Siebzehntes Kapitel
Als VladimirFjodor Maiwald, der Name
recht typisch für einen Aussiedler aus den ehemaligen
Sowjetrepubliken - VladimirFjodor russisch, Maiwald
deutsch - , in den Besucherraum geführt wurde, bekam Timo einen
gehörigen Schreck. VladimirFjodor war riesig und das
in jeder Beziehung. Seine Oberarme sahen aus wie Oberschenkel und
seine Tätowierungen, die scheinbar über den ganzen Körper verteilt
waren, machten nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck.
Mit diesem Monster hatte sein Bruder in einer Zelle gehaust? Kein
Wunder, dass er sich lieber selbst das Leben nehmen wollte, als
wieder dort hineinzugehen. Wer konnte sagen, was er mit diesem Mann
hatte aushalten müssen? Er wechselte einen Blick mit Doreen, die
das gleiche zu denken schien.
Die Justizvollzugsanstalt Lübeck, auch Lauerhof genannt, ist die größte Haftanstalt Schleswig-Holsteins und liegt auf Marli. Der Haupteingang liegt im Marliring, ein weiterer im Besenkamp. Es ist ein riesiger Komplex, der insgesamt über mehr als 500 Haftplätze verfügt, die meisten für männliche Straftäter. Nach dem spektakulären Ausbruch des Schwerverbrechers Christian Bogner im Jahr 2004, der viel politischen Wirbel verursacht hatte, wurde eine neue sechs Meter hohe Mauer um die bereits bestehende gebaut und es existiert eine neue Sicherheitsabteilung für besonders gefährliche Straftäter mit zwölf Plätzen. Timo fühlte sich schon ein wenig unbehaglich, als er seinen Wagen im Marliring abstellte und mit Doreen das Gelände betrat.
Den Termin zu bekommen, war leichter gewesen, als er vermutet hatte. Er hatte keine Probleme, den Namen des Zellengenossen zu bekommen und zu seiner Überraschung hatte Maiwald gleich einem Besuch zugestimmt. Laut Gesetz steht einem Inhaftierten eine Besuchszeit von einer Stunde im Monat zu und Timo hatte wenig Hoffnung gehabt, dass Maiwald bereit war, diese Zeit für ihn zu opfern. Dass er zugestimmt hatte, konnte eigentlich nur bedeuten, dass er sonst nie Besuch bekam und dankbar für die Abwechslung war. So fanden sie sich an diesem frühen Nachmittag mit einem verurteilten Straftäter an einem Tisch wieder. Zum Glück war ihr Partner mit irgendetwas Privatem beschäftigt, sodass Doreen ihre Mittagspause nutzen konnte, den Besuch mit ihm gemeinsam durchzuziehen. Weswegen Maiwald verurteilt war, hatte er vergessen zu fragen, was Doreen fast auf die Palme gebracht hatte.
„Du weißt nicht, weswegen er sitzt?“
„Nein. Ich hab gar nicht daran gedacht zu fragen.“
Sie hatte nur mit den Augen gerollt. „Dann sitzen wir da in aller Seelenruhe vielleicht mit einem Serienmörder?“
Er hatte gelacht, was sie noch aufgebrachter gemacht hatte. „Du lachst? Ich finde das überhaupt nicht witzig.“
„Entschuldigung, aber ehrlich. Wie viele Serienmörder mag es hier geben? Ich hab noch von keinem gehört.“
Also erfuhren sie erst an diesem Tag, dass er wegen verschiedener Drogendelikte und Totschlags einsaß. Nachdem er ihn gesehen hatte, passte das genau ins Bild.
„Challo“, begrüßte er sie.
Sie stellten sich vor.
„Du bist Bruder von Chries?“
Timo nickte.
„Uhnd wieso er chat nie was gesagt? Dass er chat Bruhder?“
„Wir haben uns nie kennen gelernt. Mein Vater hat mir erst nach seinem Tod von seinem anderen Sohn erzählt.“
Maiwald ließ seine Augen über Doreen gleiten und leckte sich die Lippen. Timo merkte, wie sie sich neben ihm verspannte. War es doch ein Fehler gewesen, sie mitzunehmen?
„Uhnd wer biest du?“ fragte er gedehnt.
„Sie ist meine Freundin.“
Er ignorierte ihn. „Kannst niecht sprechen?“
Sie räusperte sich. „Doch. Ich bin seine Freundin.“
„Chast gute Geschmack.“
Timo bereute schon fast, hierher gekommen zu sein. Das war nichts als verschenkte Zeit.
„Dein Bruhder kein gute Geschmack.“
Er horchte auf. „Wie kommst du darauf?“ Warum sollte er ihn siezen, wenn er das auch nicht tat?
„Chat mier erzählt von Freindin. Chat ihn nie besucht.“
Das war ja zu erwarten gewesen. Wenn sie schon gegen ihn ausgesagt hatte, warum sollte sie ihn dann besuchen? Da war sie sicher froh, wenn sie ihn nicht mehr sehen musste.
„Chat gelogen.“
„Was?“
„Vor Gericht. Chries sagt, sie chat gelogen.“
Timos Herz begann, schneller zu schlagen. „Hat er auch gesagt, was genau gelogen war?“
Maiwald kniff die Augen zusammen. „Wieso du fragen miech? Frag Bruhder.“
„Das kann ich nicht.“ Er erzählte, warum sein Bruder im Koma lag.
Maiwald schien richtig betroffen zu sein. „Uhnd? Giebts Choffnung?“
„Nicht viel.“
„Tut mier leid. Chries war guhter Junge.“
Hatte er den Koloss falsch eingeschätzt? „Kannst du dich daran erinnern, was Chris über seine Freundin gesagt hat?“
„Chat gelogen.“
So weit waren sie schon. „Geht es etwas genauer?“
„Er chat nie getrunken, wie sie gesagt chat. Und er chat sie nie chart angefasst.“
„Noch was?“
Maiwald zuckte mit den Achseln. „Nuhr, dass er sie verstanden chat. Er fand, er chatte es niecht anders verdient.“
Was hieß das? Hatte er sich selbst so sehr verachtet, dass er jede Strafe akzeptiert hatte?
„Hat er mit dir über die Tat gesprochen?“
„Nein. Er nuhr gesagt, dass er selbst schuld.“
Timo versuchte noch mehr über seinen Bruder zu erfahren, aber viel Neues bekamen sie aus Maiwald nicht heraus. Nach weiteren zehn Minuten verabschiedeten sie sich von ihm und verließen das Gefängnisgebäude.
„Und? Was sagst du?“ fragte Doreen, als sie wieder beim Auto waren.
„Ich bin froh, dass wir wieder draußen sind.“
Sie stiegen in den Wagen. „Du hast dir mehr erhofft, oder?“
Er lehnte sich in seinen Sitz zurück. „Irgendwie ja, obwohl ich gar nicht weiß, inwiefern.“
Doreen nickte. „Ein widerlicher Typ, oder?“
„Das kannst du laut sagen.“
„Wie der mich angestiert hat.“ Sie schüttelte sich. „Ich wäre am liebsten gleich aufgesprungen.“
Er war ihr dankbar, dass sie das nicht getan hatte. „Aber es war gut, dass du da warst, weil er von selbst von Chris’ Freundin angefangen hat.“
„Du glaubst deinem Bruder.“
„Ja. Warum sollte er darüber lügen?“
Sie schien nicht überzeugt. „Behaupten nicht alle Straftäter, sie seien unschuldig?“
„Das mag sein. Aber das hat Chris ja nicht gemacht. Er hat auch Maiwald gegenüber nicht bestritten, das Mädchen getötet zu haben. Im Gegenteil, er hat sogar gesagt, dass er die Strafe verdient hat.“
„Okay, dann hat also das Mädchen damals gelogen.“
„Aber warum? Das ist hier die Frage.“
„Keine Ahnung. Druck von den Eltern vielleicht?“
„Könntest du nicht doch herausfinden, wo sie jetzt ist? Ich würde sie zu gern dazu befragen. Vielleicht sieht sie das heute ja alles anders.“
Sie war nicht begeistert. „Ich kann es versuchen, aber versprechen kann ich nichts.“
Er verstand, dass sie vorsichtig agieren musste. Schließlich half sie ihm hinter dem Rücken ihrer Kollegen und auch wenn sie das in ihrer Freizeit tat, teilte sie doch mit ihm Informationen, die eigentlich nicht für ihn bestimmt waren.
„Was versprichst du dir davon, wenn ich
fragen darf? Ich meine, selbst diesem VladimirFjodor gegenüber hat dein Bruder doch behauptet,
er hätte die Strafe verdient.“
Darüber hatte er auch nachgedacht. „Und wenn er das gesagt hat, weil er sie betrogen hat? Und dann noch mit einem vierzehnjährigen Mädchen. Ich meine, er hat im betrunkenen Zustand mit ihr geschlafen. Vielleicht war ihm erst im Nachhinein bewusst, wie falsch das war und fühlte sich deshalb schuldig.“
„Oder er fühlte sich schuldig, eben weil er sie erst vergewaltigt und dann ermordet hat.“
Er zuckte bei ihren Worten zusammen. „Du bist knallhart, weißt du das?“
Sie lachte. „Ich bin nicht umsonst bei der Kripo.“
„Scheint mir auch so.“
„Timo, dein Glauben in allen Ehren, aber du machst jetzt dasselbe wie die Polizei damals. Du gehst davon aus, dass dein Bruder unschuldig ist und passt alle Faktoren an diese Vermutung an. Bei aller Sympathie darfst du dabei keinesfalls aus den Augen verlieren, dass Christopher trotzdem schuldig sein könnte.“
Es war kurz vor neun Uhr abends und der junge Mann, der unter dem Namen Mirco Hachmeister bekannt war, hatte den Knauf der Wohnungstür in der Hand und warf einen letzten Blick auf seine Wohnung. Er wusste, dass er sie jetzt länger nicht mehr zu Gesicht bekommen würde und war schon ein wenig traurig, aber es ging nicht anders. Er seufzte, zog die Tür zu und lief die Treppe hinunter nach draußen. Er winkte dem Taxifahrer zu, der auf dem Bürgersteig neben seinem Fahrzeug stand, um zu signalisieren, dass er es war, auf den er wartete. Der Fahrer, ein junger, ausländisch aussehender Mann, nahm seine große Reisetasche und verstaute sie im Kofferraum, während Mirco bereits auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
„Zum Flughafen Blankensee, bitte“, sagte er, als er sich den Gurt anlegte und der Fahrer eingestiegen war.
Der reagierte nur mit einem Nicken und fuhr los. Mircos Blick fiel auf den Ausweis des Fahrers, der am Armaturenbrett festgemacht war, und stellte fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Hassan Yilmaz Karabuga. Also vermutlich ein Türke.
„Geht es in Urlaub?“ fragte er akzentfrei.
„Ja.“ So ungefähr. Er hatte noch keine Ahnung, wie lange er wegbleiben würde.
„Nach Mallorca?“
Der Flughafen Blankensee am Rande der Stadt ist klein und fliegt nicht besonders viele Ziele an. Hauptsächlich wird er von der Billig-Airline Ryanair genutzt, die nach Bergamo, London-Stansted, Stockholm und Pisa fliegt. Außerdem kann man auch mit Wizzair nach Danzig fliegen. Mallorca hat Ryanair erst seit kurzem im Programm.
„Ja“, log Mirco. Aber flogen die nicht vormittags? Egal, Hassan würde das sicherlich nicht überprüfen. Wo er hinwollte, ging den Typen ja nun wirklich gar nichts an. Und auf Smalltalk hatte er auch keine Lust. Vielleicht raffte er es ja, indem er so einsilbig wie möglich antwortete.
„Ich war dieses Jahr auch auf Mallorca. Am Ballermann. Da war die Hölle los, kann ich Ihnen sagen. Aber so wie man das im Fernsehen immer zeigt, war es nicht. Ich hab da keine Rieseneimer mit Sangria gesehen.“ Er lachte. „Und nackt auf den Tischen getanzt hat auch keiner.“
„Mhm“, machte Mirco.
Er schien nicht sonderlich feinfühlig zu sein. „Wo genau fahren Sie hin?“
Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Jetzt musste er sich doch tatsächlich was ausdenken. „Cala Ratjada“, sagte er. Er konnte sich daran erinnern, dass er vor zehn Jahren oder so mal mit der Familie dort gewesen war. Es war das erste, was ihm einfiel und er wollte nicht noch mehr über den Ballermann hören.
„Das soll ja auch ganz schön sein.“
„Das hoffe ich.“
Endlich schien es bei ihm angekommen zu sein und er blieb still, was Mirco die Gelegenheit gab, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Er hatte ursprünglich nicht geplant, das Land zu verlassen, aber da hatte er auch nicht gewusst, wie sich das alles entwickeln würde. Na ja, einen wirklichen Plan hatte es gar nicht gegeben, er hatte halt gehofft, dass sich ihm gewisse Möglichkeiten eröffneten, aber von den tatsächlichen Entwicklungen war er dann doch überrascht worden. Und jetzt war ein Untertauchen unvermeidlich.
Solange die Polizei in dem Mordfall an dem jungen Mädchen ermittelte, konnten sie immer noch auf ihn stoßen. Da war es besser, er war nicht aufzufinden. Wenn der Mörder erst einmal gefasst war, gab es für die Polizei keine Veranlassung mehr, weiter zu ermitteln. Dann konnte er zurückkommen. Er hätte sich schon früher abgesetzt, wenn es mit den Flügen geklappt hätte. Er hatte fieberhaft im Internet nach Verbindungen gesucht, aber der früheste freie Platz nach Stansted war an diesem Abend, auch wenn ihm ein Morgenflug lieber gewesen wäre. Er hätte dann zwar den ganzen Tag am Flughafen rumhängen müssen, ehe es weiter nach Bangkok ging, aber es wäre ihm lieber gewesen, schon außer Landes zu sein. Nun, das ließ sich jetzt nicht ändern. Es hätte zwar auch andere Möglichkeiten gegeben, wenn er von Hamburg aus geflogen wäre, aber er musste auch seinen knappen Geldbeutel berücksichtigen und bei solch kurzfristigen Buchungen hätte er dort das Dreifache bezahlen müssen.
Das Taxi bog von der neuen Schnellstraße ab, die am Hochschulstadtteil vorbei führt, und so langsam wurde es Mirco ein wenig mulmig. Er war noch nicht oft im Ausland gewesen und hatte keine Ahnung, was ihn in Thailand erwarten würde. Er hatte nach einem Ziel gesucht, das weit genug entfernt von Deutschland war und wo man auch mit wenig Geld über einen längeren Zeitraum über die Runden kam. Wie lange würde er es wohl dort aushalten müssen?
„So, das macht dann 22 Euro vierzig“, sagte Hassan, nachdem er den Wagen vor dem Eingang des Flughafengebäudes zum Stehen gebracht hatte.
Mann, war das scheißteuer. Vielleicht hätte er lieber mit Minicar fahren sollen. Mirco gab ihm vierundzwanzig Euro und stieg aus. Hassan öffnete den Kofferraum und reichte ihm seine Tasche. Er wünschte ihm noch einen guten Flug und stieg dann wieder ein. Mirco schulterte seine Reisetasche, atmete tief durch und betrat das Gebäude durch die Automatiktür. Er wandte sich nach links, wo sich die Abfertigungsschalter befanden und sah, dass sich etwa zehn Leute davor befanden. Es waren zwei Schalter geöffnet, sodass sich die auch noch verteilen würden. Na, das konnte ja nicht allzu lange dauern. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es blieb ihm noch eine Stunde Zeit bis zum Abflug. Da konnte er ganz in Ruhe noch mal auf die Toilette und sich nach etwas zum Lesen umsehen, bevor das Boarding begann.
Er reihte sich hinter einer jungen Frau mit halblangem dunklen Haar ein und wartete, dass er an die Reihe kam. Er musterte die anderen Reisenden und stellte überrascht fest, dass die Frau vor ihm anscheinend ohne Gepäck reiste. Merkwürdig, sie hatte nicht einmal einen Rucksack dabei. Oder hielt sie nur den Platz besetzt für jemanden, der gleich mit den Taschen um die Ecke kommen würde?
Sie kamen fast gleichzeitig an die Reihe, sie links, er rechts und als er dabei einen Blick auf ihr Gesicht erhaschte, stockte ihm der Atem. Er hatte sie schon einmal gesehen und er musste nicht überlegen, wo das war. Er drehte den Kopf zur Seite, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht sah und gab der Frau am Schalter seinen Ausweis.
„Sie geben ein Gepäckstück auf?“ fragte sie.
„Ja.“ Er stellte seine Tasche auf das Band.
„Haben Sie Handgepäck dabei?“
„Nein.“
Sie gab ihm sein Ticket. „Dann gehen Sie bitte da vorne durch die Sicherheitskontrolle. Einen guten Flug.“
„Danke.“
Er drehte sich nach rechts weg und ging in Richtung Kontrolle, als ihn jemand am Arm festhielt.
„Herr Panowsky?“ Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass das die Frau ohne Gepäck war. „Ich denke nicht, dass Sie heute verreisen werden.“
„Sie haben was?“ hatte Hauptkommissar Funke sie am Telefon angebrüllt.
Er war außer sich, als Doreen ihm von ihrem Gast erzählte. Seine Wut kam nicht überraschend für sie. Sie hatte sich ohnehin schon auf ein Donnerwetter eingestellt, denn sie wusste aus eigener Erfahrung, dass er es hasste, wenn jemand aus seinem Team auf eigene Faust Ermittlungen anstellte. Doch obwohl sie wusste, was auf sie zukommen würde, zuckte sie dennoch am anderen Ende der Leitung zusammen, als er sie anschrie.
„Unternehmen Sie nichts weiter. Ich bin gleich da und werde versuchen, Behrend zu erreichen. Roman lassen wir da mal außen vor, der hat andere Sorgen. Und Siewers! Sie warten jetzt auf mich, ist das klar?“
Das war es. Sie hatte ohnehin keine Ahnung, wie sie mit Panowsky hätte weiter verfahren sollen. Dass sie ihn gleich mitgenommen hatte, war mehr eine Kurzschlussreaktion, weil sie nicht gewusst hatte, was sie sonst hätte tun sollen. Wenn er ins Flugzeug gestiegen wäre, hätte sie vielleicht die letzte Chance verpasst, Timo zu helfen. Erst als sie mit ihm im Wagen saß, wurde ihr bewusst, dass sie vielleicht zu weit gegangen war. Wie um alles in der Welt sollte sie ihr Vorgehen vor Funke rechtfertigen?
Sie saß wie auf Kohlen, als er eine halbe Stunde später mit Glen im Schlepptau in ihrem Büro auftauchte. Funke sah aus, als ob er vor Wut kochte, wie erwartet also. Glen hingegen wirkte verwirrt. Wahrscheinlich hatte er sich auf einen schönen Abend mit seinem neuen Lover eingestellt, aus dem nun dank ihr nichts wurde.
Funke baute sich vor ihr auf und starrte sie mit hochrotem Gesicht an. „Sagen Sie mir bitte, was Sie sich dabei gedacht haben und lassen Sie sich etwas Gutes einfallen.“
„Seien Sie bitte nicht sauer“, bat sie ihn wider besseren Wissens.
„Ich habe Ihnen schon mal gesagt, dass ich solche Alleingänge nicht gutheiße.“ Er funkelte sie mit seinen blauen Augen an. „Was ist so schwer daran zu verstehen? Haben Sie denn das letzte Mal nichts daraus gelernt? Wenn Sie der Meinung sind, dass wir etwas Wichtiges übersehen, warum äußern Sie das nicht, anstatt auf eigene Faust loszuziehen und jemanden zu verhaften?“
Er hatte ja Recht. Und wenn er gewusst hätte, dass sie das alles nicht allein getan hatte, sondern auch noch Informationen mit Timo ausgetauscht hatte, wäre er wohl richtig ausgerastet.
Aus den Augenwinkeln sah sie Glen die Augenbrauen hochziehen.
„Ich wusste ja gar nicht, ob das wirklich wichtig ist“, versuchte sie, sich zu verteidigen. Sie machte einen Schritt auf Funke zu. „Aber Tuchels Selbstmordversuch hat mich echt getroffen. Ich finde irgendwie, dass wir nicht schuldlos daran sind. Wir haben ihm zu verstehen gegeben, dass wir den Zeitungsbericht ernst nehmen. Deshalb hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Und ich bin diejenige, die bei ihm gewesen ist. Ich hatte das Gefühl, dass ich da was gutzumachen habe.“
„Roman war auch bei ihm und ich bin mir sicher, dass er nicht so ein Problem damit hat. Vielleicht hätten Sie sich an ihm ein Beispiel nehmen sollen.“
Das war jetzt aber unfair. Er wusste genau, dass Roman nicht gerade eine Ausgeburt an Feinfühligkeit war. „Ich dachte, Sie schätzen es, wenn man seine Emotionen nicht ausklammert.“
„Wenn man dabei keine Dummheiten macht.“
Sie gab es auf. Er war sauer auf sie und wollte es auch sein. Jedes weitere Wort der Entschuldigung von ihrer Seite würde ihn nur noch wütender machen. Es war besser zu warten, bis er sich abreagiert hatte. Dann würde er ganz pragmatisch versuchen, den Nutzen aus ihrem Alleingang zu ziehen. So gut kannte sie ihn bereits. Er war ein Meister darin, sich neuen Gegebenheiten anzupassen.
„Vielleicht sollten wir mal in aller Ruhe hören, was Doreen dazu bewogen hat, den Mann festzunehmen.“ Zum ersten Mal meldete sich Glen zu Wort. Sie sah, wie er Funke am Arm berührte, wie um ihn zu beruhigen. „Wenn sie auch eigenmächtig gehandelt hat, wird sie sich das doch bestimmt gut überlegt haben.“
Er warf ihr einen Blick zu, der soviel heißen sollte, wie enttäusch mich jetzt nicht. Sie hätte ihn küssen können. Ein Glück für sie, dass Funke ihn mitgebracht hatte. Sie wartete auf Funkes Reaktion, der einen Augenblick still blieb und an ihr vorbei aus dem Fenster sah, als ob er sich darüber klar werden wollte, was er tun sollte.
„Also schön“, sagte er schließlich. „Dann berichten Sie mal. Dieser Herr Panowsky sitzt nebenan?“
„Ja.“
„Und das ist der Mann, der sich als Mirco Hachmeister ausgegeben hat?“
„Ja.“
„Mit welcher Berechtigung halten Sie ihn hier fest?“ Funke hatte sich jetzt wieder im Griff, sein Zorn schien verraucht, auch wenn Doreen wusste, dass der Ärger für sie noch nicht vorbei war. Er würde noch einmal darauf zurückkommen, aber im Moment war er ganz der Ermittler.
Sie zuckte die Achseln. „Vorspiegelung falscher Tatsachen? Behinderung unserer Ermittlungen? Unbefugtes Abhören des Polizeifunks?“
Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Das ist ja wirklich furchtbar. Und damit haben Sie ihn dazu gebracht, seinen Flug sausen zu lassen?“
„Es hat funktioniert.“
Insgesamt leichter als sie angenommen hätte. Die Beamten am Flughafen waren ihr behilflich gewesen, einer hatte sie ins Behördenhochhaus begleitet, und augenscheinlich hatte Panowsky keine Lust gehabt, Aufsehen zu erregen.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Also schön. Erklären Sie mir, wer dieser Mann wirklich ist.“
„Er ist der Bruder von Stella Panowsky.“
„Müsste mir das irgendetwas sagen?“ Er klang gelangweilt.
„Stella Panowsky?“ fragte Glen gedehnt. „Das ist doch das Mädchen, das Tuchel vor acht Jahren ermordet hat.“
Funke riss die Augen auf. Jetzt hatte sie ihn. „Was?“
Sie nickte. „Sehen Sie? Genau das hab ich auch gedacht.“
„Wie sind Sie auf ihn gekommen?“
Das war der heikle Teil. Sie musste versuchen, Timos Rolle soweit es ging herunterzuspielen und stattdessen glaubhaft machen, dass sie alles im Alleingang bewältigt hatte, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Da die Doerner und auch Maiwald mit ihm gesprochen hatten, konnte sie Timo allerdings nicht gänzlich unerwähnt lassen. Sie musste also irgendwie mit der Wahrheit herumjonglieren.
Sie seufzte. „Mein Nachbar Timo Hansen ist Tuchels Halbbruder.“ Sie erklärte Funke die Zusammenhänge und vermied es dabei, Glen in die Augen zu sehen. Sie wusste genau, dass sie ihn nicht täuschen konnte. Er ahnte sicherlich, dass weit mehr dahinter steckte, als sie zugeben mochte.
„Wir sind schon länger befreundet und da hat er mich gebeten, ihn zu begleiten. Wir waren bei Frau Doerner, die die Artikel in der Zeitung verfasst hat.“
„Sind Sie als Polizistin aufgetreten?“ Funkes Ton war scharf und sie war froh, dass sie ihn hier nicht anlügen musste.
„Nein, lediglich als Timos Freundin.“
„Das war sicher richtig. Aber ihre Aussage ist dadurch offiziell natürlich nicht wirklich verwendbar für uns.“
„Ich weiß, aber vielleicht brauchen wir sie ja auch jetzt nicht mehr.“
„Okay. Was haben Sie bei der Frau erfahren?“
Sie erzählte Funke von dem Gespräch. Als sie fertig war, nickte er. „Er hat sich also unter falschem Namen an sie herangemacht, um Tuchel unter Druck zu setzen. Und das hat so gut funktioniert, dass der sich umgebracht hat.“
„Ja. Dieser Hachmeister musste jemand sein, der mit ihr in Verbindung stand, bei dem Aufwand, den er betrieben hat. Deshalb hab ich die Familie des Mädchens unter die Lupe genommen, um herauszufinden, ob es da jemanden gibt, der Hachmeister sein konnte. Und dabei hat sich herausgestellt, dass sie einen Bruder namens Norman hat, der knapp vier Jahre älter war als sie. Ich hab herausgefunden, wo er wohnt und hab ihn dabei gesehen, wie er mit einer Reisetasche das Haus verließ und in ein Taxi stieg. Ich hab ihn sofort erkannt, es war der Mann, der mich vor dem Friedhof angesprochen hatte. Weil ich nicht das Risiko eingehen wollte, ihn aus den Augen zu verlieren, hab ich schnell bei der Taxizentrale angerufen und dort erfahren, dass er zum Flughafen wollte. Seltsamerweise war ich dann früher dort als er.“
„Warum haben Sie ihn nicht fliegen lassen? Ich meine, es ist nicht schön, was er getan hat, aber es sind auch nicht eben Straftaten.“
Weil Timo glaubte, dass sein Bruder unschuldig im Gefängnis gesessen hatte und sie hoffte, durch Norman Panowsky mehr über die Hintergründe der Tat erfahren zu können.
„Ich weiß auch nicht. Vielleicht hat er ja versucht, Tuchel noch einen Mord anzuhängen.“
Funke war mehr als skeptisch. „Sie meinen, er hat Sina Keller umgebracht, um es Tuchel in die Schuhe zu schieben? Meinen Sie nicht, das ist sehr weit hergeholt? Hätte er da nicht dafür gesorgt, dass es noch mehr Parallelen zwischen den Fällen gibt?“
Sie musste zugeben, dass ihre Theorie nicht sonderlich schlüssig klang, aber unerwartet erhielt sie erneut Schützenhilfe von Glen.
„Na ja, es ist schon komisch, was er sich für Mühe gegeben hat, findet ihr nicht? Einen falschen Namen, die Artikel in der Zeitung, die Sache mit dieser Frau. Und jetzt, wo Tuchel erledigt ist, will er sich absetzen.“
Funke sah von einem zum anderen. „Na schön. Wenn ihr meint. Ich kann es ja auch nicht leiden, wenn mich jemand zum Narren halten will.“ Er seufzte. „Dann werde ich mir den jungen Mann mal ansehen.“
„Kann ich dabei sein?“
„Sie haben ihn uns doch eingebrockt.“ Funke wandte sich an Glen. „Du bleibst hier und setzt dich an den Computer. Versuch mal etwas über Norman Panowsky und seine Familie herauszubekommen. Wenn es etwas Wichtiges ist, sagst du uns Bescheid.“
Glen nickte und warf ihr einen vielsagenden Blick zu, der ihr klar machte, dass sie ihm jetzt was schuldig war. Er setzte sich auf seinen Platz und machte sich am Computer zu schaffen.
Keine zwei Minuten später saßen Funke und Doreen Panowsky gegenüber. Er war ganz ruhig, wie auch schon während der Fahrt vom Flughafen ins Behördenhaus. Er hatte die Unterarme auf den Tisch gelegt und die Hände ruhten übereinander. Von Nervosität war nichts zu spüren. Aber warum auch? Er wusste ja, dass sie ihm nicht wirklich etwas anhaben konnten. Unter anderen Umständen hätte Doreen ihn attraktiv gefunden mit seinen blonden Haaren, dem Dreitagebart und den ebenmäßigen Gesichtszügen. Aber da sie wusste, wie er Frau Doerner ausgenutzt hatte und Tuchel in den Selbstmord getrieben hatte, war sie in der Richtung immun.
„Darf ich eine rauchen?“ fragte er, nachdem sie Platz genommen hatten. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie hoch seine Stimme war. Man konnte fast meinen, er hatte den Stimmbruch noch nicht vollständig überwunden.
„Hier nicht, leider“, sagte Funke ohne Bedauern in der Stimme. „Rauchen ist in allen öffentlichen Gebäuden verboten.“
Er zuckte gleichgültig die Achseln. „Dann eben nicht.“
„Sie wissen, warum Sie hier sind?“
„Ich nehme an, weil ich mich als jemand anderen ausgegeben habe.“
„Gibt es einen Mirco Hachmeister?“
„Nicht in der Gegend hier. Es ist ein reiner Fantasiename. Ich wollte ja niemanden in die Sache hineinziehen.“
„Bei Frau Doerner hatten Sie da ja weniger Mitleid.“ Es war Doreen herausgerutscht, ohne dass sie einen zweiten Gedanken daran verschwendet hatte.
Er verzog keine Miene. „Die hatte doch selber Schuld. Sie hat sich ja förmlich angeboten. So nötig, wie die es gehabt hat, hatte die noch nie einen Kerl. Oder zumindest seit Jahren nicht.“
Doreen hätte ihm für diese abfällige Bemerkung am liebsten ins Gesicht geschlagen. Funke sah ihren Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
„Warum haben Sie sich einen anderen Namen gegeben?“
Er warf Funke einen Blick zu, der deutlich sagte, dass er ihn für begriffsstutzig hielt. „Ist das nicht offensichtlich? Ich wollte mich an dem Mörder meiner Schwester rächen. Jeder hätte doch sofort gewusst, was ich vorhabe, wenn ich meinen richtigen Namen benutzt hätte.“
„Herr Tuchel ist doch für den Mord verurteilt worden.“
Panowsky schnaubte. „Pah. Die zehn Jahre. Lebenslänglich hätte er kriegen müssen. Stattdessen ist er nach acht Jahren wieder draußen. Finden Sie das gerecht?“
„Ich glaube an unser Rechtssystem“, wich Funke einer direkten Antwort aus.
„Sie verstehen das nicht. Meine kleine Schwester hatte keine Chance. Warum sollte ihr Mörder eine haben? Ich wollte ihm das Leben so schwer wie möglich machen.“
„Indem Sie ihm einen Mord anhängen?“
Er zuckte mit den Achseln. „Das war nicht mein Plan. Das hat sich zufällig ergeben. Aber als ich hörte, dass ein Mädchen ermordet worden ist, konnte ich mein Glück kaum fassen.“
„Glück?“ Funke schrie das Wort beinahe heraus. „Da wird ein Mädchen ermordet und Sie reden von Glück?“
Panowsky blieb ungerührt. „Ich weiß, dass Sie das nicht nachvollziehen können. Aber ich kannte das Mädchen nicht und mir war alles recht, das ich gegen den Scheißkerl verwenden konnte.“
Unglaublich. Doreen hatte bei seinen Worten die Luft eingesogen und pustete sie jetzt wieder aus. Wie konnte jemand den Mord an einer Vierzehnjährigen nur für sich ausnutzen?
„Mann, was sind Sie für ein gefühlskalter Bastard.“ Funke war ebenfalls entsetzt.
Panowsky beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. „Jetzt sag ich Ihnen mal was. Meine Schwester ist brutal vergewaltigt und dann bestialisch ermordet worden. Der Mörder redet sich heraus, dass er sich nicht erinnern kann und kommt mit zehn Jahren Strafe davon. Meine Eltern sind darüber zerbrochen. Mein Vater hatte einen Herzinfarkt, den er nicht überlebt hat. Mit zweiundvierzig! Meine Mutter hat sich zwei Monate danach das Leben genommen, weil sie das alles nicht mehr ertragen konnte. Und jetzt kommen Sie mir bitte nicht damit, wo mein Mitgefühl ist. Das ist vor vielen Jahren mit meiner Mutter begraben worden.“
Mit jedem Wort war er lauter geworden und seine Stimme schriller. Doreen konnte sehen, wie eine Ader an seiner rechten Schläfe pochte. Jetzt brodelte es in ihm. Na, zumindest hatte er doch so etwas wie Emotionen in sich, wenn es um seine Familie ging. Sie hatte nicht gewusst, dass seine Eltern tot waren, weil sie sich in ihren Nachforschungen nur auf ihn konzentriert hatte, aber seine Enthüllung erklärte zumindest in Ansätzen seine Verbissenheit.
„Und seither haben Sie verfolgt, was mit Tuchel passiert?“
„Ja. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe. Ich hab gehofft, er würde im Knast verrotten, aber so viel Glück hatte ich ja nicht. Ich war fassungslos, als ich gehört habe, dass er vorzeitig entlassen wird. Ich hab mich an dem Tag vor dem Gefängnis postiert, um ihn zu fotografieren, damit das Bild in die Zeitung kommen konnte. Aber am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihn erwürgt, als er da so mitleidserregend vor dem Haupttor stand. Das können Sie mir glauben.“
Es sprach so viel Hass aus seinen Worten, dass Doreen ihm das ohne Zögern abnahm.
„Warum haben Sie das nicht getan? Was hat Sie zurück gehalten?“
„Soll ich ehrlich sein? Seine Mutter. Wenn die nicht plötzlich aufgetaucht wäre, hätte ich für nichts garantieren können.“
Doreen nickte. „Den Plan für den Artikel hatten Sie aber schon vorher fertig.“
Mittlerweile hatte sich sein Ton wieder gemäßigt, auch wenn das Pochen der Ader an der Schläfe nicht aufgehört hatte. „Natürlich. Ich wusste ja schon Wochen vorher von dem Entlassungstermin. Da hab ich dann Anna-Lena kennen gelernt.“
„Frau Doerner behauptet, Sie hätten ihr aufgelauert.“
Er lachte laut auf. „Hat sie es jetzt endlich geschnallt? Ja. Ich hab ein paar Tage lang vor dem Gebäude gewartet, wer da alles herauskam und bin der einen oder anderen Frau nachgegangen, um zu sehen, welche am ehesten für meine Zwecke in Frage kommt. Meine Wahl fiel fast sofort auf sie. Es war klar, dass sie keinen Freund hatte und sie anzusprechen, war mehr als einfach.“
„Sagen Sie“, mischte Funke sich ein. „Wie halten Sie sich eigentlich über Wasser? Wenn Sie den ganzen Tag Leute beobachten, gehen Sie wohl keiner Arbeit nach.“
„Als Student kann ich mir meine Zeit recht flexibel aufteilen. Und was das Geld betrifft…Ich hab natürlich ein Polster durch das Erbe meiner Eltern.“
Das erklärte einiges. Doreen schätzte, dass es nicht so wenig Geld war, das er zur Verfügung hatte, wenn sie seine Kleidung betrachtete. Jeans und T-Shirt waren auf den ersten Blick zwar nichts Besonderes, aber sie konnte sehen, dass es sich um Markenware handelte. Dasselbe galt für seine Turnschuhe und seine braune Lederjacke mit dem Fellkragen.
„Mich interessiert noch etwas anderes“, sagte Funke. „Woher haben Sie eigentlich gewusst, dass wir auf dem Friedhof eine Leiche gefunden hatten?“
Er blickte von einem zum anderen und zog die Augenbrauen hoch. Es war klar, dass er wusste, was Funke mit dieser Frage andeuten wollte.
„Wenn Sie glauben, ich würde ein Mädchen töten, dann irren Sie sich. Ich wollte mich an Tuchel rächen, das ja, aber ich hätte niemals deswegen jemandem Unschuldigen etwas angetan. Noch dazu einem Mädchen, das so alt war wie meine Schwester damals. Das war alles ein großer Zufall. Über das Internet hab ich jemanden kennen gelernt, der mir gezeigt hat, wie ich den Polizeifunk abhören kann, ohne dass jemand etwas davon bemerkt.“
Er schüttelte den Kopf, als er ihre Blicke bemerkte. „Wenn Sie glauben, ich verrate Ihnen dessen Namen, können Sie das getrost vergessen. Jedenfalls hab ich gehört, wie der Leichenfund durchgegeben wurde. Ich hab mich gleich auf den Weg zum Friedhof gemacht, in der Hoffnung noch ein paar Details zu erfahren, aber das hat leider nicht geklappt.“
Doreen musterte ihn nachdenklich. „Irgendetwas stimmt doch nicht an Ihrer Geschichte.“
Er wirkte überrascht. „Was meinen Sie?“
„Was hat das Abhören des Polizeifunks mit Ihrer Rache an Tuchel zu tun?“
„Gar nichts, ursprünglich jedenfalls. Das war nur so ein Hobby von mir. Ich konnte ja nicht ahnen, dass mir das irgendwann mal bei meiner Rache helfen würde.“
„Woher wussten Sie, dass ich die Ermittlungen leite?“ wollte Funke wissen.
„Das war kinderleicht.“ Er grinste regelrecht in sich hinein. „Ich hab einfach den Beamten vor dem Friedhof gefragt, ob Hauptkommissar Großmann schon da wäre. Und da sagte der mir, dass er von dem Mann noch nichts gehört hätte und nannte mir stattdessen Ihren Namen.“
Doreen stöhnte innerlich auf. Das war ja toll, wenn sie sich alle so leicht austricksen ließen.
„Was hätten Sie unternommen, wenn das Mädchen nicht ermordet worden wäre?“
Er fuhr sich mit der rechten Hand durch sein Haar. „So genaue Pläne hatte ich nicht. Ich hatte gehofft, das Schwein durch ein paar Artikel in der Zeitung fertig zu machen. Dass er keinen Job kriegt, kein Bein an die Erde bekommt. So etwas in der Art.“
Doreen musterte ihn nachdenklich. Irgendetwas sagte ihr, dass er in diesem Moment log. Er hatte genau gewusst, was er mit Tuchel vorgehabt hatte. Er hatte viel zu viel auf sich genommen, als dass er einfach die Entwicklungen abgewartet hätte.
„Na ja, jetzt haben Sie ja Ihr Ziel erreicht“, klopfte sie auf den Busch.
„Ja. Obwohl mir lieber wäre, er hätte Erfolg mit seinem jämmerlichen Selbstmordversuch gehabt.“
Und plötzlich wusste Doreen, was Panowskys Plan gewesen war. „Können Sie uns eigentlich mal Ihr Ticket zeigen?“
Er holte ein weißes Blatt Papier aus seiner Gesäßtasche und reichte es ihr. Es war ein Ausdruck der Bestätigung der Internetbuchung bei Ryanair.
„Nur ein Hinflug? Wollten Sie in London bleiben?“
Er zögerte mit der Antwort und sie fühlte sich in ihrer Ahnung bestätigt. „Nein. Von Stansted sollte es weiter nach Bangkok gehen.“
„Thailand? Auch nur Hinflug?“
„Ja.“
„Wollten Sie auswandern?“
Er zögerte erneut. „Nein. Ich hatte gedacht, ich bleibe solange, wie es mir gefällt. Ich war noch nie dort und wollte mich nicht gleich mit einem Rückflug festlegen.“
„Ach so.“ Doreen tat, als fand sie sein Vorgehen völlig verständlich, als wäre es das Normalste der Welt, während des Semesters auf unbestimmte Zeit zu verreisen. Dabei glaubte sie ihm allerdings kein Wort. Sie berührte Funke leicht am Arm. „Kommen Sie bitte einen Moment mit mir nach draußen?“ Mit einem Lächeln wandte sie sich an Panowsky. „Wir sind gleich wieder bei Ihnen.“
Funke fragte nicht, warum er mit ihr gehen sollte, aber er war sichtlich erstaunt.
„Was ist los?“ fragte er vor der Tür.
„Er lügt.“
„In welcher Beziehung?“
„Woher weiß er, dass Tuchel einen Selbstmordversuch unternommen hat?“
Funke hob und senkte die Schultern. „Er wird den Funk abgehört haben.“
„Das wird er uns weismachen wollen“, sagte Doreen aufgeregt. „Das denke ich auch.“
„Und Sie glauben, er weiß es, weil…?“
„Gab es irgendwelche Zweifel daran, dass es sich um einen Selbstmordversuch gehandelt hat?“
Funke machte große Augen. „Sie meinen, er hat versucht, ihn zu töten?“
„Ja. Ich hab die ganze Zeit gedacht, dass irgendetwas da nicht stimmt, aber ich bin einfach nicht drauf gekommen, was es war. Als wir ihn besucht haben, hat Tuchel nicht den Eindruck gemacht, als ob er verzweifelt war. Er war wütend, das ja, aber er hatte keine Angst vor uns. Er war ein Kämpfer, hatte schon auf eigene Faust etwas über den Verfasser der Artikel in der Zeitung herausgefunden. Der Selbstmord passte überhaupt nicht.“
„Wie soll Panowsky das angestellt haben?“
Doreen merkte, dass sie knallrot geworden war. Die Aufregung. Funke war noch nicht überzeugt, aber sie hatte sein Interesse geweckt.
„Die Doerner hat mit ihm Kontakt aufgenommen, nachdem Tuchel sich bei ihr gemeldet hatte. Daraufhin hat er ihr gesagt, dass sie ihm die Schuld geben soll. Ich wette, dann hat er sich mit Tuchel in Verbindung gesetzt und einen Termin abgemacht. Vielleicht hat er ihm versprochen, eine Gegendarstellung zu schreiben oder so. Jedenfalls hat er ihn aufgesucht und ihn dann gezwungen, den Brief zu schreiben und sich selbst die Schlinge umzulegen. Er hätte nur noch etwas länger bei ihm warten müssen, um zu sehen, dass Tuchel auch wirklich tot war. Aber wahrscheinlich musste er schnell verschwinden, weil Tuchels Mutter auftauchte.“
„Wie soll er ihn dazu gezwungen haben?“
„Mit einer Waffe. Ich wette, dass wir eine bei ihm finden werden. Oder zumindest einen Hinweis darauf, dass er eine erworben hat.“
Funke nickte langsam. „Okay, das könnte alles so passiert sein. Aber warum hat er ihn in dem Brief den Mord an Sina bestreiten lassen? Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn er den auch gestanden hätte?“
Das hatte sie auch schon gedacht, aber Panowsky war nicht dumm. „Weil er wusste, dass Tuchel das nicht gewesen sein konnte. Und er konnte nicht riskieren, dass wir womöglich einen anderen Täter finden und dann darauf kommen, dass der Abschiedsbrief nicht echt gewesen sein konnte. Das Risiko konnte er nicht eingehen.“
Je mehr sie darüber sprach und ihre Gedanken in Worte formte, desto überzeugender kam ihr ihre Theorie vor.
„Sie glauben also, er wollte sich aus dem Staub machen.“
„Das ist ja wohl offensichtlich. Sollte Tuchel doch noch aus dem Koma erwachen, wäre er erledigt.“
Funke sah sie anerkennend an. „Alle Achtung, Siewers. Sie haben es echt drauf. Ich bin fast überzeugt. Aber was ist mit Sina Keller?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich ihm. Mit dem Mord hat er nichts zu tun. Er hat die Chance genutzt und das für seine Zwecke ausgenutzt. Und deshalb hatte er den Polizeifunk. Er hatte von Anfang an vor, Tuchel zu ermorden. Irgendwann hätte sich schon eine passende Gelegenheit ergeben. Dass es so schnell ging, damit hatte er bestimmt selbst nicht gerechnet.“
„Und obwohl wir gemerkt haben, dass er uns manipulieren wollte, haben wir ihm in die Karten gespielt.“
Doreen seufzte. „Ja, ich weiß. Aber eigentlich hat Merle Grothe Schuld. Wenn sie nicht abgehauen wäre und wir nicht um ihr Leben gefürchtet hätten, hätten wir Panowsky ignoriert.“
„Das tröstet mich nur wenig.“
„Mich auch.“
Funke zeigte auf die Tür. „Was machen wir jetzt mit ihm? Wir haben nur Ihre Theorie aber keinen Beweis.“
Doreen überlegte einen Moment. „Wenn meine Vermutung stimmt, hat er mit Tuchel Kontakt aufgenommen. Wahrscheinlich telefonisch. Vielleicht haben wir ja Glück und wir finden den Anruf auf der Telefonliste. Ansonsten müssen wir mit seinem Bild in Tuchels Nachbarschaft hausieren gehen. Vielleicht brauchen wir das aber auch gar nicht.“
„Wieso?“ Funke zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Haben Sie gemerkt, wie er es genoss, endlich mal rauszulassen, was ihn schon seit so vielen Jahren verfolgt? Vielleicht kriegen wir ihn auch so dazu, dass er alles zugibt.“
Funke machte sich gerade. „Also schön, dann versuchen wir das mal.“
Sie gingen nacheinander wieder in den Raum, in dem Norman Panowsky sich mit verschränkten Armen in den Stuhl zurückgelehnt hatte.
„Kommen Sie noch mal wieder?“
Sie ignorierten die Ironie. „Herr Panowsky“, begann Funke, nachdem sie Platz genommen hatten. „Sagen Sie uns doch bitte, was Sie am letzten Freitagnachmittag gemacht haben.“
Als Doreen nach Hause kam, stand Timos Golf schon in der Auffahrt. Wenn das so weiterging mit ihren Überstunden, konnte sie bald eine Woche Urlaub machen, wenn sie den Fall abgeschlossen hatten. Sie stellte ihren Wagen ab und ging an ihrer Wohnung vorbei direkt zu Timo in den zweiten Stock. Sie hatte noch nicht mal den Finger vom Klingelknopf genommen, als er schon die Tür aufriss.
„Was gibt’s Neues?“ fragte er atemlos.
„Lässt du mich vielleicht erst einmal rein?“
„Klar. Komm.“ Er griff ihren Arm und zog sie beinahe zu sich hinein. Er warf die Tür ins Schloss und drehte sich zu ihr um. „Erzähl.“
Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf seine Couch fallen. „Sorry, ich bin völlig erledigt.“
Er war ihr gefolgt und setzte sich neben sie. „Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Hast du Panowsky gefunden? Ist er dieser Hachmeister?“
Sie atmete tief durch. „Ja zu beiden Fragen.“
Sie erzählte ihm von ihrem Besuch am Flughafen.
„Er wollte abhauen?“
„Nach Thailand.“
„Warum? Hatte er Schiss, dass er eingebuchtet wird?“
Es war noch nicht offiziell, aber Doreen hatte entschieden, dass Timo die Wahrheit über seinen Bruder von ihr hörne sollte, bevor er es womöglich in der Zeitung las. Das war sie ihm schuldig, hatte sie es doch ihm zu verdanken, dass sie überhaupt hinter Panowskys Plan gekommen waren.
„Timo, ich muss dir etwas sagen.“
Er machte große Augen. „Du bist so ernst. Hast du herausgefunden, dass Christopher das Mädchen doch ermordet hat?“
Er war unverbesserlich. Ehe ihm nicht jemand das Gegenteil bewies, würde er an seiner Theorie festhalten, dass sein Bruder damals hereingelegt worden war.
„Darum geht es nicht. Dein Bruder hat nicht versucht, sich das Leben zu nehmen. Panowsky hat versucht, ihn zu töten.“
„Was?“
Sie sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte, und legte ihm beruhigend die linke Hand auf seinen Arm. „Das war seine Rache. Er hatte von Anfang an geplant, Christopher zu töten, wenn er aus dem Gefängnis entlassen werden sollte. Und der Mord an dem Mädchen gab ihm die Chance dazu, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.“
„Dieses Schwein“, presste Timo hervor.
Da konnte sie ihm nur zustimmen.
„Wie kann man seinen Hass denn nur solange aufrecht erhalten?“
Sie erzählte von den Umständen, wie Panowskys Eltern ums Leben gekommen waren. „Er gibt deinem Bruder die Schuld am Tod seiner ganzen Familie. Er hat acht Jahre lang Pläne geschmiedet, wie er sich an deinem Bruder rächen würde und sich dabei mehr und mehr reingesteigert. Er hat zunächst auch überlegt, ob er vielleicht mit Christophers ehemaliger Freundin gemeinsame Sache machen sollte, hatte sich dann aber dagegen entschieden, weil er nicht wusste, ob die den Mund halten würde, wenn sie von seinen Plänen wusste. Jedenfalls bereut er nach wie vor nicht, dass er selbst zum Mörder geworden ist, oder vielmehr zum Beinahemörder.“
„Er kennt Christophers Exfreundin?“
Klar, dass er da nachhaken würde. „Anscheinend. Aber ich weiß nicht, ob er erst vor kurzem darüber nachgedacht hat, sie einzuweihen oder ob das schon länger her ist. Fragen wollte ich danach nicht, weil mein Chef schon misstrauisch genug ist.“
„Aber du kannst das nachholen, oder?“
„Ich werde es auf jeden Fall versuchen.“
Er nickte. „Hat er eigentlich gestanden?“
„Nicht sofort.“
„Darfst du mir nichts darüber erzählen?“
Streng genommen durfte sie ihm überhaupt nichts erzählen. „Lass mich nur soviel sagen. Wir haben ihn letzten Endes überführt und da konnte er nicht mehr anders.“
Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, Panowsky zum Reden zu bringen. Sobald sie ihn nach seinem Alibi für den angeblichen Selbstmord Tuchels befragt hatten, war er auf einmal nervös geworden. Die Ruhe, die er zuvor ausgestrahlt hatte, war wie weggeblasen und er hatte kaum eine Minute stillsitzen können. Seine rechte Augenbraue hatte zu zittern begonnen und hatte damit nicht aufgehört, bis er letztendlich gestand.
Den Ausschlag für sein Geständnis hatte eine Aussage von Frau Tuchel gegeben, die Glen aufgesucht hatte, in der Hoffnung etwas Belastendes gegenüber Panowsky zu finden. Sie konnte sich an einen Anruf eines Mannes erinnern, den ihr Sohn am Tag vor seinem angeblichen Selbstmord erhalten hatte. Und Christopher war daraufhin regelrecht euphorisch gewesen, vermutlich weil er angenommen hatte, dass sein Name reingewaschen werden würde. Sie hatten Panowsky erzählt, seine Telefonnummer wäre in ihrem Telefon gespeichert worden, und ein Vergleich mit der Handynummer, die Frau Doerner von dem angeblichen Mirco Hachmeister bekommen hatte, war positiv ausgefallen. Vielleicht lag es an seiner Müdigkeit, weil sie ihn schon so lange verhörten, vielleicht wollte er es auch einfach nur hinter sich bringen und war deshalb unachtsam. Jedenfalls verriet er sich, indem er die Aussage anzweifelte, da er ja seine Nummer unterdrückt hatte. Damit hatten sie ihn und er wusste es. Danach war alles nur so aus ihm herausgesprudelt.
„Was geschieht jetzt mit ihm?“
Doreen hob und senkte die Schultern. „Er wird des versuchten Mordes angeklagt und kommt sicherlich für einige Jahre hinter Gitter.“
„Hoffentlich. Obwohl ich mich frage, ob der wirklich ganz normal ist im Kopf.“
„Na, vielleicht wird sein Verteidiger ein Gutachten anfordern, um festzustellen, ob er nicht in einer psychiatrischen Einrichtung besser aufgehoben ist.“
„Und das Mädchen?“
„Du meinst die kleine Keller? Damit hat er nichts zu tun.“
Timo nahm ihre Hand in seine und sah ihr in die Augen. „Danke.“
„Wofür?“
„Für alles. Ich kann mir vorstellen, dass das nicht einfach für dich war, mir zu helfen.“
„Ist schon gut. Außerdem konnte ich dir ja noch keinen Beweis liefern, ob Christopher Stella nun ermordet hat oder nicht.“
„Trotzdem.“ Er beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie stand auf. „Ich werd dann mal.“
Er begleitete sie zur Tür. „Sagst du mir Bescheid, falls du etwas Neues herausfindest?“
„Mach ich.“ Im Hausflur drehte sie sich noch mal um. „Und Luisa?“
Er wich ihrem Blick aus. „Was soll mit ihr sein?“
„Du hast also noch nicht mit ihr gesprochen?“
„Wer sagt mir denn, dass sie das überhaupt will?“
Sie seufzte. „Oh Mann, Timo. Du musst über
uns Frauen noch einiges lernen. Vertrau mir. Geh zu ihr und warte
damit nicht zu lange. Sonst ist es womöglich zu spät.“