Erstes Kapitel
Christopher Tuchel war nervös. Wie oft er
sich schon mit der Hand durch seine etwas zu langen,
blonden Haare gefahren war, ein
sicheres Zeichen dafür, hätte er nicht sagen können.
AberUnd es war ja auchdas war kein Wunder. Heute war sein großer
Tag, sein erster Tag in Freiheit seit mehr als acht Jahren. Er
konnte es kaum fassen, dass es endlich soweit war. Acht Jahre, zwei
Monate und drei Tage genau hatte er auf diesen Augenblick gewartet.
Kürzer als ursprünglich vorgesehen und dennoch viel zu lange. Jeden
Tag hatte er sich ausgemalt, wie es wohl sein würde, wieder
außerhalb dieser Mauern zu sein, und doch konnte ihn nichts auf die
Realität vorbereiten.
Die Zeit drinnen war schlimm gewesen. Das Gefühl der Isolation hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Außer seiner Mutter, die wie ein Uhrwerk einmal die Woche aufschlug, hatte ihn niemand besucht. Sie war seine einzige Verbindung zur Außenwelt und leider keine besonders verlässliche, weil sie die Dinge gern nach ihren Vorstellungen färbte. Aber er wollte nicht undankbar sein, denn immerhin kam sie.
Seine Freunde hatten sich allesamt von ihm abgewandt. Er konnte es ihnen nicht verdenken, hätte er in einer vergleichbaren Situation sicher ähnlich gehandelt. Nicht, dass er keine Enttäuschung gespürt hatte, natürlich hatte er das. Es tat sogar verdammt weh. Aber er hatte Verständnis. Wer wollte schon mit jemandem wie ihm in Verbindung gebracht werden? Seine Freundin war die einzige, von der er mehr erwartet hatte. Am Tag nach seiner Verhaftung hatte sie ihn besucht, dann nie wieder.
„Ich denke, es ist besser, wenn wir uns erst einmal nicht sehen“, hatte sie zu ihm gesagt und sich dabei nicht getraut, ihm in die Augen zu sehen. „Zumindest nicht, bis ich ausgesagt habe.“
Er hatte Verständnis geheuchelt. „Ist vielleicht besser so.“
Er hätte sie am liebsten angebrüllt. Sah sie denn nicht, dass sie ihm damit schadete? Sie konnte ihm nur helfen, wenn sie vor aller Welt bekundete, dass sie zusammen gehörten. So schlimm konnte er doch wohl nicht sein, wenn seine Freundin nach wie vor zu ihm stand. Das wäre es gewesen, was alle Welt gedacht hätte. Wenn sie sich hingegen von ihm abwandte, war doch alles klar. Dann musste er schuldig sein. Das kam einer Verurteilung gleich. Doch er sagte nichts. Er wollte es nicht schlimmer machen, als es ohnehin schon war. Schließlich sollte sie für ihn aussagen.
Im Nachhinein musste er beinahe über sich selbst lachen. Wie naiv war er denn gewesen? Selbst als er sie die ersten Verhandlungstage auf dem Flur sah, wenn er in den Gerichtssaal gebracht wurde, und sie ihn keines Blickes würdigte, hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Erst als sie den Zeugenstand betrat und Dinge aussagte, die ihn in hohem Maße belasteten, wachte er auf. Zunächst hatte er wie versteinert da gesessen, weil er einfach nicht glauben konnte, was er da hörte. Irgendwann war er aufgesprungen und hatte geschrieen. Nur mit großer Mühe war er von seinem Anwalt daran gehindert worden, über die Bänke zu springen, um sich auf sie zu stürzen.
Er beruhigte sich schließlich, aber die eindringlichen Worte seines Anwalts und die Warnung des Richters, ihn bei der nächsten Entgleisung vom Verfahren auszuschließen, nahm er nur wie durch Watte wahr. Wirklich zugehört hatte er nicht. Er konnte nichts anderes tun, als sie zu beobachten. Dabei störte ihn weniger, was sie sagte. Es war vielmehr die Art, mit der sie ihre Aussage machte, die ihn schockierte. Kalt, emotionslos, distanziert. Diese innerliche Ruhe, die sie ausstrahlte, und die Art, wie sie ihn komplett ignorierte, ließen ihn erkennen, dass es vorbei war. Ach, was hieß vorbei, sie richtete ihn hin. Sie machte alle Chancen auf eine milde Strafe zunichte. Und das war genau das, was sie auch vorhatte. Sie wollte einen klaren Strich ziehen. Sie wollte ihn wissen lassen, dass er auf nichts zu hoffen brauchte, wenn er wieder raus kam. Wenn vorher noch jemand Zweifel an seiner Verurteilung gehabt hatte, nach ihrer Aussage waren die ausgeräumt. Es war schrecklich, aber irgendwie konnte er sie sogar verstehen. Was hatte er denn auch erwartet? Er hatte sie verletzt und das zahlte sie ihm jetzt mit barer Münze heim. Er hatte es nicht anders verdient. Es war klar, dass er sie niemals wieder sehen würde.
Also war ihm nur seine Mutter geblieben, denn einen Vater, der ihn besuchen konnte, hatte er nicht. Na ja, so ganz stimmte das nicht. Natürlich hatte er einen Vater, oder besser einen Erzeuger, aber den hatte er nie kennen gelernt. Er hatte keine Ahnung, ob sein Vater überhaupt von seiner Existenz wusste. Er selbst hatte nur bruchstückhafte Informationen durch Erzählungen seiner Mutter. Und danach war er ein hoffnungsloser Egoist, der nur an die eigenen Interessen dachte und dem andere Menschen völlig egal waren. Seine Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass er ohne ihn besser dran war.
Soweit ihm bekannt war, hatte sie seinen Vater bei der Arbeit kennen gelernt. Es war der Klassiker, der Boss und seine Sekretärin. Gleich zu Beginn hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er mehr als interessiert war, ihr Avancen gemacht, die sie eisern zurückgewiesen hatte. Sie hatte sich niemals darauf einlassen wollen, aber irgendwann war sie dann doch schwach geworden. Er hatte sie nach allen Regeln der Kunst umschwärmt, sie mit Geschenken überhäuft und ihr Versprechungen gemacht, bis er sie endlich so weit hatte. Nach einem Jahr im Job war sie seine Geliebte geworden. Er hatte sie im Glauben gelassen, dass sie für ihn wichtiger war als seine Ehefrau, hatte ihr tausendmal versichert, dass er sie verlassen würde, und doch war das niemals geschehen.
Sieben lange Jahre war sie die zweite Frau an seiner Seite, von der niemand etwas wissen durfte. Gegen alle Vernunft hatte sie nach wie vor darauf vertraut, dass sich alles zum Guten wenden würde und hatte sich mit ihrer Rolle zufrieden gegeben. Auch wenn es wehtat, dass er die meiste Zeit und vor allem die wichtigen Tage im Jahr, wie Weihnachten, bei seiner Familie war. Die Zeit, die sie mit ihm verbringen konnte, entschädigte sie für alles. Kritik mochte sie nicht hören. Gut gemeinte Ratschläge, ihn in den Wind zu schießen, - mal ehrlich, wenn man verliebt war, trennte man sich doch relativ schnell und wartete damit nicht mehrere Jahre - legte sie als Neid aus. Freundschaften zerbrachen daraufhin. Im Nachhinein verstand seine Mutter es. In allen Gesprächen hatte es sich immer nur darum gedreht, ob und wann er seine Familie endlich verlassen würde. Wer wollte das schon ständig hören, zumal wenn er wusste, dass sie sich etwas vormachte und ohnehin nicht darauf hörte, was man ihr riet?
Dann wurde seine Mutter schwanger und mit einem Schlag war die Affäre beendet. Sie hatte die Schwangerschaft nicht geplant, aber das war genau das, was er ihr unterstellte. Sie konnte es nicht fassen. Er bot ihr Geld für eine Abtreibung an und schlug vor, dass sie von nun an getrennte Wege gingen. Sie meldete sich krank, schloss sich für eine Woche in ihrer Wohnung ein und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Als sie keine Tränen mehr hatte und aus Enttäuschung Wut geworden war, war ihr klar, dass sie von nun an selbst ihr Leben in die Hand nehmen würde. In solch ein Abhängigkeitsverhältnis würde sie sich nicht mehr begeben. Sie ging zu ihm ins Büro, nahm das ihr angebotene Geld und kündigte fristlos. Sie hatten nie wieder Kontakt. Wahrscheinlich glaubte er, sie hatte tatsächlich abgetrieben, aber das hätte sie niemals fertig gebracht. Nein, sie hatte Christopher zur Welt gebracht und alles getan, um ihnen ein einigermaßen angenehmes Leben zu ermöglichen. Es hatte viele Entbehrungen bedeutet, aber seine Mutter hatte es nie bereut. Bis jetzt.
Wenn er darüber nachdachte, wurde ihm das Herz schwer. Seine Mutter hatte alles für ihn getan, sich förmlich für ihn aufgeopfert und er hatte es ihr auf furchtbare Weise gedankt. Sie war es, die er am meisten von allen enttäuscht hatte und doch war sie ihm als einzige geblieben. Wohl eben, weil sie seine Mutter war. Die liebe Mutter, die eine Person, die immer an ihr Kind glaubt und daran, dass es nur Gutes vollbringt, auch wenn alle Indizien gegen es sprechen. Auf sie ist Verlass und seine Mutter war da keine Ausnahme. Im Gegenteil, sie konnte geradezu als Paradebeispiel dafür dienen. Sie hatte jeden einzelnen Tag des Prozesses im Gerichtssaal gesessen, hatte allen Zeugenaussagen, auch seiner eigenen, zugehört, alle Beweise und Anschuldigungen mit stoischer Ruhe ertragen, mit der inneren Zuversicht, dass alles gut werden und ihr Sohn freigesprochen würde. Als das nicht geschah, konnte sie es nicht fassen, aber es änderte nichts an ihrem Glauben an seine Unschuld. Sie wollte es nicht einmal wahrhaben, nachdem er ihr gesagt hatte, dass er jede Strafe verdient hatte, die man ihm zugedachte.
„Ich will davon nichts hören“, sagte sie und sah ihm eindringlich in die Augen.
„Aber Mama“, fing er an und wurde sofort von ihr unterbrochen.
„Papperlapapp. Du bist mein Sohn und ich weiß genau, wozu du fähig bist und wozu nicht. Du bist zu Unrecht hier und ich werde alles daran setzen, um das zu beweisen.“
Er gab auf. Es hatte keinen Sinn, sie eines Besseren zu belehren. Sie glaubte ohnehin nur das, was sie glauben wollte. Aber er hatte es nicht besser verdient, nach dem was er getan hatte. Und doch hatte er insgesamt noch Glück gehabt. Er hatte Gerüchte gehört, wie sonst oft mit seinesgleichen im Gefängnis verfahren wurde und hatte das Schlimmste erwartet. Aber dieses Schicksal war ihm erspart geblieben.
In erster Linie lag das an seinem
Zellengenossen, einem Drogendealer russischer Herkunft.
VladimirFjodor. Groß und bullig,
voller Tätowierungen, mit einer Boxernase und glatt rasiertem
Schädel, der aussah wie Fünfzig, aber noch nicht einmal die Dreißig
erreicht hatte. Als man Christopher in seine Zelle gebracht hatte,
saß der Typ mit nacktem Oberkörper auf seiner Pritsche und
ignorierte ihn. Sein erster Impuls war, sich umzudrehen und nach
dem Wärter zu rufen, um in Sicherheit gebracht zu werden. Er konnte
sich lebhaft vorstellen, wie der Brutalo mit ihm umgehen würde.
Aber er hielt sich zurück. Stattdessen atmete er tief durch, zählte
im Geist bis zehn und näherte sich anschließend ganz behutsam
seiner Seite, um seine Sachen dort abzulegen.
Weit kam er nicht. VladimirFjodor packte ihn am Arm, dass er das Gefühl
hatte, er würde ihn zerquetschen, und zog ihn zu sich hinunter,
sodass sein Kopf neben seinem war. Seine Sachen fielen auf den
Boden.
„Iech weiß, was du chast getan“, presste der Russe hervor.
Christopher wurde ganz übel von dem Schmerz und dem Gestank, der von dem Mann ausging. „Das iech find widerliech. Am liebsten iech wierde täten diech.“
Christopher hatte wie Espenlaub gezittert.
Großartig, dann mach es bitte schnell. Doch zu seiner Überraschung
ließ VladimirFjodor ihn los und stieß
ihn auf sein Bett.
„Aber waruhm iech mier soll schmuhtsig machen Chände? Chier jeder iest ganz scharf darauf, es besorgen dier.“
VladimirFjodor erhob sich und
baute sich vor ihm auf. „Deschalb du passen auf, Junge. Du fir
miech arbeiten. Chleiniechkeit hier, Botengang da und iech diech
beschietze. Verstanden?“
Was sollte er tun? Hatte er eine Wahl? Natürlich war er einverstanden. Christopher nickte eifrig.
VladimirFjodor kontrollierte
seine Fingernägel. „Natierliech chast du. Du wissen, was passieren
sonst.“
So hatte er also seinen ersten Deal, bevor er
hatte bis drei zählen können. Und das war ein Glück. Der Russe
hielt sein Wort. Mit ihm legte sich niemand an. Letztendlich war es
also genau das Bedrohliche an VladimirFjodor, das Christopher im Gefängnis schützte. Nur
einmal kam es in den Duschen zu einem Vorfall. Der Typ, der
Christopher von hinten angegriffen und sich an ihm vergangen hatte,
tauchte danach nie wieder auf. Christopher wusste nicht, was mit
ihm geschehen war, aber es war ihm auch egal. Gerüchte sagten, man
hatte ihn erhängt in seiner Zelle gefunden, aber im Gefängnis
erzählte man sich viel. Jedenfalls gingen alle davon aus, dass
VladimirFjodor dahinter steckte,
auch wenn niemand sagen konnte, wie er es bewerkstelligt haben
sollte. Christopher vermutete fast, VladimirFjodor hatte das Gerücht selbst in die Welt
gesetzt. Wie auch immer, die anderen Insassen hüteten sich fortan,
sich Christopher auch nur auf ein paar Schritt zu nähern, wenn er
das nicht selbst wollte. Und auch seine Bedenken den Wärtern
gegenüber wegen der illegalen Geschäfte, die er unterstützte,
stellten sich als unnötig heraus. Entweder bekamen die wirklich
nichts mit oder sie hatten selbst Schiss vor VladimirFjodor und seinen Kumpanen und sahen absichtlich
weg oder sie wurden geschmiert.
Er war also zurechtgekommen, im Großen und
Ganzen, aber die innere Einsamkeit, die Auseinandersetzung mit
seiner Tat, dabei konnte ihm VladimirFjodor nicht helfen. Der
Richter damals hatte ihn vor der Urteilsverkündung danach gefragt,
ob er bereute. Er hatte ja gesagt und es auch so gemeint. Und ob er
das tat. Jeden verdammten Tag.
Dass Christopher an diesem Morgen knapp zwei
Jahre vorzeitig entlassen wurde, schmeckte VladimirFjodor gar nicht. Immerhin bedeutete es für ihn,
sich nach jemand anderem umzusehen, der für ihn die Drecksarbeit
machte. Bis zuletzt hatte Christopher befürchtet, dass er womöglich
etwas unternahm, um seinen Aufenthalt zu verlängern, aber seine
Angst war unbegründet. Alles verlief nach Plan.
Er hatte sich gefragt, wie es wohl sein würde, wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Was würde er spüren? Freude? Erleichterung? Oder doch eher Zweifel und Unbehagen wegen der Ungewissheit, die ihn draußen erwartete? Die Antwort darauf erhielt er an diesem Tag. Es gab kein vorherrschendes Gefühl, sondern es war von allem ein bisschen und dazu kam auch noch Angst. Angst vor der Zukunft, vor dem was kommen würde. Er war immerhin acht Jahre vom Erdboden verschwunden gewesen. Es hatte sich so viel verändert draußen. Würde er überhaupt zurechtkommen? Wo sollte er hin? Zunächst konnte er sicher bei seiner Mutter unterkommen, aber auf Dauer war das kein Zustand. Immerhin war er fast dreißig.
Und was sollte er anfangen? In seinen alten Job konnte er wohl kaum wieder zurückkehren, er hatte ja nicht einmal seine Ausbildung damals beenden können. Und wer wollte in einer Bank schon von einem wie ihm bedient werden?
Das war ohnehin die größte Sorge, die er mit sich herumschleppte. Würde man sich an ihn erinnern? Seine Mutter war gleich nach der Verurteilung in einen anderen Stadtteil gezogen, aber würde man dort nicht wissen, wer er war? Würden sie mit dem Finger auf ihn zeigen oder einfach nur hinter vorgehaltener Hand über ihn tuscheln? Er konnte sich schon lebhaft vorstellen, wie beim Bäcker die Gespräche verstummten, sobald er hereinkam, um ein Brot zu kaufen. Oder steigerte er sich da in etwas hinein? Die Menschen vergaßen doch schnell, gerade über einen solch langen Zeitraum. Und er hatte sich verändert. Mit dem schüchternen Jungen von damals hatte er nichts mehr gemein. Vielleicht machte er sich umsonst Gedanken und ihn erkannte gar niemand, wenn er ihm begegnete.
Er war froh, dass seine Mutter ihn am Tor erwartete. Sie schloss ihn in seine Arme und die Dämme brachen. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. Es war, als ob alles, was ihm durch den Kopf gegangen war, jetzt plötzlich raus wollte.
„Sch…“, machte seine Mutter und strich ihm dabei sanft über den Kopf. „Ist schon gut.“ Er wunderte sich ein wenig, wie gefasst sie war. Nach dem Kraftakt, der hinter ihr lag, hätte sie eigentlich ebenfalls völlig fertig sein müssen. Schließlich hatte sie die ganzen Jahre nicht aufgegeben, immer nach neuen Wegen gesucht, seine Haft zu verkürzen. Dabei waren ihre Möglichkeiten mehr als begrenzt. Sie hatte kaum eigenes Geld und um seine Verteidigung bezahlen zu können, hatte sie das Haus ihrer Eltern, das sie erst kurz zuvor geerbt hatte, wieder verkaufen müssen. Es war klar, dass sie irgendwann niemanden mehr beauftragen konnte, für seine Freilassung zu kämpfen. Christopher hatte ihr immer wieder gesagt, sie müsse aufhören, nach vorne blicken, auch mal an sich denken. Aber genauso gut hätte er mit einer Wand reden können.
Und jetzt war es endlich soweit. Sie war am Ziel, wenn auch weit später, als sie gehofft hatte. Eigentlich hätte sie Luftsprünge machen müssen. Doch sie wirkte ganz gelassen und empfing ihn mehr, als ob er von einem zweiwöchigen Urlaub zurückgekehrt war. Aber vielleicht beherrschte sie sich auch nur, damit wenigstens einer von beiden einen klaren Kopf behielt. Oder sie spürte ein wenig Enttäuschung, weil seine Entlassung nichts mit ihren Bemühungen zu tun hatte.
Nach ein paar Minuten löste er sich von ihr und wischte sich über die Augen. Erst jetzt merkte er, dass ihm kalt war. Eine Winterjacke hatte er natürlich nicht. Seine Mutter nickte ihm aufmunternd zu. Ohne ein Wort nahm sie ihm seine Tasche ab und zog ihn hinter sich her zu ihrem Wagen. Er beobachtete sie. Er hatte sie ja immer wieder gesehen während seiner Haft, aber irgendwie hatte er da die Veränderung nicht so wahrgenommen. Vielleicht weil ihn andere Dinge beschäftigten oder weil man im Gefängnis alles mit anderen Augen sah. Sie war noch schlanker als früher, wenn er das unter dem mit Fell abgesetzten Mantel richtig wahrnahm, ihre kurzen Haare ein bisschen grauer und er war sicher, dass die Jahre im Gefängnis ihr einige Falten mehr eingebracht hatten, aber er fand sie immer noch attraktiv. Sie trug Jeans und dunkle Halbschuhe und wie er so hinter ihr her trottete, hätte er sie nicht älter als Mitte Zwanzig geschätzt. So konnte man sich täuschen.
Den Audi hatte sie um die Ecke geparkt. Sie betätigte die Zentralverriegelung, öffnete den Kofferraum und warf seine Tasche hinein. Christopher stieg auf der Beifahrerseite ein und schnallte sich an. Auf dem Weg zu ihnen nach Hause versuchte er, die Umgebung in sich aufzunehmen. Am Gustav-Radbruch-Platz war eine Baustelle, aber die hatte es da ohnehin öfter mal gegeben. Aus dem Holiday Inn war ein Scandic Hotel geworden. Seine Mutter fuhr in den Kreisel und bog vor dem Burgtor rechts ab. Viel hatte sich hier nicht getan. Im Gegenteil, es sah alles genauso aus wie vorher.
„Was ist das für ein Gebäude?“ fragte er, nachdem sie die Hubbrücke passiert hatten, und zeigte auf einen Bau auf der anderen Seite der Trave.
„Die Media-Docks.“
„Und was ist das?“
„Da sind viele Büros untergebracht. Ein Call Center, Werbefirmen und so was ähnliches.“
Der Komplex hinterließ einen starken Eindruck. „Die haben sicher einen tollen Blick.“
Seine Mutter zuckte mit den Schultern. „Aber die Miete ist auch ziemlich hoch.“
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Es war fast wie früher. Nur er und seine Mutter. Vor seinem inneren Auge sah er sich als Achtjährigen auf dem Rücksitz, wie er mit ihr zum Einkaufen fuhr. Andere Erlebnisse fielen ihm ein, Dinge, an die er ewig nicht gedacht hatte, einfach, um im Knast nicht den Verstand zu verlieren. Unweigerlich schossen ihm erneut Tränen in die Augen und er wandte den Kopf ab, dass seine Mutter nichts bemerkte.
„Wir sind da“, hörte er sie schließlich sagen. Sie ließ den Gurt zurückschnallen und öffnete die Tür. Er seufzte und tat es ihr nach. Er stieg aus und warf ein Blick auf das alte Stadthaus, vor dem sie geparkt hatten.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem seine
Mutter Fotos mit ins Gefängnis gebracht hatte, aber die hatte er
gar nicht richtig angesehen. Er hatte immer vermutet, dass es ein
eher kleines Haus war, aber wie er jetzt davor stand, erschien es
ganz und gar nicht so. Es hatte einen blassblauen Anstrich und
graue Balken, die zwischen den Stockwerken verliefen. Das
Obergeschoss hatte eine kleine Gaube und das Dach schien ganz neu
gedeckt zu sein. Dass das Haus in der
Kerckringstraßeam Kolberger Platz stand,
wusste er noch. Allerdings hatte ihm der Straßenname nichts gesagt
und den genaueren Erklärungen seiner Mutter hatte er nicht
zugehört. Er hatte zwar eifrig genickt, aber nur weil sie das von
ihm erwartete. In Gedanken war er dabei gewesen, den nächsten Deal
für VladimirFjodor abzuwickeln. Sie
war also nach St. Lorenz Nord gezogen, nicht weit vom
Lohmühlenteller entfernt. Keine schlechte Wahl. Und vor allem am
ganz anderen Ende der Stadt, als sie zuvor gewohnt hatten.
„Kommst du?“ fragte sie.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon an ihm vorbei und den Weg zum Haus gegangen war. Jetzt stand sie auf der Treppe und hatte den Schlüssel ins Schloss gesteckt, in der anderen Hand seine Tasche. Mein Gott, was war er durch den Wind. Wieso ließ er sie seine Sachen schleppen? Er war schließlich keine sechs mehr. Er beeilte sich und trat hinter ihr ins Haus.
Das erste, das ihm auffiel, war der Geruch. Es roch wunderbar nach irgendwelchen Pflanzen. Oder war es ein Reinigungsmittel? Wenn, dann war es zumindest etwas anderes als das, das im Gefängnis verwendet wurde. Er hatte vergessen, wie herrlich es in einem Raum riechen konnte, der nicht gleichzeitig als Toilette benutzt wurde. Das war etwas anderes als der Körpergeruch der Mitinsassen oder der Essig- und Chlorgestank in der Wäscherei.
„Es ist ein schönes Haus“, sagte seine Mutter. „Sicher. Es ist anders als unser altes und es gehört uns nicht. Aber unter den Bedingungen…“
Sie brach ab und wich seinem Blick aus. Es schien, als hatte sie vergessen, mit wem sie sprach. Eine peinliche Stille folgte.
„Soll ich dir alles zeigen?“ fragte sie schließlich.
Er schüttelte den Kopf. Er war einfach nur kaputt. Komisch, obwohl er außer Aufstehen gar nichts getan hatte. Aber er fühlte sich, als ob sämtliche Energie seinem Körper entwichen war.
„Später. Nur mein Zimmer.“
Sie nickte und zeigte auf die Treppe. Sie hatte diesen für diese Art Haus so typischen Stil. Dunkle Holzstufen und ein breites Geländer, das grau gestrichen war. Er nahm seiner Mutter die Tasche ab und ließ sie voran gehen. Es war eigenartig. Da hatten sie sich jede Woche gesehen und doch war da plötzlich eine Spannung zwischen ihnen, die er sich nicht erklären konnte. Wusste sie nicht so recht, was sie sagen sollte? Wollte sie nicht noch mal ins Fettnäpfchen treten? Oder fühlte sie sich womöglich unbehaglich? Es war natürlich etwas anderes, ihn sicher verwahrt zu wissen, als ihn plötzlich wieder bei sich im Haus zu haben. Sollte er sie da irgendwie beruhigen? Aber wie sollte er das anstellen? Im Moment war er dazu sicher nicht fähig. Er wollte sich nur hinlegen, sich ein wenig ausruhen, die Gedanken schweifen lassen.
Der Flur war mit Raufaser tapeziert und gelb gestrichen. Der Boden war mit hellem Laminat ausgelegt. Hatte seine Mutter das veranlasst oder war das schon bei ihrem Einzug so gewesen? Er vermutete letzteres, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie unnötig Geld zum Fenster rausschmeißen würde. Sie öffnete die Tür auf der rechten Seite, die wie alle Türen im Haus aus dunklem Holz war und einen messingfarbenen Griff hatte, und ließ ihn vorbei.
Er blieb im Türrahmen stehen und traute seinen Augen kaum. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben war. Er war in einem völlig anderen Haus und es waren etliche Jahre ins Land gegangen und doch sah das Zimmer so aus, als ob er es erst gestern verlassen hatte. Seine Mutter hatte alles so hergerichtet, wie es früher gewesen war. Sein Schreibtisch am Fenster, ein Regal mit seinen Büchern und ein Fernseher links, das Bett gegenüber und sein Kleiderschrank neben der Tür. Selbst die Vorhänge waren dieselben, auch wenn sie ein wenig gekürzt worden waren. Das einzig andere waren die Dielen statt des Teppichs. Es war unglaublich. Er musste schlucken, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.
„Gefällt es dir?“
Er drehte sich zu ihr um. „Du hast nichts verändert.“
Sie machte einen Schritt zurück. „Ich lass dich mal besser allein. Wenn du mich suchst, ich bin unten.“
Er sah ihr noch einen Augenblick nach und schloss dann die Tür. Er warf die Tasche auf den Boden und atmete tief durch. Das Fenster war geöffnet und er konnte den Verkehr hören. War das die Autobahn oder die Friedenstraße? Er ging ans Fenster und sah hinaus. Sein Blick wanderte über den kleinen Garten, in dessen Mitte eine Wäschespinne stand, die in dieser Jahreszeit sicher kaum gebraucht wurde. Weit dahinter konnte er ein Gebäude sehen, das in den letzten Jahren am Lohmühlenteller neu errichtet worden war. Es sah aus wie ein Parkhaus, aber er glaubte irgendwie nicht, dass es eines war. Er konnte außerdem die Rückseite eines flacheren länglichen Baus sehen, früher Max Bahr, jetzt mit Sicherheit etwas anderes, weil er das Schild des Baumarktes weiter weg sehen konnte. Die schienen auf die andere Seite der Lohmühle gezogen zu sein und ordentlich vergrößert zu haben. Es war wirklich erstaunlich, was sich in der Zeit auf diesem Fleck alles getan hatte. Was er wohl erst an anderer Stelle verpasst hatte?
Er atmete tief durch. Nur nicht daran denken, was hätte sein können. Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Niemand konnte das. Was brachte es also, an die Vergangenheit und die entgangenen Chancen zu denken? Er musste nach vorn blicken. Und das, was da vor ihm lag, war schwer genug. Allein diese Ungewissheit, ob man sich an ihn erinnerte, machte ihn ganz nervös. Er seufzte und zog die Vorhänge zu, wobei er das Fenster geöffnet ließ. Es war schön, mal wieder normale Geräusche zu hören und wenn es nur Verkehrslärm war. Er entledigte sich seiner Schuhe, zog Hemd, Hose und Socken aus und schmiss sich anschließend in T-Shirt und Unterhose auf das Bett. Er hatte gerade angefangen nachzudenken, ob er überhaupt schlafen konnte, da war es schon um ihn geschehen.
Er erwachte seltsam entspannt. Zuerst wusste
er gar nicht, wo er war. Es roch so anders, so frisch irgendwie.
Und wieso hörte er kein Schnarchen von VladimirFjodor? Erst dann dämmerte es ihm. Er war ja
draußen. Und sofort begann sein Herz wie wild zu klopfen. Er war
tatsächlich draußen. Er sah auf den Radiowecker, der neben dem Bett
auf dem Fußboden stand. Die roten Zahlen zeigten 4:30 Uhr an. Er
kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal genau hin. Ja,
kein Zweifel. Da hatte er doch tatsächlich fast fünfzehn Stunden
geschlafen. Kein Wunder, dass er sich so erholt fühlte. Allerdings
war es da auch nicht weiter verwunderlich, dass seine Blase drückte
wie verrückt. Die sprichwörtliche Morgenlatte schmerzte beinahe. Er
setzte sich auf und lauschte. Es regnete, aber ansonsten hörte er
nichts. Seine Mutter schlief sicher noch tief und fest. Jetzt
bereute er, dass er sich nicht doch erst das Haus hatte zeigen
lassen. Wo, verdammt, war denn hier das Klo?
Er warf die Bettdecke zurück. Daran, dass er sich zugedeckt hatte, konnte er sich gar nicht erinnern. Er stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie einen Spalt und hielt erneut inne. Nichts. Er machte sie ganz auf und trat in den Flur. Es war zwar noch dunkel, aber nicht stockfinster. Er sah drei weitere Türen. Hinter welcher mochte sich eine Toilette befinden? Er versuchte es an der Tür gegenüber. Er legte sein Ohr ganz eng heran. Hören konnte er nichts. Dann beugte er sich hinunter und blickte durch Schlüsselloch. Es steckte kein Schlüssel von der anderen Seite, was den Raum für eine Toilette eher unwahrscheinlich machte. Dann nahm er sich die Tür neben seinem Zimmer vor. Das gleiche Vorgehen offenbarte zumindest einen Schlüssel von innen. Er drückte langsam die Klinke hinunter. Nichts. Er zog die Hand weg, als ob er sich verbrannt hatte. Mein Gott! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Seine Mutter hatte solche Angst vor ihm, dass sie sich in ihrem Schlafzimmer einschloss. Also war alles nur geheuchelt. Diese ganze Litanei, dass sie an seine Unschuld glaubte und alles versucht hatte, ihn herauszupauken. Alles nur ein Märchen. Sie war von seiner Schuld genauso überzeugt wie alle anderen. Sie hatte sich wohl nur so kämpferisch gegeben, weil sie vermutete, dass man das von ihr als Mutter erwarten würde.
Ihm wurde schlecht. Er fühlte, dass er sich jeden Augenblick würde übergeben müssen. Er eilte zur dritten Tür und riss sie auf. Es war in der Tat ein Bad. Der Drang, seine Blase zu entleeren, war auf einmal zweitrangig. Er schmiss sich vor die Toilette und hängte sich über die Kloschüssel. Es war keinen Moment zu früh. Es war nur Flüssigkeit, der er hoch würgte, er hatte ja seit Stunden nichts gegessen, aber die brannte wie Feuer. Als nichts mehr kam, ließ er sich erschöpft zu Boden sinken.
Erst jetzt merkte er wieder, weswegen er ursprünglich aufgestanden war. Er quälte sich hoch und ließ sich auf die Brille fallen. Er entleerte sich und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Wie sollte das hier weitergehen? Wie konnte er bei seiner Mutter wohnen, wenn die nicht mal in Ruhe schlafen konnte, weil sie Angst hatte, dass er ihr etwas antun konnte? Als ob er dazu jemals in der Lage gewesen wäre. Er spülte und verließ das Bad. Er hatte sich nicht einmal genau umgesehen. Waren Dusche und Badewanne vorhanden? Er hätte das nicht sagen können. Und es war ihm auch egal. Er würde ohnehin nicht lange bleiben. Jedenfalls nicht, solange seine Mutter ihm nicht vertraute.
Er ging zurück in sein Zimmer und legte sich wieder auf sein Bett. Total sinnlos! Er war hellwach. Ach was sollte es? Da horchte er eben ein wenig auf die Geräusche, die von draußen hereinkamen. Er war soeben doch ein wenig weggenickt, als er plötzlich eine Pforte gehen hörte. Sofort begann sein Herz zu pochen, wie so oft, wenn man im Dämmerzustand ungewöhnliche Laute vernahm. Er setzte sich auf. Das war doch ihre Pforte, oder nicht? Da, wieder. Und er musste über sich selbst lachen. Natürlich, die Zeitung! Na, wenn er sowieso wach war, konnte er sie genauso gut herein holen. Vielleicht fand er ja eine Anzeige, auf die er sich bewerben konnte. Klar, auf ihn hatten ja alle gewartet. Er hatte sicherlich eine Riesenauswahl an Angeboten.
Er sprang hoch und holte einen Pulli aus seiner Tasche. Im Bad vorhin hatte es ihn ziemlich gefröstelt. Er zog seine Socken vom Vortag über und verließ dann sein Zimmer. Er ging die Treppe hinunter, zur Haustür und öffnete sie. Er hatte richtig getippt. Im Zeitungsfach unter dem Briefkasten lag die zusammengerollte Zeitung. Er nahm sie mit hinein und schloss die Tür.
Einen Moment war er unschlüssig, ob er zurück nach oben gehen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er wandte sich nach links und betrat den Raum, der dort von der Diele abging. Es war die Küche. Er machte Licht und sah sich um. Die Küche gefiel ihm. Sie schien relativ neu zu sein, war nicht sonderlich groß, aber hatte genug Platz, dass man zur Not auch zu viert an dem hellbraunen Tisch sitzen konnte, um zu frühstücken. Die Stühle um ihn herum waren aus Metall und hatten ein Korbgeflecht als Sitzfläche und die Einbauschränke hatten die gleiche Farbe wie der Tisch. Was für ein Holz das war, wusste Christopher nicht. Da war er kein Experte. Er fand nur, dass es irgendwie gemütlich wirkte.
Er warf die Lübecker Nachrichten auf den Tisch und ging an den Kühlschrank, der für ihn leicht auszumachen war. Er schaute hinein und rümpfte die Nase. War seine Mutter unter die Vegetarierinnen gegangen? Was sollte das viele Gemüse darin? Meine Herren, der Salat hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Er nahm sich eine Dose Cola und ließ die Tür zufallen. Dann öffnete er die Dose, die ein lautes Zischen von sich gab. Er rechnete mit dem schlimmsten und streckte sie weit von sich, aber seine Sorge war unbegründet. Es kam nur ein ganz bisschen Schaum zum Vorschein. Er nahm einen Schluck und setzte sich an den Küchentisch. Ach, der Stuhl war ganz bequem, wenn er denn auch nicht danach aussah.
Er breitete die Zeitung aus und begann, ein wenig darin zu lesen. Gleichzeitig nippte er immer wieder an seinem Getränk. Na, die Jobanzeigen konnte er getrost vergessen. Sollte er für einen Euro pro Stunde irgendwo Laub zusammenharken? Oder eine Ausbildung? Sollte er die in seinem Alter nochmals in Angriff nehmen?
Er war gerade beim zweiten, mehr regional
ausgerichteten, Teil der Zeitung mit der Überschrift Hansestadt
Lübeck angekommen, als ihm der Atem stockte. Er hätte sich keine
Gedanken machen müssen, ob ihn jemand von früher erkennen würde
oder nicht. Das war nicht mehr nötig. Er konnte sich selbst sehr
gut erkennen auf dem Bild, das auf der Seite abgedruckt war und das
ihn beim Verlassen des Gefängnisses zeigte. Auch ohne den
dazugehörigen Text zu lesen, wusste er, dass damit alles vorbei
war. Jede Chance auf ein normales Leben in seiner Heimatstadt war
jetzt unmöglich geworden. Er schob die Zeitung von sich, stützte
die Ellbogen auf, ließ den Kopf in seine Hände fallen und schloss
die Augen. Aber es half nichts. Die Überschrift des Artikels war in
sein Hirn eingebrannt und lief wie in Dauerschleife vor seinem
inneren Auge ab. Mädchenmörder
wieder auf freiem Fuß.