich morgen würde sie einen Termin machen. Sollte sie diese Entscheidung nicht mit einem Schluck begießen? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig nach acht. Lieber nicht, das war zu knapp. Sie ging in die Küche und hörte, wie das Wasser auf dem Herd kochte. Sie warf zwei Beutel Reis in den Topf, drehte den Herd etwas hinunter und ließ den Reis mit leicht geöffnetem Deckel vor sich hin kochen. Dann nahm sie die Schüssel aus der Mikrowelle und rührte mit einem Löffel in dem Frikassee herum. Sie würde es noch einmal für drei Minuten in die Mirkowelle stellen, sobald Simon da war. Sie nahm drei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Küchentisch. Dann legte sie neben jeden eine Gabel. Nachdem sie noch Gläser dazu gestellt hatte, setzte sie sich an den Tisch und wartete darauf, dass Simon auftauchte.
Marina Müller schloss die Tür hinter sich und ließ ihre Sporttasche auf den Boden fallen. Sie drehte ihren Kopf nach links und verzog das Gesicht. Sie verfluchte sich und ihre Verbissenheit. Warum hatte sie nicht auf Yvonne gehört und nach der Stunde Yoga Schluss gemacht? Nein, sie musste ja wieder mal übertreiben und hatte noch mal 45 Minuten Workout rangehängt. Ihren Verspannungen im Nackenbereich hatte das nicht gut getan, soviel war mal klar. Sie entledigte sich ihrer Jacke, Schal und Handschuhen und zog die Schuhe aus. Dann stellte sie sich vor den großen, rechteckigen Spiegel mit verziertem Metallrahmen, ein Erbstück ihrer Großmutter, der in der Diele hing, und ließ ihren Kopf langsam zur rechten Seite sinken. Sie fasste mit der rechten Hand an den Kopf, half nach, bis es nicht mehr weiterging und verharrte für etwa eine halbe Minute in dieser Position. Das gleiche machte sie dann mit links und anschließend wiederholte sie den Vorgang viermal. Danach hatte sie das Gefühl, dass sie ihren Kopf tatsächlich besser drehen konnte, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Sie schnappte sich ihre Tasche und ging in den Keller, um die dreckige Wäsche neben die Waschmaschine zu legen. Sie überlegte kurz, die Maschine anzustellen, und verwarf den Gedanken, als ihr einfiel, dass Patrick zum Fußballtraining war und Lars Squash spielte. Es würde also noch genug Dreckwäsche kommen, da konnte sie das Waschen genauso gut auf morgen verschieben.
Sich über sich selbst ärgernd, dass sie das Training ihres älteren Sohnes vergessen hatte, ging sie die Kellertreppe hoch und gleich weiter in den ersten Stock ihres Einfamilienhauses, in dem ihre Söhne ihre Zimmer hatten. Seit seinen Schwierigkeiten in der Schule hatte Rouven um sieben zu Hause zu sein und damit er das auch einhielt, war normalerweise immer jemand von ihnen da. Als Yvonne sie am Morgen gebeten hatte, sie zum Yoga zu begleiten, war sie davon ausgegangen, dass Patrick wie jeden Mittwoch die Rolle des Aufpassers übernehmen konnte. Sie hatte zugesagt, weil sie das angesetzte Extratraining völlig vergessen hatte. Dass Rouven von selbst an seinen Hausaufgaben saß, war kaum zu erwarten, es war sogar fraglich, ob er überhaupt zu Hause war. Sie kannte ihren Sohn zur Genüge und wusste, wenn jemand ein Schlupfloch entdeckte, dann war es mit Sicherheit Rouven. Dafür hatte er ein untrügerisches Gespür, nicht umsonst musste er das Schuljahr wiederholen. Sie gab sich selbst die größte Schuld daran, weil sie es einfach hatte schleifen lassen. Aber bei Patrick war immer alles so problemlos gelaufen, dass sie automatisch davon ausgegangen waren, es würde bei Rouven genauso sein. Trotz seines vielen Trainings hatte Patrick immer gute Leistungen gebracht und da Rouven für Sport nicht sonderlich viel übrig hatte, hatte er eigentlich genug Zeit, die er für die Schule aufwenden konnte. Als Lars und sie merkten, worauf er sich stattdessen konzentriert hatte, war es längst zu spät. Diese Flatrates waren echt nicht zu unterschätzen. Sicher, es war günstig, wenn man viel im Netz war, aber andererseits hatte man auch keine Kontrolle darüber, wie viel Zeit tatsächlich damit verbracht wurde, mit anderen zu chatten. Rouven hatte darüber alles andere vernachlässigt und nicht nur das, er hatte auch alles daran gesetzt, dass Lars und sie über seine Aktivitäten im Dunklen blieben. Sie erinnerte sich noch gut an den Anruf seiner Klassenlehrerin, die sie fragte, ob sie denn ihre Nachricht nicht erhalten habe.
„Was für eine Nachricht?“ hatte sie gefragt, im Stillen davon ausgehend, dass vielleicht eine Klassenfahrt anstand, von der Rouven vergessen hatte zu erzählen.
Sie hörte die Frau am anderen Ende seufzen. „Ich hatte Ihren Sohn gebeten, Ihnen auszurichten, dass ich Sie gern sprechen würde. Ich hatte eigentlich schon nach dem Zeugnis damit gerechnet, dass Sie sich bei mir melden würden.“
Da erst wurde sie so richtig hellhörig. „Das Zeugnis? Aber was war denn damit?“
„Na, jetzt bin ich aber ein bisschen überrascht. Finden Sie nicht, dass Rouven sich extrem verschlechtert hat?“
Das war ihr in der Tat entgangen. Verwechselte sie ihren Sohn mit einem anderen Schüler? Eigentlich konnte das nicht sein, denn schließlich kannte sie ihn mittlerweile seit drei Jahren.
„Bleiben Sie bitte einen Moment dran?“ Sie eilte nach oben in Lars’ Arbeitszimmer, in dem sie die Unterlagen für beide Söhne aufbewahrten, legte den Hörer beiseite, nahm den Ordner für Rouven aus dem Regal und schlug ihn auf. Nachdem sie das richtige Zeugnis gefunden hatte, griff sie nach dem Telefon.
„Frau Ahlfeldt?“ sagte sie in den Hörer. „Ich hab mir mal die Zeugnisse geholt. Ich finde jetzt nicht, dass es da Grund zur Beunruhigung gibt. Na ja, die vier in Deutsch muss nicht sein, aber sonst...“
Die Lehrerin räusperte sich umständlich. „Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, aber irgendwie scheinen Sie nicht das richtige Zeugnis vorliegen zu haben.“
„Doch. Da steht Schuljahr 2005/06.“
„So meinte ich das nicht.“
Und plötzlich verstand Marina, ohne dass sie die nächste Frage abwarten musste. Sie hielt die Luft an.
„Kann es sein, dass Ihr Sohn das Zeugnis gefälscht hat?“
Das hatte er tatsächlich getan. Und nicht nur das, er hatte auch sämtliche Unterschriften auf den Klassenarbeiten und Mitteilungen der Schule gefälscht, wie er dann gestanden hatte. Das Zeugnis war so gut gemacht, dass weder sie noch Lars darüber gestolpert waren. Man hätte eine Lupe gebraucht, den Unterschied festzustellen. Rouven hatte eingeräumt, die Anleitung dafür aus dem Internet bekommen zu haben. Das richtige Zeugnis hatte er mit einer gefälschten Unterschrift versehen, weil er das ja in der Schule vorzeigen musste, und in der hintersten Ecke seines Schreibtisches versteckt. Es war unfassbar schlecht und enthielt folgerichtig die Bemerkung, dass die Versetzung ausgeschlossen erschien.
Wie es so weit hatte kommen können, wusste sie nicht und Rouven hatte nur mit den Schultern gezuckt, als sie ihn danach fragten. Aber eigentlich war es müßig, darüber nachzudenken, Fakt war, dass er nahezu süchtig nach dem Internet war und deshalb einfach nicht dazu gekommen war, etwas für die Schule zu tun. So konnte es nicht weitergehen. Lars und sie hatten daraufhin die Notbremse gezogen, ihm den Computer weggenommen, Nachhilfe besorgt und einen straffen Tagesplan erstellt. Einen Schulverweis aufgrund der diversen Urkundenfälschungen hatten sie gerade noch umbiegen können, doch für eine Versetzung hatte es nicht mehr gereicht und so peinlich es Marina auch war, musste sie doch zugeben, dass es für Rouven wahrscheinlich die bessere Lösung war, als mit schlechten Noten so eben noch mal versetzt zu werden.
Mittlerweile war seit jenem ersten Telefonat mit Frau Ahlfeldt fast ein Jahr vergangen, und ihre Maßnahmen zeigten Erfolge, denn Rouven gehörte wieder zu den besseren Schülern in der neuen Klasse, wie sein Klassenlehrer bestätigte und das Halbjahreszeugnis übernächste Woche würde sicher wieder gut ausfallen. Langsam begannen sie daher, ihre strengen Regeln zu lockern, auch wenn sie ihn nach wie vor nur ungern unbeaufsichtigt ließen. So durfte er wieder ins Internet, wenn auch kontrollierter als vorher, was hieß, dass er nur den Computer im Arbeitszimmer seines Vaters benutzen durfte und die Tür dabei offen bleiben musste. Nachts wurden die Sicherungen entfernt, damit er nicht heimlich wieder stundenlang vor dem Bildschirm sitzen konnte.
„Rouven?“ rief sie, als sie oben angekommen war.
„Was?“ kam es aus dem Arbeitszimmer zurück. Sie hätte es sich ja denken können, wo sollte er auch sonst sein? Sie stand im Türrahmen und sah, wie ihr Sohn den Computer auf Bildschirmschoner schaltete. Er drehte sich auf dem Stuhl zu ihr herum. Sie unterdrückte den Impuls, die Maus zu berühren, um zu sehen, womit er gerade beschäftigt war. Schließlich waren sie gerade dabei, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, das wollte sie nicht gleich wieder zunichte machen. Und was schadete es, wenn er ab und an mal mit jemandem chattete?
„Ich wollte nur mal sehen, ob alles in Ordnung ist.“
Er pustete sich die Haare aus der Stirn. „Was sollte schon sein?“
Marina betrachtete ihn und ihr wurde wehmütig ums Herz, wie es wohl jeder Mutter ging, wenn sie feststellte, dass ihr Sohn erwachsen wurde und sie nicht mehr so brauchte wie früher. Mit Patrick hatte sie das bereits hinter sich, aber das hatte sie nicht so getroffen, weil ihr älterer Sohn sie nie so gebraucht hatte wie Rouven. Er hatte schon früh sein eigenes Ding gemacht, hatte sie selten um Rat gefragt. Vielleicht lag es daran, dass er sich schon mit sechs beim Fußball hatte beweisen müssen. Vielleicht war er aber auch einfach anders veranlagt. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie problemlos Patrick in den Kindergarten ging, während Rouven kaum von ihrer Seite weichen wollte und jedes Mal in Tränen ausbrach, wenn sie ihn dort ablieferte. Wie auch immer, jedenfalls war Patrick viel härter als sein Bruder, und somit tat es ihr weit mehr weh, zu sehen, wie Rouven sich von ihr entfernte. Wie er jetzt so da saß, war die Ähnlichkeit zu seinem Vater frappierend. Die ovale Gesichtsform, die etwas weit auseinander liegenden braunen Augen mit langen dunklen Wimpern, die jede Frau neidisch werden ließen und die schmale gerade Nase. Er hatte dasselbe dunkle Haar, wenn auch anders geschnitten, soweit man bei Rouven von einem Schnitt sprechen konnte, halt die typische GZSZ-Frisur, mit der die Jungen heutzutage herumliefen, Fransen, die in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden und jeden Morgen kunstvoll mit Gel in Form gebracht werden mussten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie als Mädchen morgens soviel Zeit vor dem Spiegel verbracht hatte, wie es ihre Söhne taten, aber so waren die Zeiten eben.
„Hausaufgaben fertig?“
Er verzog das Gesicht. „Willst du sie sehen?“
„Ist schon in Ordnung. Ich mach mir gleich was zu essen. Möchtest du auch was?“
„Okay. Dann komm ich gleich runter.“
Sie nickte. „Ich ruf hoch, wenn es fertig ist.“
Sie wandte sich zum Gehen, als er sie zurückhielt.
„Mama?“
Sie drehte sich zu ihm um. „Ja?“
„Weißt du, ob Patrick gestern hier war?“
„Was meinst du? Am Computer?“
Er nickte.
„Keine Ahnung. Warum fragst du?“
Er zuckte mit den Achseln. „Ach, nur so.“
„Hat er eine von deinen Dateien gelöscht?“
Er winkte ab. „Nein. Ist auch egal. Lass man.“
Marina musterte ihn nachdenklich, aber er wich ihrem Blick aus. Sie seufzte innerlich, denn diesen Gesichtsausdruck kannte sie zur Genüge. Sie war sicher, dass es nicht egal war, sondern dass ihn irgendetwas gestört hatte, aber in ihn zu dringen würde gar nichts bringen. Wenn Rouven auf stur schaltete, konnten ihn nichts und niemand dazu bewegen, sich mitzuteilen. Mit einem komischen Gefühl verließ sie das Arbeitszimmer und ging nach unten, um für sich und ihren Sohn ein paar Nudeln zu kochen.
Rouven atmete auf, nachdem seine Mutter das Zimmer verlassen hatte. Das war ja noch mal gut gegangen. Er hatte einen ganz schönen Schreck bekommen, als er sie plötzlich die Treppe hoch hatte kommen hören. Er hatte gerade noch geistesgegenwärtig den Browser schließen können, bevor sie das Zimmer betrat. Er war sicher, dass sie nichts gesehen hatte, aber ihr Blick, mit dem sie ihn die ganze Zeit gemustert hatte, sprach Bände. Es hatte ihr nicht gefallen, ihn vor dem Computer sitzen zu sehen. Und wenn sie gewusst hätte, was er sich da ansah, wäre sie wohl ausgeflippt. Na, sei es drum. Er wartete noch einen Augenblick, bis er sicher war, dass sie auch wirklich wieder nach unten verschwunden war, bevor er den Browser wieder öffnete.
Es war unglaublich, was sich da vor seinen Augen aufbaute. Daniel hatte Recht gehabt. Er hatte es ja erst für Spinnerei gehalten, weil Daniel dazu neigte, sich wichtig zu machen. Er war wie er selbst neu in der Klasse, wobei er allerdings kein Wiederholer war, sondern mit seiner Familie von Köln nach Lübeck gezogen war. Und während Rouven zumindest nach außen recht gelassen mit der neuen Situation umging, er wusste, dass er als cool galt, weil sich herumgesprochen hatte, dass er sein Zeugnis gefälscht hatte, setzte Daniel alles daran, von den Mitschülern anerkannt zu werden.
Dass er dadurch eher das Gegenteil erreichte, schien er irgendwie nicht zu begreifen. Nachdem herausgekommen war, dass sein Vater nicht, wie er behauptet hatte, bei einem Hilfseinsatz in Afghanistan ums Leben gekommen war, sondern quicklebendig mit seiner neuen Familie in Köln lebte, fragten sich natürlich alle, was sonst noch alles gelogen war. Seine Mutter hatte beim Elternabend ganz offen über ihre Scheidung gesprochen, völlig ahnungslos, dass sie damit das sorgfältig aufgebaute Fantasiegebilde ihres Sohnes zum Einstürzen brachte. Es dauerte keinen Tag und die Wahrheit war in der Schule herum. Die Folgen waren verheerend, es wandten sich alle von ihm ab. Rouven wusste gar nicht genau, wie es dazu gekommen war und ob sein Mitleid schuld daran war, aber seit dieser Geschichte war er derjenige, der ihn jetzt ständig am Hals hatte.
Als Daniel ihm an diesem Morgen von der Website erzählte, hatte er zunächst gedacht, dass es sich wie üblich um eines seiner Hirngespinste handelte. Doch Daniel hatte nicht locker gelassen und als er nach Hause kam, hatte seine Neugier über sein Misstrauen gesiegt. Es war niemand da und diese seltene Gelegenheit wollte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Also hatte er sich eilig an den Computer gesetzt, war ins Internet gegangen und hatte eine Überraschung erlebt, denn es war genauso, wie Daniel behauptet hatte. Innerlich entschuldigte er sich bereits dafür, dass er ihm unrecht getan hatte. Ja, er überlegte sogar, wie er sich bei ihm revanchieren konnte, denn das war alles noch viel besser, als er vermutet hatte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Damit würde er etwas anfangen können, endlich.
Er warf einen weiteren Blick auf die Seite und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Ob noch welche davon wussten? Daniel hatte es sicher keinem anderen erzählt, und wenn, glaubte ihm sowieso keiner, aber jeder konnte ja auch ganz zufällig über diese Website stolpern. Er fragte sich, wer bei ihnen auf diese Seite gestoßen war. Durch Zufall oder gezielte Suche? Dass jemand die Seite an diesem Computer aufgerufen hatte, stand außer Frage. Er hatte, nachdem er sich angemeldet hatte, nur die ersten beiden Buchstaben eingegeben, als wie durch Zauberei die ganze Adresse im Adressfeld auftauchte und das war nur möglich, wenn sie vorher schon mal eingegeben worden war.
„Rouven“, rief seine Mutter von unten und ließ ihn zusammenzucken. „Essen ist fertig. Kommst du?“
„Ich bin gleich da“, rief er zurück. Er schloss die Seite und meldete sich aus dem Netz ab, allerdings nicht ohne vorher den Verlauf zu löschen. Er wollte schließlich nicht denselben Fehler machen, wie derjenige, der zuvor auf diesem Stuhl gesessen hatte.
Cordula schreckte hoch, als die Tür ins Schloss fiel. Nachdem der Reis verkocht war, hatte sie wütend den Topf über dem Mülleimer ausgeschüttet und das Hühnerfrikassee in die Toilette gekippt. Anschließend hatte sie ihren Frust mit einer weiteren halben Flasche Wodka hinuntergespült. Was fiel Simon ein? Er wusste doch, dass sie mit dem Essen wartete. Wieso hatte er nicht soviel Anstand, wenigstens anzurufen, wenn er später kam? Dass sie ihn anrief, zog sie keine Sekunde in Erwägung. Sie war viel zu stolz, ihm hinterher zu telefonieren. Nein, die Blöße wollte sie sich nicht geben, zumal sie nicht wusste, mit wem er sich da gerade zusammen herumtrieb. Wenn sie raten musste, hätte sie auf seine Sekretärin, ach nein, Assistentin, dieses billige Ding, getippt. Diese Susi. Wenn sie den Namen schon hörte. Was er an der fand, war ihr schleierhaft. Diese vorstehenden Zähne und die billige Tönung. Schrecklich. Aber sie hatte ordentliche Titten. Und das war es ja, worauf die Kerle abfuhren. Im Vergleich zu Susi war sie das reinste Bügelbrett.
„Es ist zehn“, sagte sie, als er ohne ein Wort des Grußes in die Küche kam.
„Und?“
Sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten und das lag nicht am Alkohol. „Es wäre nett gewesen, wenn du mir Bescheid gesagt hättest, dass du später kommst.“
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ist halt noch etwas dazwischen gekommen.“
Etwas? Wohl eher jemand. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Was soll das jetzt wieder heißen?“
„War es denn nett mit Susi?“
„Ich hab mit Lars Squash gespielt. Das weißt du doch.“
Sie rümpfte einfach auf Verdacht die Nase. „Deshalb riechst du auch, als ob du in einer Kneipe gewesen bist.“
„Wir haben nach dem Sport noch ein Bier getrunken. Das wird doch wohl noch erlaubt sein.“
„Ja, ja.“
Er seufzte. „Was mache ich hier eigentlich? Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.“
„Ich bin dir nicht mal eine Erklärung wert?“
Er kniff die Augen zusammen. „Hör dir doch mal selbst zu. Meinst du, da freut man sich aufs nach Hause kommen?“
Die Richtung, die er eingeschlagen hatte, gefiel ihr gar nicht. Sie hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion. „Zu essen gibt es nichts mehr“, lenkte sie ab.
Er ging an den Kühlschrank und holte sich eine Wasserflasche heraus. „Ich hab eh keinen Hunger.“
Sie hätte ihn am liebsten angebrüllt. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, machte sie innerlich völlig wild. „Und dass ich hier umsonst gekocht habe, ist dir egal, oder wie?“
Er reagierte nicht. „Ist Merle im Bett?“
Wo sollte sie sonst sein? Sie wollte es ihm genauso um die Ohren knallen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, ob ihre Tochter tatsächlich oben war oder nicht. Denk nach, sagte sie zu sich selbst. Wann hast du sie gesehen?
„Ich hab dich was gefragt.“
„Ja“, sagte sie, während sie sich umdrehte, um ihn nicht anzusehen. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie keine Ahnung hatte, ob Merle überhaupt zu Hause war? Dass sie sich nicht einmal erinnern konnte, wann sie sie zuletzt gesehen hatte? Dass sie mit einer Flasche Wodka auf dem Sofa eingeschlafen war?
„Weißt du eigentlich, was deine Tochter den lieben Tag über so treibt?“
Es war, als ob er ihre Gedanken lesen konnte.
„Meine Tochter? Ich dachte eigentlich immer, Merle sei unsere Tochter.“
„Du weißt genau, wie ich das meine.“ Er hatte durchschaut, dass sie nur ablenken wollte und ließ es ihr nicht durchgehen. „Also?“
„Warum fragst du mich das?“
„Na ja, du bist schließlich den ganzen Tag zu Hause. Da musst du doch mal was mitkriegen.“
Hatte sie was verpasst? Hatte Merle etwas ausgefressen? Wusste Simon davon und wollte sie auf die Probe stellen?
„Wovon?“
„Mein Gott, ich rede ganz allgemein.“
„Wieso das plötzliche Interesse an deiner Tochter?“ Sie hatte ihren Kampfgeist wieder. „Sonst interessiert sie dich doch auch nicht. Oder hast du in letzter Zeit mal etwas mit ihr unternommen?“
Sie merkte, dass sie ihn getroffen hatte. Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Du hast Recht. Ich hab sie wirklich vernachlässigt. Aber ich hab auch noch eine Firma, die ich zusammenhalten muss. Was ist deine Entschuldigung?“
Er war so kalt. Wenn sie ihn jetzt betrachtete, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass das derselbe Mann war, in den sie sich einst Hals über Kopf verliebt hatte. Damals hatten sie seine blauen Augen immer voller Zärtlichkeit angesehen. Sie hätte in ihnen versinken mögen. Jetzt sah sie nur noch eisblauen Stahl und seine grauen Schläfen verstärkten den Eindruck noch. Wärme gab es nicht mehr. Das Paradoxe war, dass sie immer noch ihm gehörte. Egal, wie schlecht er sie behandelte, sie hätte sich nie von ihm getrennt. Sie liebte ihn und das mit jeder Faser ihres Körpers, war ihm mit Haut und Haaren verfallen. Und tief im Inneren wusste sie, dass seine Gefühle für sie auch noch vorhanden waren, so unnahbar er sich auch gab. Sie musste nur alles daran setzen, sie wieder zu entfachen. Einzig die Hoffnung, dass ihr das gelang, ließ sie durchhalten und an dieser Ehe festhalten.
Simon führte die Flasche an den Mund und trank. Dann stellte er sie zurück in den Kühlschrank. „Ich gehe jetzt nach oben. Ich muss schließlich noch meine Sachen packen.“
Simon musste für die Firma mit einem Mitarbeiter für zehn Tage auf Geschäftsreise nach China, um dort ihren Kunden vor Ort ein neues Internetmarketingkonzept vorzustellen, das er mit seinem Team entwickelt hatte. Bei erfolgreichen Verhandlungen konnten daraus auch gut ein paar Wochen werden, weil sie dann zur Einarbeitung bleiben würden. Er ging an ihr vorbei in den Flur und nach oben. Sie hörte, wie er die Badezimmertür öffnete und wieder schloss. Dann wurde der Wasserhahn aufgedreht. Er putzte sich die Zähne. Sie nutzte die Gelegenheit. Seine Fragerei hatte sie ganz unsicher gemacht. Wenn er so zu ihr war, blockierte sie immer. Dann konnte sie sich nie an etwas erinnern. Jetzt fiel es ihr wieder ein, wann sie ihre Tochter zuletzt gesehen hatte. Und es war ein sehr unerfreuliches Zusammentreffen gewesen. Es war nach der Schule. Merle hatte die Tür aufgeschlossen und war sofort nach oben verschwunden.
„Merle!“ hatte sie ihr nachgerufen, aber ihre Tochter hatte nicht reagiert.
Sie hatte ihr nachgehen wollen, aber sie war so müde gewesen. Was sollte es? Dann sprach sie eben mit ihr, wenn sie wieder runter kam. Es dauerte nicht lange und sie hörte ihre Schritte auf der Treppe.
„Merle!“
Sie hörte, wie sie kurz Halt machte, dann aber weiter ging, als ob sie nichts gehört hatte. Jetzt reichte es. Sie ging Richtung Diele.
„Merle!“
„Was ist?“
Was war das wieder für ein netter Ton?! Ihre Tochter stand am Fuß der Treppe. Und Cordula stockte der Atem.
„Was hast du da in der Nase?“
„Wonach sieht es aus?“
Cordula ging auf sie zu. „Wer hat dir erlaubt, einen Nasenring stechen zu lassen?“
„Mein Gott! Reg dich ab.“
„Ich hab dich was gefragt.“ Cordula merkte selbst, wie schrill ihre Stimme wurde.
„Alle meine Freundinnen haben einen.“
Wieder keine Antwort. Sie wusste, dass sie konsequenterweise weitermachen musste, aber sie fühlte sich einfach nicht. Und es war ja nicht nur dieser verdammte Ring.
„Sag mal, ist der Rock nicht ein bisschen kurz? Und musst du dich so anmalen?“
Merle legte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf. „Hast du noch was Wichtiges? Ich müsste nämlich sonst...“
„Ich möchte, dass du mir eine vernünftige Antwort gibst.“
„Dann stell eine vernünftige Frage.“
Cordula zuckte zurück. „Musst du immer so frech sein?“
Merle zuckte nur mit den Achseln. Sie hätte sie schütteln mögen, aber sie zweifelte daran, dass Handgreiflichkeiten zu ihren Gunsten ausgehen würden, denn ihre Tochter war ziemlich groß für ihr Alter. Und das war es, was ihr zusätzlich Sorgen machte. Man hielt sie für älter, als sie tatsächlich war. Und wer wusste, wo sie mit dem Aufzug überall reinkam. Ihr hellblauer Rock war mehr als kurz, und das Top ließ deutlich erkennen, dass sie ziemlich entwickelt war. Sie selbst war ja schon ein Frühentwickler gewesen, aber Merle schlug sie noch. Ihr langes, blondes Haar trug sie offen und lange Ohrringe mit Ornamenten hingen ihr bis fast auf die Schultern.
„Frau Sonntag hat angerufen.“
Merle verdrehte die Augen. „Was wollte die denn?“
„Sie hat mir erzählt, dass sie dich heute aus dem Unterricht nach Hause geschickt haben.“
„Und?“
„Mehr hast du nicht dazu zu sagen?“
„Nein.“
„Du sollst deine Mitschüler und deine Lehrerin ganz schlimm beschimpft haben.“ Frau Sonntag hatte sich geweigert, diese Dinge zu wiederholen, aber Cordula konnte sich lebhaft vorstellen, was da so an Ausdrücken gefallen sein konnte.
„Das sind solche Vollidioten.“
„Warum hast du das gemacht?“
„Weil die alle verklemmt sind. Und Frau Sonntag ist die Schlimmste.“
Cordula wusste, dass sie so nicht weiterkommen würde und schlug eine andere Richtung ein. „Wieso kommst du erst jetzt?“
Sichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, schien ihre Tochter plötzlich auf derutHH Hut.
„Ich war noch in der Stadt.“
Es war klar, dass sie genau da nicht gewesen war.
„Wo willst du hin?“
„Mama! Das ist meine Sache.“
Cordulas Blick fiel auf den Rucksack. Es juckte sie in den Fingern, den zu untersuchen. „Das ist es nicht. Nicht seit vorhin. Du bleibst hier.“
„Nein.“
„Wenn du nicht willst, dass dein Vater von der Geschichte in der Schule erfährt...“
„Immer wenn du nicht weiterweißt, bringst du Papa ins Spiel.“
„Also geh nach oben und zieh dich um.“
Das Gefühl, am längeren Hebel zu sitzen, hielt nur ein paar Sekunden an.
„Ach Mama“, sagte Merle. „Was soll das bringen? Am Ende liegst du doch nur besoffen irgendwo herum. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe und fängst gleich damit an?“
Cordula war fassungslos. Wie zum Teufel redete sie mit ihr? Sie war schließlich ihre Mutter, da war doch wohl ein wenig Respekt angebracht. Zu geschockt, um zu reagieren, sah sie ihrer Tochter zu, wie sie in aller Seelenruhe das Haus verließ. Und dann hatte sie sich, frustriert darüber, dass sie gegen Merle nicht ankam, fast die ganze Flasche Wodka reingezogen. Dass sie damit genau das tat, was ihre Tochter prophezeit hatte, war ihr egal. Es ging nur darum, dass es ihr besser ging. Und das gelang ihr schließlich immer mit einem kleinen Schluck. Nur dass es dabei meist nicht blieb. Aber was hätte sie auch tun sollen? Sie aufhalten? Sie kannte ihre Tochter genau. Hätte sie das versucht, hätte Merle bei nächster Gelegenheit irgendetwas von Alkohol gegenüber ihrem Vater erwähnt. Und das musste ja nun nicht sein.
Was jetzt? Sie hatte keine Ahnung, ob Merle irgendwann zurückgekommen war. Aber das konnte sie Simon gegenüber ja wohl schlecht zugeben. Außerdem war Merle immer da, bevor ihr Vater am Mittwoch nach Hause kam. Es gab strenge Regeln bei ihnen und eine besagte, dass Merle unter der Woche spätestens um acht Uhr zu Hause war, es sei denn, es gab irgendeine Veranstaltung, zu der sie geladen war. Auch wenn Cordula so ihre liebe Mühe mit ihr hatte, mit ihrem Vater wollte sie es sich nicht so schnell verderben. Deshalb war sie doch bestimmt oben. Sie hatte sich rein geschlichen, als sie weggedöst war. Ganz bestimmt. Sie würde doch nicht unnötig Stress wollen.
Auch wenn Cordula sich das innerlich alles schön redete, ein bisschen beunruhigt war sie schon. Vielleicht sollte sie doch mal kurz nach Merle sehen. Sie würde sie wahrscheinlich keines Blickes würdigen, aber zumindest hatte sie dann Gewissheit. Also ging sie hastig die Treppe hinauf und zu Merles Zimmer. Sie horchte an der Tür, ob der Fernseher lief. Nichts. Ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend stellte sich ein. Sah Merle nicht sonst immer lange fern oder saß vor dem Computer? Auch so eine neue Angewohnheit von ihr, diese Stunden um Stunden vor dem Kasten. Als sie ihr den Computer gekauft hatten, schien es zunächst eine Fehlinvestition zu sein, so wenig Beachtung schenkte sie ihm. Auch die vielen Hausaufgaben, bei denen sie ihn zur Hilfe nehmen musste, änderten nichts daran, dass er meist ausgeschaltet blieb. Und dann auf einmal war sie kaum mehr wegzubekommen von dem Ding, wenn sie sich nicht gerade draußen aufhielt. Cordula hatte keine Ahnung, was sie da trieb und auf welchen Seiten sie herumsurfte und ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie das auch gar nicht so genau wissen wollte. Langsam drückte sie die Klinke hinunter. Sie schob die Tür ein wenig auf und sah ihre Befürchtungen bestätigt. Die Vorhänge waren aufgezogen und das Bett unberührt. Das Zimmer war leer.
Merle war nicht da.