„Herr Waldow“, sagte Funke mit zuckersüßer Stimme. „So schnell sehen wir uns wieder. Hätten Sie das gedacht?“
Karsten Waldow sah alles andere als glücklich aus, wie Glen feststellen musste. Er wirkte längst nicht mehr so selbstgefällig wie am Tag zuvor. Es war, als ob er ahnte, dass es eng für ihn werden würde. Nach der Aussage von Frau Eggers war klar, dass Waldow am Mittwoch in der Straße der Kellers gewesen war. Funke hatte begeistert in die Hände geklatscht, als Roman und Doreen mit der Nachricht ankamen. Schon bevor die Bestätigung durch das von der Frau notierte Kennzeichen kam, hatte er keine Zweifel.
„Bingo! Ich hab’s gewusst. Dieser Sack hat Dreck am Stecken. Komm, Glen. Dem machen wir gleich die Hölle heiß.“
Sie waren wie die Irren nach Hamburg gerast. Auf der Fahrt hatten sie darüber beratschlagt, was es bedeuten konnte, dass Waldow in der Nähe der Kellers gewesen war.
„Meinst du, er hat Sina getötet?“ Glen war davon nicht überzeugt.
„Ich weiß nicht. Aber er hat uns belogen, und dafür gibt es sicher einen Grund.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, was er durch den Mord gewinnen könnte. Außer seiner Rache an Almut Keller vielleicht und da scheint mir ein Mord etwas übertrieben.“
„Vielleicht hat er es nicht mit Absicht getan.“
Glen ließ sich Funkes Worte durch den Kopf gehen. „Du meinst, er hat Sina abgefangen, hat mit ihr geredet und dabei ist es dann passiert?“
„Klingt komisch, oder?“ Funke klang jetzt auch skeptisch.
„Die Frage ist auch, wo das Messer herkam. Hatte er es dabei?“
Funke schwieg einen Augenblick. „Vielleicht ist es ganz anders gewesen. Pass mal auf. Waldow will Almut erschrecken. Also macht er sich an die Tochter ran, damit Almut dann später panisch wird. Er klingelt, Sina lässt ihn herein. Wahrscheinlich erzählt er ihr irgendeine Geschichte über die Arbeit oder so. Eigentlich hat er nichts Böses im Sinn. Aber irgendetwas geht dann schief und er greift zu einem Messer aus der Küche und sticht Sina nieder.“
Glen nickte. „Klingt gut. Aber wie kommt die Leiche in Masios Hütte?“
„Das müssen wir dann noch herausfinden.“
Sie brauchten dieses Mal nicht einmal eine Stunde, bis sie auf den Parkplatz vor dem Bürogebäude fuhren. Irgendwie hatten sie scheinbar grüne Welle gehabt. Sie warteten nicht, bis sie von seiner Sekretärin angemeldet wurden und stürmten in sein Büro. Waldow sprang von seinem Stuhl auf, zu überrumpelt, um etwas auf Funkes Begrüßung zu erwidern.
„Sie haben uns gestern nicht die Wahrheit gesagt.“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Sein Verhalten sprach allerdings eine andere Sprache. Er machte seinen Hemdkragen weiter. Bekam er nicht genug Luft?
„Sie waren am Mittwochnachmittag in der Elswigstraße. Nur ein paar Meter vom Haus der Kellers entfernt. Und Sie brauchen jetzt nicht herumzulügen. Wir haben eine Zeugin, die Sie dort gesehen hat.“
Er stöhnte auf. „Scheiße. Ich hab gewusst, dass die blöde Schnepfe das nicht vergessen hat.“
„Sie streiten es also nicht ab?“
„Hat ja wohl keinen Sinn, oder?“
Funke warf Glen einen Blick zu. Es war offenbar eine andere Reaktion, die er erwartet hatte.
„Dann schießen Sie mal los. Was hatten Sie dort zu suchen?“
„Es ist, wie Sie vermutet haben. Ich wollte mich an Almut rächen.“
„Und wie genau sollte diese Rache aussehen?“
Er strich sich mit der flachen Hand über den kurzgeschorenen Kopf. „Das hatte ich mir noch nicht so richtig ausgemalt.“
„Erzählen Sie uns keinen Scheiß“, entfuhr es Funke. „Sie wussten doch, dass Almut Keller noch arbeitete und noch bis zum Abend in Hamburg sein würde. Was haben Sie also vor ihrem Haus zu suchen gehabt?“
„Ich hab halt gedacht, vielleicht finde ich dort etwas, das ich für meine Rache benutzen kann.“
„Blödsinn.“ Glen schüttelte den Kopf. „Sie haben gesehen, wie die Töchter von Frau Keller von der Schule nach Hause gekommen sind und haben dann die ältere wieder gehen sehen. Dann haben Sie sich unter einem Vorwand Zutritt ins Haus verschafft. Und was ist dann geschehen? Sagen Sie es uns.“
Er riss die Augen auf. „Nein. Ich bin nie in dem Haus gewesen.“
„Doch das sind Sie.“ Funke haute in die gleiche Kerbe. „Sie sind getürmt, als Frau Eggers sie ansprechen wollte. Wahrscheinlich sind Sie nur einmal um den Block gefahren und haben Ihren Wagen dann so abgestellt, dass sie ihn nicht sehen konnte. Dann sind Sie rein.“
„Nein“, rief Waldow und öffnete noch einen Knopf von seinem Hemd, sodass die Krawatte komplett auf halb acht hing. „Ich war nicht in Almuts Haus. Ich habe es noch nie betreten.“ Er streckte die Hände aus. „Nehmen Sie doch meine Fingerabdrücke und vergleichen das dann mit denen im Haus. Ich bin sicher, meine finden Sie dort nicht.“
„Weil sie alles abgewischt haben, bevor Sie sich aus dem Staub gemacht haben.“
Waldow zeigte Glen einen Vogel. „Nein. Weil ich nie dort gewesen bin.“
„Kommen Sie, Herr Waldow.“ Funkes Stimme hatte einen ganz sanften Klang angenommen. „Es hat doch keinen Sinn. Geben Sie es zu. Sie waren dort, weil Sie nach etwas gesucht haben, wie Sie es Almut Keller heimzahlen können. Aber irgendetwas ist dabei ganz schrecklich schief gelaufen. Und plötzlich liegt da eine Leiche, die Sie verschwinden lassen müssen.“
Waldow lehnte sich zurück. Sein Blick war unstet, wanderte von einem zum anderen und Glen dachte schon, dass sie ihn so weit hatten.
„Ich will einen Anwalt“, enttäuschte er ihn dann aber schließlich. „Ohne den sage ich gar nichts mehr.“
Judith Keller wusste nicht so recht, was sie von der plötzlichen Verbrüderung ihrer Eltern halten sollte. Sie war mehr als überrascht gewesen, man konnte es schon schockiert nennen, sie so einträchtig beisammen zu sehen, als sie sie zu ihnen hinuntergerufen hatten, denn eigentlich war sie es gewohnt, dass man sie keine fünf Minuten allein lassen konnte, bis sie sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Dass ihr Vater die vergangene Nacht bei ihnen auf dem Sofa verbracht hatte, war ganz schön schräg. Ihr war das irgendwie nicht geheuer. Ging es ihnen wirklich nur darum, gemeinsam etwas über Sinas Tod herauszufinden oder steckte mehr dahinter? Ihr Vater hatte Janine zwar verlassen, aber doch wohl nicht, um zu ihrer Mutter zurückzukehren. Und selbst wenn, sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Trauer um den Verlust der Tochter ein geeigneter Gradmesser für die Gefühle füreinander sein konnte. Aber wenn sie sah, wie ihre Mutter sich in Gegenwart ihres Vaters verhielt, war es schon möglich, dass sie sich Hoffnungen machte.
Als ihre Mutter nach oben gegangen war, um sich für einen Besuch bei Zoe umzuziehen, hatte sie ihren Vater kurz beiseite genommen.
„Was ist hier los, Papa?“ hatte sie ihn gefragt.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Er konnte ihrem Blick nicht begegnen, was seine Worte Lügen strafte.
„Doch, das weißt du. Ich rede von dir und Mama.“
„Wir haben uns für Sina zusammengerauft. Mehr ist da nicht.“
Sie musste an Janines Bitte denken und so gern sie als Tochter ihre Eltern auch vereint sah, wusste sie dennoch, dass die beiden keine gemeinsame Zukunft hatten.
„Du hast Janine verlassen.“
Er starrte sie an. „Woher weißt du das? Hast du gelauscht?“
„Ich weiß es eben.“ Sie würde Janine nicht verraten. „Papa, das ist ein Riesenfehler.“
Er war aufgestanden und unruhig auf und ab gelaufen. „Bitte Judith, misch dich da nicht ein. Was zwischen Janine und mir passiert ist, geht dich nichts an.“
Er sah auf die Uhr. „Was treibt deine Mutter nur so lange da oben?“
Sie ließ sich nicht ablenken. „Ich bin deine Tochter, da geht es mich schon etwas an, finde ich. Mach Mama bitte keine falschen Hoffnungen. Sie braucht jetzt jemanden, also ist es vielleicht gut, dass du für sie da bist, aber benutze sie nicht als Trost dafür, dass du Janine verloren hast, vor allen Dingen nicht, solange du das mit Janine nicht eindeutig geklärt hast.“
Er blieb stehen. „Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir?“
Wie sie es noch nie getan hatte. Sie war über sich selbst erstaunt. Aber eine Krise brachte ja bekanntlich oft Ungeahntes zutage.
„Wie eine Erwachsene. Papa, ich bin sechzehn. Und im Moment finde ich, dass ich mich erwachsener verhalte als ihr beide.“
Ihr Vater hatte die Augen zusammengekniffen. „Wenn du so erwachsen bist, warum sagst du uns dann nicht endlich, wo du wirklich warst, als Sina ermordet wurde?“
Das saß. Sie war zurückgezuckt. Der Fund des Tagebuchs hatte ihr ein wenig Zeit verschafft, mehr anscheinend nicht. „Weil ich auch eine Privatsphäre habe, die ihr zu respektieren habt.“
Es war das erste, das ihr eingefallen war und gar nicht mal so schlecht, wie sie fand. Sie konnte ihm schließlich nicht sagen, dass sie sich regelmäßig mit einem Kollegen ihrer Mutter traf, der mindestens so alt war wie er und in den sie sich verliebt hatte. Ihre Eltern wären ausgeflippt und das wohl nicht zu Unrecht. Allerdings würde sie früher oder später mit der Wahrheit rausrücken müssen, denn sie konnte die beiden ja nicht ewig anlügen. Nur musste sie das zuvor mit Andreas absprechen.
Sie war nach dem kurzen Wortwechsel mit ihrem Vater selbst nach oben geeilt und hatte darauf gewartet, dass ihre Eltern das Haus verließen. Dann hatte sie kurz bei Birthe angerufen, um zu fragen, ob sie zu Hause war und hatte sich zu ihr auf den Weg gemacht. Sie brauchte keine fünf Minuten.
„Komm rein“, sagte Birthe, nachdem sie ihr geöffnet hatte. „Ich rauch gerade eine.“
Judith ließ ihre Jacke an und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo ihre Tante sich an die offene Balkontür begab und ihre Zigarette aus dem Aschenbecher in der linken Hand zum Mund führte. Sie sah nicht gut aus. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe, sie war blass und ihr Haar in einem unordentlichen Zopf nach hinten gebunden. Der Verlust ihrer Nichte war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen.
Die geöffnete Balkontür ließ ordentlich kalte Luft ins Zimmer. Judith fröstelte trotz Jacke und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie hielt Birthe das in ihrem Sweatshirt aus?
Ihre Tante bemerkte, dass ihr kalt war. Sie drückte ihre Kippe im Aschenbecher aus, stellte ihn auf dem Tisch am Fenster ab und schloss anschließend die Tür. „Frostbeule“, sagte sie.
„Frierst du nicht?“
Birthe kam auf sie zu und hielt ihr die Hand für ihre Jacke entgegen. „Ich hab mich dran gewöhnt. Ole hasst es, wenn es drinnen nach Rauch riecht.“
Sie reichte ihr die Jacke. „Hast du frei?“
Birthe nahm sie ihr ab. „Die ganze Woche. Ich kann nicht zur Arbeit.“
„Ich geh auch nicht zur Schule.“
„Das dachte ich mir.“
Während Birthe mit der Jacke in den Flur ging, setzte Judith sich auf das Sofa. „Ich hab Sinas Tagebuch gefunden“, rief sie ihr hinterher.
„Was?“ kam es aus dem Flur zurück
„Sina hat ein Tagebuch geschrieben.“
Birthe tauchte im Türrahmen auf. „Wusstest du, dass sie eins geführt hat?“
„Ich hatte keine Ahnung. Ich hab es nur durch Zufall gefunden.“
Birthe setzte sich zu ihr. „Hat denn die Polizei nicht ihr Zimmer nach Hinweisen durchsucht?“
„Ich denke schon. Aber Sina hatte es gut versteckt.“
„Ach so.“ Birthe holte ihren Zopf nach vorne und betrachtete ihre Haarspitzen. „Und? Hast du drin gelesen?“
„Ein bisschen.“
„Steht denn was Interessantes drin?“
„Das kann man schon sagen.“
Ihre Tante ließ ihre Haare Haare sein und widmete sich ihr. „Auch was über uns? Über Ole und mich?“
Sie hatte über Ole gelesen, dass er irgendwie von der Website erfahren hatte und wie Sina damit umgegangen war, aber darum ging es ihr nicht.
„Nur über dich.“
„Über mich?“
Wieso war sie darüber verwundert? „Na ja, deinetwegen hat sie ja ein Versteck für das Buch gesucht.“
Sie verzog das Gesicht. „Wegen neulich? Als wir uns so gestritten haben?“
„Was hast du in Sinas Zimmer gemacht?“
„Deshalb bist du hier?“
„Ich verstehe es nicht. Wie konntest du Sinas Vertrauen so missbrauchen?“
Birthe lachte freudlos. „Komm Judith, wach auf. Sinas Vertrauen? Das war doch schon lange weg. Ich hab mir den Arsch für euch aufgerissen und was war der Dank dafür?“
„Du wirst doch bezahlt.“
„Jetzt redest du genau wie deine Schwester. Als ob das Geld, das ich von eurem Vater bekomme, mich reich machen würde. Es sind zweihundert Euro im Monat, wenn du es genau wissen willst. Und jetzt rechne mal die Stunden zusammen, die ich dafür für euch da war.“
Sie sah sie auffordernd an und Judith überschlug es im Kopf. „Na ja...“
Es war erschreckend wenig und ihre Tante konnte ihre Gedanken lesen. „Siehst du? Es war eine Entschädigung, mehr nicht. Und was ist so schlimm daran?“
Sie musste zugeben, dass sie das auch nicht sehen konnte. Aber darum ging es ja auch nicht. „Trotzdem frage ich mich, was du in ihrem Zimmer gewollt hast.“
„Ganz ehrlich? Ich hatte die Schnauze gestrichen voll von deiner Schwester. Wie sie mich behandelt hat, seitdem sie wusste, dass dein Vater mir Geld gibt. Als ob ich irgendeinen Ausschlag gehabt hätte. Als ob ich eine Dienstmagd wäre, die nur dazu da ist, hinter ihr her zu räumen, aber dafür kein freundliches Wort verdient hat.“
„Ich glaube, Sina war einfach in einer schwierigen Phase. Wenn ich da sehe, was sie über mich alles geschrieben hast, dann bist du noch relativ glimpflich weggekommen.“
„Im Ernst?“
„Ja.“
„Ich hab jedenfalls gedacht, so kann das nicht weitergehen. Ich bin mir sicher, dass ihre Veränderung was mit Bent zu tun hatte und ich dachte, vielleicht finde ich in ihrem Zimmer etwas, das mir weiterhilft. Aber dabei hat Sina mich dann ertappt.“
„Inwiefern sollte dir das helfen, was du in ihrem Zimmer findest?“
„Ich weiß auch nicht. Ich dachte, wenn ich einen Beweis habe, dass sie da in irgendwas mit deinem Freund verwickelt ist, dann hätten deine Eltern mehr Veranlassung, sich mal um sie zu kümmern oder so.“
Es war bei allen dasselbe. Was Sina betraf, waren sie an ihre Grenzen gestoßen.
Und? Hast du was gefunden?“
„Fünfhundert Euro. Aber so wie Sina reagiert hat, als ich ihr das Geld vor die Nase gehalten haben, war ich mir sicher, dass da noch mehr war.“
„Warum hast du mir nie von deinem Verdacht erzählt, dass zwischen Sina und Bent etwas läuft?“
Birthe legte den Kopf schief. „Mal ehrlich, Judith. Hättest du mir etwa geglaubt?“
Sie dachte darüber nach. „Das wahrscheinlich nicht. Aber ich wäre vielleicht aufmerksamer gewesen.“
Birthe brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann klang ihre Stimme hastig. „Ich hatte Recht. Es lief etwas zwischen den beiden. Steht das im Tagebuch?“
„Das auch. Aber ich wusste es schon vorher.“ Sie erzählte ihr von der Website.
Birthe war entsetzt. „Ach du Scheiße! Ich hab ja geahnt, dass Bent ein Arschloch ist, aber das ist ja das Allerletzte. Und war sie die einzige oder hat Bent noch mehr Mädchen dazu gebracht?“
„Mindestens eins noch.“ Sina erzählte ihr von dem Streit, den sie zwischen Bent und seinem Schwager mitbekommen hatte.
„Der schreckt echt vor nichts zurück, oder? Seine eigene Nichte.“ Sie warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Und wie geht es dir dabei? Ich meine, schließlich war er ja dein Freund.“
„Ach weißt du, ich wollte das mit ihm schon länger beenden, deshalb ist das jetzt nicht so schlimm. Trotzdem ist es natürlich nicht sehr angenehm, so hintergangen zu werden.“
Birthe rückte näher an sie heran und nahm sie in den Arm. „Ach komm her, du Ärmste. Du bist ziemlich tapfer.“
Es tat gut, jemanden um sich zu haben, der einen mal nicht mit stummen oder auch ausgesprochenen Vorwürfen konfrontierte. Sie lehnte sich an sie.
„Und was sagt die Polizei?“ fragte Birthe nach einer Weile vorsichtig. „Verdächtigen sie Bent?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Scheinbar nicht.“
„Was? Haben die denn bei ihm schon alles untersucht?“
„Ich weiß es nicht. Die erzählen uns ja auch nicht alles.“
Ihre Tante überlegte einen Augenblick. „Wissen die, dass er diese Hütte auf dem Priwall hat?“
„Ja, ich hab ihnen davon erzählt. Wenn es also irgendwo Spuren gibt, finden sie die auch. Aber irgendwie scheinen die nicht daran zu glauben, dass Bent Sina ermordet hat.“
„Und wer soll es sonst gewesen sein? Einer von den Perversen auf der Seite?“
„Nein. Die Polizei geht von einem persönlichen Motiv aus.“
Birthe hielt den Atem an und ließ sie los. „Was soll das heißen? Die verdächtigen jemanden aus der Familie?“
„Nicht unbedingt, aber auf jeden Fall jemanden, den sie kannte. Sie wissen ja immer noch nicht, mit wem Sina verabredet war.“
„Steht denn nichts darüber im Tagebuch?“
„Nein.“
„Wo ist das überhaupt?“
„Meine Eltern haben es.“ Mehr sagte sie nicht. Sie wollte die Sache mit Zoe so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis verbannen.
„Geben sie es nicht der Polizei?“
„Ich glaube, sie wollen erst mal sehen, was drin steht.“
Funkes Team saß in seinem Büro und wartete jetzt seit fast einer Stunden gespannt, was das Gespräch zwischen Waldow und seinem Anwalt bringen würde. Funke und Behrend hatten Waldow nach Lübeck mitgenommen, sobald der nach seinem Anwalt verlangt hatte. Auf keinen Fall hätten sie die Befragung in seinem Büro fortgesetzt. Wenn er schon auf seine Rechte pochte, dann aber nach ihren Regeln. Während der Fahrt war absolutes Stillschweigen angesagt und Funke konnte kaum fassen, wie lange siebzig Minuten sein konnten. Er hatte Waldow immer wieder im Rückspiegel beobachtet und dabei festgestellt, dass er irgendwie unbeteiligt wirkte, wie er da so saß und aus dem Fenster schaute. Von der Hibbeligkeit in seinem Büro war nichts mehr zu merken. Seltsam. Er war sicher, dass der Mann Dreck am Stecken hatte, seine Rachegelüste gegenüber Almut Keller hatte er ja schon zugegeben, aber ob er wirklich der Täter war? Hätte er dann nicht nervöser sein müssen? Im Büro war er es, aber da hatte es ihn auch unvorbereitet getroffen. Die Bitte um einen Anwalt hatte ihm jetzt Zeit verschafft, in Ruhe über die Strategie nachzudenken, nach der er mit seinem Anwalt verfahren wollte. Genau um die Frage nach Waldows Schuld drehten sie sich, seitdem sein Anwalt erschienen war und sich zur Beratung mit seinem Mandanten zurückgezogen hatte.
„Ich hab ein komisches Gefühl“, sagte Siewers, die an der Fensterbank lehnte.
Funke raufte sich die Haare. „Sie immer mit Ihrem Gefühl.“
„Kommen Sie. Bei Tuchel lag ich ja auch nicht so falsch.“
„Das ist es ja eben.“
Siewers verkniff sich ein Grinsen. Sie wusste, dass Funke ihr auf diese Art ein Kompliment gemacht hatte. „Vielleicht hat Waldow Sina tatsächlich umgebracht, aber ich sehe beim besten Willen keine Verbindung zu Masio. Wieso sollte er die Leiche in Masios Hütte gebracht haben?“
„Dass er die Leiche weggebracht hat, wundert mich jetzt nicht.“ Roman, der neben Behrend vor Funkes Schreibtisch saß, strich sich über seine Oberlippe, mal wieder vergessend, dass da kein Bart mehr war. „Frau Eggers hatte ihn gesehen, deshalb musste die Leiche aus dem Haus verschwinden.“
„Und wie hat er das gemacht, deiner Meinung nach?“ Siewers sah ihn herausfordernd an. „Meinst du, er hat am helllichten Tag die Leiche in sein Auto verfrachtet?“
Daran hatte Funke überhaupt noch nicht gedacht.
„Vielleicht ist er ja in die Garage gefahren?“ schlug Behrend vor.
„Und das hat keiner der Nachbarn gesehen?“ Siewers Skepsis war angebracht. Es klang auch in Funkes Ohren alles nicht richtig.
„Und außerdem kennt er doch Masio gar nicht. Woher sollte er also von der Hütte gewusst haben?“
Sie dachten eine Weile über Siewers’ Anmerkungen nach. Es war Roman, der sich als erstes fing. „Frau Eggers hat doch gesagt, dass sie den Wagen schon häufiger dort gesehen hatte. Vielleicht hat Waldow mal gesehen, wie Judith oder Sina von Bent nach Hause gefahren worden sind und er ist ihm daraufhin mal nachgefahren.“
„Und dann hat er Nachforschungen über ihn angestellt und so von der Hütte erfahren.“ Funke nickte langsam. „Ist weit hergeholt, aber so könnte es zumindest gewesen sein.“
Er fühlte Siewers’ Blick auf sich ruhen. „Sie glauben auch nicht, dass er der Täter ist.“
Jetzt waren alle drei Augenpaare auf ihn gerichtet. Er seufzte. „Nein, Sie haben Recht. Ich bin nicht davon überzeugt, auch wenn ich den Typen nicht ausstehen kann. Irgendetwas stört mich an unserer Theorie. Sie ist nicht wirklich schlüssig. Das Motiv ist schwach, selbst wenn der Mord im Affekt passiert ist. Und die Punkte, die Sie anführen, Siewers, die haben mir auch schon Kopfzerbrechen gemacht.“ Er schüttelte den Kopf. „Es macht mich wahnsinnig, dass scheinbar alle Spuren im Nichts verlaufen. Wir müssen davon ausgehen, dass der Täter aus dem direkten Umfeld stammt, aber alle, die vielleicht in Frage kommen, sind es offensichtlich nicht gewesen. Masio scheidet aus, die Müllers waren es wohl auch nicht. Es ist zum Verzweifeln.“
„Da wäre immer noch Judith.“
Funke sah Behrend an. „Ich weiß. Irgendwie scheint alles zu ihr zurückzukommen.“
„Sie hat kein Alibi. Sie kann ihre Schwester ermordet haben, und dass die Leiche dann bei Masio landet, passt auch zu ihr.“
Siewers nickte Roman zu. „Weil sie damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt und sich an den beiden Menschen rächt, die sie hintergangen haben.“
„Klingt einleuchtend.“
Behrends langgezogener Ton schrie förmlich nach einem Aber, das dann auch kam. „Aber sie ist sechzehn. Wie soll sie die Leiche in die Hütte transportiert haben? Es sei denn, sie hatte Hilfe.“
„Eben“, sagte Funke. „Und ich weigere mich einfach zu glauben, dass sie ihre Schwester auf dem Gewissen hat.“
Es klopfte an der Tür.
„Herein“, rief Funke und Waldows Anwalt, ein gewisser Dr. Herrmann, betrat den Raum, gefolgt von seinem Mandanten.
„Mein Mandant ist jetzt bereit, eine Aussage zu machen.“ Herrmanns Stimme klang nasal, so als ob er erkältet war, aber dafür gab es sonst keinerlei Anzeichen. Funke vermutete, dass er sich diesen Tonfall absichtlich angeeignet hatte, um besonders elitär zu wirken. Leider fehlgeschlagen. Herrmann war groß, an die einsneunzig, schlank und vielleicht Mitte Fünfzig. Sein Anzug entsprach in etwa dem seines Klienten, unauffällig aber teuer. Sein kurzes, dunkles Haar war grau meliert und vorne reichlich dünn. Auf halber Höhe hatte er eine schmale Lesebrille sitzen, über die er mit schmalen Augen hinwegsah.
Funke zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, von dem Roman eben aufgesprungen war. „Setzen Sie sich bitte, Herr Waldow.“
Er folgte seiner Bitte, während Dr. Herrmann etwas versetzt hinter ihm stehen blieb. Behrend rückte mit seinem Stuhl etwas von Waldow ab, um ihm mehr Raum zu geben. Funke musterte den Verdächtigen. Er wirkte müde, aber nicht unruhig. Seine Krawatte hatte er mittlerweile abgenommen, sein Sakko ausgezogen und die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes trug er offen. Die Ärmel seines hellblauen Hemds hatte er hochgekrempelt.
„Nun, Herr Waldow? Was haben Sie uns zu sagen?“ fragte Funke, nachdem er das Aufnahmegerät angeschaltet und die beteiligten Personen genannt hatte. Die Befragung würde hauptsächlich über ihn als den leitenden Ermittler laufen, damit die Aufnahme später nicht zu unübersichtlich wurde.
„Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen?“
Funke gab Roman ein Zeichen, der sofort das Büro verließ, um der Bitte nachzukommen.
„Wie ich Ihnen schon gesagt habe, hab ich versucht, mich an Almut Keller zu rächen.“
„Also stimmt es, dass Sie Frau Keller angerufen und ihr gedroht haben.“
Er nickte langsam.
Funke zeigte auf den Rekorder. „Sie müssen die Fragen laut beantworten.“
„Ja.“
„Was ja?“
„Ja, ich habe Frau Keller angerufen und ihr gedroht.“
„Sie haben ihr ihre Tochter beschrieben. Woher kennen Sie Judith Keller?“
„Ich habe das Haus beobachtet und somit beide Töchter gesehen.“
Roman kam mit einer Flasche Evian und ein paar Gläsern zurück. Er goss eines davon voll und reichte es Waldow, der gierig daraus trank.
„Was genau haben Sie am Mittwochnachmittag, am Tag des Mordes an Sina Keller, vor dem Haus der Kellers gemacht?“
Er drehte sich nach seinem Anwalt um, der ihm aufmunternd zunickte. „Sagen Sie einfach, was Sie mir gesagt haben.“
Funkes Skepsis wuchs. Waldow hatte Herrmann sicher nichts von einem Mord erzählt, sonst hätte seine Reaktion anders ausgesehen.
Waldow stellte das halbleere Glas vor sich auf den Tisch. „Ich war dort, weil ich mit ihrer Tochter verabredet war.“
„Was?“ Funke konnte sich nicht beherrschen, aber seinen Kollegen ging es nicht anders, denn die Frage war auch Behrend und Siewers rausgerutscht. Waldow war Sina Kellers Verabredung gewesen? Seinetwegen hatte sie ihre Familie belogen?
„Sie waren mit Sina Keller verabredet? Wieso wollten Sie sich mit einem vierzehnjährigen Mädchen treffen?“
„Sie haben mich missverstanden. Mit Sina Keller hab ich niemals ein Wort gewechselt. Ich war mit Judith Keller verabredet.“
Funke wäre fast von seinem Stuhl gekippt. „Mit Judith?“
„Ja.“
„Wozu? Was wollten Sie mit Judith tun?“
Wieder der Blick hinter sich. „Sagen Sie es ruhig“, sagte Herrmann.
„Wir wollten zusammen sein.“
Funke kniff die Augen zusammen. „Zusammen sein?“
Waldow rückte unruhig auf seinem Stuhl herum. „Hören Sie, ich bin nicht stolz darauf, aber ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen, ehrlich nicht.“
„Sie wissen schon, dass Sex mit Minderjährigen strafbar ist.“
„Mein Mandant hat keinen Sex mit einer Minderjährigen gehabt.“ Herrmann mischte sich bestimmt in die Befragung ein.
Funke blickte nicht mehr durch. „Dann erklären Sie mal.“
„Ich hab überlegt, wie ich es Almut heimzahlen kann, dass sie mich so dermaßen abserviert hat. Sie müssen das verstehen. Vor zwei Jahren hatten wir eine wunderschöne gemeinsame Zeit, dachte ich zumindest, und von einem Tag auf den anderen wollte sie plötzlich nicht mehr. Sie hat mir nicht einmal einen Grund genannt.“
„Das war sicher hart für Sie, aber können wir vielleicht zum Jetzt kommen?“
„Ich erzähle das ja nur, damit Sie verstehen, was in mir vorgegangen ist.“
Funke winkte ab. „Weiter bitte.“ Er glaubte ohnehin nicht daran, Waldow verstehen zu können. Einer Frau nachzustellen, ihr zu drohen, nachdem ihre Tochter ermordet worden war, damit hatte er sich für jedes Mitgefühl disqualifiziert.
„Ich hab nicht aufgegeben, weil ich sie wirklich geliebt habe. Und dann bekam ich tatsächlich noch eine Chance. Wir haben eine Nacht miteinander verbracht und ich dachte, jetzt wird alles gut.“
„Aber Frau Keller hatte andere Pläne, als mit Ihnen in den Sonnenuntergang zu entschwinden.“ Es war fies, aber er konnte nicht anders.
„Ja. Ich konnte es nicht fassen. Sie hatte mich nur benutzt. Für ihren Trieb. Es war so demütigend. Und dann noch dieser junge Franzose, mit dem sie ungeniert rummachte. Es war einfach zu viel für mich.“
Junger Franzose? Die Keller hatte noch einen Liebhaber? „Also haben Sie versucht, Frau Keller mürbe zu machen.“
„Ja. Ich hab sie immer wieder angerufen, bin ihr über den Weg gelaufen, wenn sie nicht mit mir gerechnet hatte.“
„Mit anderen Worten, Sie wurden zu ihrem Stalker.“
Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Wenn Sie das so ausdrücken wollen.“
„Aber das hat Ihnen nicht gereicht.“
„Nein. Ich musste sie da treffen, wo sie am Verwundbarsten ist. Sie ist Mutter, also musste ich sie über ihre Kinder treffen, irgendwie.“
„Sie haben mit Judith Keller Kontakt aufgenommen?“
„Ja. Ich hatte das Passwort für Almuts Emailkonto herausgefunden und dabei Judiths Adresse entdeckt. Ich hab ihr daraufhin geschrieben, mich als Kollegen ausgegeben, der eine Überraschung zum Geburtstag ihrer Mutter plant.“
„Dann weiß Judith nicht, dass Sie ihr Chef sind?“
„Nein. Ich hab ihr einen falschen Namen gesagt.“
„Wie ging es weiter?“
„Wir haben uns verabredet. Und das mehrmals. Ich hab mir langsam aber sicher ihr Vertrauen erarbeitet.“
„Was genau war Ihr Plan?“
Er zuckte mit den Achseln. „So genau hatte ich darüber noch nicht nachgedacht. Ich wollte Judith so weit bringen, dass sie vielleicht mit mir etwas anfangen würde.“
Funke glaubte ihm kein Wort. Er hatte ganz genau gewusst, wie er vorgehen wollte, aber ob man ihm das nachweisen konnte?
„Und? Wie weit sind Sie gekommen?“
„Judith ist nett. Ich mag sie, und ich denke, sie mag mich auch. Sie hat mir von ihrem Freund erzählt, diesem Motorradfahrer. Im Ernst, wer fährt zu dieser Jahreszeit eigentlich noch mit dem Motorrad?“
„Jemand, der sich kein Auto leisten kann.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist ja auch egal. Jedenfalls gefällt es ihr, wie ich mit ihr rede. Sie kann mir ihr Herz ausschütten. Sie hat das Gefühl, dass ich sie verstehe. Ich glaube, ich hab ihr auch ein bisschen imponiert. Ich meine, ihr jetziger Freund konnte sie kaum zu einer Cola einladen, geschweige denn in ein Drei-Sterne-Restaurant.“
„Sie haben ihr vorgegaukelt, Sie wären an einer Beziehung zu ihr interessiert.“
Er wand sich ein wenig und Funke wusste, dass er ihm jetzt ein Märchen auftischen würde. „Zuerst ja. Aber mittlerweile mag ich sie wirklich sehr. Ich würde nie etwas tun, was sie verletzen könnte.“
Wer’s glaubt... „Deshalb rufen Sie ja auch weiterhin ständig ihre Mutter an, um sie fertig zu machen.“
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“
Ne, ist klar. „Lassen Sie uns also zu letzten Mittwoch kommen. Erzählen Sie uns, wie der Nachmittag aus Ihrer Sicht abgelaufen ist.“
„Ich hab mir den Nachmittag frei genommen und bin gegen halb zwölf aus der Firma, um nach Lübeck zu fahren. Judith und ich wollten uns nach ihrer Schule treffen, ein wenig spazieren fahren.“
Das konnte er seiner Großmutter erzählen. Funke war sicher, dass er das Mädchen ins Bett kriegen wollte und das nicht nur einmal. Er wollte sich seinen Spaß holen und dann irgendwann bei ihrer Mutter die Bombe platzen lassen. Und er wusste, dass Almut Keller nichts gegen ihn unternehmen würde, um ihre Tochter nicht noch ein weiteres Mal demütigen zu lassen.
„Deshalb stand ich in der Nähe ihres Hauses. Doch dann kam sie an meinen Wagen, stieg ein und sagte mir, dass sie Bent nicht versetzen konnte. Sie wollte sich etwas einfallen lassen und wir wollten uns dann später treffen.“
„Sie waren damit einverstanden, dass sie sich weiterhin mit Bent traf?“
„Ja. Auch wenn es mir nicht gefallen hat. Aber damit wir nicht auffliegen, war es besser, sie ließ das mit ihm weiterlaufen.“
„Um welche Uhrzeit kam sie zu Ihnen in den Wagen?“
„Ich würde sagen, es war halb zwei oder etwas danach.“
„Wie lange war sie bei Ihnen?“
„Etwa zehn Minuten. Wir sind ein paar Mal um den Block gefahren, damit sie nicht mit mir gesehen wird und ein paar Straßen weiter hab ich sie rausgelassen. Sie ist dann erst noch zu einer Freundin und dann zu Bent.“
„Und Sie sind zurück in die Elswigstraße und haben die ganze Zeit vor dem Haus gewartet?“
„Nicht direkt davor, aber in der Straße.“
„Bis Frau Eggers herausgekommen ist.“
„Ja. Da bin ich schnell abgehauen und hab eine Straße weiter geparkt.“
„Sie waren nicht im Haus der Kellers?“
Er sah ihn fest an. „Nein, niemals.“
Und so gern er ihn festgenagelt hätte, auch dafür, dass er sich an eine Minderjährige herangemacht hatte, musste er vor sich einräumen, dass er ihm glaubte.
„Wann haben Sie sich mit Judith getroffen?“
„So gegen halb vier. Sie ließ sich von Bent in meiner Nähe absetzen und ich hab sie dann aufgelesen.“
„Wie lange waren Sie zusammen?“
„Wir waren etwas essen, in einem Lokal an der Ostsee in Niendorf. Falls Sie mir nicht glauben, ich hab noch die Rechnung. Danach hab ich sie dann zurückgebracht. So gegen halb sieben etwa.“
Das stimmte mit den Angaben von Masio überein. Und so sehr es ihm auch missfiel, ließ das sowohl ihn als auch Judith vom Haken.
„Ich frage Sie noch einmal. Haben Sie etwas mit Sina Keller zu schaffen gehabt?“
„Nein. Die hab ich an dem Tag gar nicht mehr gesehen, nachdem sie von der Schule nach Hause gekommen war.“
Birthe Retzlaff schloss die Tür hinter ihrer Nichte und lehnte sich von innen dagegen. Sie war froh, dass sie jetzt allein war, um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Die Sache mit dem Tagebuch hatte sie fast umgehauen. Sina war ihr nie wie der Typ erschienen, der sich mit so etwas befassen würde. So konnte man sich täuschen. Na, sie hatte sich scheinbar ohnehin in vielen Dingen getäuscht. Wenn sie nur früher mal auf den Gedanken gekommen wäre, sich in Sinas Zimmer umzusehen, hätte sie vielleicht einiges verhindern können.
Ein bisschen nagte das schlechte Gewissen an ihr, dass sie Judith angelogen hatte. Sie wusste ja schon, dass Sina im Internet posiert hatte und hatte ihr gegenüber so getan, als wäre es eine große Überraschung. Aber sie hatte keine Wahl gehabt, solange sie nicht wusste, wie Ole an die Adresse der Website gekommen war. Sie wollte ihn nicht unnötigen Fragen aussetzen, wenn er auch mit Sina gar nichts weiter zu tun gehabt hatte, wie das Tagebuch wohl bewies. Außerdem hätte ihre Schwester sicher nicht verstanden, warum sie ihr diese Information vorenthalten hatte. Auch nicht verwunderlich. Wann hatte Almut schon jemals etwas nachvollziehen können, was sie betraf? Für Almut war es immer nur um sie selbst und ihre Belange gegangen, andere interessierten sie nicht, solange sie nicht zu einem Hindernis für sie wurden.
Es hatte lange gedauert, bis sie dahinter gekommen war, denn wie viele, die sich in einer komplizierten Familienstruktur befanden, war auch sie unfähig, diese mal von außen zu überblicken. Erst durch Ole wurde ihr allmählich bewusst, was sie für das Wohlergehen ihrer Schwester alles opferte. Früher hatte sie einfach akzeptiert, dass ihre große Schwester der Boss war und sie sich unterzuordnen hatte. Sie war diejenige, die Almut bei ihrer Karriere im Weg gestanden hatte, also war es nur recht und billig, dass sie sich um ihre Kinder kümmerte, damit ihre Schwester im Berufsleben vorankam. Ob sie selbst es zu etwas bringen konnte, war nebensächlich.
Dabei konnte sie Almut gar keinen richtigen Vorwurf machen, denn sie hatte in der jüngeren Vergangenheit niemals gegen sie aufbegehrt. Wie sollte sie da merken, dass die Waage so eindeutig in ihre Richtung ausschlug? Sicher, mit ein wenig Fingerspitzengefühl hätte Almut das selbst erkennen müssen, aber das ging ihr nun einmal ab. Vielleicht lag es daran, dass sie eben so viel älter war. Sie war eigentlich wie ein Einzelkind aufgewachsen, hatte ihre Eltern ganz für sich gehabt und niemals lernen müssen, mit einem Geschwisterkind zu teilen.
Sie dagegen hatte ihre Eltern kaum richtig kennen lernen können, weil die beiden bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, als sie vier Jahre alt war. Seitdem hatte Almut sich um sie gekümmert, die zu dem Zeitpunkt schon über zwanzig war und vom Gericht als Vormund bestellt wurde. Das war zu damaliger Zeit nicht selbstverständlich, aber Almut hatte Glück mit einer Beraterin vom Jugendamt, die ihr wohlgesinnt war und ihr die nötige Reife bescheinigte, für ein Kind sorgen zu können.
Natürlich war sie ihrer Schwester dankbar, dass sie verhindert hatte, dass sie in ein Heim abgeschoben worden war, aber als Kind und vor allem als Teenager konnte sie diese Dankbarkeit nicht immer zeigen. Besonders schwierig wurde es, als Marius in Almuts Leben trat und kurz darauf Judith geboren wurde. Plötzlich gab es da ein kleines Wesen, das viel mehr Aufmerksamkeit benötigte als die knapp elfjährige Schwester und Almut hatte kaum noch Zeit für sie. Sie hatte sich vernachlässigt gefühlt, war sich als Außenseiterin neben der kleinen Familie vorgekommen, was sich durch Sinas Geburt dann noch verstärkt hatte, und war mit der Zeit ziemlich abgerutscht. Es hatte sich schleichend entwickelt, sodass Almut zunächst gar nicht mitbekommen hatte, was da geschah. Sie hatte mit ihren beiden Töchtern und ihrem Studium viel zu viel zu tun, als dass sie Augen und Ohren für etwas anderes gehabt hätte. Und Birthe war eine Meisterin der Masken gewesen, kam nie zu spät nach Hause, obwohl sie natürlich Mittel und Wege fand, das Haus heimlich wieder zu verlassen, versäumte nie die gemeinsamen Mahlzeiten und flutschte in der Schule immer gerade so durch, ohne dass auffiel, dass sie die eine oder andere Stunde schwänzte.
Erst als sie sechzehn war, in der letzten Klasse der Realschule, flog sie zum ersten Mal auf, weil das Halbjahreszeugnis so schlecht war, dass der Abschluss ausgeschlossen erschien. Die blöde Zoe hatte Almut schon häufiger gewarnt, wie sie jetzt erfuhr, die hatte ihre Augen und Ohren ja immer überall, aber ihre Schwester hatte davon nichts hören wollen. Weniger, weil sie ihrer Schwester vertraute, als weil sie keine Zeit fand, sich damit auseinander zu setzen. Es folgten zwei schlimme Jahre, aber erst nach dem Ende ihrer ersten Beziehung war sie aufgewacht und hatte mit Almuts Hilfe ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
Dass sie damit allerdings zu einer Art Spielball im Leben ihrer Schwester verkommen war, den die so platzieren konnte, wie es ihr gerade passte, war ihr erst seit kurzem klar. Es war Ole, der ihr immer wieder den Spiegel vorhielt, weil er sich seinerseits vernachlässigt fühlte. Er fand, sie hängte sich viel zu sehr an das Leben ihrer Schwester, als ihr eigenes zu leben und damit lag er ziemlich richtig. Vor allem seit ihre Frauenärztin ihr mit trauriger Miene mitgeteilt hatte, sie könnte niemals Kinder bekommen, hatte sie ihre Aufgabe, sich um Judith und Sina zu kümmern, noch ernster genommen. Je mehr sie eingespannt war, umso weniger musste sie darüber nachdenken, was die Diagnose für sie bedeutete.
Aber das war nicht die einzige Folge. Seit sie von ihrer Unfruchtbarkeit wusste, war ihre Libido wie weggeblasen und sie konnte nichts dagegen tun. Wenn Ole auch nur versuchte, zärtlich zu ihr zu sein, bekam sie eine Gänsehaut. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie liebte ihn mit Haut und Haaren und war immer verrückt nach ihm gewesen, aber jetzt ließ sie allein der Gedanke an Sex mit ihm innerlich verkrampfen. Auch wenn sie es sich nicht gern eingestand, aber war es da ein Wunder, wenn er sich nach anderen Frauen umsah? Konnte sie ihm überhaupt einen Vorwurf machen, wenn er sich seine Befriedigung woanders holte?
Sie war schockiert gewesen, als sie ihn mit der Tochter der Nachbarn im Clinch im eigenen Ehebett entdeckte, weil sie nie im Leben mit so etwas gerechnet hatte. Sie war bislang davon ausgegangen, dass Ole sie genauso bedingungslos liebte wie sie ihn und bei dem sich ihr bietenden Anblick brach für sie eine Welt zusammen. Nach der ersten Schrecksekunde war sie mit den Fäusten auf beide los und nur mit Mühe hatte Ole sie beruhigen können, während das Mädchen wie eine Irre ihre Sachen gegriffen und das Weite gesucht hatte.
„Kann ich dich jetzt loslassen?“ hatte Ole nach ein paar Minuten gefragt.
Sie konnte nicht sprechen, ihn nicht einmal ansehen, wie er über ihr kniete, ihre Arme auf das Bett gedrückt. Ihr Herz raste immer noch und sie hatte Probleme, ihren Atem ruhig zu bekommen. Vorsichtig hatte Ole schließlich von ihr abgelassen. Sie war eine Weile liegen geblieben, dann hatte sie sich aufgerichtet und ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Er hatte sie traurig angesehen und langsam genickt.
„In Ordnung. Das hab ich wohl verdient.“
Das hatte er in der Tat. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Warum tust du mir das an?“
Er war vom Bett aufgestanden und schlüpfte in seine Jeans. „Es tut mir leid.“
Sie stand ebenfalls auf. „Wie lange läuft das schon?“
Er schüttelte den Kopf. „Da ist eigentlich nichts, ehrlich. Das hat sich ganz spontan ergeben. Ich stand im Flur auf der Leiter, als sie klingelte.“
Zu dem Zeitpunkt waren sie dabei gewesen, den Flur zu tapezieren und die Decke zu streichen. Sie hatten sich kurz zuvor Parkett legen lassen und die alten Tapeten hatten einfach nicht mehr gepasst.
„Mir war warm und ich hatte mein Hemd ausgezogen. Nadine hat mich gebeten, ihr eine Lampe anzubringen. Das hab ich dann gemacht und sie ist noch kurz mit rüber, weil sie sich unser Parkett ansehen wollte. Und dabei ist es dann irgendwie passiert.“
„Irgendwie passiert? Was soll das heißen? Ist dir die Hose runtergerutscht und du konntest nicht anders, als ihn bei ihr rein zu stecken?“
Er hatte geseufzt. „Ich hab dir schon gesagt, dass es mir leid tut. Es ging so schnell...Ich weiß wirklich nicht, wie es angefangen hat. Sie hat mich irgendwie berührt und gesagt, für mein Alter sei ich gut in Form und...“
Sie hatte die Hand erhoben. „Ist schon gut. Ich will nicht jedes Detail hören. Habt ihr gefickt?“
Er war zusammengezuckt, als ob ihn ihre deutlichen Worte schockierten, und wich ihrem Blick aus. „Nein. Soweit sind wir nicht gekommen.“
Es war für sie keine Erleichterung und besonders glaubwürdig klang es ohnehin nicht, sonst hätte er ihr wohl in die Augen sehen können. „Und ? Wie oft hast du mich noch betrogen? Außer mit dieser kleinen Schlampe von nebenan?“
„Gar nicht. Ich schwöre.“
Welche Veranlassung hatte sie, ihm zu glauben? Scheinbar konnte er ja keiner Gelegenheit widerstehen.
„Und das soll ich dir glauben?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil ich es dir sage.“
Sie hatten sich eine Weile wortlos gegenüber gestanden. Dann war sie an ihm vorbei gegangen. „Zieh das Bett ab und schmeiß die Wäsche in den Müll. Und dann pack deine Sachen.“
Er war ihr nach. „Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
Sie war ins Bad gegangen und hatte sie Tür hinter sich abgeschlossen. „Doch. Ich will dich nicht mehr sehen.“
Sie hatte sich die Klamotten vom Leib gerissen und war unter die Dusche gesprungen. Sie griff nach Seife und Waschhandschuh und schrubbte wie eine Besengte an sich herum, bis ihre Haut krebsrot war. Sie fühlte sich beschmutzt, weil sie auf dem Bett gelegen hatte, indem Ole mit der Nutte rumgemacht hatte, und irgendwie konnte sie den Dreck nicht loswerden. Und die ganze Zeit liefen ihr die Tränen über das Gesicht, immer das Bild von Ole mit dieser kleinen Fotze vor Augen. An ihre Reaktion konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, sie wusste nur, dass sie rot gesehen hatte. Schlimm, wie das Gehirn sich einfach abschalten konnte.
Als sie nach über einer Stunde im Bademantel das Bad verließ, fand sie ihren Mann im Flur sitzend vor. „Du bist noch da?“
Er sprang auf. „Allerdings. Und so schnell wirst du mich nicht los.“
„Das werden wir ja sehen.“
Sie wollte an ihm vorbei ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen, aber er hielt sie am Arm fest.
„Bitte, Birthe. Wir müssen reden.“
„Ich wüsste nicht, worüber wir reden sollten. Du hast mit Nadine gefickt, die im übrigen deine Tochter sein könnte, und wer weiß mit wem noch alles. Mehr muss ich nicht wissen.“
Er ließ sie los, aber sie blieb trotzdem stehen. Sie wollte eigentlich nichts von ihm hören, aber irgendwie konnte sie sich auch nicht wegbewegen.
„Okay. Ich hab einen Fehler gemacht.“
Sie stieß ein höhnisches Lachen aus. „Du bist deinem Schwanz gefolgt.“
„Eben. Und vielleicht fragst du dich mal, warum das passiert ist.“
Sie starrte ihn an. „Jetzt soll das wohl auch noch meine Schuld sein.“
„Das hab ich nicht gesagt. Aber überleg mal, wann wir beide das letzte Mal miteinander geschlafen haben.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das war so unfair. Er ging ihr fremd und jetzt machte er ihr auch noch ein schlechtes Gewissen.
„Ich hab eben viel um die Ohren.“
Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Seit sechs Monaten. Nur falls du es nicht mehr weißt. Es ist sechs Monate her. Sieh mich an. Ich bin fünfunddreißig, kerngesund und ich habe Bedürfnisse.“
Und wenn sie nicht bereitwillig die Beine breit machte, holte er sich seine Befriedigung eben woanders. War das nicht auch ein wenig einfach?
„Das ist deine Entschuldigung? Du hast Bedürfnisse?“
Er zuckte die Achseln. „Ich hab es ja versucht, aber du hast mich immer weggestoßen.“
Das stimmte. Sie hatte entweder so getan, als ob sie nicht merkte, was er vorhatte oder ihm klipp und klar gesagt, dass sie keine Lust hatte, weil sie zu müde war und im Moment zu viel Stress hatte. Was hätte sie sonst tun sollen? Wie sollte sie ihm begreiflich machen, was mit ihr los war, wenn sie es sich selbst nicht erklären konnte?
„Ich weiß.“
„Ich hab schon gedacht, du hast einen anderen.“
„Was?“
„Was könnte es sonst sein?“
Tja, was sonst? Für Männer war die Welt so einfach gestrickt. Wenn die Frau keine Lust hatte, war sie entweder frigide oder sie hatte einen anderen. Dass es weit tiefere Gründe dafür geben könnte, auf diese Idee kamen sie nicht. Dass Ole es überhaupt in Betracht zog, sie könnte einen anderen haben, machte ihr nur deutlich, wie wenig er sie eigentlich kannte. Sie hätte sich niemals mit einem anderen einlassen können, dafür war sie nicht der Typ. Sie hatte sich zu Ole bekannt und erwartete von ihm dasselbe, denn so sah sie eine Beziehung. Aber der Trieb des Mannes hatte ihrer Vorstellung mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie hatte Ole letztendlich verziehen, zumindest nach außen, auch wenn sie die demütigende Szene im Schlafzimmer nicht vergessen konnte. Das Bett wurde ausgetauscht, das ganze Zimmer renoviert, aber trotzdem hatte der Raum seine ursprüngliche unschuldige Aura verloren. Weil sie Ole nicht verlieren wollte, hatte sie auch Zugeständnisse anderer Art gemacht. Sie schlief wieder mit ihm, wenn auch längst nicht so oft wie früher. Mittlerweile erkannte sie die Zeichen ganz gut, wann sie Sex einsetzen musste, um ihn bei der Stange zu halten. Es kostete sie immer noch Überwindung, aber sie hatte gelernt damit umzugehen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte. Und dennoch hatte sie Zweifel, ob sie ihm genügte. So hatte sie keine Ahnung, ob er nicht merkte, dass ihre Lust nur vorgegaukelt war. Wenn ihm das bewusst war, konnte sie dann nicht annehmen, dass er sich jemand anderen suchte, bei dem er das Gefühl hatte, dass der Wunsch nach Körperlichkeit auf Gegenliebe stieß?
Das Gespräch mit Judith hatte sie ins Grübeln gebracht. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, öffnete die Balkontür erneut und zündete sich eine Zigarette an, weil sie dabei am besten nachdenken konnte. Die Polizei vermutete den Täter im näheren Umfeld, aber was hieß das? Gehörten die Mädchen auf der Website auch dazu? Merkwürdig, dass die Polizei die Männer, die sich vor dem Bildschirm an ihrer Nichte aufgegeilt hatten, von vornherein ausschloss. Es konnte doch durchaus sein, dass einer von denen Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Vielleicht hatte sie ja auch jemand erkannt und gedacht, dass sie ihm ja auch privat zur Verfügung stehen konnte.
Dieser widerliche Bent. Sie nahm einen weiteren Zug an ihrer Zigarette und stieß verächtlich den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre Sina niemals wie eine Nutte herumgelaufen und das Ganze wäre höchstwahrscheinlich nicht passiert. Sie war ziemlich sicher, dass er der Auslöser für das alles gewesen war. Selbst wenn er nicht der tatsächliche Täter war, wovon die Polizei anscheinend ausging, würde er in ihren Augen immer die Schuld am Tod ihrer Nichte tragen. Wie hatte er ihr das nur antun können? Hatte er gar keine Skrupel? Minderjährige dazu zu bringen, vor einer Kamera blank zu ziehen. So ein Schwein. Okay, die Schwester seiner Freundin dazu zu bringen, ging ja vielleicht noch, aber seine eigene Nichte zu verschachern war schon ein starkes Stück. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal vor seiner eigenen Schwester haltgemacht.
Apropos Schwester. Was hatte Judith gesagt? Sein Schwager hatte ihm ein blaues Auge verpasst. Also war das Mädchen die Tochter seiner Schwester, hieß demnach nicht Masio. Handelte es sich bei ihr vielleicht um das Mädchen, das zunächst als verschwunden galt und wieder aufgetaucht war? Wie hieß die noch? Hauptkommissar Funke hatte sie doch nach ihr gefragt. Merle Grothe, genau. Okay, das ließ sich herausfinden. Sie drückte hastig ihre Kippe aus, schloss die Tür und schnappte sich ein Telefonbuch. Sie schlug es auf und suchte nach den Einträgen unter Grothe. Bingo! Simon Grothe. Bent hatte laut Judith Simon zu seinem Schwager gesagt, daran erinnerte sie sich. Birthe lehnte sich in ihrem Sessel zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Hauptkommissar Funke legte einigermaßen verblüfft den Hörer auf. „Herr und Frau Keller sind auf dem Weg nach oben zu uns.“
Behrend sah ihn an. „Und?“
„Sie glauben, dass sie etwas Wichtiges für uns haben.“
„Na, da bin ich ja mal gespannt. Wo sind eigentlich Roman und Doreen?“
„Roman hat mich um einen freien Nachmittag gebeten, weil Johanna aus dem Krankenhaus entlassen wird. Und wo Siewers steckt, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht.“
„Komisch.“
Funke zuckte mit den Achseln. „Du kennst sie ja. Wahrscheinlich ist sie irgendeiner Eingebung gefolgt und bringt sich damit in Schwierigkeiten.“
Es war nicht ernst gemeint, obwohl es nicht ganz von der Hand zu weisen war, hatte sie doch durch die Sache mit Panowsky wieder einmal bewiesen, dass sie sich nicht immer an die Regeln hielt. Ein Klopfen an der Tür hinderte Behrend an einer Antwort.
„Herein“, rief Funke.
Die Tür ging auf und Herr und Frau Keller kamen herein. Funke erhob sich und begrüßte beide mit Handschlag. Behrend machte es ihm nach und stellte sich dabei dem Mann vor. Funke hatte die beiden bereits am Wochenende zusammen gesehen, als sie sich ihre Tochter angesehen hatten und stellte eine deutliche Veränderung fest. Von der tiefen Verzweiflung, die er bei beiden gespürt hatte, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen strahlten sie eine Bestimmtheit aus, als ob sie sich auf einer Mission befanden.
„Wir haben das Tagebuch unserer Tochter gefunden“, begann Herr Keller. „Eigentlich hat Judith es gefunden. Ist ja auch egal. Jedenfalls sollten Sie wissen, dass Zoe Ludwig, die Freundin meiner Exfrau, für Sinas blaue Flecken verantwortlich war.“
Funke riss die Augen auf. „Was?“
„Dürfen wir uns setzen?“ fragte Frau Keller.
„Natürlich.“ Funke zeigte auf die Stühle vor seinem Schreibtisch und nahm ebenfalls Platz. Behrend blieb stehen, lehnte sich dabei aber an die Fensterbank.
„Ich bin immer noch ganz geschockt.“ Frau Keller schüttelte den Kopf. „Dass meine beste Freundin mich so hintergehen konnte. Es ist unglaublich.“
„Vielleicht erzählen Sie uns erst mal, was genau Sie entdeckt haben.“
Und das taten sie. Auf einmal war Funke klar, warum die Ludwig soviel Energie darauf verwendet hatte, jeden in der Familie Keller schlecht aussehen zu lassen. Sie hatte um jeden Preis verhindern wollen, dass man sich mit ihr auseinandersetzen würde.
„Und Sie glauben jetzt, dass Frau Ludwig Ihre Tochter ermordet hat?“
„Im Tagebuch steht, dass sie Sina massiv gedroht hat.“
„Außerdem waren wir vorhin bei ihr“, warf ihr Mann ein. „Sie hat es abgestritten, aber sie hat eindeutig ein schlechtes Gewissen.“
„Also weiß Frau Ludwig bereits, dass Sie sie verdächtigen?“
„Ja.“
Damit war das Überraschungsmoment dahin. Super! Er seufzte. „Es wäre natürlich besser gewesen, Sie wären mit Ihrem Verdacht erst zu uns gekommen.“
Frau Keller nickte. „Vielleicht. Aber es geht um unsere Tochter und meine Freundin. Ich wollte erst einmal sehen, was sie dazu zu sagen hat, bevor ich ihr die Polizei auf den Hals hetze.“
„Wo ist das Tagebuch?“ fragte Behrend vom Fenster aus.
Funke entging nicht, wie die beiden einen Blick wechselten, den er nicht deuten konnte.
„Bei uns zu Hause“, sagte Frau Keller schließlich.
„Dann lassen Sie es uns mal holen.“
„Muss das sein?“
„Na ja, es ist ein Beweisstück.“
„Aber es ist doch etwas höchst Privates von unserer Tochter.“
„Das mag zwar sein, aber da wir in ihrem Mordfall ermitteln, müssen wir es unbedingt einsehen. Da können wir darauf keine Rücksicht nehmen.“
Frau Keller seufzte und griff nach der Hand ihres Exmannes. „Wir werden wohl nicht darum herumkommen“, sagte sie zu ihm.
Marius Keller griff in seine Jackentasche, holte ein Buch heraus und legte es vor sich auf den Tisch. „Wir hatten eigentlich gehofft, dass es auch ohne das Buch geht. Wissen Sie, es stehen auch Sachen darin, die unsere Tochter nicht eben gut aussehen lassen.“
Funke sah vielsagend über ihre Köpfe hinweg zu Behrend hinüber und griff nach dem Buch. Aufgrund ihrer Reaktion zuvor hatte er schon damit gerechnet, dass sie es dabei hatten. Sein junger Kollege zog nur die Augenbrauen hoch.
„Steht etwas über Sinas Pläne für den Mittwoch drin?“
Frau Keller schüttelte den Kopf. „Danach haben wir gleich als erstes gesucht.“
„Sie sagten eben, es würde Ihre Tochter nicht gut aussehen lassen. Meinen Sie wegen der Website und wie sie dazu gekommen ist?“
Frau Keller drehte sich zu Behrend um. „Marius meinte Judith."
„Nicht“, sagte ihr Exmann.
Sie drückte seine Hand. „Ist schon gut. Sobald sie es lesen, werden sie ohnehin auf denselben Gedanken kommen.“ Sie seufzte und wandte sich wieder Funke zu. „Ich habe Ihnen noch etwas verschwiegen.“
Sie erzählte von ihrem Fund in der Mülltonne und Funke sprang auf. „Was? Wissen Sie, was das bedeutet?“
„Dass Sina das Haus niemals lebend verlassen hat“, sagte sie leise. „Ich weiß.“
„Wie konnten Sie uns das vorenthalten?“
Sie hob abwehrend beide Hände. „Ich weiß, dass das falsch war. Aber Sie müssen mich verstehen. Ich habe eine Tochter verloren und ich war nicht bereit, auch meine andere Tochter zu verlieren.“
Funke wusste genau, was sie meinte, denn diese Verlustängste waren ja für ihn nicht neu. Aber alles Verständnis änderte nichts daran, dass sie damit ihre Ermittlungen behindert hatte. Er griff zum Hörer. „Wann haben Sie die Sachen gefunden?“
„Vor ein paar Tagen.“
Prima. „Ich werde jetzt die Spurensicherung benachrichtigen, dass sie sich in Ihrem Haus umsehen kann. Ist Ihre Tochter dort?“
„Das nehme ich an“, sagte Frau Keller. „Aber Sie haben doch jetzt mit Zoe eine andere Verdächtige, oder?“
Funke hielt die rechte Hand hoch, weil sich am anderen Ende Hauptkommissar Goll vom Erkennungsdienst meldete. Er gab ihm die notwendigen Details und drückte anschließend das Gespräch weg.
„Wenn Sie sich Sorgen machen, dass Judith etwas mit dem Mord zu tun hat, kann ich Sie beruhigen. Sie hat ein Alibi.“
Er konnte förmlich sehen, wie beiden ein Stein vom Herzen fiel.
Doreen Siewers hatte während ihrer Mittagspause einen Spaziergang gemacht und ihre Gedanken kreisen lassen. Dabei landete sie irgendwie immer wieder bei Timo, sie konnte es nicht ändern. Er tat ihr einfach leid. Da hatte er erfahren, dass es einen Bruder gab und dann fiel der einem Mordversuch zum Opfer, von dem er sich niemals erholen würde. Die Ärzte hatten Timo gesagt, dass Christophers Hirn zu lange ohne Sauerstoff gewesen war, sodass er wahrscheinlich nicht aus dem Koma aufwachen würde. Und selbst wenn, war sein Gehirn so geschädigt, dass er immer ein Pflegefall sein würde. Timo würde somit nie die Chance bekommen, seinen Bruder richtig kennen zu lernen. Grausam. Und dann diese Ungewissheit, was damals wirklich passiert war. Nicht, dass sie einen Zweifel daran hatte, dass Christopher ein Mörder war, aber es gab eben ein paar Ungereimtheiten, die Timo natürlich hoffen ließen, dass sein Bruder unschuldig im Gefängnis gesessen hatte. Gern hätte sie ihm dabei geholfen, diese Unsicherheit zu zerstreuen und so für sich zu einem Abschluss zu kommen.
Sie hielt einen Moment inne. Na, da gab es womöglich doch eine Möglichkeit. Panowsky! Hatte er nicht davon gesprochen, dass er mit Christophers damaliger Freundin Kontakt aufgenommen hatte? Wenn sie mit ihr sprechen konnte, vielleicht würde sie dadurch mehr über die Umstände erfahren, die zum Mord an Stella Panowsky geführt hatten. Ja, sie musste mit Panowsky reden, wenn sie Timo helfen wollte, und das so schnell wie möglich.
Warum eigentlich nicht jetzt? Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war seit einer halben Stunde in der Pause. Wenn sie sich jetzt auf den Weg machte, war sie in zwanzig Minuten im Gefängnis und vielleicht in anderthalb Stunden wieder zurück im Dienst. Roman hatte den Nachmittag frei und sie war ohnehin nur dazu verdonnert, sich die Akten noch mal vorzunehmen. Das konnte sie genauso gut gegen Abend erledigen.
Kurz entschlossen griff sie zum Telefon und wählte Funkes Nummer.
„Thaler, Apparat Funke.“
Entweder Funke sprach oder war nicht an seinem Platz. Noch besser, dann brauchte sie ihn nicht anzulügen. Die Thaler würde schon nichts bemerken, so gut kannte sie sie schließlich nicht.
„Hallo Frau Thaler, Siewers hier. Könnten Sie Herrn Funke ausrichten, ich bin beim Zahnarzt? Mir ist eben etwas von einem Zahn abgebrochen.“
„Ach herrje, kein Problem.“
„Danke, Frau Thaler. Ich denke, ich werde wohl gegen vier wieder da sein. Auf Wiederhören.“
Sie drückte das Gespräch weg und hatte es plötzlich ganz eilig.
Etwa vierzig Minuten später, ein bisschen länger als sie gedacht hatte, weil die Formalitäten sich etwas hingezogen hatten, saß sie in dem Besucherraum der Vollzugsanstalt Lauerhof Norman Panowsky gegenüber. Er wirkte längst nicht mehr so selbstsicher wie noch bei ihrem letzten Aufeinandertreffen und allem Anschein nach ließ er sich gehen. Er hatte sich nicht rasiert und die Haare waren außer Form. Was Gel doch alles bewerkstelligen konnte. Na ja, für wen sollte er sich hier drinnen auch Mühe geben?
Er vermied es, sie anzusehen, was sie nachvollziehen konnte. Schließlich war sie dafür verantwortlich, dass man ihn gefasst hatte. Und genau da lag das Problem, dessen sie sich durchaus bewusst war. Er würde nicht eben viel Lust verspüren, ihr zu helfen. Aber es kam auf einen Versuch an und wer konnte schon immer genau vorhersagen, wie Menschen reagierten.
„Hallo Herr Panowsky“, eröffnete sie das Gespräch.
Er ignorierte sie, schlug die Beine übereinander und betrachtete seine Fingernägel. Nicht gerade vielversprechend.
„Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie.“
Er sah ihr kalt in die Augen. „Ohne meinen Anwalt sage ich Ihnen gar nichts.“
Das lief ja spitzenmäßig! „Es geht um Ihre Schwester.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Um Stella? Was soll das denn? Meine Schwester ist seit über acht Jahren tot und Tuchel, das Schwein, hat sie getötet. Erst brutal vergewaltigt und dann abgeschlachtet. Was gibt es da noch zu sagen?“
War klar, dass er ihr das noch mal unter die Nase reiben musste. Sie ging nicht auf seine Frage ein. „Tuchel hatte eine Freundin damals.“
Panowsky kniff die Augen zusammen. „Ja. Und?“
„Sie kannten sie, oder?“
Er zuckte mit den Achseln. „Ja.“
„Kannten Sie sie gut?“
„Nicht besonders. Vom Sehen halt. War ganz hübsch damals.“
„Und Sie haben sie neulich wieder getroffen?“
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich darüber nicht mit Ihnen rede.“
Das war auch schlau von ihm. Immerhin ging es um ein laufenden Verfahren. Er war schließlich noch nicht verurteilt und je nachdem, welche Strategie sein Anwalt verfolgte, würde er den Teufel tun und sich irgendetwas versauen, indem er ihr Informationen gab, die ihm in der Verhandlung schaden konnten. Solange sie ihm Fragen stellte, die in Verbindung mit seinem Mordversuch an Tuchel zusammenhingen, würde sie bei ihm auf Granit beißen. Also versuchte sie es anders.
„Woher kannte Ihre Schwester Tuchel überhaupt?“
Er zuckte die Achseln. „Soweit ich weiß, kannten sie sich nur flüchtig. Auf der Party sind sie sich dann näher gekommen. Aber das wissen Sie doch bestimmt alles. Sie brauchen doch nur in Ihre Akten zu sehen.“
„Was war mit Tuchels Freundin? War die auch auf der Party?“
Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das weiß ich nicht mehr. Das kam, glaube ich, gar nicht zur Sprache damals.“
„Sie hat vor Gericht gegen ihren Freund ausgesagt.“
„Und dafür bin ich ihr noch heute dankbar. Wahrscheinlich wäre das Schwein sonst überhaupt nicht erst verurteilt worden.“
„Tuchel hat behauptet, sie hätte gelogen.“
Er schnaubte. „Und das wundert Sie? War doch klar, dass er leugnet.“
„Das mag schon sein“, räumte sie ein. „Aber was hätte er für einen Grund gehabt, dasselbe noch nach Jahren zu behaupten? Im Verfahren kann ich das verstehen. Aber warum sollte er seinem Zellengenossen irgendwelchen Quatsch erzählen? Er war doch schon verurteilt. Und den Mord selbst hat er ja auch nicht bestritten. Wieso war es ihm dann wichtig, herauszustellen, dass seine Freundin gelogen hatte? Es hatte doch sowieso keine Bedeutung mehr, da hätte er doch ruhig die Wahrheit sagen können.“
Er kniff die Augen zusammen und musterte sie. „Sagen Sie, was wollen Sie eigentlich hier? Warum stellen Sie diese ganzen Fragen nach dem alten Fall?“
Was sollte sie darauf erwidern? Dass sie für einen Freund private Nachforschungen anstellte? Als sie stumm blieb, erhob er sich. „Ich denke, wir sind hier fertig.“
Scheiße! Auch sie stand auf. „Bitte, bleiben Sie, Herr Panowsky. Ein paar Minuten noch.“
Er blieb am Tisch stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum? Wieso, um alles in der Welt, sollte ich Ihnen einen Gefallen tun? Sie haben dafür gesorgt, dass ich hier bin. Schon vergessen? Und jetzt stellen Sie mir alle diese Fragen. Es kommt mir fast so vor, als ob sie Tuchel für unschuldig halten.“
Sie fing sich schnell, aber nicht schnell genug für ihn. „Mein Gott, das tun Sie tatsächlich. Sind Sie bescheuert?“
„Bitte, Herr Panowsky. Sie haben erwähnt, dass Sie mit Tuchels Freundin von damals Kontakt aufgenommen haben. Ich würde gern selbst mit ihr sprechen, damit ich mir ein genaueres Bild davon machen kann, was damals passiert ist.“
„Sie raffen es nicht, oder? Tuchel hat meine Schwester damals ermordet und daran wird sich nichts ändern, egal, wie Sie es sich in Ihrem kranken Kopf hindrehen.“
Doreen sah ihre Felle davon schwimmen. Wenn ihr nicht sofort etwas Passendes einfiel, ging sie ohne die Adresse der Freundin nach Hause. Dann war der ganze Besuch umsonst gewesen. Und was für Konsequenzen sich daraus für sie ergeben konnten, wenn Panowsky plauderte, war noch gar nicht abzusehen. Ob Funke noch mal ein Einsehen haben würde, dass sie erneut eigene Ermittlungen angestellt hatte, die mit ihrem Fall nichts zu tun hatten, bezweifelte sie stark.
Sie folgte einer Eingebung. „Ich kann verstehen, dass Sie verunsichert sind“, sagte sie mit leiser Stimme.
„Was?“
„Na ja, sollte ich herausfinden, dass Tuchel womöglich tatsächlich unschuldig war, wäre Ihr Rachefeldzug völlig unnötig gewesen und Sie säßen umsonst im Gefängnis.“
Jetzt hatte sie ihn und er wusste es auch. „Tuchel war es. Darauf können Sie Gift nehmen.“
„Wenn Sie so sicher sind, warum haben Sie dann solche Angst, mir zu helfen?“
Es war interessant, wie sich die Machtverhältnisse während eines Gesprächs innerhalb weniger Augenblicke verschieben konnten. Solange sie ihn um Informationen gebeten hatte, war er am längeren Hebel und konnte sie am langen Arm verhungern lassen. Aber jetzt hatte sie ihn bei seiner Ehre gepackt und er wollte ihr gegenüber nicht den Kürzeren ziehen. Er hatte als Sieger aus ihrem Wortgefecht herausgehen wollen, sie einfach wie ein dummes Schulmädchen ohne Antworten stehen lassen. Doch das hatte sie ihm nun versaut. Wenn er jetzt den Raum verließ, kam das einer erneuten Demütigung durch sie gleich. Es war klar, dass er sich das nicht von ihr gefallen lassen wollte.
„Ich und Angst?“ fragte er mit spöttischem Unterton. „Warum sollte ich Angst haben? Ihre Nachforschungen stören mich nicht im Geringsten.“
„Wenn das so ist, warum sagen Sie mir dann nicht einfach, wo ich diese Marina Schulze finden kann?“
Er starrte sie an. „Machen Sie Witze?“
„Nein, wieso sollte ich? Ich will mich mit ihr über ihre Aussage damals unterhalten.“
„Aber Sie wissen nicht, wo Sie sie finden können?“
„Nein.“
Langsam machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit und sie beschlich das untrügerische Gefühl, dass sie gleich wieder als die Dumme dastehen würde.
„Ist das Ihr Ernst?“ Er stieß ein lautes Lachen aus. „Das ist ja wirklich köstlich.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Herr Panowsky“, rief sie ihm nach, ohne eine Idee, was auf einmal so urkomisch sein sollte. „Sagen Sie mir die Adresse.“
Er lachte erneut. „Und mir den Spaß verderben?“ Er wandte sich ihr ein letztes Mal zu. „Auf keinen Fall. Dann forschen Sie mal schön nach.“
Und mit diesen Worten ließ er sie frustriert im Sprechzimmer zurück.
Roman Frohloff räumte die Reisetasche seiner Frau aus, während sie ihn vom Bett aus beobachtete. Sie waren vor ein paar Minuten aus dem Krankenhaus gekommen und er war froh, dass er diesen Geruch, der dort herrschte, die nächsten Tage nicht mehr ertragen musste.
„Ich hätte auch ein Taxi nehmen können“, sagte Johanna.
Sie hatte sich zunächst gesträubt, sich hinzulegen, aber er hatte darauf bestanden. Er wollte kein Risiko eingehen, auch wenn der Arzt ihm noch mal versichert hatte, dass er sich keine Sorgen machen musste. Schließlich hatte sie nachgegeben, wenn sie ihm auch deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie es für übertrieben hielt.
Er legte die unbenutzten Slips in die untere Schublade ihres Nachttisches. „Ich weiß, aber ich wollte dich selbst abholen.“
„Das ist lieb von dir, aber jetzt kannst du ruhig wieder zum Dienst. Ich komm auch allein klar.“
„Ich hab mir den Nachmittag frei genommen.“
„Im Ernst? Und Holger war einverstanden? Braucht er im Moment nicht jede Hand?“
Er seufzte und setzte sich zu ihr auf das Bett. Er griff nach ihrer Hand, führte sie zum Mund und küsste sie. „Er hatte kein Problem damit.“
„Er ist ein sehr verständnisvoller Chef.“
Er stand wieder auf und stellte die Tasche in den Schrank. „Meistens ja.“
„Du weißt schon, dass ich auf keinen Fall die nächsten Wochen im Bett bleiben werde.“
Das hatte er befürchtet. „Das ist mir klar. Solange du dich schonst.“
Sie schlug mit der flachen Hand auf die Bettdecke, zum Zeichen, dass er sich wieder zu ihr setzen sollte und er kam ihrer Aufforderung nach.
„Hör mir mal zu, mein Schatz“, sagte sie, nahm seine Hand und sah ihm eindringlich in die Augen. „Du kannst nicht jede Minute auf mich aufpassen. Du hast einen Job. Und da wirst du im Moment auch gebraucht. Du kannst nicht die ganze Zeit mit den Gedanken woanders sein. Vertrau mir einfach, ja? Ich weiß jetzt, worauf ich achten muss und ich werde mich daran halten.“
Er wusste das alles und trotzdem konnte er nichts gegen seine Angst tun. Er dachte an das Gespräch mit Maggie zurück und riss sich zusammen. Er wollte stark sein für Johanna und wenn er das schon nicht sein konnte, wollte er es sie zumindest nicht merken lassen.
„Ich weiß. Aber wenn ich zu Hause bin, darf ich dich doch verwöhnen, oder?“
Sie lächelte ihn an. „Natürlich. Das erwarte ich sogar.“
Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. „Ich liebe dich, weißt du.“
„Ich dich auch. Und das wird sich niemals ändern, hörst du?“
Er stutzte. Wieso hatte er auf einmal das Gefühl, als ob noch eine dritte Person im Raum war? „Ja“, sagte er mit einem Frosch im Hals. Er räusperte sich. „Möchtest du einen Tee?“
„Gern.“
Er erhob sich, um nach unten in die Küche zu gehen, doch sie hielt ihn zurück. Ihr Ton war ganz beiläufig, ihr Kopf in Richtung Fenster gedreht.
„Weiß Holger eigentlich, dass Maggie von dir schwanger war?“
Er erstarrte. „Was?“
Sie wandte sich wieder ihm zu. „Weiß er es?“
„Nein.“ Das hatte Maggie zumindest behauptet. „Aber woher weißt du es?“
„Maggie hat mich gestern besucht.“
Hatte sie ihn nicht extra darum gebeten, Johanna nichts davon zu erzählen? Warum tat sie es dann selbst?
„Wieso hat sie es dir erzählt?“
Zu seinem Erstaunen schüttelte sie den Kopf. „Hat sie nicht.“
„Aber wieso...“
„Sie brauchte mir gar nichts zu erzählen. Sie hat mich gebeten, dir deine Angst zu nehmen, dass du mich verlieren könntest. Und ich hab mir daraufhin alles zusammengereimt. Ich hatte ohnehin schon so meine Vermutungen und im Krankenhaus hat man ja genug Zeit, um über alles nachzudenken.“
So war das also. Wie klug sie doch war. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Du hast vorhin gefragt, warum Maggie es mir erzählt hat. Die Frage müsste eher lauten, warum du mir nichts davon gesagt hast.“
Wenn er das mal selbst gewusst hätte. Er setzte sich wieder zu ihr. „Kann ich dir nicht sagen. Ich dachte, es hätte mit uns nichts zu tun.“
„Und da hast du dich gründlich geirrt.“
„Ja“, räumte er ein. „Aber mir ist jetzt erst klar geworden, dass meine Sorge um dich und unser Kind mit damals zusammenhängt.“
„Weil Maggie mit dir gesprochen hat.“
Mein Gott, blieb dieser Frau eigentlich nichts verborgen? „Ja.“ Er sah sie an. „Bist du sauer?“
Sie griff erneut nach seine Hand. „Bist du verrückt? Ich bin einfach nur froh, dass ich endlich weiß, wo deine Angst herkommt.“
Er schloss sie in seine Arme. „Ich wüsste einfach nicht, was ich ohne dich, ohne euch, machen sollte.“
„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Mich wirst du nicht mehr los.“
Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
„Ich wollte mich noch bei dir entschuldigen“, sagte Funke.
„Wofür?“ fragte Glen, einigermaßen verwirrt. Er war gedanklich noch bei dem ereignisreichen Nachmittag und konnte mit Funkes Äußerung so gar nichts anfangen. Nachdem sie die Kollegen der Spurensicherung im Haus der Kellers sich selbst überlassen hatten, waren sie bei Zoe Ludwig gewesen, die natürlich schon mit ihrem Auftauchen gerechnet hatte. Das war an ihrer ganzen Art zu erkennen, wie sie mit der Situation umging, da hatten die Kellers ihnen wahrlich einen Bärendienst erwiesen. Sie hatte dann auch prompt ein bombensicheres Alibi präsentiert, an dem sie nicht rütteln konnten. Sie hatte zur Tatzeit vor etwa einhundertfünfzig Mitarbeitern eines Konzerns ein Konzept zur Supervision vorgestellt. Wenn sie also keine Zwillingsschwester hatte, kam sie für den Mord an Sina Keller nicht in Betracht. So langsam gingen ihnen die Verdächtigen aus, aber vielleicht fand die Spurensicherung ja neue Hinweise.
„Ich war ziemlich unfair zu dir.“
„Tut mir leid, Holger, aber ich weiß jetzt echt nicht, was du meinst.“
Funke lenkte den Dienstwagen geschickt durch den Kreisel am Berliner Platz. „Ich rede von deinem neuen Freund.“
Ach das. „Oh!“
„Genau. Du kannst natürlich zusammen sein, mit wem du willst. Und du hattest Recht. Dein Freund kann nichts dafür, was sein Bruder getan hat.“
Glen warf ihm von der Seite einen Blick zu. „Freut mich, dass du das so siehst.“
„Ich hab kein Recht, mich da einzumischen.“
Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Hatte er mit seiner Frau gesprochen und die hatte ihm den Kopf zurecht gerückt? Wäre nicht das erste Mal gewesen.
„Stimmt. Hast du nicht. Und nur, dass wir uns da richtig verstehen. Ich schätze deine Meinung sehr, das weißt du. Aber ich werde mir von dir nicht in mein Privatleben reinreden lassen.“
„Das hatte ich auch nicht vor.“
Glen war da nicht so sicher. „Ich hatte gezögert, dir von Philipp zu erzählen, aber nicht, weil ich an der Beziehung gezweifelt habe, sondern weil ich wusste, dass du ein Problem damit haben würdest.“
„Ich weiß. Und ich hab durch meine Reaktion deine Befürchtungen auch noch bestätigt. Bitte entschuldige.“
„Ist schon okay.“
Funke fuhr ins Parkhaus im BH. „Und es ist wirklich etwas Ernstes?“
„Ja. Ich hab das erste Mal das Gefühl, dass ich jemandem wirklich hundertprozentig vertrauen kann, vielleicht weil er genauso unsicher ist wie ich.“ Er lachte leise. „Und weißt du, was mich noch sicherer macht? Doreen mag ihn.“
Funke grinste. „Und das ist wohl so was wie ein Ritterschlag.“
„Ja. Torben hat sie nie leiden können. Immer wenn wir über ihn gesprochen haben, hat sie ihn nur als den Arsch bezeichnet.“
„Das erzähle ich mal lieber nicht meinem Sohn.“ Funke parkte den Wagen und sie stiegen aus. „Was liegt heute noch an?“ fragte Glen, als sie den Lift betraten.
„Du kannst Feierabend machen, wenn du willst. Ich werde noch ein wenig bleiben und warten, ob Goll uns schon etwas sagen kann.“
„Ich hab es nicht eilig.“ Glen nahm sein Handy aus der Jackentasche und tippte in Windeseile eine SMS an Philipp, dass es später werden würde. „Vielleicht sollten wir noch mal alles durchgehen.“
„Gute Idee“, meinte Funke, während sie den Fahrstuhl wieder verließen. „Geh du schon mal vor ins Büro, ich ruf nur kurz mal bei Maggie an.“
„Okay.“
Glen ging zu ihrem Büro und war überrascht, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er betrat den Raum und sah Doreen über einen Ordner gebeugt am Schreibtisch sitzen. Sie schreckte hoch und klappte den Ordner zu.
„Hast du mich erschreckt.“
„Sorry. Ich wusste ja nicht, dass du hier bist.“
„Was gibt’s Neues?“
Glen erzählte ihr in aller Kürze vom Besuch der Kellers, dem Tagebuch und Zoe Ludwigs Alibi.
„Schade. Also sind wir immer noch nicht weiter.“
„Wenn die Spurensicherung jetzt Hinweise findet, dass Sina tatsächlich zu Hause ermordet wurde, können wir da ganz neu ansetzen. Wie geht es eigentlich deinem Zahn?“
„Was?“
„Deinem Zahn“, wiederholte er ungeduldig. „Du warst doch beim Zahnarzt.“
„Ach das. Ja, ist alles wieder in Ordnung.“
Glen musterte sie nachdenklich. „Du warst gar nicht beim Zahnarzt, oder?“
Sie wich seinem Blick aus. „Natürlich war ich das. Wo ist Funke eigentlich?“
„Doreen, jetzt lenk bitte nicht ab. Was hast du heute Nachmittag gemacht?“
Sie wollte an ihm vorbeigehen. „Was du immer hast.“
So leicht ließ er sich nicht abspeisen. Er kannte sie inzwischen viel zu gut und wusste genau, wann sie etwas vor ihm geheim halten wollte. Er hielt sie am Arm fest.
„Ist es wieder so was wie die Sache mit Panowsky?“ Geschickt entwendete er ihr die Mappe, die sie im Arm hatte, und warf einen Blick darauf. Es war der Fall Tuchel. „Immer noch Panowsky?“
Sie sah ihn an. „Ich war bei ihm.“
Glen fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Du hast ihn in der Haft besucht? Aber warum das denn?“
„Wegen Timo. Ich möchte ihm helfen.“
Glen verdrehte die Augen. Die unendliche Geschichte. Wann sagte sie sich von dem Typen endlich mal los?
„Ich glaube langsam, dir ist nicht mehr zu helfen. Mensch Doreen, ich fange wirklich an, mir Sorgen um dich zu machen. Immer noch Timo? Vergiss den doch endlich, er tut dir nicht gut.“
Sie schnaubte. „Das sagt mir ja genau der Richtige. Ich sag nur Torben.“
„Das mag sein“, sagte er. „Aber ich habe seinetwegen nicht meinen Job riskiert. Doreen, du musst mit diesen Extratouren aufhören. Glaubst du nicht, dass Funke irgendwann davon die Schnauze voll hat?“
Funkes Eintreten hinderte Doreen an einer Antwort. „Sie sind noch hier, Siewers?“ sagte er erstaunt.
„Ich habe mir noch mal Tuchels Akte angesehen.“
Funke hängte seine Jacke in den Schrank. „Der Mann lässt Sie nicht los, was?“
„Nein. Ich mach mir immer noch Vorwürfe.“
Das war mit Sicherheit so und dass Tuchel
Timos Halbbruder war, machte es für sie noch schlimmer, aber Glen
war davon überzeugt, dass es da noch etwas anderes gab, warum sie
sich so mit dem alten Fall beschäftigte und er würde das noch an
diesem Abend aus ihr herausholen, sobald sie allein waren.
Darauf konnte sie Gift drauf nehmen.
Funke nickte mitfühlend. „Ich kenne das. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass keine Worte diese Schuldgefühle wegreden können. Aber Sie wissen hoffentlich auch, dass Sie das nicht weiterbringen wird. Was geschehen ist, können Sie nicht rückgängig machen.“
„Ich weiß“, sagte Doreen, ihre Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
„Wollen Sie mit uns noch ein bisschen fachsimpeln?“
„Gern.“ Sie legte die Akte auf den Schreibtisch und stellte sich mit Funke und Glen vor den Flipchart. „Wo fangen wir an?“
Funke blätterte ein paar Seiten zurück. „Hier.“
Sie studierten ihre letzte Sammlung von Verdächtigen und Alibis. „Masio und Judith können wir streichen“, begann Funke und tat genau das. „Tuchel ebenfalls.“
„Was ist mit den Müllers?“ fragte Glen.
Doreen runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Frau Müller hat so getan, als ob sie über die Autofahrt von Sina und ihrem Mann Bescheid wusste, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nur so getan hat, um uns zu zeigen, wie offen sie und ihr Mann miteinander umgehen.“
„Das würde heißen, dass sie kein Motiv hatte, weil sie Sina Keller gar nicht kannte.“
Doreen stimmte Funke zu. „So würde ich das sehen. Ihr Mann hat aber immer noch kein Alibi.“
„Aber auch kein richtiges Motiv“, gab Glen zu bedenken.
„Da bin ich nicht so sicher. Roman und ich waren doch bei Merle und da hat sie gesagt, dass Rouven die Website kennt.“
Funke nickte. „Und da könnte es sein, dass Herr Müller die Seite ebenfalls kennt.“
Er unterstrich den Namen Lars Müller und schrieb neben Marina Müller unwahrscheinlich hin.
„Retzlaff?“ warf er anschließend in die Runde.
„Ich weiß nicht“, meinte Doreen. „Das Alibi seiner Frau ist vielleicht nicht zwingend, aber glaubt ihr, dass sie ihn schützen würde, wenn er der Mörder ihrer Nichte wäre?“
Da war was dran. Glen überlegte eine Weile. „Vielleicht denkt sie ja, dass es um etwas anderes geht. Wir wissen ja nicht, was er ihr erzählt hat.“
„Ich bin da eher auf Siewers’ Seite“, sagte Funke. „Warum sollte er seine Nichte aus heiterem Himmel ermorden? Im Tagebuch gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, dass er sich ihr auf irgendeine Weise genähert hat. Im Gegenteil, sie schreibt, dass sie behaupten wollte, er hätte sie angefasst, wenn er ihren Eltern von der Website erzählt, obwohl nie etwas vorgefallen ist.“
So schnell gab Glen sich nicht geschlagen. „Allerdings ist es schon komisch, dass er uns nichts davon erzählt hat, oder findet ihr nicht? Und wie ist er überhaupt an die Website gekommen? Ich meine, er scheint der einzige zu sein, der davon gewusst hat.“
„Ich kann schon verstehen, dass er lieber den Mund gehalten hat.“ Doreen zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich wollte er genau solche Fragen vermeiden. Ich denke nicht, dass seine Frau begeistert wäre, wenn sie wüsste, was er da so im Internet treibt.“
„Sie meinen, die Ludwig lag doch nicht so falsch und Retzlaff hat tatsächlich Interesse an jungen Mädchen?“
„Sieht doch wohl ganz danach aus.“
„Wenn du das so sagst, hat er vielleicht doch ein Motiv.“
Doreen blieb skeptisch. „Damit Sina seiner Frau nichts erzählt? Glaub ich nicht. Das hätte ja das Ende für ihren Nebenverdienst bedeutet.“
„Apropos Birthe. An der lässt Sina kein gutes Haar.“
Doreen warf Funke einen Blick zu. „Inwiefern?“
„Es ist eigentlich, wie Birthe uns erzählt hat. Seit sie erfahren hatte, dass sie Geld von Keller bekam, konnte Sina sie nicht mehr sehen. Sie hat regelrechte Hasstiraden losgelassen.“
„Also könnte es umgekehrt sein? Er gibt seiner Frau ein Alibi?“
Glen entging ihre Skepsis nicht. „Nein. Kann ich mir auch nicht vorstellen. Deshalb bringt man sicherlich nicht seine Nichte um.“
Funke notierte auch bei beiden Retzlaffs unwahrscheinlich. Einen Augenblick lang betrachteten sie dann das Schaubild.
„Nicht mehr viele übrig“, seufzte Glen schließlich.
„Gut“, sagte Funke und legte den Stift beiseite. „Dann lasst uns jetzt mal überlegen, was es zu bedeuten hat, dass Sinas Kleidung in der Mülltonne in der Garage war.“
„Ich denke, da gibt es nur die eine Möglichkeit. Sie ist zu Hause ermordet worden. Dass der Täter ihre Kleidung später zurückgebracht hat, halte ich für sehr unwahrscheinlich.“
Funke nickte Glen zu. „Das sehe ich genauso.“
Doreen schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Kein Wunder, dass uns niemand aus der Nachbarschaft helfen konnte, wo Sina hingegangen sein könnte. Wieso sind wir nicht früher darauf gekommen?“
„Gute Frage“, meinte Funke. „Wir sind eben immer davon ausgegangen, dass Sina etwas vorhatte, dass sie irgendwo anders mit jemandem verabredet war.“
„Und stattdessen hat sie ihren Mörder wahrscheinlich zu Hause empfangen.“
Glen sah nachdenklich von einem zum anderen. „Ich glaube ja nach wie vor, dass sie sich ursprünglich nicht für zu Hause verabredet hatte.“
„Warum?“ fragten beide wie aus einem Mund.
„Weil sie doch immer damit rechnen musste, dass da jemand reinschneit. Ihre Schwester oder ihre Tante zum Beispiel. Außerdem hätte sie dann doch Masio viel früher abgesagt und nicht erst, als sie eigentlich schon mitten in ihrer Show gewesen wäre. Ich glaube, sie hatte eine Verabredung nach der Show.“
Doreen nickte langsam. „Also war der Besuch zu Hause doch überraschend.“
„Ja, das denke ich. Ihre Schwester verlässt das Haus gegen halb zwei. Kurz danach will Sina los, weil ihre Show um halb drei anfängt. Aber irgendjemand hält sie zu Hause fest, sodass sie nicht unbemerkt an Bent eine Nachricht schicken kann, dass sie nicht kommt.“
„Das schafft sie erst später.“
„Wahrscheinlich in einem unbeobachteten Augenblick.“
„Ich denke da was ganz anderes“, mischte Funke sich ein. „Wer sagt denn, dass Sina die SMS geschickt haben muss?“
„Sie meinen, sie kam vom Täter?“
Glen zog die Stirn kraus. „Die Sache hat nur einen Haken. Der Täter müsste dann gewusst haben, dass Sina eigentlich mit Masio verabredet war.“
„Nicht unbedingt. Wenn Masio ihr selbst eine SMS geschickt hat, um zu fragen, wo sie bleibt...“
„Dann kann der Täter einfach geantwortet haben“, vollendete Doreen Funkes Gedanken. „Dann sollten wir Masio danach fragen.“
Funke griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. „Das brauchen wir vielleicht gar nicht. Goll? Funke hier. Sagt mal, ist das Handy von Sina bei den Sachen gefunden worden?...Ja?... Dann überprüf doch bitte mal die eingegangenen Nachrichten...Ja....Aha...Ja, das passt. Liest du sie vor bitte?...Okay, danke dir.“
Er legte den Hörer beiseite. „Masio hatte ihr tatsächlich eine SMS geschickt. Um zwanzig Minuten vor drei.“
„Also war Sina vermutlich zu dem Zeitpunkt schon tot.“ Doreen nahm einen Stift und schrieb 14.40 Uhr neben Sinas Namen auf den Bogen am Flipchart.
„Wo wir gerade bei der Zeit sind“, sagte Glen. „Holger, kannst du noch mal nachsehen, was die Wrede über ihre angebliche Verabredung mit Sina gesagt hat?“
Funke nahm sich die Akte vor und blätterte darin herum. „Ach hier.“ Er las leise, während er dazu die Lippen bewegte, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte. „Sie war um 14.30 Uhr mit ihr verabredet.“
„Dann hab ich mich doch nicht getäuscht. Wie konnte Sina sich mit ihr um diese Zeit verabreden, wenn sie doch eigentlich ihre Show hatte?“
„Du hast Recht.“ Funke war sichtlich verblüfft. „Also hat die Wrede gelogen.“
Siewers schrieb ihren Namen unter denen der Retzlaffs. „Wir sollten der Dame morgen noch mal einen Besuch abstatten. Steht eigentlich etwas über sie im Tagebuch?“
„Nicht in den letzten zwei Wochen.“
„Haben wir dann nicht schon den Beweis, dass die Wrede gelogen hat? Hätte Sina nicht etwas von dem Termin geschrieben, wenn es ihn tatsächlich gegeben hätte?“
„Das mag sein“, sagte Funke. „Aber die Wrede hat gesagt, dass sie die Verabredung erst am Morgen getroffen hatten und Sinas Eintragungen enden bereits einen Tag vor ihrem Tod.“ Er erzählte Doreen von Sinas Streit mit ihrer Tante. „Deshalb hat sie das Tagebuch versteckt und wahrscheinlich auch nichts mehr reingeschrieben.“
„Lasst uns mal zurück zum Ausgangspunkt gehen, bitte.“ Glen näherte sich dem Flipchart. „Zwischen halb zwei und zwanzig vor drei muss also jemand ins Haus gekommen sein. Entweder mit einem Schlüssel oder Sina hat ihn oder sie hereingelassen.“
Funke blätterte in der Akte. „Einen Schlüssel hatten Birthe, damit auch ihr Mann, Judith und Almut Keller.“
„Was ist mit der Wrede?“
Doreen schüttelte den Kopf. „Nein. Auch Sinas Vater hatte keinen Schlüssel, aber ich denke, dass Sina sie wohl hereingelassen hätte.“
„Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass es jemand aus der Familie war. Ich bin immer noch nicht durch mit den Müllers.“
„Wo du die gerade erwähnst“, sagte Funke. „Was ist eigentlich mit Grothe?“
Glen drehte sich erstaunt zu ihm herum. „Wie kommst du jetzt auf den?“
„Ist nur so ein Gedanke. Wenn ich mich richtig erinnere, war er doch nicht gerade hilfsbereit am Anfang.“
„Stimmt“, sagte Doreen. „Aber andererseits hatte ich nicht das Gefühl, dass er das tote Mädchen kannte, als Roman ihm das Foto gezeigt hat. Was soll denn sein Motiv sein?“
Funke zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht wusste er ja viel früher von der Website, als er uns weismachen will und hat mit Sina Kontakt aufgenommen.“
„Ich weiß nicht, das klingt für mich doch sehr weit hergeholt.“
Glen musste seiner Freundin zustimmen. Auch er fand Funkes Idee nicht besonders einleuchtend und äußerte das auch.
„Ihr habt sicherlich Recht“, räumte ihr Boss ein. „Aber irgendwie hab ich das Gefühl, als würden wir irgendetwas übersehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles zufällig passiert ist. Es gibt da einen Zusammenhang zwischen Sinas Tod und Merles Verschwinden, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Ich weiß nur nicht, welchen und wo wir danach suchen sollen.“
„Vielleicht würde es schon helfen, wenn Merle endlich sagt, bei wem sie die Nacht zum Donnerstag verbracht hat.“
„Davon gehe ich auch aus. Und glaub mir, Glen, morgen bringen wir sie dazu.“
„Was ist eigentlich mit Waldow?“ fragte Doreen.
„Was soll mit dem sein?“
Doreen legte den Kopf schief. „Na, er hat doch in der Straße gestanden, um auf Judith zu warten. Wir haben ihn nur danach gefragt, ob er Sina gesehen hat. Aber vielleicht hat er ja jemanden in das Haus der Kellers gehen sehen.“
Glen starrte sie an. Wieso hatten sie das nicht schon längst getan? Er musste innerlich den Kopf schütteln, waren sie doch wahrhaft Meister der verpassten Chancen, was diesen Fall betraf. Mit ihrem Vorgehen hatten sie sich nicht eben mit Ruhm bekleckert. Und dabei hatte Waldow ihnen sogar gesagt, dass er Sina nicht mehr gesehen hatte, nachdem sie aus der Schule gekommen war. Schon da hätte ihnen auffallen müssen, dass Sina das Haus niemals lebend verlassen hatte. Stümperhaft! Er warf noch einmal einen Blick auf die Namen, die auf dem Bogen notiert waren.
„Mir fällt da gerade etwas ein. Ich meine, wenn wir jetzt schon dabei sind, unsere ganzen Fehler auszumerzen, sollten wir vielleicht noch gründlicher sein.“ Er tippte mit dem Finger auf Judiths Namen. „Warum haben wir sie als Täterin ausgeschlossen?“
„Weil sie keinen Wagen hat“, reagierte Doreen prompt. „Sie hat ja nicht mal einen Führerschein. Sie hätte Hilfe haben müssen, damit sie die Leiche wegschaffen konnte. Und außerdem hatte sie dazu auch keine Gelegenheit, weil sie ab dem Zeitpunkt, als sie Waldow im Auto aufgesucht hatte, nicht mehr allein war.“
„Okay, aber den Mord an ihrer Schwester hätte sie theoretisch auch schon vorher begangen haben können.“
Funke und Doreen wechselten einen fragenden Blick, was Glen nicht entging, aber er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Versteht ihr nicht? Wir gehen davon aus, dass der Täter auch die Leiche in Masios Hütte entsorgt hat. Was aber, wenn das jemand anderes war?“
Langsam fiel der Groschen bei Funke. „Du meinst, jemand hat die Leiche gefunden und sie entsorgt, um den Verdacht auf Masio zu lenken, weil er oder sie jemanden schützen wollte.“
Glen zuckte mit den Achseln. „Vielleicht deshalb, vielleicht auch, weil er Angst hatte, dass man ihn selbst für den Täter hält.“
Doreen nickte. „Das würde bedeuten, dass Judith doch nicht ganz vom Haken ist.“
„Und Waldow auch nicht.“
Funke hob beide Hände. „Wartet mal. Angenommen, Waldow hat sich doch Zugang zum Haus verschafft und Sina ermordet. Was dann?“
„Er verwischt seine Spuren, geht zurück zu seinem Wagen und der Rest hat sich so zugetragen, wie er behauptet hat.“
Funke machte eine ungeduldige Handbewegung. „Das mag ja alles sein, Glen. Aber wer hat die Leiche weggeschafft?“
„Da fragst du mich zuviel. Es müsste jemand gewesen sein, der die Familie schützen will.“
„Weil er denkt, dass jemand von ihnen es gewesen ist.“ Siewers kniff die Augen zusammen. „Almut Keller? Sie hat schließlich auch das mit den Sachen verheimlicht.“
„Glaub ich nicht“, widersprach Glen. „Außerdem war sie zur Tatzeit nachweislich in Hamburg.“
„Dann fällt mir nur Birthe ein oder ihr Mann.“
„Wahrscheinlich beide. Denkt an das Alibi.“
Funke nickte Glen zu. „Okay, das wäre eine Möglichkeit.“
Das Telefon klingelte und Funke ging sofort ran, in der Hoffnung, dass es Hauptkommissar Goll mit neuen Erkenntnissen der Spurensicherung war. Aber es war Roman, der wissen wollte, was es Neues gab. Funke erzählte es ihm und bat Glen und Doreen, kurz in das andere Büro zu gehen, weil er auch ein paar private Worte mit ihm wechseln wollte. Glen hielt Doreen die Tür auf. Sie schnappte sich noch schnell die alte Akte vom Schreibtisch und ging ihm dann voran ins Nachbarbüro.
„So meine Liebe,“ begann er, froh über diese Gelegenheit, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Und jetzt zu dir. Was wolltest du bei Panowsky?“
Doreen warf die Akte auf ihren Platz und seufzte. „Du lässt nie locker, oder?“
Es klang genervt, aber er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie ohnehin nicht damit gerechnet hatte, von ihm in Ruhe gelassen zu werden. Auch sie kannte ihn eben gut genug zu wissen, dass er sich nicht mit fadenscheinigen Erklärungen abspeisen ließ.
„Das ist ja wohl eine rhetorische Frage“, sagte er mit einem breiten Grinsen.
Sie erzählte ihm von der Unterhaltung mit Panowsky und warum sie überhaupt zu ihm gegangen war. Glen hörte mit Erstaunen, was sie schon alles unter der Hand mit Timo gemeinsam unternommen hatte.
„Also die Sache mit dem Russen im Knast klingt wie ein billiger Film auf RTL.“
Doreen verzog das Gesicht. „Hör bloß auf. Ich krieg jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie der mich angegeiert hat.“
Wie zur Bestätigung zeigte sie ihm ihren Arm. Sie schüttelte sich.
„Und glaubst du, Timo hat Recht, dass sein Bruder unschuldig war?“
Sie zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“
„Und warum warst du dann heute bei Panowsky?“
„Ich weiß auch nicht. Ich dachte, ich könnte Timo helfen, dass er mit der Geschichte abschließen kann, dass er nicht ständig von Zweifeln geplagt wird.“
Glen beobachtete sie interessiert. „Wie nobel.“
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was.“
„Und das alles für einen Freund, der längst eine andere hat.“
Sie wurde rot und er wusste Bescheid. „Oh nein. Sag, dass das nicht wahr ist. Du hast nicht mit ihm geschlafen.“
Sie setzte eine trotzige Miene auf. „Doch, hab ich, wenn du es genau wissen willst. Aber jetzt ist es wirklich vorbei.“
Er raufte sich die Haare. „Ja, klar. Zusammen in die Kiste springen hilft wirklich dabei, einen Schlussstrich unter eine Beziehung zu ziehen, die nicht funktioniert.“
„Nein, ehrlich. Wir haben beide gemerkt, dass es falsch ist.“
„Bis zum nächsten Mal. Was sagt seine Freundin dazu?“
„Du bist fies, weißt du das?“
Das wusste er, aber er konnte nicht anders. „Jetzt weiß ich auch, warum du so sauer warst, als Gunnar bei mir aufgetaucht ist. Du hast Timo immer noch nicht abgehakt und gar kein Interesse daran, andere Männer kennen zu lernen.“
„Doch, das hab ich. Es ist vorbei.“
„Und deshalb pennst du mit ihm?“
Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Jetzt hör aber auf, Glen. Ich muss mich vor dir überhaupt nicht rechtfertigen. Es ist mein Leben und ich kann damit machen, was ich will.“
„Stimmt, das kannst du. Aber dann lass mich in Zukunft außen vor, wenn du Ratschläge haben willst, die du dann bei nächstbester Gelegenheit in den Wind schießt.“
Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber, beide wütend auf den anderen, bis Doreen schließlich die Arme sinken ließ. „Können wir jetzt wieder normal miteinander reden?“
Er zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“
Das war es, was ihre Freundschaft so gut funktionieren ließ. Sie konnten sich ganz direkt und oft auch laut die Meinung blasen, auch wenn es manchmal weh tat, aber dann war es auch irgendwann wieder gut und sie konnten zur Tagesordnung übergehen. Konflikte schwelten bei ihnen nicht lange im Untergrund oder wurden unter den Teppich gekehrt. Glen selbst kannte das aus seiner Familie, in der seine Mutter immer alles gedeckelt hatte, auch seine Homosexualität, mit der Folge, dass die Fronten zwischen ihm und seinem Vater komplett verhärtet gewesen waren. Der Wunsch nach Harmonie wurde so zwar oberflächlich erfüllt, aber Konflikte konnten eben nicht gelöst werden, da sie nicht angesprochen wurden. Es hatte Jahre gedauert, bis er wieder ein vernünftiges Wort mit seinem Vater hatte sprechen können und er hatte sich geschworen, dass er das in seinen Beziehungen anders machen würde. Bei Doreen lief das prima, bei Torben hatte es nicht so gut hingehauen.
„Weißt du, Panowsky hat mich nachdenklich gemacht.“ Sie erzählte ihm, wie er auf die Fragen nach Tuchels damaliger Freundin reagiert hatte.
„Es ist ja kein Wunder, dass er dir den Namen nicht geben will. Sie könnte ihn ja noch weiter belasten. Sein Anwalt wird sicher versuchen, eine Anklage wegen Mordes oder Mordversuch zu vermeiden und wenn sie womöglich aussagt, dass er langfristig einen Mord geplant hat, nützt die beste Verteidigung nichts.“
„Vielleicht, obwohl die Staatsanwaltschaft wahrscheinlich sowieso mit ihr sprechen wird. Aber da war noch was anderes. Er hat sich regelrecht über mich lustig gemacht. Ich kam mir total blöd vor, so als ob ich schon längst wissen müsste, wo ich diese Frau finden kann.“
Glen kratzte sich am Kopf. „Woher sollte er das wissen?“
„Keine Ahnung.“
Glen seufzte. Eigentlich hatte er sich geschworen, ihr nicht zu helfen. Warum sollte er sich Timos wegen Unannehmlichkeiten bereiten? Was hatte er mit ihm zu tun, außer dass er sich Doreens Geschichten über ihn anhören musste?
„Ich weiß, ich werde es bereuen. Na gut, wie hieß das Mädchen damals?“
„Marina Schulze.“
„Marina? Wie die Müller?“
„Daran hab ich auch gleich gedacht, aber das wäre ja wirklich ein großer Zufall, oder? Außerdem ist die viel zu alt.“
„Ja, das stimmt wahrscheinlich. Wie alt ist sie? Mitte dreißig?“
„Schätzungsweise, vielleicht auch vierzig.“
„Wohl zehn bis fünfzehn Jahre zu alt für unsere Marina. Und in der Akte gibt es keinen Hinweis darauf, wo sie geblieben sein könnte?“
„Nein. Ich könnte mir vorstellen, dass die Eltern damals mit ihr weggezogen sind, um sie zu schützen und nicht dem Gerede auszusetzen, dass sie mit einem Mörder zusammen war.“
Glen nickte nachdenklich. So hätte er als Vater gehandelt. Und wenn beruflich kein Umzug möglich gewesen wäre, hätte er zumindest den Stadtteil gewechselt.
„Wer könnte uns da noch weiterhelfen?“
„Die Staatsanwaltschaft, denke ich, aber das möchte ich lieber noch nicht versuchen.“
„Das kannst du auch gar nicht“, meinte Glen. „Das müsste über Funke laufen.“
„Eben. Und dem kann ich damit im Moment wohl kaum kommen.“
Sicher nicht. Aber was blieb dann noch? „Warte mal, in der Akte stehen doch die Namen der Zeugen. Du kannst versuchen, ob du über die was rausfindest.“
„Damit hab ich schon angefangen.“ Sie zeigte ihm eine Liste. „Hier hab ich mir schon ein paar Namen notiert. Aber das kann natürlich dauern und es könnte am Ende genauso sein wie mit der Schulze.“
Auch wieder wahr. Er hob und senkte die Schultern. „Wird dir aber wohl nichts anderes übrigbleiben.“
Sein Blick fiel auf den Aktendeckel, auf dem der Name Tuchel in großen Buchstaben geschrieben war und da hatte er eine Erleuchtung.
„Mann, sind wir blöd. Es ist direkt vor unserer Nase und wir kommen nicht darauf.“ Er musste grinsen und machte Doreen damit ungeduldig.
„Was? Nun sag schon.“
„Du brauchst nicht einmal selbst etwas zu tun. Schick einfach Timo zu Tuchels Mutter. Sie wird schon wissen, was aus dem Mädchen geworden ist.“
Philipp König packte seine Tasche für die Uni am nächsten Morgen. Ursprünglich hatte er den Abend wieder mit Glen verbringen wollen, aber der hatte ihm abgesagt, weil er bis spät im Büro sein würde. Er war zwar etwas enttäuscht gewesen, doch so hatte er die Zeit mal wieder für sein Studium nutzen können, was in den letzten Wochen ziemlich kurz gekommen war. Er hatte seine Hausarbeit formatiert, einige Passagen überarbeitet und einen Probeausdruck gemacht, um den morgen einem Kommilitonen zur Fehlerkorrektur mitgeben zu können. Er steckte die Arbeit in seine Tasche und stellte sie neben den Schreibtisch. Er ließ den Computer herunterfahren, schaltete ihn aus und schmiss sich aufs Bett, die Fernbedienung in der Hand.
Er zappte durch die Programme und blieb bei einer Krimiserie hängen. Irgendeine Serie mit einem Fall aus der Vergangenheit, von denen es im Moment so viele auf den Privatsendern gab. Er ertappte sich dabei, wie er gar nicht richtig hinsah, sondern seinen Blick in seinem Zimmer umherschweifen ließ. Er seufzte. Okay, für seine Belange reichte ihm die Einzimmerwohnung mit Bad und er war froh, dass er bei Schlüter endlich ausgezogen war, aber richtig wohl fühlte er sich hier nicht. Die Wände waren dünn, die Nachbarn laut, die Fenster durchlässig und alles ziemlich renovierungsbedürftig, aber bei seinem Budget konnte er halt nicht wählerisch sein. Weit günstiger wäre es ihn gekommen, wenn er für das letzte Jahr seines Studiums ins Studentenwohnheim gezogen wäre, weil er so zumindest die Fahrt nach Hamburg zur Uni eingespart hätte, aber das hätte bedeutet, dass er Glen zu wenig gesehen hätte und deshalb kam das überhaupt nicht in Frage. Wohl oder übel musste er also mit diesem Zimmer vorlieb nehmen. Allerdings war es kein Wunder, dass er sich bei Glen wesentlich mehr zu Hause fühlte. Hätte er ihn gefragt, ob er bei ihm einziehen würde, hätte er ohne zu zögern ja gesagt.
Er musste über sich selbst den Kopf schütteln. So überstürzt kannte er sich gar nicht. Aber er war sich so sicher, dass dieser Mann seine Zukunft war, dass er zu allem bereit war. Die Frage war nur, ob Glen das auch war. Schließlich hatte er schon eine feste Beziehung hinter sich und im Gegensatz zu ihm viele Erfahrungen mit Männern gemacht. Er hatte zwar betont, dass er ihn zu nichts drängen würde, aber würde er Nägel mit Köpfen mit jemandem machen, der nicht sagen konnte, ob er jemals dazu bereit sein würde, richtig mit ihm zu schlafen?
Es klingelte an seiner Tür. Glen, der ihn überraschen wollte? Hastig sprang er vom Bett auf und eilte zur Tür. Es war nicht Glen, sondern Gunnar.
„Gunnar“, sagte er, ohne seine Enttäuschung zu verbergen. „Was willst du?“
„Ich würde gern mit dir reden.“
Philipp musterte seinen Bruder kalt. „Ich wüsste nicht, was wir beide noch zu besprechen hätten.“
„Hör mal, Philipp. Ich weiß, ich hab einen Fehler gemacht. Aber ...“
„Aber? Da gibt es kein Aber. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Auf Wiedersehen.“
Er wollte die Tür schließen, aber Gunnar hielt den Arm dagegen. „Warte bitte. Ich hab da noch jemanden mitgebracht.“
Philipp traute seinen Augen kaum, als plötzlich seine Mutter im Türrahmen auftauchte. Sie musste die ganze Zeit im Verborgenen neben seinem Bruder gestanden haben.
Sein Herz begann zu rasen. „Mutter“, entfuhr es ihm.
Seine Mutter sah verändert aus, fand er. Schön, es war schließlich fast ein Jahr her, dass er sie zuletzt gesehen hatte, aber es lag nicht daran, dass sie älter geworden war. Sie hatte irgendwie ihren ganzen Typ verändert und sah dadurch sogar eher jünger aus. Da war zunächst mal ihr modischer Kurzhaarschnitt, der ihr ungemein stand. Dann schien sie ein paar Kilo abgenommen zu haben und sie war geschminkt, was sie sonst für sich immer abgelehnt hatte. Außer einer Tagescreme hatte sie nie etwas benutzt. Sie trug eine Jacke mit Fellkragen, Jeans und feste Schnürschuhe und sah aus, als wäre sie einem Modejournal entsprungen. Gunnar hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt, als er ihm davon berichtet hatte, wie es sich zu Hause verändert hatte.
„Darf ich reinkommen?“
„Natürlich“, sagte er und ließ sie eintreten.
„Ich warte draußen“, sagte sein Bruder. „Ich denke, ihr beide habt einiges zu klären.“
Philipp schloss die Tür und ging seiner Mutter voran durch den kleinen Flur in sein Zimmer. Zum Glück hatte er vorhin noch aufgeräumt.
„Gibst du mir deine Jacke?“
Seine Mutter zog die Jacke aus und reichte sie ihm. Er legte sie ans Fußende des Bettes. „Eine Garderobe habe ich leider nicht.“ Er zeigte auf den Schreibtischstuhl. „Wenn du dich setzen möchtest...“
Sie strich ihren dunklen Pullover glatt, nahm Platz und ließ ihren Blick durch die kleine Wohnung wandern. „Hier wohnst du also jetzt.“ Es kostete sie sichtlich Überwindung, nicht missbilligend das Gesicht zu verziehen.
„Seit ungefähr zwei Monaten.“
„Seit du bei Schlüter ausgezogen bist.“
Ganz ruhig bleiben, sagte er sich und setzte sich ihr gegenüber auf das Bett. „Ja.“
„Warum bist du dort ausgezogen?“
„Es war einfach an der Zeit.“
„Dein Vater und ich, wir waren ziemlich entsetzt, als wir dich damals mit ihm zusammen gesehen haben.“
„Und das habt ihr mir ja auch deutlich zu verstehen gegeben.“
„Bitte Philipp, mach es mir nicht so schwer. Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten, wirklich nicht.“
„Gut. Ich will mich auch nicht streiten.“
„Wir waren damals einfach besorgt um dich. In was für Kreisen du dich bewegst. Schließlich ist Schlüter kein unbeschriebenes Blatt.“
Er musste sich wirklich zusammenreißen, sie nicht anzuschreien. „Und da schmeißt ihr mich raus? Komische Art, Besorgnis zu zeigen.“
Seine Mutter nickte. „Du hast Recht. Es war falsch. Das weiß ich jetzt. Und es tut mir unendlich leid, dass wir dich vertrieben haben.“
Er merkte, wie seine Stimmung umschlug. Um Gottes Willen, nur nicht in Tränen ausbrechen. Er wollte seiner Mutter gegenüber auf keinen Fall ein Zeichen von Schwäche zeigen.
„Wir hätten dir besser zuhören müssen, für dich da sein müssen. Stattdessen haben wir dir Vorwürfe gemacht. Dir unterstellt, du würdest dich aushalten lassen. Dabei hätten wir dich besser kennen müssen.“
Er hatte kein Interesse mehr daran, in der Vergangenheit rumzuwühlen. Damit hatte er sich viel zu lange aufgehalten. Und er wollte auch nicht, dass sie das tat.
„Mutter, warum bist du hier?“
„Ich will, dass wir wieder eine Familie sind. Du bist mein Sohn und ich liebe dich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das letzte Jahr für mich gewesen ist.“
Er hörte das leichte Vibrieren in ihrer Stimme und konnte sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Er wusste aber auch, dass es keine Tränen um ihn sein würden, sondern dass es in erster Linie um sie selbst ging.
„Und für mich war das alles leicht, oder wie? Was glaubst du, warum ich bei Schlüter eingezogen bin? Ich wusste nicht, wohin.“
Sie legte rollte mit dem Stuhl vor und legte
ihm die Hand auf den Oberschenkel. „Ich weiß. Es tut mir leid. Mehr
kann ich dazu nicht sagen. Ich weiß inzwischen, dass zwischen
Schlüter und dir nichts gelaufen ist. Wir hätten mehr Vertrauen zu
dir haben müssen.“
Allerdings. „Ja. Ich hätte vor allem von dir mehr erwartet. Dass Vater so reagiert, war ja zu erwarten, aber du...?“
„Ich weiß“, sagte sie leise. „Glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir das nicht selbst vorwerfe.“
Er musste schlucken. Hatte er sie unterschätzt? Ging es ihr tatsächlich um ihn?
„Gunnar hat uns von deinem Freund erzählt.“
Er verdrehte die Augen. „Das weiß ich.“
„Komm, Philipp. Sei nicht sauer auf ihn. Er hat es nur gut gemeint.“
Er winkte ab. „Ist ja auch egal.“
„Und du bist dir sicher?“
„Was?“
„Na, du weißt schon...“
Er starrte sie an. „Du meinst, ob ich schwul bin? Mein Gott, du kannst es nicht mal aussprechen.“
Sie seufzte. „Also schön. Bist du schwul?“
„Gunnar hat euch doch gesagt, dass ich mit einem Mann zusammen bin. Was soll das also für eine Frage sein?“
„Du bist dir sicher, dass es nicht nur eine Phase ist?“
Er verdrehte die Augen. Hatte sie das aus irgendeiner Soap? Oder hatte sie sich einen Ratgeber für Eltern von homosexuellen Kindern zugelegt?
„Nein, Mutter. Es ist nicht nur eine Phase. Ich liebe einen Mann. Es hat mich zuerst selbst überrascht, aber jetzt hat sich für mich alles geklärt. Ich stehe auf Schwänze.“
Seine Mutter zuckte zurück und zeigte damit die von ihm beabsichtigte Reaktion. Aus lauter Bosheit setzte er noch einen drauf.
„Du siehst also, wenn ihr wieder Kontakt mit mir wollt, müsst ihr wohl oder übel damit klar kommen, dass ich mit Männern ficke.“
Sie atmete kräftig durch. „Ich hätte es auch ohne deine blumige Sprache verstanden. Danke.“
„Da bin ich nicht so sicher.“
Sie musterte ihn einen Moment und dann überraschte sie ihn. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Du hast dich verändert. Du bist erwachsen geworden.“
So hatte er das noch gar nicht gesehen. Aber es stimmte. Er hatte in den vergangenen Monaten einen Reifeprozess durchlaufen, der schon erstaunlich war und der ihm zu Hause sicher nicht gelungen wäre. Insofern hatten seine Eltern ihm mit ihrem Rausschmiss indirekt sogar einen Gefallen getan.
„Wahrscheinlich hast du Recht. Aber du hast dich auch ganz schön verändert.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das hier?“ Sie berührte mit der einen Hand ihre Frisur, mit der anderen zeigte sie auf ihre Kleidung. „Ich arbeite daran, wie du siehst. Aber es wird noch eine ganze Weile dauern, bis das Innere wirklich zum Äußeren passt. Ich hab deinem Vater beispielsweise nichts davon gesagt, dass ich dich besuchen werde.“
„Warum nicht?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Alte Gewohnheiten kann man scheinbar schlecht abstellen. Aber ich werde es tun, sobald ich zu Hause bin.“
Vor einem Jahr hätte er daran gezweifelt, aber heute glaubte er ihr.
„Du siehst also, dass noch ein weiter Weg vor mir liegt. Du hingegen...Du strahlst ein Selbstbewusstsein aus, unglaublich. Diese innere Stärke ist mir gleich aufgefallen, als du Gunnar die Tür geöffnet hast.“
Er und stark? Er war doch immer noch voller Selbstzweifel. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich so stark bin, wie du glaubst. Ich bin sicher reifer geworden, aber was viel wichtiger ist, es geht mir richtig gut.“
„Das kann ich sehen. Der Mann scheint dir gut zu tun.“
„So ist es.“
„Gunnar hat uns erzählt, dass er sehr nett ist.“
„Gunnar scheint nicht viel von Verschwiegenheit zu halten.“
„Das ist aber vielleicht auch nicht immer das Wichtigste. Zumindest hält er viel von deinem Glen und ich muss sagen, dass er ziemlich vernünftig zu sein scheint.“
Philipp verzog das Gesicht. „Wie kommst du darauf?“
„Nach dem was ich von ihm gehört habe...“
Es war irgendwie ausweichend und Philipp beschlich ein leiser Verdacht. Hatte Glen etwas mit diesem Besuch zu tun? Hatte er die Arbeit vorgeschoben, damit dieses Treffen möglich werden konnte? Na, das würde er schon noch herausfinden.
„Also schön, Mutter. Wie soll es jetzt weitergehen?“
Sie stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. „Frieden?“
Er zögerte einen Moment, erhob sich dann
ebenfalls und griff ihre Hand. Sie ließ ihm keine Zeit zu
antworten, sondern zog ihn an sich heran und hielt ihn ganz fest.
Reflexartig versteifte er, doch es dauerte nicht lange und er
erwiderte die Umarmung. Und auf einmal war alles egal. Es war egal,
ob Gunnar ihn verraten hatte, es war egal, ob Glen sich mit ihm
verschworen hatte. Wichtig war nur das Ergebnis. Er hatte seine
Mutter wieder.