DreizehntesNeuntes Kapitel

„Wir hätten gern noch mal mit dir gesprochen.“

„Mit mir?“ Judith Keller sah die beiden Kriminalbeamten an. Sie war überrascht. Was konnten sie von ihr wollen? Hatte der Typ, den sie bei Bent gesehen hatte, sein Schwager, ihren Namen bei der Polizei angegeben?

„Wer ist da?“ hörte sie ihre Mutter mit brüchiger Stimme von oben rufen.

„Die Polizei noch mal.“

„Ich komm gleich.“

Judith war eben bei ihrer Mutter im Schlafzimmer gewesen, um nach ihr zu sehen. Sie hatte schlecht ausgesehen, aber das war ja kein Wunder, wenn sie, wie sie sagte, die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Und wer konnte ihr das verdenken? Sie selbst hatte ja kaum ein Auge zu gemacht, obwohl, wenn sie ehrlich war, das nicht nur mit Sina zu tun hatte. Sicher, es belastete sie, dass ihre Schwester nicht mehr da war, aber ihre Gedanken kreisten seit den fünf Tagen, die sie jetzt tot war, nicht ausschließlich um sie. Bent hatte sich tagelang nicht bei ihr gemeldet, trotz zahlreicher Nachrichten ihrerseits, und das hatte sie beunruhigt. Dabei war es nicht die Angst gewesen, dass er sie mit einer anderen betrog oder so, immerhin war er ja nicht gerade ihre große Liebe. Nein, sie hatte das Gefühl, dass es irgendetwas mit Sina zu tun hatte, dass er auf Tauchstation gegangen war und sie hätte zu gern gewusst, was das war.

Als er sie dann gestern anrief, hatte sie gehofft, etwas von ihm zu erfahren, aber dann war da sein Schwager, der ihm soeben ein blaues Auge geschlagen hatte und irgendetwas von seiner Tochter faselte. Sie hatte kein Wort begriffen, nur soviel, dass der glaubte, Bent war schuld an Sinas Tod. Bent hingegen hatte ihr versichert, mit Sinas Tod nichts zu tun zu haben und hatte sie gebeten, ihm einen Tag Zeit zu geben, dann würde er ihr alles erklären. Er hatte in dem Moment so verzweifelt gewirkt, dass sie nicht weiter in ihn gedrungen war. Dennoch nagte seitdem die Ungewissheit an ihr, ob er die Wahrheit gesagt hatte und ob sie womöglich den Mord an ihrer Schwester hätte verhindern können, wenn sie die Beziehung zu ihm früher beendet hätte.

Ihrer Mutter gegenüber hatte sie natürlich nichts davon verlauten lassen und ihr lediglich einen Beruhigungstee versprochen. Sie war eben dabei gewesen, ihn aufzubrühen, als die Beamten geklingelt hatten.

„Brauchen Sie meine Mutter auch? Wissen Sie, es geht ihr ziemlich schlecht im Moment. Das erste Wochenende ohne meine Schwester war ziemlich hart. Und dann sie dort in der Gerichtsmedizin liegen zu sehen, war wohl schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte.“

Hauptkommissar Funke schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Wenn du sie nicht unbedingt dabeihaben willst…“

„Du kannst ruhig oben bleiben“, rief Judith ihrer Mutter vom Fuß der Treppe zu.

„Bist du sicher?“

„Ja, alles in Ordnung. Ich bring dir in einer Minute deinen Tee.“ Sie wandte sich an die beiden Männer. „Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer. Ich bringe meiner Mutter noch den Tee und dann bin ich bei Ihnen.“

Sie wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern ging schnurstracks in die Küche, entsorgte die beiden Teebeutel aus der Kanne im Ausguss, nahm diesie Kanne und einen Becher und ging die Treppe hoch zum Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür und ging zum Bett, in das sich ihre Mutter schon wieder gelegt hatte.

„Danke, mein Liebes.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Judith setzte sich zu ihr auf die Bettkante und strich ihr über das Gesicht. Sie schien irgendwie zerbrechlicher als noch am Tag zuvor, vielleicht weil der Verlust ihr mit jeder Minute deutlicher wurde. Seltsam, wie ein schlimmes Ereignis die Sichtweise veränderte. Plötzlich wusste sie gar nicht mehr, warum sie immer solch eine Wut auf ihre Mutter verspürt hatte. Jetzt hatte sie nur Mitleid mit ihr und wünschte, sie könnte ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Aber das wurde es eben nicht.

Sie goss ihrer Mutter einen Becher ein und reichte ihn ihr. „Ich geh dann mal und rede mit den beiden.“

Ihre Mutter nahm einen Schluck. „Sind es wieder dieselben?“

„Ja, wie gehabt.“

„Haben Sie gesagt, was sie von dir wollen?“

„Das werde ich gleich herausfinden.“

„Ich möchte dich eigentlich nur ungern mit ihnen allein lassen. Soll ich nicht doch mitkommen?“

„Auf keinen Fall. Du bleibst schön hier liegen und ruhst dich aus. Ich werde schon fertig mit den beiden, mach dir da mal keine Sorgen.“

Ihr Blick fiel auf das Telefon, das neben dem Bett auf dem Nachttisch lag und sie griff danach. „Ich nehme das Telefon mal lieber mit, sonst weckt dich gleich noch einer.“

Ihre Mutter streckte die Hand aus. „Nein, lass nur. Ich muss sowieso noch mal mit Zoe sprechen.“

„Bist du sicher?“

„Ja, ist schon gut.“

Wenn sie meinte. Achselzuckend gab sie ihr das Telefon und stand dann auf. „Versuch noch ein bisschen zu schlafen.“

Ihre Mutter nickte und sie verließ das Zimmer.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte sie die beiden Männer, als sie wieder unten war, ganz die geborene Gastgeberin.

„Nein, danke.“

Sie setzte sich zu ihnen in die Sitzecke im Wohnzimmer und sah sie gespannt an. „Sie haben noch ein paar Fragen an mich?“

Der Hauptkommissar lächelte sie an und machte dadurch einen sehr sympathischen Eindruck, wie auch sein junger Kollege, der im übrigen ziemlich heiß war, komisch, dass ihr das vorher nicht aufgefallen war. Lag das vielleicht daran, dass er jetzt keine Brille mehr trug? Wie auch immer, sie war trotzdem auf der Hut. Sie kannte unzählige Krimiserien aus dem Fernsehen und wenn dort die Polizisten freundlich daherkamen, war meist Gefahr im Verzug.

„Frau Ludwig ist nicht länger bei euch?“

Gott sei Dank. „Nein. Sie ist heute Morgen zur Arbeit. Eigentlich wollte sie heute noch bleiben, aber dann ist ihre Partnerin ausgefallen und sie musste einen Job übernehmen. Aber es ist okay, wir kommen auch ohne sie zurecht. Ich denke, sie wird heute Abend noch mal nach meiner Mutter sehen, aber schlafen wird sie zu Hause.“

Er nickte. „Es geht noch mal um deinen Freund, Bent Masio.“

War ja klar. Also hatte sein Schwager Wort gehalten. Wie gut, dass ihre Mutter oben geblieben war. Es war besser, wenn sie nicht alles wusste, was Bent betraf. „Was ist mit ihm?“

„Wir haben am Freitag mit ihm gesprochen, aber er scheint uns nicht ganz die Wahrheit gesagt zu haben.“

Was für eine Überraschung. „Und?“

„Wann genau hast du dich mit ihm am Mittwochnachmittag getroffen?“

„Das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Um halb drei.“

„Bei ihm?“

„Ja.“

„Und du bist dir sicher bei der Zeit?“

Wieso glaubten sie ihr nicht? „Ja.“

Die beiden Männer wechselten einen Blick, den sie nicht deuten konnte. Hatte Bent ihnen etwa was anderes gesagt?

„Mal eine andere Frage, Judith“, sagte der junge Beamte. „Hast du mal mitbekommen, ob deine Schwester sich mit deinem Freund getroffen hat?“

Ja, einen Tag vor ihrem Tod. „Wieso sollten die beiden sich treffen?“

Er räusperte sich. „Nun, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber dein Freund war anscheinend nicht ganz ehrlich zu dir. Es gibt mehrere Zeugen dafür, dass die beiden sich getroffen haben, ohne dass du dabei warst. Er hat sie auch mit seinem Motorrad vom Handballtraining abgeholt.“

Woher hatte er das? Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Die Leute müssen sich irren. Das würde Bent niemals tun.“

„Ich fürchte doch.“

In ihrem Kopf begann sich alles ganz furchtbar zu drehen. Wie schon in der letzten Woche drängten sich ihr Bilder auf, die sie bislang erfolgreich verdrängt hatte. Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit ihrer Schwester und wusste plötzlich, dass der Mann Recht hatte. In ihrem Kopf setzten sich bestimmte Ereignisse zu einem Mosaik zusammenzusetzen und alles machte plötzlich Sinn. War sie so blind gewesen? Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder von Sina und Bent auf und ihr wurde schlecht. Wieder einmal.

„Entschuldigung, aber ich glaube, ich muss Sie mal eben allein lassen.“

Sie sprang auf und rannte zum Gäste-WC, das neben der Eingangstür von der Diele abging. Sie kniete sich hin und würgte das Toastbrot hoch, das sie vor ein paar Minuten gegessen hatte. Fünf Minuten später saß sie mit frisch geputzten Zähnen wieder im Wohnzimmer, leicht außer Atem aber kämpferisch. Wenn der Schweinehund sie hintergangen hatte, und dann noch mit ihrer Babyschwester, würde sie jetzt ihr Möglichstes tun, ihn zu belasten.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte der junge Mann.

Sie nickte, obwohl sie ihm kein Wort glaubte. Er hatte das doch absichtlich erzählt, damit sie ihre Aussage zu Bents Alibi noch einmal überdachte. Sie war nicht von gestern, wenn sie auch erst sechzehn war. So leicht zu manipulieren war sie nicht, auch wenn sie jetzt wahrscheinlich genau das tat, was sie sich von ihr erhofften.

„Ich möchte Ihnen etwas erzählen, was ich gestern erlebt habe.“

Sie berichtete ihnen von dem Erlebnis in Bents Wohnung.

„Sein Schwager?“ fragte Funke erstaunt.

„Ja. Anscheinend hat Bent irgendetwas mit seiner Tochter, also Bents Nichte, angestellt.“

„Haben Sie eine Ahnung, wie der Mann heißt?“

„Ich weiß nur den Vornamen. Simon.“

„Was?!“

Scheinbar sagte den Männern der Name etwas, so aufgeschreckt, wie sie auf einmal waren.

„Und was hat er genau gesagt?“

„Dass Bent etwas mit Sina und seiner Tochter gemacht hat.“

„Warum haben Sie das nicht gleich der Polizei gemeldet?“ Funke bemühte sich um einen ruhigen Ton, aber sie hatte den Eindruck, als hätte er sie gern angebrüllt.

„Weil Bent mir versichert hat, dass dieser Simon völlig durchgeknallt ist. Und wenn Sie dabei gewesen wären, hätten Sie das auch gedacht.“

Das schien ihm einzuleuchten. „Und glauben Sie das jetzt immer noch?“

Nein. Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Aber ich hab nicht ganz die Wahrheit gesagt neulich.“

Beide machten ein überraschtes Gesicht, aber sie konnten ihr nichts vormachen. Sie wusste, dass sie damit schon gerechnet hatten.

„Bent und ich, also wir waren am Mittwoch wirklich um halb drei verabredet. Aber als ich an seiner Wohnung ankam, war er nicht da und ich war schon mindestens zehn Minuten zu spät. Er kam dann noch etwa eine halbe Stunde später. Und Sie können sich vorstellen, dass ich ziemlich sauer war, dass ich da so lange draußen auf ihn warten musste.“

„Hat er gesagt, warum er zu spät war?“

„Es ging um etwas Geschäftliches, mehr hat er nicht gesagt.“

„Was macht er überhaupt? Uns gegenüber hat er sich sehr vage ausgedrückt.“

„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht wissen. Ich nehme an, dass vieles, was er macht, nicht ganz korrekt ist und da wollte ich nicht mit reingezogen werden.“

„Vernünftig.“

Sie zuckte nur mit den Achseln. Vernünftiger wäre es sicher gewesen, sich gar nicht erst mit diesem Abschaum von Mann abzugeben. Wenn der es wagen sollte, sich noch mal bei ihr zu melden, dann konnte er sein blaues Wunder erleben.

„Warst du wirklich den ganzen Tag mit ihm zusammen, wie du uns neulich erzählt hast?“

Sie konnte ihn jetzt richtig reinreiten, wenn sie wollte. „Ja, da hab ich die Wahrheit gesagt. Wir haben ein bisschen in seiner Wohnung herumgehangen, aber er war irgendwie nicht gut drauf, keine Ahnung wieso. Dann hat er ein bisschen an seinem Notebook gearbeitet, und am Abend musste er dann in eine Kneipe.“

„Er musste in eine Kneipe? Wie meinen Sie das?“

„Das waren seine Worte. Er meinte, er müsste da noch was abgeben.“

„Aber Sie haben keine Ahnung, was das war?“

„Nein. Und wenn Sie den Laden gesehen hätten, hätten Sie das auch nicht wissen wollen.“

„Wie heißt das Lokal denn?“

„Stefan’s Eck. Natürlich mit falsch gesetztem Apostroph. Es ist in Buntekuh, in der Korvettenstraße. Ein ganz heruntergekommener Laden.“

Der junge Beamte notierte sich den Namen und sah dann von seinem Notizblock auf. „Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, besitzt Herr Masio einen Computer.“

Sie runzelte die Stirn. „Ja. Ein Notebook. Wieso sind Sie überrascht? Hat nicht jeder heutzutage einen Computer?“

„Weil wir in seiner Wohnung keinen Computer gefunden haben und er behauptet hat, keinen zu besitzen.“

„Das ist gelogen. Er hat einen. Ich selbst war damit schon bei ihm in Internet.“ Sie war verwirrt. Warum log er die Polizei so offensichtlich an?

„Hast du eine Idee, wo er das Notebook haben könnte?“

„Sie denken, er hat es bei mir gelassen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Da muss ich Sie enttäuschen. So groß ist sein Vertrauen in mich nicht. Ich hatte ja nicht einmal einen Schlüssel für seine Wohnung.“

„Hast du eine Vorstellung, wo er ihn sonst aufbewahren könnte?“

Sie überlegte einen Moment. „Na ja, wenn ich Sie wäre, würde ich mal in seiner kleinen Hütte nachgucken.“

„Hütte?“

„Er hat so ein kleines Strandhäuschen auf dem Priwall.“

Der Priwall ist eine Halbinsel und gehört zum Ostseebad Travemünde, ist von dort aber nur mit einer Fähre zu erreichen. In Zeiten des kalten Krieges verlief hier die Grenze zur DDR.

„Wie kommt er denn dazu?“ rutschte es Hauptkommissar Funke heraus.

„So genau weiß ich das auch nicht. Er hatte wohl ziemlichen Ärger mit seinen Eltern und irgendwann haben die ihn fallen lassen. Das hat er zumindest immer behauptet. Jedenfalls haben die ihm diese Hütte vermacht und sich jeglichen weiteren Kontakt verbeten.“

„Wo ist sie genau? Warst du schon mal dort?“

„Nein, aber ich kenne die Adresse.“ Sie nahm einen Zettel von einem Notizblock und einen Kugelschreiber, die immer auf dem Tisch lagen und notierte die Anschrift für sie. 

„Wenn wir da auch nichts finden, gibt es sonst jemanden, dem er etwas anvertraut hätte, was niemand anderes sehen soll?“

Sie runzelte die Stirn. „So was wie einen besten Freund, meinen Sie?“ Sie ging in Gedanken die Typen durch, mit denen er immer rumhing. „Da fällt mir eigentlich nur einer ein. Pinky. So richtige Freunde hat Bent nicht, aber wenn jemand für ihn etwas versteckt, dann kommt nur Pinky in Frage.“

„Pinky? Was ist das für ein Name?“

Sie musste gegen ihren Willen lachen. „Er heißt nicht wirklich so. Ich glaube, sie nennen ihn so, weil er recht klein ist und irgendwie aussieht wie zwölf, obwohl er schon zwanzig ist. Sie wissen, dass Pinky im Englischen der kleine Finger ist, oder? Jedenfalls ist Pinky so ein Computerfreak, der keine Ahnung hat, was im richtigen Leben so abgeht. Ein ganz furchtbarer Typ. So ein Blasser mit ganz vielen Pickeln.“

„Aber Bent ist mit ihm befreundet.“

„Weil er Knete hat. Und so bescheuert ist, dass er gar nicht merkt, wie alle anderen ihn ausnutzen.“

„Weißt du denn, wie er richtig heißt?“

„Ronny Andresen.“

„Was?“

Judith sah erschrocken zu Hauptkommissar Funke hinüber, der aussah, als hätte ihn der Schlag getroffen. „Was ist?“

„Wir kennen Ronny Andresen bereits.“

„Woher?“

„Er ist der junge Mann, der deine Schwester auf dem Friedhof gefunden hat.“

Jetzt hatte sie das Gefühl, als wäre sie vom Blitz getroffen worden.

 

Marina Müller stellte die Waschmaschine mit der Buntwäsche an und ging die Treppe vom Keller nach oben in die Diele. Während die Maschine lief, konnte sie sich jetzt in aller Ruhe noch einen Kaffee gönnen, bevor sie den Tisch abräumte, die Betten machte, die Blumen goss und ein wenig Staub wischte. Herrlich, wenn sie am Morgen das Haus für ein paar Stunden für sich hatte, bis einer der Jungs als erster aus der Schule kam.

Sie betrat die Küche und goss sich eine Tasse Kaffee ein, den sie noch mit einem Tropfen Milch verfeinerte. Dann setzte sie sich wieder an den Frühstückstisch und nahm sich die Zeitung. Sie hatte den ersten Teil des Blattes durch und die halbe Tasse leer getrunken, da klingelte es an der Tür. Eine Nachbarin vielleicht? Sie stand auf und ging in die Diele zur Tür. Durch deren Glas konnte sie zwei Personen davor erkennen. Zeugen Jehovas? Das fehlte auch noch. Innerlich gewappnet, die Tür den Besuchern gleich vor der Nase zuzuschlagen, riss sie sie auf und wurde überrascht.

„Guten Morgen, Frau Müller“, sagte der Kriminalbeamte, der sie schon in der vergangenen Woche aufgesucht hatte. Damals hatte sie ihn für einen Lackaffen gehalten, so adrett und akkurat gekleidet wie er war. Heute wirkte er irgendwie anders. War sein Haarspray ausgegangen?

„Mein Sohn ist in der Schule“, platzte es aus ihr heraus, ohne dass sie die Begrüßung erwiderte.

„Das wissen wir. Wir hätten gern einen Moment mit Ihnen gesprochen.“

Was? „Mit mir?“

Der Mann blickte sich vielsagend um. „Wollen Sie uns nicht hineinbitten?“

Ungern. „Na schön. Kommen Sie.“

Sie ließ die beiden herein und schloss die Tür hinter ihnen. Weiter bat sie sie nicht. Die Küche war nicht aufgeräumt und sie wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Es fröstelte sie leicht, obwohl es im Flur geheizt war. Sie wusste, dass ihr nicht gefallen würde, was die beiden von ihr wollten.

„Worum geht es? Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht so recht, warum Sie noch mal herkommen. Merle ist doch wieder aufgetaucht.“

„Es geht nicht um Merle Grothe.“

Sie machte ein erstauntes Gesicht. „Nicht?“

Der Mann wechselte einen Blick mit der Frau, die dann das Wort an sie richtete.

„Frau Müller, erinnern Sie sich, dass wir Sie am Donnerstag nach dem Mädchen gefragt haben, das ermordet wurde.“

Was für eine Frage war das denn? Sie hatte schließlich nicht jeden Tag mit der Polizei zu tun und wurde in einem Mordfall befragt.

„Sie meinen Sina...wie war der Nachname noch?“

„Keller.“

„Ach ja. Was ist mit ihr? Mein Sohn hat Ihnen doch schon gesagt, dass er das Mädchen nicht kennt.“

Die Frau musterte sie nachdenklich. „Wie schon gesagt, es geht nicht um Ihren Sohn.“

Nicht? Worum denn dann? Was konnte sie ihnen denn über ein Mädchen sagen, dessen Namen sie noch nicht einmal gehört hatte? Sie wartete ab.

„Sie haben den Namen wirklich noch nie zuvor gehört?“

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. „Nein. Warum sollte ich?“

„Ihr Mann hat den Namen nie erwähnt?“

Ihr stockte der Atem. In welche Richtung lief das denn jetzt?

„Was? Nein. Warum sollte er? Was hat mein Mann damit zu tun?“

„Das Mädchen hat in seinem Team Handball gespielt.“

Sie starrte die Frau an. „Sie meinen in der Mannschaft, die er ab und an mal trainiert?“

„Ja.“

Sie erinnerte sich plötzlich an seine Reaktion, als die Sprache auf das Mädchen gekommen war. Er hatte nicht beantwortet, ob er es kannte oder nicht, sondern war der Frage geschickt ausgewichen. Unbewusst musste sie es neulich schon wahrgenommen haben, dass da etwas nicht stimmte, hatte sie doch die ganze Zeit das Gefühl gehabt, als wäre ihr etwas entgangen.

„Vielleicht war das Mädchen neu und er kannte ihren Namen gar nicht.“

Sie erntete einen mitleidigen Blick des Mannes, für den sie ihn am liebsten den Mittelfinger gezeigt hätte. „Er hat das Mädchen einmal in seinem Wagen mitgenommen.“

Sie war schockiert. Aber sie würde den Teufel tun, sie das merken zu lassen. „Warum erzählen Sie mir das?“

„Ihr Mann hat Ihnen nichts davon gesagt?“

Sie seufzte. „Doch. Aber ich dachte nicht, dass das alles eine Rolle spielt.“

Die beiden sahen sie ungläubig an, aber das war ihr egal. Sollten sie ihr erst einmal das Gegenteil beweisen.

„Frau Müller, eben haben Sie noch gesagt, dass Sie Sina Keller nicht kannten und jetzt behaupten Sie, dass Ihr Mann Ihnen erzählt hat, er hat sie nach Hause gefahren?“

Wenn er das so sagte, hörte sich das wirklich bescheuert an, aber sie erholte sich schnell.

„Er hat mir gesagt, dass er ein Mädchen mitgenommen hat. Den Namen hat er nicht erwähnt.“

Es war klar, dass sie ihr kein Wort glaubten, aber das machte sie nur störrischer. 

„Hat Ihr Mann häufiger Kontakt zu jungen Mädchen?“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Was zum Teufel wollen Sie damit sagen?“

Der Mann kniff die Augen zusammen. „Ich denke, Sie haben die Frage verstanden.“

Sie stieß einen Laut aus, der ihre Ungläubigkeit zum Ausdruck bringen sollte. „Er trainiert einmal im Monat eine Mädchenmannschaft und guckt am Wochenende bei ihren Spielen zu. Da kommt es sicher ab und an mal vor, dass er auch näheren Kontakt zu ihnen hat.“

Sie blickte herausfordernd von einem zum anderen.

 „Und war es eine Ausnahme, dass er ein junges Mädchen in seinem Wagen mitnimmt?“

Wenn sie das mal hätte sagen können. „Das war das einzige Mal.“

„Führen Sie eine glückliche Ehe?“

„So, das reicht jetzt. Raus hier!“ schrie sie die beiden an, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, was der Mann sie gefragt hatte.

„Frau Müller…“

„Raus!“ Sie ging an ihnen vorbei und riss die Haustür auf. „Verlassen Sie mein Haus. Sofort!“

Die beiden warfen sich einen Blick zu, aber folgten ihrer Aufforderung. Sie warf die Tür hinter ihnen ins Schloss und lehnte sich von innen dagegen. Sie merkte, wie ihr Tränen die Wangen runterliefen. Tränen der Wut, dass Lars sie in diese Situation gebracht hatte, von den Beamten derart auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Sie haute mit der Faust gegen die Tür. Verdammt, warum hatte Lars ihr nichts gesagt? War er wirklich so dumm zu glauben, dass die Polizei nicht herausfinden würde, dass er das Mädchen kannte?

Sie atmete mehrmals tief durch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Genug geheult. Was hatte sie zu tun? Am liebsten hätte sie Lars angerufen und ihn angebrüllt, sofort seinen Arsch nach Hause zu bewegen, um ihr zu erklären, was passiert war, aber die Blöße würde sie sich nicht geben. Wenn ihre Eltern ihr etwas beigebracht hatten, dann war es das, dass man seine Gefühle im Griff hatte, dass man seinem Gegenüber niemals offenbarte, wie es in einem aussah. Nur keine Schwäche zeigen und damit würde sie jetzt auch nicht anfangen. Also gut, was dann?

Sie rieb mit den Händen an ihren Oberschenkeln entlang, was sie immer tat, wenn sie nervös war und überlegte, wo sie etwas finden konnte, das ihr einen Hinweis darauf geben konnte, was in ihrem Mann vorgegangen war, als er mit dem Mädchen im Wagen gesessen hatte. Sie machte sich nichts vor, natürlich hatte es etwas zu bedeuten, dass er ihr nichts davon erzählt hatte. Sie verstand, warum er sich jetzt nicht dazu geäußert hatte, nachdem das Mädchen ermordet worden war, aber warum hatte er ihr nicht sofort davon berichtet? Wenn das alles so unschuldig war, hätte er ihr doch davon erzählen können.

Sie rannte die Treppe hinauf und in das gemeinsame Schlafzimmer. Vielleicht fand sie ja etwas bei seinen Sportsachen. Sie riss die rechte Tür ihres Dreimeterschranks auf und schob ein paar Jacken auf der Stange beiseite, um an Lars’ Trainingsanzüge zu kommen. Sie nahm sich den ersten vor und wühlte in seinen Taschen. Nichts. Weder in der Jacke, noch in der Hose. Beim zweiten das gleiche und auch der dritte gab nichts her. Aber was hatte sie da auch erwartet? Liebesbriefe etwa? So bescheuert würde er ja wohl nicht sein, die im Schrank aufzubewahren.  Sein Handy? Da kam sie wohl kaum so ohne weiteres heran. Seine Emails? Wie sollte sie da an sein Account kommen? Scheiße.

Sie ließ sich aufs Bett fallen und stützte sich mit den Händen am Rand ab. Dabei fiel ihr Blick auf seine Sporttasche, die in einer Abseite neben dem Schrank stand. Einen Versuch war es wert. Sie stand auf und nahm sich die Tasche vor. Sie hatte schon alles durchgesehen und wollte sie wieder wegstellen, als sie stutzte. Da war doch noch ein kleiner Beutel mit einem Reißverschluss eingenäht, wie er oft in Rucksäcken zu finden ist, in dem man so etwas wie Schlüssel oder Kleingeld verstauen kann. Beim Abtasten fühlte er sich zu dünn an, als dass darin etwas Verräterisches zum Vorschein kommen konnte, aber sie öffnete trotzdem den Verschluss und fasste hinein. Es war ein Zettel, klein und zusammengefaltet, den sie herausholte. Er war mit Kugelschreiber beschrieben und es war nicht die Handschrift ihres Mannes. Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch. Guck mal unter sagmirwasduwillst.de.

 

Pinky kratzte sich an der Stirn. Au, verdammt, jetzt hatte er wieder einen Pickel erwischt. Wann er die wohl mal loswerden würde? Hatte man die nicht eigentlich nur in der Pubertät? Er konnte ja wohl annehmen, dass er die mit seinen knapp einundzwanzig Jahren wohl längst hinter sich gebracht hatte, doch die Pickel wollten einfach nicht verschwinden, und wenn er hundertmal Clearasil benutzte. Aber wie sollte er die Stellen auch loswerden, wenn er sie ständig wieder aufkratzte? So wie andere an den Nägeln kauten, kratzte er sich eben seine Stellen auf. Vor allem, wenn er nervös war, konnte er sich einfach nicht bremsen. So wie jetzt.

Er hätte sich am liebsten in der Erde verkrochen. Genau das hatte er befürchtet, seitdem er Bent geholfen hatte. Er hatte einfach gewusst, dass man ihnen auf die Spur kommen würde. Warum hatte er sich nur auf seinen Vorschlag eingelassen? Warum hatte er nicht auf seine innere Stimme gehört und seinem Freund eine Abfuhr erteilt? Jetzt saß er mächtig in der Scheiße und nur ein Wunder konnte ihn da wieder rausholen.

Als er von dem Mann und der Frau gebeten wurde mitzukommen, war seine Mutter fast in Ohnmacht gefallen. Sie hatte ihm schon seit Jahren prophezeit, dass er noch mal im Knast landen würde, wenn er sich weiterhin als Hacker betätigte. Sie hatte ganz bestimmt zu viele Amifilme gesehen, in denen Jugendliche irgendwelche geheimen Pläne entschlüsselt hatten und dann vom FBI und anderen Geheimdiensten quer durchs ganze Land verfolgt wurden und hatte befürchtet, dass es ihm ähnlich ergehen würde. Dass sie am Ende Recht behalten würde, obwohl es nichts mit seiner Arbeit am Computer zu tun hatte, war fast schon wieder komisch. Doch zum Lachen war ihm nicht zumute, als er sich jetzt den beiden Männern gegenüber sah, die ihn am Freitag bei der Arbeit aufgesucht hatten.

„Guten Morgen, Ronny“, sagte der Mann vom Friedhof. „Erinnern Sie sich noch an uns?“

Er nickte. Was war das denn für eine Frage? Es war schließlich erst drei Tage her, dass sie ihn aufgesucht hatten. Hielt er ihn für minderbemittelt? Na ja, dann ging es ihm wie vielen anderen auch, die immer annahmen, er könnte nicht bis drei zählen. Er hatte fast einen Herzinfarkt bekommen, als sein Boss ihn nach vorne an den Tresen gerufen hatte und er den Kommissar vom Friedhof wiedererkannte, der bei weitem nicht so freundlich aussah wie an jenem Morgen. Und das lag bestimmt nicht daran, dass Snoopy nicht dabei war. Er hatte sich zusammengerissen und sich insgesamt ganz gut aus der Affäre gezogen, wie er fand, zumindest hatte er schnell reagiert, aber ihm war klar gewesen, dass er den Mann nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Er hätte sich ohrfeigen können, dass ihm der Fehler mit Snoopy unterlaufen war. Dass die alles auf DNA untersuchten, hätte ihm doch klar sein müssen, hatte er denn aus den Folgen von CSI nichts gelernt? Wieso hatte er nur behauptet, der Hund hatte die Hand des Mädchens in der Schnauze? Was hatte ihn da nur geritten? Es hätte doch vollkommen gereicht, wenn er gesagt hätte, dass er Snoopy bellend vor der Leiche gefunden hatte. Wie hohl, dass er sich dadurch verraten hatte. Wenn ihm das nicht passiert wäre, hätten sie sich wahrscheinlich gar nicht weiter mit ihm und seiner Aussage beschäftigt.   

„Helfen Sie mir. Wie soll ich Sie nennen? Ronny? Herr Andresen? Oder doch lieber Pinky?“

Wollte er das wirklich wissen? Oder wollte er ihm nur zu verstehen geben, dass er über seine Verwicklung in dem Mord im Bilde war?

„Ronny“, presste er mühsam hervor. Mein Gott, fühlte sich sein Hals trocken an. Er räusperte sich. „Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen?“

„Natürlich“, sagte Herr Behrend nach einem kurzen Nicken seines Chefs, stand auf und verließ den Raum.

„Nur damit Sie wissen, woran Sie sind“, sagte Funke, sobald die Tür geschlossen war. „Ihren Freund, Herrn Masio, haben wir gleich nebenan.“

So etwas in der Richtung hatte er bereits vermutet. Schließlich hingen sie ja gemeinsam in der Sache drin. Aber warum betonte er das so? Wollte er ihm damit klarmachen, dass er alles, was er sagte, gleich mit Bents Aussagen vergleichen konnte? Oder hatte Bent ihn etwa beschuldigt? Vorstellen konnte er sich das eigentlich nicht. Er musste ja davon ausgehen, dass die Polizei dann an sein Notebook kommen würde und das konnte er doch nicht wollen. Aber wenn nicht von Bent, von wem wussten sie dann überhaupt, dass es eine Verbindung zu ihm gab? Hatte jemand von seinen Nachbarn sie womöglich doch gesehen in jener Nacht und ihn bei der Polizei verpfiffen? Aber wenn das der Fall war, woher wusste Funke dann von seinem Spitznamen? Den konnte er doch nur von jemandem aus Bents Umfeld erfahren haben. Er war verwirrt, aber er war sicher, dass man ihn schon bald aufklären würde.

„Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt. Wieder nicht. Aber ich denke, heute werden wir der Wahrheit einen Schritt näher kommen. Vielleicht haben wir Ihnen noch nicht die richtigen Fragen gestellt. Deshalb versuche ich es jetzt noch einmal. Kannten Sie das tote Mädchen?“

Das war leicht und er musste nicht einmal lügen. „Nein.“    

„Sie hatten es nie vorher gesehen?“

Die Frage war schon heikler. „Nicht vor diesem Tag.“ Elegant gelöst.

Herr Behrend kam mit einem Glas Wasser in der Hand zurück, stellte es vor ihn hin und nahm wieder Platz. Gierig griff Pinky danach und trank es zur Hälfte leer.

„Aber Sie kennen ihre Schwester.“

Sollte er jetzt so tun, als wäre er überrascht und nach dem Namen der Schwester fragen? Er entschied sich dagegen.

„Judith“, sagte er betont langsam, das Glas in der Hand haltend. „Ja, die kenne ich.“

„Finden Sie es nicht merkwürdig, dass ausgerechnet Sie die Leiche finden, wenn Ihr bester Freund für uns einer der Hauptverdächtigen ist?“

Sicher. Und das hatte er auch versucht, Bent klar zu machen. Aber der hatte ja nicht auf ihn hören wollen.

„Natürlich fanden Sie es merkwürdig. Deshalb haben Sie sich ja die Geschichte mit Ihrem Hund ausgedacht.“

„Ich hab mit dem Mord nichts zu tun.“

Die beiden Männer wechselten einen Blick, den er nicht deuten konnte.

„Das kann schon sein“, sagte Funke gedehnt. „Tatsache ist aber, dass Sie die Schwester der Toten kennen. Vielleicht haben Sie ja die Kleine doch mal gesehen und fanden sie hübsch. Das ist ja durchaus verständlich. Ich meine, sie war ja wirklich hübsch, oder nicht?“

„Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich Judiths Schwester nie gesehen hatte. Wie soll ich dann wissen, ob sie hübsch war?“

Er wusste, dass viele Leute ihn für naiv hielten, für weltfremd, weil er sich die meiste Zeit hinter seinem Computer versteckte und sich vom wahren Leben selbst ausklammerte. Bents Freunde glaubten auch immer, er bekäme nichts mit und würde nicht bemerken, dass sie ihn nur duldeten, weil er als Chauffeur fungierte und ihnen Getränke spendierte, dass sie sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten. Wahrscheinlich trug auch sein Äußeres dazu bei, dass man ihn nicht so wirklich ernst nahm. Meistens ließ er die Leute in dem Glauben, ein wenig langsam in der Auffassungsgabe zu sein, dann sahen die sich weniger vor. Funke schien jedenfalls denselben Fehler zu machen, ihn zu unterschätzen. Dabei wusste er genau, worauf er hinauswollte. Und in so eine plumpe Falle wie eben würde er mit Sicherheit nicht tappen.

„Und so wie Sie aussehen, haben Sie sicher nicht viele Chancen bei Mädchen, die so hübsch sind. Wahrscheinlich hat Sina Sie nur ausgelacht.“

Das war total unter der Gürtellinie, aber er wusste, dass Funke nur darauf wartete, dass er ausrastete. Er blieb ruhig, als er antwortete. „Vielleicht habe ich keine Chance bei hübschen Mädchen, aber deshalb bin ich noch lange kein Mörder.“

„Sie bleiben dabei, dass Sie die Tote nicht kannten?“

Er seufzte. „Ich hatte das Mädchen vorher noch nie gesehen“

„Aber Sie wussten, wer sie war.“

Ihm war klar, dass es höchstwahrscheinlich das Ende seiner Freundschaft zu Bent bedeuten würde, wenn er jetzt auspackte, aber er hatte kaum eine andere Wahl. Er hatte sich von ihm schon viel zu tief in die Sache verstricken lassen und keine Lust, für ihn auch noch den Kopf hinzuhalten. Er war sicher, dass Bent an seiner Stelle nicht anders gehandelt hätte. Ach was, Bent hätte ihm vermutlich gar nicht erst geholfen, wenn er in einer vergleichbaren Situation gesteckt hätte.

„Ja“, sagte er leise. „Bent hat es mir gesagt.“

„Wann hat er es Ihnen gesagt?“

„Kurz bevor wir die Leiche weggeschafft haben.“

Die beiden Männer wechselten einen Blick. „Was?“ rief Funke.

Er trank sein Glas leer, stellte es auf dem Tisch ab und hob die rechte Hand. „Schon gut. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß.“

„Vernünftig von Ihnen. Dann schießen Sie mal los.“

Er seufzte. „Ich hab ihm gleich gesagt, dass das eine dumme Idee ist.“

„Wem?“

Na, wem wohl? „Bent. Er rief mich am Mittwochabend an, war völlig außer sich. Ich müsste ihm helfen. Ich fragte ihn, was los wäre, aber er konnte mir keine vernünftige Antwort geben. Wenn mir seine Freundschaft etwas bedeuten würde, sollte ich keine Fragen stellen. Ich sollte sofort zu ihm zu seiner Hütte auf dem Priwall kommen und meinen Wagen mitbringen.“

Funke legte die Stirn in Falten. „Um wie viel Uhr war das?“

„Ich weiß nicht mehr genau. Ziemlich spät jedenfalls. Vielleicht halb elf.“

„Sie sind hingefahren?“

„Ja. Ich war echt ein bisschen besorgt. So hatte ich Bent noch nie erlebt.“ Besorgt war gar kein Ausdruck. Er war regelrecht geschockt gewesen, als er die Panik in der Stimme seines Freundes gehört hatte. Bent war immer die Ruhe selbst, nahm alles auf die leichte Schulter und scherte sich einen Dreck darum, was andere sagten. Er hatte schon häufiger in der Klemme gesteckt, vor allem wegen irgendwelcher Schulden bei dubiosen Geschäftspartnern, aber wirklich ängstlich hatte er ihn bislang noch nicht gesehen, obwohl er auch schon mehrmals zusammengeschlagen worden war. Er hatte sich deshalb wie ein Irrer beeilt, vorher noch schnell ein paar Geldscheine eingesteckt, falls es darum ging, dass jemand seine Schulden zurückhaben wollte, und war mit seinem Wagen nach Travemünde gerast. Die kurze Fahrt mit der Fähre war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen.

„Und was war los?“

„Als ich ankam, war alles dunkel in der Hütte. Ich dachte schon, Bent wäre gar nicht mehr da, weil ich auch sein Motorrad nirgendwo sehen konnte oder jemand hatte ihn zusammengeschlagen und er lag bewusstlos irgendwo herum.“

„Wieso kommen Sie darauf, dass ihn jemand verprügelt haben konnte?“

„Wenn man sich mit gewissen Leuten einlässt, muss man auch damit rechnen, unter die Räder zu kommen.“

„Von was für Leuten sprechen Sie da?“

Er hob die Hände. „Ich kenne sie nicht. Da müssen Sie Bent fragen, aber ich weiß, dass er mit Leuten Geschäfte gemacht hat, die keinen Spaß verstehen, wenn es um ihr Geld geht.“

Funke nickte. „Okay. Zurück zu Mittwochabend.“

„Ich habe an die Tür geklopft und einen Moment später zog Bent mich hinein. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, so hat er mich erschreckt. Er sagte mir, dass er sein Motorrad hinter der Hütte abgestellt hatte, damit nicht jeder sehen konnte, dass er dort war. Ich war erleichtert, dass es ihm gut ging, und fragte ihn, was denn nun los sei und da zeigte er es mir. Das Mädchen lag nackt auf dem Fußboden im Wohnzimmer. Ich war geschockt, das können Sie mir glauben. Ich fragte ihn, ob sie tot wäre, denn sie sah so aus, und er sagte ja. Ich wollte auf der Stelle abhauen, aber er hielt mich fest. Er meinte, er wäre unschuldig. Er hätte sie so in der Hütte gefunden. Aber da konnte sie nicht bleiben, weil sonst jeder denken würde, er hätte sie getötet.“

„Interessante Geschichte. Und Sie haben ihm geglaubt?“

„Er ist mein bester Freund. Natürlich glaube ich ihm.“ Das kam weit überzeugender heraus, als er es wirklich fühlte.

„Gab es denn Anzeichen dafür, dass jemand die Tür aufgebrochen hatte?

„Nein, aber Bent hat immer einen Schlüssel unter der Fußmatte liegen. Den kann jeder benutzt haben.

„Hat er Ihnen da gesagt, dass die Tote Sina Keller war?“

„Ja. Ich hab ihn gefragt, ob er das Mädchen kennt und da meinte er, sie sei Judiths Schwester.“

„Was haben Sie beide dann getan?“

„Wir haben die Leiche in den Kofferraum meines Wagens gelegt und haben dann erst mal beratschlagt, was wir machen sollen.“

„Wer ist auf die Idee gekommen, die Leiche auf dem Friedhof abzulegen?“

„Bent. Er hatte auch den Vorschlag, dass ich die Leiche dann finden sollte, weil es mich unverdächtig macht.“ Er schnaubte. „Das hat ja nun gerade nicht funktioniert.“

„War es nicht schwierig, die Leiche über den Zaun zu tragen?“

„Das können Sie laut sagen.“ Bent war dabei ausgerutscht und mit den Rippen auf den Zaun gefallen. „Vor allen Dingen mussten wir ja vorsichtig sein, dass uns niemand sieht.“

„Wissen Sie, ob Herr Masio und Sina Keller näheren Kontakt hatten?“

„Bis vor ein paar Tagen, nein. Bent hat mir gegenüber behauptet, dass er und Sina sich kaum gesehen hätten, auch wenn er mit ihrer Schwester zusammen war.“

Der junge Beamte sah von seinem Notizblock auf. „Und jetzt wissen Sie mehr?“

„Bent hat ein Notebook bei mir gelagert und ein paar USB-Sticks. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, ist da ziemlichsehr häufig das tote Mädchen drauf, und sie macht sehr eindeutige Dinge.“

 

„Ich habe es Ihnen jetzt schon hundertmal gesagt, ich habe Sina nicht umgebracht.“ Bent Masio stand der Schweiß auf der Stirn. Doreen wusste nicht, ob vor Angst oder ob ihm heiß war. Zunächst hatten sie ihn ein wenig schmoren lassen, bis Funke und Glen mit Andresen fertig waren. Nachdem der dann ausgepackt hatte, hatten sie Masio ordentlich unter Druck gesetzt. Und das blieb nicht ohne Wirkung.

„Warum wollen Sie mir nicht glauben?“ fragte er zum wiederholten Male. „Sie war schon lange tot, als ich in der Hütte ankam.“

Doreen zuckte nur gleichgültig mit den Achseln. Bent Masio sah genauso aus, wie sie ihn sich anhand der Schilderungen vorgestellt hatte, nur besser. Richtig zurechtgemacht mit geschnittenen Haaren und vernünftigen Klamotten wäre er für sie sogar attraktiv gewesen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen verstand sie schon, was die jungen Mädchen an ihm fanden. Aber alle Attraktivität änderte natürlich nichts daran, dass er charakterlich ein ziemliches Schwein war. Er hatte sich an Judith Keller herangemacht, um an ihre Schwester zu kommen, damit die für eine Website posieren konnte, um Pädophile aufzugeilen. Es war zum Kotzen. Das ins Sschwarze übergehende blaue Auge, das Grothe ihm verpasst hatte, stand ihm gut und geschah ihm recht.

„Das glauben wir Ihnen ja. Wir wissen, dass Sina bereits am Nachmittag ermordet worden ist.“

„Schicken Sie doch Ihre Spurensicherung oder wie das heißt in meine Hütte. Dann werden Sie schon sehen, dass sie dort nicht ermordet worden ist.“ 

„Die sind längst dort“, sagte Roman ungerührt, aber Doreen kamen allmählich Zweifel. Masio schien sich sicher, dass sie in der Hütte keinen Hinweis darauf nichts finden würden, dass er den Mord begangen hatte.

„Wo waren Sie am Mittwochnachmittag, bevor Sie sich mit Ihrer Freundin getroffen haben?“ fragte Roman.

„Ich hab auf Sina gewartet. Sie sollte eigentlich um halb drei anfangen mit ihrer Show, aber sie kam nicht.“

„Kam das öfter vor?“

„Nein. Sie war immer total zuverlässig. Ich hab etwa zwanzig Minuten auf sie gewartet und dann kam auf einmal eine SMS von ihr, dass sie es nicht schafft. Dann bin ich los. Bitte, Sie müssen mir glauben. Ich hab Sina an dem Tag nicht gesehen.“

„Warum sollten wir?“

Masio knöpfte sein Jeanshemd auf und zog sein T-Shirt hoch. Ein riesiger Bluterguss auf seinem ansehnlichen Sixpack kam zum Vorschein. Doreen zog den Atem ein.

„Ach du Scheiße.“

„Sehen Sie? Hier bin ich auf den Zaun gefallen. Am Friedhof. Als wir die Leiche rübertragen wollten.“

Wenn der schon fünf Tage alt war und immer noch so aussah, mussten das unerträgliche Schmerzen gewesen sein.

„Haben Sie einen Arzt aufgesucht? Das sieht schlimm aus.“

Roman warf ihr einen Blick zu, der sie fragte, ob sie noch alle Latten am Zaun hatte. Es war klar, dass er kein Mitleid mit ihm hatte. Und wieso auch? Schließlich war er dringend verdächtig, das Mädchen umgebracht zu haben.

Masio zog das Shirt wieder herunter. „Nein. Und deshalb hab ich Ihnen das auch nicht gezeigt.“

„Das soll ein Beweis sein?“ fragte Roman verächtlich. „Wir haben ja keinen Zweifel an der Geschichte, dass Sie die Leiche entsorgt haben. Das hat Ihr kleiner Freund uns ja schon bestätigt. Warum haben Sie ihm eigentlich gesagt, dass er so tun soll, als ob er die Leiche gefunden hat?“

Er hob und senkte die Schultern. „Ich hab gedacht, vielleicht kann er so rauskriegen, in welche Richtung ermittelt wird. Ich wär nie darauf gekommen, dass Sie eine Verbindung zu mir herleiten können.“

Tja, da hatte er sich gründlich verrechnet.

„Also noch mal. Wie ist die Leiche in Ihre Hütte gekommen?“

„Ist das nicht Ihre Aufgabe, das herauszufinden?“

Glaubte er allen Ernstes, dass er Roman mit schnippischen Gegenfragen zu seinen Gunsten einnehmen konnte? Taktisch nicht besonders smart.

„Sie haben Sina dort hinbestellt und ermordet. Und dann haben Sie Ihren Freund da mit hineingezogen, um die Spuren zu beseitigen.“

„Nein, das stimmt nicht. So war es nicht.“

„Doch. Genau so ist es gewesen.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

Doreen hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und irgendetwas sagte ihr, dass er vielleicht die Wahrheit sagte. Sie legte Roman die Hand auf den Arm. „Kommst du einen Moment raus, bitte?“

Roman folgte ihr nach draußen, nicht ohne Masio noch einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

„Wir sind gleich wieder da, du Schwein.“

„Musste das sein?“ fragte Doreen ihn vor der Tür.

„Tut mir leid“, sagte Roman ohne den kleinsten Anflug von Bedauern in der Stimme. „Aber der Typ ekelt mich richtig an. Hat der Ärmste ein paar blaue Flecken abbekommen? Och je.“

Doreen winkte ab. Er sah mitgenommen aus, wirkte mit seinen dunklen Augenrändern übernächtigt. Er war schlecht rasiert, hatte sich am Hals gar geschnitten und seine Haare sahen nicht so aus, als ob er sie am Morgen gewaschen hatte. Sie bezweifelte, dass er in der letzten Nacht auch nur ein Auge zugetan hatte. Nach der Geschichte mit seiner Frau war es nicht verwunderlich, dass er seinen Frust an jemandem ablassen wollte, und sie sah es ihm daher nach. Aber sie war nicht davon überzeugt, dass Masio die richtige Person dafür war.

„Ist schon gut. Was ich sagen wollte, ich hab da mal nachgerechnet. Judith ist um halb zwei oder kurz danach aus dem Haus. Da war Sina noch am Leben. Wenn Judiths Zeitangaben stimmen, ist Masio gegen zehn nach drei bei seiner Wohnung aufgetaucht.“

Roman nickte langsam. „Da er kein Auto hat, mit der er die Leiche herumfahren konnte, kann er Sina eigentlich nur in der Hütte ermordet haben.“

„Das heißt, er hatte gut gerechnet hundert Minuten, um Sina von zu Hause abzuholen, sie auf den Priwall zu bringen, dort zu ermorden und dann wieder zu seiner Wohnung zu fahren.“

„Knapp“, räumte Roman ein.

„Zu knapp“, meinte Doreen. „Er hätte völlig fertig sein müssen, als er bei Judith ankam, aber die hat nichts bemerkt. Und glaube mir, mittlerweile würde die alles sagen, um ihn zu belasten.“

„Scheiße, er war es nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Oder er hat sie zu Hause aufgesucht und sie dort ermordet.“

Doreen überlegte einen Augenblick. „Das würde aber heißen, er hätte Andresen oder jemand anderen gebraucht, um die Leiche von dort wegschaffen zu können. Und das so schnell wie möglich. Er konnte ja nicht sicher sein, dass nicht irgendjemand am Nachmittag mal dort auftaucht, Judith vielleicht oder Birthe oder auch die Mutter. Und warum sollte Andresen sich dann die Story mit der Hütte ausdenken? Nein, ich bin mir sicher, der sagt die Wahrheit, die Leiche war in der Hütte.  

Roman seufzte.Einen Versuch war’s wert. Verdammt. Er wäre so ein guter Täter.“

Doreen musste unwillkürlich grinsen. „Dass er es nicht war, Aber das heißt ja nicht, dass seine Partner nichts damit zu tun haben.“

„Okay, dann lass uns mal wieder rein, damit er uns ein paar Namen nennt.“

Sie berührte ihn am Arm. „Mal was anderes. Wie geht es dir?“

Sie hatten noch kaum Gelegenheit gehabt, darüber zu sprechen, dass seine Frau im Krankenhaus lag. Doreen hatte seine Nachricht erst am gestrigen Abend erhalten, weil sie über das Wochenende zu ihren Eltern gefahren war. Sie hatte sich nicht getraut, bei ihm anzurufen, weil sie keine Ahnung hatte, wie es Johanna ging, und hatte sich deshalb bei Glen gemeldet, der ihrGlen hatte ihr erzählt hatte, was geschehen war und Entwarnung gab. Sie hatte sich gewundert und einen leichten Stich der Eifersucht gespürt, als sie gehört hatte, dass Roman ihn zu sich ins Krankenhaus gebeten hatte. Es war ein bisschen schizophren, wie es manchmal bei ihr vorkam. Einerseits freute es sie, dass die beiden sich endlich angenähert hatten, andererseits war sie es, die eine engere Bindung an beide hatte und so gefiel es ihr auch. Aber wenn sie auch nicht zu Hause war...Komisch nur, dass Roman dann sofort Glen angerufen hatte und niemanden aus seiner Familie oder seinem Freundeskreis. Das ließ tief blicken.

Er wich ihrem Blick aus. „Es geht schon.“

„Und Johanna?“

„Sie ist tapfer. Morgen kommt sie wahrscheinlich schon wieder nach Hause. Sie soll in Zukunft viel ruhen. Arbeiten kann sie also bis zur Geburt vergessen.

Sicher vernünftig. Aber mit dem Kind ist alles in Ordnung?“

„Die Ärzte sagen, wir müssen uns keine Sorgen machen. Solche Blutungen kommen schon mal vor.

Sein Ton hörte sich nicht so an, als ob er den Ärzten viel Vertrauen entgegen brachte. Seine Skepsis war verständlich. Dass er seine Frau bewusstlos in einer Blutlache gefunden hatte, hatte für ihn sicher nichts Normales. Allein die Vorstellung verursachte bei ihr eine Gänsehaut. Sie mochte nicht in seiner Haut stecken.

„Und du willst wirklich arbeiten heute?“

Er sah sie an. „Ich muss.“

Sie verstand. Der Gedanke, sein Kind und vielleicht seine Frau zu verlieren, hatte ihn fast wahnsinnig gemacht, und die Arbeit lenkte ihn ab. Irgendwie lief das bei ihnen allen nach dem gleichen Schema ab. Die Arbeit war die einzige Konstante in ihrem Leben und half ihnen, wenn es privat mal gar nicht lief.

„Dann lass uns Masio jetzt noch mal richtig einheizen.“

 

Timo Hansen bog mit seinem Audi von der Friedenstraße links ab. Er hatte den Straßennamen vorher noch nie gehört, auch wenn Lübeck recht überschaubar ist, kann so etwas vorkommen,  aber er hatte die Adresse einfach in sein Navigationssystem eingegeben und so war es kein Problem, das Haus zu finden. Weit schwieriger hatte sich am Tag zuvor die Suche nach dem Namen gestaltet. Er hatte eigentlich wenig Hoffnung gehabt. Es war schließlich ewig her und wer wusste, ob nicht die alten Unterlagen allesamt vernichtet waren.

Die Sekretärin seines Vaters hatte ihm dann aber Mut gemacht, indem sie ihm erzählte, dass sein Vater alles aufbewahrte. Zumindest seitdem sie da war, und sie sprach von fast fünfundzwanzig Jahren, hatte sie keine Akten für ihn entsorgt. Er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, sie deswegen am Sonntag zu behelligen, aber er wollte den letzten freien Tag nutzen, um sich alles in Ruhe ansehen zu können, bevor er wieder zur Arbeit ging. Er hatte sich bei ihr entschuldigt, aber er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn die Sekretärin hatte nicht einen Moment gezögert, ihm zu helfen. Im Gegenteil, sie schien sogar dankbar zu sein, dass sie noch etwas tun konnte. Für sie musste der Tod seines Vaters ein herber Schock gewesen sein, denn es bedeutete, dass sie demnächst ohne Job sein würde und in ihrem Alter war es nahezu unmöglich, eine neue, adäquate Stellung zu finden.

Ihre Zuversicht, dass er schon fündig werden würde, wenn er lange genug suchte, teilte er nicht ganz, denn er suchte ja nicht nach einem Fall, den sein Vater bearbeitet hatte. Sie hatte seine Zweifel beiseite gewischt und ihn in den Keller geführt, der zu der Kanzlei gehörte, und ihm dort die Ablage gezeigt. Er war fast hintenüber gekippt, als er die Anzahl der Ordner sah, aber er hatte nicht lange gezögert und gleich angefangen. Er hatte den ganzen Sonntag bis in den späten Abend gebraucht, aber schließlich hatte er Glück.

Dabei hätte er die Kündigung fast nicht bemerkt, weil sie nur auf einem Din A 5 Blatt geschrieben war und er es erst für ein Anhängsel des vorangegangenen Vorgangs gehalten hatte. Ungläubig hatte er darauf gestarrt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Hatte er insgeheim gehofft, von der Aufgabe erlöst zu werden, weil er den Namen nicht herausbekommen konnte, war das hiermit vorbei. Die Adresse zu finden, war dann wieder leicht, sie stand im Telefonbuch, zum Glück hatte die Dame nicht geheiratet, sonst hätte er wohl noch einen Tag gebraucht.

Es war anstrengend gewesen, sich durch die Akten zu wühlen, aber es hatte ihn auch davon abgelenkt, zuviel an Luisa denken zu müssen. Er war aus allen Wolken gefallen, als er sie nach der Trauerfeier in seiner Wohnung antraf, wie sie ihre Sachen zusammen suchte. Er hatte nie damit gerechnet, dass sie ihm den Laufpass geben würde, weil er nicht einmal die Warnzeichen dafür wahrgenommen hatte. Im Nachhinein verstand er jetzt allerdings, was sie dazu bewogen hatte. Aus ihrer Sicht war er eben noch nicht bereit für sie und eine ernsthafte Beziehung mit ihr und so ganz von der Hand weisen konnte er das nicht. Sicher, er hatte andere Probleme, die mit seinem Liebesleben nichts zu tun hatten, aber wenn er wirklich mit Luisa zusammen sein wollte, warum dachte er dann ständig an Doreen? Vielleicht hatte Luisa ihm in der Tat einen Gefallen getan, obwohl es sich nicht so anfühlte, denn so hatte er ein letztes Mal die Gelegenheit, die Situation mit Doreen abschließend zu klären.  

Jetzt hielt er vor dem Haus und atmete tief durch. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Zweifel überkamen ihn. Sollte er wirklich weitermachen? Danach wäre nichts mehr wie es war. Mit seinem Auftauchen würde er das Leben zumindest zweier Menschen völlig auf den Kopf stellen, von seinem eigenen ganz zu schweigen. War er bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen?

Er verfluchte für einen Moment, dass er dem Drängen seines Vaters im Krankenhaus nachgegeben hatte, aber was hätte er tun sollen? Sein Vater hatte eben einen Schlaganfall erlitten, wie konnte er ihm da etwas abschlagen? Wenn er genauer darüber nachdachte, war es schon etwas unfair, dass er ihn in diese Lage gebracht hatte. Okay, wahrscheinlich dachte man in einer solchen Situation nicht darüber nach. Er seufzte. Was hatte er ihm da nur aufgebürdet? Und vor allem, was hatte er von ihm erwartet? Er hatte ihm gesagt, dass er darauf vertraute, das er das Richtige tat. Aber was war das? Das was er jetzt tat? Er wusste es nicht. Und er hatte auch keinen blassen Schimmer, was er sagen sollte, obwohl er sich schon ein paar Tage lang darüber Gedanken gemacht hatte. Er würde also alles auf sich zukommen lassen und musste darauf hoffen, dass sie ihm nicht die Tür vor der Nase zuschlug. Aber zumindest hatte er dann alles versucht.

Er seufzte erneut und stieg aus, auf die lange Bank schieben brachte auch nichts. Je mehr Zeit er hatte, darüber nachzudenken, was er tun sollte, um so größer wären seine Zweifel geworden. Nein, lieber jetzt Augen zu und durch.

Er verschloss seinen Wagen und ging durch den kleinen Vorgarten zum Eingang des Hauses. Zur Sicherheit kontrollierte er noch mal den Namen auf dem Klingelknopf. Ja, hier war er richtig. Er drückte den Knopf. Selten zuvor war er so aufgeregt gewesen, nicht einmal als er seinen Interimsjob in Japan angetreten hatte. Er hörte, wie sich Schritte näherten und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet.

„Ja bitte?“

Die Frau sah ganz anders aus, als er erwartet hatte. Aber was wusste er schon? Er schätzte sie auf Mitte Fünfzig und konnte sich schon vorstellen, dass sie als junge Frau dem einen oder anderen Mann den Kopf verdreht hatte. Sie war recht groß und sehr dünn. Ihre Haare waren grau und kurz geschnitten. Sie war wenig zurechtgemacht, aber es stand ihr. Ihre Augen waren wasserblau, ihre Nase gerade und ihr Mund ein wenig schmal. Sie hatte anscheinend ein Rätsel gemacht oder so, jedenfalls hatte sie ein Heft in der Hand und eine Lesebrille auf der Nasenmitte sitzen. Sie sah aus wie jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand. Ein wenig erinnerte sie Timo an seine alte Handarbeitslehrerin, die ihn immer ganz genauso gemustert hatte, wenn er mit der von ihr gestellten Aufgabe nicht zurechtkam. Dass sie das wunderte, hatte er bis heute nicht begriffen, er war schließlich ein Junge und hatte absolut kein Talent für Stricken, Häkeln und andere solcher Tätigkeiten. Als Pädagogin hätte ihr das eigentlich klar sein müssen. Statt die Augenbrauen hochzuziehen, hätte sie sich lieber Gedanken machen sollen, wie sie die Jungs besser hätte motivieren können.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die Frau anstarrte und sie eigentlich auf eine Antwort wartete, und wurde rot.

„Entschuldigung, mein Name ist Timo Hansen. Ich glaube, Sie haben meinen Vater einmal sehr gut gekannt.“

Bei der Erwähnung seines Namens war sie sichtlich zusammengezuckt, hatte sich allerdings schnell gefangen. Jetzt sah sie feindselig aus. „Was wollen Sie?“

Wenn er das mal gewusst hätte. „Ich möchte nichts von Ihnen.“

„Woher wissen Sie von mir?“

„Mein Vater hat es mir erzählt.“

Sie schnaufte. „Na toll! Jetzt auf einmal.“

„Mein Vater ist letzte Woche verstorben.“

Sie machte große Augen und Timo konnte sehen, wie ihre Feindseligkeit langsam etwas anderem wich, das er nicht greifen konnte. Interesse? Betroffenheit? Eines war es sicher nicht. Trauer!

„Mein Gott!“ rief sie und fasste sich an die Brust. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie auf einen Moment hereinkommen.“

Sie machte die Tür weit auf, ließ ihn an sich vorbei und schloss hinter ihm ab. Seine erste Befürchtung war somit nicht eingetreten. Er blieb in der Diele stehen und sie zeigte mit der rechten Hand geradeaus.

„Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen.“

Er sah sich um und registrierte, dass es ihr so schlecht wohl nicht ergangen war. Die alte Treppe, die nach oben führte, war erst vor kurzem gestrichen worden und für den Fußboden hatte man Fliesen ausgesucht, die zumindest teuer aussahen. Als er ins Wohnzimmer trat, staunte er nicht schlecht, denn der Großteil der Einrichtung schien aus Antiquitäten zu bestehen. Da gab es einen Bauernschrank, einen Sekretär und einen großen rechteckigen Tisch aus dunklem Holz. Einzig die Couchgarnitur mit einem Dreisitzer und einem Sessel schien mit ihrem hellen Leder nicht so recht zu passen.

„Die Möbel habe ich von meinen Eltern geerbt“, sagte sie und Timo errötete, weil er sich von ihr ertappt fühlte. Sie zeigte auf die Couch. „Setzen Sie sich bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, danke.“ Timo nahm Platz.

Sie setzte sich ihm gegenüber auf den Sessel, beugte sich vor, legte das Magazin auf den Tisch  und griff mit der anderen Hand nach einem Etui aus braunem Leder, das dortauf dem Tisch lag. Sie öffnete es und nahm sich eine Zigarette.

„Möchten Sie auch?“

„Ich rauche nicht.“

Sie nickte. „Sehr vernünftig. Ich eigentlich auch nur ganz selten und sonst nur draußen. Aber heute mache ich mal eine Ausnahme. Es stört Sie doch hoffentlich nicht?“

Es war klar, dass das eine rein rhetorische Frage war. Was sollte er auch sagen? Es war ihr Haus und da konnte sie machen, was sie wollte. Er konnte schon froh sein, dass sie ihn überhaupt reingelassen hatte.

Sie zündete die Zigarette mit einem goldenen Feuerzeug an, das sie aus der Hosentasche geholt hatte, inhalierte den ersten Zug mit geschlossenen Augen und lehnte sich anschließend zurück, die Beine übereinander geschlagen.

„Ihr Verlust tut mir leid.“

„Danke.“

„Woran ist Ihr Vater gestorben?“

Timo erzählte ihr, was passiert war. Sie hörte interessiert zu, während sie an ihrer Zigarette zog. Der Rauch zog zu ihm herüber und er unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, ihn mit der Hand wegzuwedeln. Nach der ersten Überraschung hatte sie sich gefangen und er konnte an ihrem Gesicht nicht erkennen, ob der Tod seines Vaters sie betroffen machte. Ihre Worte sprachen allerdings eine deutliche Sprache.

„Nicht, dass wir uns falsch verstehen“, begann sie, nachdem er mit seiner Geschichte fertig war. „Ich hab Ihnen schon vorhin gesagt, dass es mir für Sie leid tut, aber was Ihren Vater betrifft, brauchen Sie von mir keine Trauer zu erwarten.“

„Das tue ich auch nicht.“

Sie nickte langsam und sah ihn nachdenklich an. „Wissen Sie, Ihr Vater und ich, wir sind nicht eben im Guten auseinander gegangen. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber in meinen Augen war Ihr Vater ein selbstsüchtiger Mistkerl!“

Sein Vater konnte hart sein. Niemand wusste das besser als er. Es hatte Momente gegeben, da er den gleichen Eindruck von seinem Vater gehabt hatte wie sie, dennoch war es nicht schön, so etwas von einer völlig Fremden an den Kopf geknallt zu bekommen. Aber er sparte sich eine Reaktion. Was sollte er auch dazu sagen? Die beiden hatten eine gemeinsame Vergangenheit, über die er sich kein Urteil erlauben konnte. Er hatte ja keine Ahnung, was zwischen ihnen vorgefallen war. Vielleicht hatte sie durchaus das Recht, in abfälliger Weise über seinen Vater zu sprechen.

Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und pustete den Rauch hörbar aus. „Wie lange wissen Sie es schon?“

„Er hat mir im Krankenhaus davon erzählt.“

Sie beugte sich vor und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus. „Da wollte er wohl auf dem Sterbebett sein Gewissen erleichtern. Na, das passt zu ihm. Hat er sich in den ganzen Jahren nicht geändert.“

Die Bitterkeit, die in ihrer Stimme mitschwang, sagte viel darüber aus, wie die Affäre zu Ende gegangen sein musste.

„Und Ihre Mutter? Hat er ihr auch alles gebeichtet?“

Timo schüttelte den Kopf. „Nein. Er hatte ausdrücklich nur nach mir verlangt.“

Sie lachte ein freudloses Lachen. „Wie bequem. Er ist sein schlechtes Gewissen los und lädt es auf Ihnen ab. Und Sie können sehen, was Sie jetzt damit machen.“

Ihre Worte trafen ihn. Zum einen stört es einen immer, wenn Dritte sich negativ über Familienmitglieder äußern, auch wenn sie mit ihrer Aussage noch so sehr im Recht sind. Zum anderen hatte er selbst genau das gleiche gedacht. Kurz vor dem Tod wird noch mal reiner Tisch gemacht und die Angehörigen können sehen, wie sie mit den Trümmern umgehen. Doch sein Vater hatte eine ganz andere Intention, wie er mittlerweile wusste. Er hatte an jemand anderen gedacht und nicht an sich selbst. Dass gerade auf der Schwelle des Todes von seiner Seite eine selbstlose Handlung erfolgte, war nicht ohne Ironie.

„Haben Sie Ihrer Mutter etwas gesagt?“

„Nein. Ich finde nicht, dass sie das wissen sollte. Im Moment zumindest noch nicht.“

Sie nickte ihm zustimmend zu. „Das ist sicher vernünftig. Sie wissen, dass ich sieben Jahre lang seine Geliebte war?“

„Nein.“ Er war mehr als überrascht. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass es eine kurze Affäre gewesen war, die keine wirkliche Bedeutung gehabt hatte. Und so hätte er seiner Mutter das ganze auch später verkauft, wenn es unvermeidbar geworden wäre, ihr reinen Wein einzuschenken. Wenn sie jetzt aber von sieben Jahren sprach, war die Sache weit wichtiger als angenommen und für seine Mutter wäre die Wahrheit ein schlimmer Schock.

„Jetzt wissen Sie es und ich denke wirklich nicht, dass es gut wäre, Ihrer Mutter von mir zu erzählen. Warum sollten Sie ihr solchen unnötigen Kummer bereiten? Was hätte es für einen Sinn, ihr nach so langer Zeit die Wahrheit über ihren Mann zu sagen? Es ist Jahrzehnte her. Sie sollte ihn so in Erinnerung behalten, wie sie ihn gesehen hat.“

Er war vollkommen ihrer Meinung, aber es ging eben nicht nur um sie und ihn. Deshalb bezweifelte er stark, dass es möglich war, seine Mutter für immer im Dunkeln zu lassen.

Sie lachte erneut und zeigte dabei äußerst gepflegte Zähne. Gute Hygiene oder das Werk eines guten Zahnarztes? „Obwohl ich mich schon ganz gern mal mit Ihrer Mutter unterhalten würde, nur um zu sehen, wieweit unsere Meinung von ihm auseinander klafft.“

Das würde wohl nicht geschehen. Er konnte sich viel in seiner Fantasie ausmalen, aber dass seine Mutter mit dem Verhältnis seines Vaters einen Plausch hielt, war undenkbar. Er fühlte wieder den Blick der Frau auf sich ruhen.

„Ich muss sagen, Sie interessieren mich irgendwie. Warum sind Sie hier? Waren Sie neugierig auf die Frau, mit der Ihr Vater Ihre Mutter betrogen hat? Wollten Sie sehen, was er an mir gefunden hat?“

Das auch, aber nicht vordergründig. Sicher, er hätte lügen müssen, wenn er behauptete, dass er nicht wissen wollte, was das für eine Frau war, die seinem Vater einst viel bedeutet hatte. Aber allein deswegen hätte er sie nicht aufgesucht.

„Sie sehen mir eigentlich nicht so aus, als ob Sie wegen der Sensation hier sind.“

Endlich kamen sie zum Wesentlichen. „Nein. Ich habe einen anderen Grund. Ich möchte meinen Bruder kennen lernen.“

„Sie möchten was?!“ Ihre Stimme war plötzlich schrill.

„Meinen Bruder, Ihren Sohn. Ich möchte ihn kennen lernen.“

Sie griff erneut nach ihrem Etui und Timo konnte sehen, wie ihre Hände zitterten, als sie sich eine weitere Zigarette nahm. Wahrscheinlich steigerte sie soeben ihren Tageskonsum um einhundert Prozent. Sie brauchte zwei Versuche mit dem Feuerzeug, bis sie die Kippe angezündet hatte. Und sie ließ sich Zeit, nahm zwei Züge, ehe sie auf seine Bitte reagierte. Er wartete geduldig und ließ sie gewähren. Dass er von seinem Halbbruder wusste, war bestimmt nicht leicht für sie. Das musste sie erst einmal verdauen.

„Es macht sicher keinen Sinn, es zu leugnen.“

„Gar keinen.“

Sie nickte, nahm einen weiteren Zug und drückte die Zigarette aus, obwohl sie erst halb aufgeraucht war. Deutlicher konnte sie ihre Nervosität kaum zum Ausdruck bringen.

„Dachte ich mir. Ich hatte keine Ahnung, dass er es wusste.“

„Er wusste nicht, dass Sie schwanger waren?“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich wusste er das. Ich meine, dass ich das Kind behalten habe.“

Er zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Sie verstehen das schon richtig. Ihr Vater wollte, dass ich abtreibe. Da hab ich erkannt, was für ein Mensch das war, mit dem ich mich da eingelassen hatte. Deshalb hab ich mich von ihm getrennt. Und bevor Sie irgendwelche falschen Schlüsse ziehen, ich habe nicht versucht, ihn mit einem Kind an mich zu binden. Zugegeben, zu Beginn unserer Affäre hab ich mir etwas vorgemacht und immer darauf vertraut, dass er sich schon irgendwann von Ihrer Mutter trennen würde. Ich meine, ich war zweiundzwanzig Jahre alt, da hat man noch Träume.“

Es sollte zynisch klingen und das tat es auch. Timo war überzeugt, dass sie schon lange nicht mehr an Träume glaubte.

„Aber zu dem Zeitpunkt, als ich schwanger wurde, wäre selbst dem Dümmsten klar gewesen, dass das niemals geschehen würde. Ich hatte mich längst mit meiner Rolle als Nebenfrau arrangiert, weil ich ihn so dermaßen geliebt hatte, auch wenn es mir schwer fiel. Das Kind war ein Unfall, ich hatte ursprünglich niemals eines gewollt. Aber nachdem es nun einmal passiert war, hätte ich es nie übers Herz gebracht, es abzutreiben.“

„Also haben Sie es behalten, aber meinem Vater etwas anderes gesagt?“

Sie steckte sich erneut eine an. „Ja. Ich hab das Geld genommen, was er mir für die Abtreibung gegeben hat, weil ich es gut gebrauchen konnte, und bin dann erst mal weg aus Lübeck, um in Ruhe meinen Sohn zur Welt zu bringen. Wir sind in ein kleines Nest in Bayern gezogen, möglichst weit weg von Lübeck und ich hab nie wieder etwas von Ihrem Vater gehört.“

„Aber irgendwann sind Sie wieder hierher zurückgekommen.“

„Ja. Nach dem Tod meiner Eltern vor zehn Jahren ungefähr. Sie sind recht kurz hintereinander gestorben und ich bin dann in mein Elternhaus gezogen. Es zu verkaufen, hab ich damals nicht übers Herz gebracht.“ Sie seufzte. „Später blieb mir da keine Wahl, weil ich mir sonst die Anwaltskosten nicht hätte leisten können.“

 „Aber Sie haben die ganze Zeit keinen Kontakt zu meinem Vater aufgenommen.“

 „Nein, das hätte ich nie getan. Ich wusste natürlich, dass er noch immer in Lübeck lebte, aber ich hätte ihn niemals um Hilfe gebeten. Ich hab immer gedacht, ich wäre ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen und, war jahrelang auch nicht bei der Auskunft gemeldet. Ich hab geglaubt, er hatte mich längst vergessen. Wie hat er herausgefunden, dass ich einen Sohn habe?“

Timo zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass er es von Anfang an gewusst hat. Wahrscheinlich kannte er Sie besser, als Sie dachten.“

Sie zuckte traurig mit den Achseln. „Schon möglich. Aber das hat ihn trotzdem nicht dazu veranlasst, mir helfen zu wollen.“

„Er muss gewusst haben, dass Sie kein Geld von ihm annehmen würden.“

Sie runzelte die Stirn. „Er hat es ja nicht einmal versucht.“

„Aber er hat Geld für Ihren Sohn angelegt.“

Ihr fiel beinahe die Zigarette aus der Hand. „Wie bitte?“

„Das hatte er mir sagen wollen, verstehen Sie? Ich sollte dafür sorgen, dass Ihr Sohn das Geld bekommt.“

Ihr rechter Oberschenkel fing an, auf und ab zu wackeln. „Er hat Geld angelegt? Aber warum hat er sich fast dreißig Jahre Zeit gelassen, jemandem davon zu erzählen?“

„Vielleicht wusste er nicht, wie er Ihrem Sohn das Geld zukommen lassen sollte. Ich nehme an, er hatte auch ein wenig Angst, dass meine Mutter dann irgendwie etwas merken würde. Vielleicht hat er einfach auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.“

„Den hat er dann aber verpasst“, sagte sie trocken. „Wie viel ist es denn, wenn ich fragen darf?“

„Hundertfünfzigtausend.“

Sie riss die Augen auf. „Mein Gott.“

Timo wartete einen Moment, bis sie sich beruhigt hatte. „Wollen Sie mir nicht sagen, wo ich Ihren Sohn finde?“

Sie zog an der Zigarette. „Tja, ich denke, da kommen Sie ein bisschen zu spät.“

Wieso? War er gerade gegangen, bevor er gekommen war? Oder was meinte sie?

„Er ist im Krankenhaus.“

„Süd oder Ost? Sagen Sie mir die Zimmernummer oder begleiten Sie mich doch.“

„Das wird Ihnen nichts nützen. Christopher liegt im Koma.“

Timo sah Frau Tuchel an. „Mein Gott, wie ist das passiert?“

„Er hat vorgestern versucht, sich das Leben zu nehmen.“

„Wie...“

Sie drückte ihre Zigarette aus. „Erhängt. Mit seinem Gürtel an einem Rohr im Keller. Ich hab ihn nur durch Zufall gefunden.“

Timo konnte es nicht fassen. Da hatte er einen Bruder, von dem er seit fast dreißig Jahren keine Ahnung gehabt hatte, hatte sich dazu durchgerungen, ihn treffen zu wollen und jetzt das. Konnte das wahr sein? Was ihn am meisten verwunderte, war die Ruhe, mit der Frau Tuchel über den Selbstmordversuch ihres Sohnes sprechen konnte, der erst zwei Tage zurücklag.

Sie deutete seinen Blick richtig. „Sie wundern sich sicher, warum ich nicht in Tränen aufgelöst bin.“ Sie wartete seine Antwort nicht ab. „Ich hab keine Tränen mehr übrig für ihn. Die hab ich in den letzten acht Jahren aufgebraucht.“

Timo verstand gar nichts. Sie hielt die rechte Hand hoch und erhob sich. „Warten Sie einen Moment, dann zeige ich Ihnen, was ich meine.“

Sie verschwand und Timo ließ sich tief in das Sofa sinken. Er begriff überhaupt nichts. Was war hier los, verdammt noch mal? Er hatte mehr Fragen als vorher. Wieso hatte er sich nur darauf eingelassen? Sein Vater war doch tot und außer ihm wusste niemand Bescheid, da hätte er doch alles auf sich beruhen lassen können. Das war natürlich Quatsch. Von dem Moment an, in dem sein Vater ihm alles anvertraut hatte, war ihm klar, dass er seinen Wunsch respektieren würde.

„Hier.“

Timo zuckte zusammen, hatte er sie doch nicht zurückkommen hören. Sie hatte einen Zeitungsausschnitt in der Hand, dem sie ihm vors Gesicht hielt. Er nahm ihn ihr aus der Hand. Es ging um den Mord an einem vierzehnjährigen Mädchen.

„Das war vor acht Jahren“, erzählte sie.

„Ihr Sohn war das?“ Timo war fassungslos.

„Ja.“

„War er im Gefängnis?“

„Bis vor knapp einem Monat.“

„Und warum...?“

„Er sich erhängt hat, meinen Sie? Er hat mir einen Zettel hinterlassen, den allerdings die Polizei mitgenommen hat.“

„Die Polizei?“

„Die kommen immer bei solchen Fällen. Routine. Es könnte ja sein, dass da jemand nachgeholfen hat.“

„Was stand auf dem Zettel, wenn ich fragen darf?“

„Dass er nicht zurück ins Gefängnis will.“

Timo kniff die Augen zusammen. Hatte er etwas verpasst?

„Das Mädchen, das letzte Woche ermordet aufgefunden wurde“, half sie ihm auf die Sprünge.

Davon hatte er natürlich gehört. „Das war er?“

„Er hat geschrieben, dass er es nicht war. Und ich glaube ihm. Wenn er sowieso sterben wollte, warum sollte er dann nicht die volle Wahrheit sagen? Aber er hat geglaubt, dass man ihn trotzdem dafür verurteilen wird.“

„Hatte die Polizei ihn denn unter Verdacht?“

„Sie hatten schon mit ihm gesprochen, aber es sah eigentlich nicht so aus, als hielten sie ihn für den Täter. Ich meine, sie haben ihn ja schließlich nicht gleich verhaftet, oder? Aber Chris hat sicher nach dem Zeitungsartikel nicht mehr geglaubt, dass er noch lange auf freiem Fuß bleibt."

Und sie zeigte ihm die Lübecker Nachrichten vom Tag, an dem er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Großer Aufmacher war der Fund der Mädchenleiche und darunter hatte man ein Bild von einem jungen Mann gedruckt, der das Gefängnis verließ. Die Überschrift lautete Hat man hier mal wieder jemanden zu früh entlassen?