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15

Ehrlichkeit.

Damit ist es bekanntlich so eine Sache – je nachdem, ob man sie erwartet oder sie von einem erwartet wird. Warum fällt es einem so leicht, sie von anderen zu fordern, und doch so schwer, selbst ehrlich zu sein? Mein Leben lang habe ich zumindest versucht, anderen gegenüber ehrlich zu sein.

Schon bald nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte Celia genau das als Teil meines Problems diagnostiziert. »Du trägst dein Herz vor dir her wie eine Prada-Handtasche, die jeder sehen soll, Rosie. Manchmal lohnt es sich aber, sich ein wenig bedeckt zu halten.«

Ich nahm mir ihren Rat zu Herzen und hielt mich fortan bedeckt. Wenn ich der Welt mein Herz nicht zeigte, konnte es mir auch niemand brechen. Und es hatte bestens funktioniert. Bis jetzt.

Denn nun war auf einmal wie aus dem Nichts der Mensch aufgetaucht, der den Schlüssel zu meiner Vergangenheit hatte (oder besser gesagt: der der Schlüssel zu meiner Vergangenheit war). Und er war ausgerechnet da aufgetaucht, wo ich mich so sicher geglaubt hatte – in Nates Gesellschaft. Nate war dabei gewesen, ihm war meine Reaktion nicht entgangen, und ich wusste, dass ich kaum umhinkäme, ihm jetzt alles zu erzählen. Im Grunde meines Herzens hatte ich es ja immer geahnt: Irgendwann würde die Zeit kommen, wo ich nicht länger ein Geheimnis daraus machen konnte. Und nun, da die Zeit gekommen war, empfand ich fast Erleichterung, aber auch Angst, denn früher oder später würde ich es auch meinen anderen Freunden erzählen müssen. Und bald würde es die ganze Welt wissen! Der Schmerz, den die Wahrheit mir bereitete, würde erst vergehen, wenn alle wussten, was vor sechseinhalb Jahren geschehen war, wenn es kein Geheimnis mehr war, weshalb ich einst in der besten Stadt der Welt Zuflucht in Mr Kowalskis Blumenladen gesucht hatte. Alle würden es wissen, alle mussten es wissen – auch Ed. Aber wie sollte ich es ihm sagen? Der bloße Gedanke daran, mit ihm die Scherben meiner Vergangenheit aufzulesen, nachdem ich allen diesbezüglichen Fragen all die Jahre ausgewichen war, erfüllte mich mit Panik. Aber darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn es so weit war. Zunächst einmal musste ich mich damit auseinandersetzen, dass Nate aller Wahrscheinlichkeit nach würde wissen wollen, warum mich das Wiedersehen mit David so erschüttert hatte. Die Freundschaft mit ihm bedeutete mir sehr viel – nein, er bedeutete mir sehr viel. Im Taxi ging mir auf, dass ich in der Falle saß. Ich steuerte geradewegs auf die Wahrheit zu, und obwohl ich am liebsten in die entgegengesetzte Richtung gerannt wäre, wusste ich, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.

Über meine Gefühle zu sprechen machte mir Angst. Ich wüsste nicht, wovor ich mich noch mehr fürchtete. Wer ehrlich ist, geht immer auch das Risiko ein, Menschen zu verlieren, denen die Wahrheit nicht gefällt. Und über meine Vergangenheit zu reden … Es käme mir wie eine Niederlage vor. Über den Kummer und den Schmerz zu reden, die ich so lange verborgen gehalten hatte, hieße auch, das alles noch einmal zu durchleben, alles wieder an mich heranzulassen – ihn an mich heranzulassen. Vor sechseinhalb Jahren hatte ich mir geschworen, dass ich mich nie wieder so fühlen wollte. Dass niemand das wert wäre. Und irgendwie hatte es ja auch funktioniert. Ich hatte ein neues Leben begonnen und sogar geglaubt, glücklich zu sein. Mir war es gelungen, das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen, das einen von Zeit zu Zeit beschleicht, wenn man nach einem langen Tag nach Hause kommt und außer einem selbst niemand da ist. Ja, natürlich war ich einsam, aber ich fühlte mich wohl so. Ich fühlte mich sicher, weil ich alles unter Kontrolle hatte. Alles unter Kontrolle zu haben ist zugegebenermaßen ein recht dürftiger Ersatz für wahres Glück, aber ich hatte es mir damit sehr komfortabel eingerichtet und kam bestens zurecht.

Jetzt jedoch hatte ich die Kontrolle verloren, und Abgründe taten sich auf.

Celia empfing mich schon vor dem Verlagsgebäude an der 8th Avenue und beförderte mich zügig durch die gläserne Lobby. Kaum im Fahrstuhl, griff sie nach meiner Hand.

»Okay, meine Süße, ich warne dich lieber schon mal vor: Nate ist oben in meinem Büro.«

Ehrlich gesagt überraschte mich das nicht. Dennoch sah ich mich auf einmal mit meinen schlimmsten Ängsten konfrontiert, sprang mit einem Satz aus dem Fahrstuhl und eilte durch die Lobby dem Ausgang entgegen. Celia sprintete hinter mir her, packte mich bei den Schultern und verstellte mir den Weg. Derart in die Ecke getrieben, suchte ich verzweifelt nach Ausflüchten.

»Celia, lass mich gehen! Du verstehst das nicht. Ich will nach Hause … Mir geht es nicht gut!« Alles vergebens.

»Nein, Rosie, ich lasse dich jetzt nicht gehen. Du kannst nicht immer weglaufen. Diesmal nicht.«

Ich wurde wütend. »Ich kann verdammt nochmal machen, was ich will! Lass mich durch.«

Meine Stimme hallte von den Wänden wider, und einige Passanten drehten sich verwundert nach mir um. Celia hingegen sprach ruhig und geduldig, klang in ihrem Entschluss jedoch unerbittlich. »Nein, Rosie.«

Etwas in ihrem Ton ließ meine Wut jäh verrauchen, und ich musste gegen meine aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Warum?«

Celia ließ mich los und schaute mich an. Auch sie hatte Tränen in den Augen. »Warum? Weil du es verdienst zu leben , Rosie, und dich nicht länger von … von dieser Sache fertigmachen lassen darfst. Weil du gute Freunde hast wie Ed und Nate, die wissen sollten, was du durchgemacht hast, denn erst dann werden sie auch wirklich zu schätzen wissen, wie stark und erfolgreich du tatsächlich bist. Schau mich nicht so an. Ich weiß schließlich, was du durchgemacht hast. Aber während andere sich davon hätten unterkriegen lassen, hast du dich aufgerappelt und es trotzdem geschafft. Okay, du bist jahrelang davor weggelaufen, und nur du weißt, wie schlimm es wirklich war – aber, meine Gute, du bist stärker, als du glaubst! Und du weißt, dass es jetzt an der Zeit ist: Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, die Vergangenheit hinter dir zu lassen – David hinter dir zu lassen – und dir zu beweisen, dass du als strahlende Siegerin aus allem hervorgehen wirst. Du schaffst das. Und im Grunde deines Herzens weißt du, dass ich Recht habe.«

Da hatte sie Recht. Ich wusste es. Obwohl alles in mir das genaue Gegenteil wollte – es wäre so verlockend, wieder wegzulaufen! –, wusste ich, dass es an der Zeit war, mich meiner größten Angst zu stellen. Wie Mr Kowalski gesagt hatte: Nun war es an der Zeit, mich »von meiner Falle zu befreien«. Aber ich fühlte mich so elend und schwach …

»Ohne deine Hilfe schaffe ich das nicht, Celia.«

»Ich bin für dich da, Honey. Solange du mich brauchst.«

Und damit hakte ich mich bei Celia unter, holte einmal tief Luft und machte mich auf den Weg. Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich hinter uns, und meine Reise begann.

 

Wie bereits erwähnt, hatte ich gleich nach dem Studium eine Stelle bei einer Werbeagentur in London bekommen. QJ Johnson Associates war eine noch vergleichsweise junge, aber schon sehr erfolgreiche Agentur. Von der Leidenschaft und kreativen Energie eines jungen, ehrgeizigen Teams getragen, entwickelte sie sich schnell von ihren kleinen bescheidenen Anfängen zu einem Spieler der kreativen Oberliga. Dort zu arbeiten war aufregend und inspirierend, und ich war vom ersten Tag an von meinem neuen Job begeistert.

Ich war gerade mal anderthalb Jahre da, als wir den größten Auftrag der bisherigen Firmengeschichte ergatterten: Ein großer internationaler Konzern engagierte uns für eine transatlantische Kampagne.

Eines schönen Tages im April bat mich QJ, mein Chef, um einen Gefallen.

»Rosie, heute kommen ein paar amerikanische Kollegen zur Verstärkung. Verdammt lästig, ich weiß, aber der Kunde will, dass wir ein transatlantisches Team bilden, und mir sind die Hände gebunden. Sie kommen heute Nachmittag in Heathrow an, und mein Wagen ist in der Werkstatt. Könntest du sie für mich abholen?«

Obwohl es sowieso schon der wahrscheinlich hektischste Tag meines Lebens war, sagte ich zu. Die Fahrt nach Heathrow würde mir guttun, sagte ich mir, und insgeheim war ich froh, als Erste mit den amerikanischen Kollegen reden zu können – das gab mir Gelegenheit, gleich die künstlerische Linie des Projekts abzustecken, das ich mittlerweile schon als »mein Projekt« ansah. Außerdem hatte ich seit Wochen keinen freien Tag mehr gehabt, und die Fahrt zum Flughafen war zumindest eine Möglichkeit, mal wieder rauszukommen.

Der Verkehr stadtauswärts ging nur stockend voran, aber der erste schwache Frühlingssonnenschein gab London jenen Zauber, den man in der Stadt immer zu finden hofft, aber meist vergeblich sucht. Ich fand mich also damit ab, stellte mich auf eine lange Fahrt ein und beschloss sie zu genießen. Ich drehte das Radio auf und sang die ganze Fahrt über mit, bis ich gefühlte zwei Stunden später beim Terminal 4 ankam.

Als ich endlich im Flughafengebäude war, stellte ich mich zu der langen Reihe von Chauffeuren und Assistenten, die eilig beschriebene Zettel hochhielten, und zu den erwartungsfrohen Freunden und Familien, die sich in der Ankunftshalle eingefunden hatten. Mein tadellos laminiertes Schild betont lässig in der Hand, stand ich da und ließ etliche Maschinenladungen Passagiere an mir vorbeilaufen, ehe schließlich – nachdem ich eine geschlagene Dreiviertelstunde gewartet hatte – David Lithgow in mein Leben spaziert kam.

Mein erster Gedanke war, dass ich noch nie in meinem Leben jemanden mit richtig grauen Augen gesehen hatte. Davids Augen waren so grau wie die Bruchsteinmauern im Lake District. Auch wenn es abgedroschen klingt, aber es war wirklich so: Von diesem Augenblick an wusste ich, dass mein Leben sich unwiderruflich verändern würde.

In den folgenden Tagen und Wochen arbeitete ich sehr eng mit ihm zusammen, da die erste Projektphase kurz vor dem Abschluss stand. Meinen Kollegen entging die Chemie zwischen uns nicht – sogar QJ ließ mal eine Bemerkung fallen (und das will etwas heißen, denn QJ besitzt viele hervorragende Eigenschaften, aber eher mangelhaft ausgeprägte soziale Antennen). David und ich machten oft zusammen Mittag, und wenn er mit mir sprach, lehnte er sich weit über den Tisch und sah mir tief in die Augen. Es verschlug mir jedes Mal die Sprache. Später gestand er mir, dass er unsere Kollegen bestochen hatte, damit sie uns so oft wie möglich allein ließen.

Eine Woche vor dem Abschluss des Projekts verkündete QJ, dass der Kunde dem ganzen Team ein langes Wochenende spendiere – als Belohnung für unsere harte Arbeit, aber auch als Gelegenheit, der Kampagne nochmal hoch konzentriert den letzten Schliff zu verpassen. Geplant war, jeden Tag von neun bis zwölf zu arbeiten, danach war Entspannung angesagt. Ein gemütliches Country House Hotel in Snowdonia war exklusiv für uns gebucht worden. An einem Donnerstag Ende Mai machte unser Team sich also nach Feierabend auf den Weg nach Wales.

Am Samstagabend beschlossen die anderen ins Dorf in den Pub zu gehen, aber ich blieb lieber im Hotel, machte es mir mit einem Buch im Kaminzimmer gemütlich und freute mich auf einen ruhigen Abend. Als es dann auch noch zu regnen begann, fühlte ich mich in meiner Entscheidung bestätigt. Binnen Minuten peitschten heftige Regen- und Hagelschauer gegen die Fenster. Ich kuschelte mich in meinen Sessel und wollte mich gerade in mein Buch vertiefen, als auf einmal David hereinkam.

»Mir war heute nicht nach warmem Bier und lauter Musik«, meinte er, ließ sich neben meinem Sessel auf dem Boden nieder und schaute mich an. »Ich wollte lieber hierbleiben. Bei dir.«

Seine Worte lösten wahre Freudentänze in mir aus. Mit bis dahin ungeahntem Mut streckte ich die Hand nach ihm aus und strich zärtlich mit dem Finger über seine Wange. Und dann ging auf einmal das Licht aus. Vermutlich war es ein banaler Stromausfall, der uns plötzlich in rabenschwarze Finsternis hüllte – und das wortwörtlich, denn wir waren weit draußen auf dem Land, mitten im Nirgendwo. Weit und breit war nicht ein Lichtschimmer zu sehen, und auch der Mond hatte sich hinter eine dichte Wolkenwand verzogen. Mir erschien diese undurchdringliche Dunkelheit jedoch wie ein Wink des Schicksals.

Ich hatte die Hand noch immer nach David ausgestreckt, doch plötzlich spürte ich sein Gesicht nicht mehr. Nun, da ich nichts mehr sehen konnte, wurden meine anderen Sinne auf einmal viel aufmerksamer. Ganz schwach nahm ich den Geruch seiner Haut wahr … Ich hörte, wie er sich kaum merklich bewegte, und dann … absolute Stille in absoluter Finsternis. Einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob er überhaupt noch im Zimmer war. Ich beugte mich vor und versuchte angestrengt, wenigstens die Andeutung von Umrissen im Dunkel zu erkennen. Und da spürte ich auf einmal einen warmen Atemzug direkt vor meinem Gesicht.

Erschrocken fuhr ich zurück und lachte nervös. »Ich weiß, dass du da bist! Hör auf, so dumme Spielchen zu spielen, das ist nicht fair.«

Und dann berührte sein Gesicht das meine: seine Stirn an meiner Stirn, seine Nase an meiner Nase, sein Atem warm auf meinen Lippen. Seine Hände umfingen mein Gesicht, seine tiefe Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Ich spiele nicht, Rosie. Es ist mir ernst. Ich liebe dich. Ich möchte mein Leben mit dir teilen. Nichts wünsche ich mir mehr.«

Sein Kuss war innig und leidenschaftlich. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Mein ganzer Körper war wie elektrisiert, und da wusste ich es. Ich wusste, dass die Tage einer meiner beiden bedeutsamen Lebensentscheidungen gezählt waren: Ich hatte mich verliebt.

 

Ein paar Stockwerke, bevor wir aussteigen mussten, hielt der Fahrstuhl, und ein schon etwas angegrauter Journalist und seine junge, bildhübsche Begleiterin stiegen ein. Celia lächelte den beiden höflich zu, und die Tür schloss sich wieder. Ich schaute zu Boden, während lange verbannte Erinnerungen höchst lebendig in mir aufstiegen. Ich hatte David so sehr geliebt. Allein der Gedanke an diesen ersten Kuss erfüllte mich mit einer Wehmut, die mein Herz mit eisernem Griff umfangen hielt. Dass ich ihn damals geliebt hatte, stand außer Frage, doch nun begann ich zu fürchten, dass diese Liebe vielleicht noch immer da wäre, verschüttet zwar unter Kummer und Schmerz, aber eben keineswegs erloschen. Ich schloss die Augen.

 

Es schien niemanden zu überraschen, dass wir plötzlich zusammen waren. Manche meinten, sie hätten es vom ersten Augenblick an gewusst, andere freuten sich, weil sie darauf getippt hatten, dass wir noch vor Abschluss des Projektes zusammenkommen würden, und nun fünfzig Pfund reicher waren. Ich hatte nicht gewusst, dass in der Agentur schon Wetten auf uns abgeschlossen worden waren.

David genoss die allgemeine Aufmerksamkeit und Anteilnahme und strengte sich auch mächtig an, seine Liebe für mich so oft wie möglich zu bekunden. Riesige Blumensträuße standen plötzlich auf meinem Schreibtisch, auf meinem Mac tauchten regelmäßig Bildschirmschoner mit Liebesgedichten auf, und eines Tages bekam ich sogar ein Musiktelegramm (sehr zur Freude meiner Kollegen – mir war das total peinlich). Bald bekam ich mit, dass schon wieder neue Wetten abgeschlossen wurden: diesmal darauf, wann David Lithgow mir die Frage aller Fragen stellen würde.

Lange dauerte es nicht. Aber es kam ganz anders als erwartet, denn zunächst erhielt ich ein Jobangebot.

»Darling, ich habe eben mit Dad gesprochen. In der Bostoner Agentur wird die Stelle einer Projektleiterin frei. Gesucht wird jemand, der junges Potenzial findet und entwickelt, jemand mit Leidenschaft und Visionen. Du bist die einzige Kandidatin, die Dad ernsthaft in Erwägung zieht. Ihm ist es wichtig, dass das Unternehmen in der Hand der Familie bleibt. Komm mit mir nach Boston, Rosie.«

Ich lachte, denn an seinen Absichten konnte nun kein Zweifel mehr bestehen. »Sollte das eben ein Heiratsantrag gewesen sein, würde ich es gerne nochmal in der romantischen Version hören, David. Ich gehe nämlich fest davon aus, dass mir diese Frage nur ein einziges Mal in meinem Leben gestellt wird – also lass dir was einfallen!«

Und als wir an einem sommerlichen Samstagnachmittag im Battersea Park spazieren gingen, stürmte David plötzlich die Stufen der Pagode hinauf und machte mir lauthals einen Antrag.

»Wenn ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte, meine Damen, meine Herren, liebe Kinder und … ähm … Hunde

Passanten blieben stehen und starrten entgeistert auf den verrückten Amerikaner, der wild gestikulierend auf der Treppe der Pagode stand.

»Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Die junge Dame, die Sie hier vor sich sehen, ist das wunderbarste, anbetungswürdigste, umwerfend schönste Geschöpf auf Erden – und ich möchte Sie alle wissen lassen, dass ich nicht einen Tag meines Lebens mehr aufwachen will, ohne sie an meiner Seite zu haben. Und deshalb …«, er legte eine spannungsgeladene Pause ein, sprang die Stufen hinab und fiel vor mir auf die Knie, »… und deshalb frage ich sie … frage ich dich, Rosie, ob du meine Frau werden willst.«

Die sichtlich amüsierten Zuschauer brachen in spontanen Applaus aus, doch David war noch nicht fertig. Fragend schaute er zu mir auf. »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Rosie. Heirate mich.«

Der Applaus verstummte, und unser Publikum hielt gebannt den Atem an.

»Ja, natürlich heirate ich dich!«, rief ich, und Tränen stiegen mir in die Augen, als um uns herum erneut begeisterter Applaus aufbrandete. David hob mich auf seine Arme und stieß einen lauten Freudenschrei aus.

»Ich werde dich zur glücklichsten Frau der Welt machen, Rosie – versprochen!«

 

Als der Fahrstuhl zwei Stockwerke später schon wieder hielt, reichte Celia mir ein Taschentuch. Das Pärchen stieg aus, und ich bekam langsam so richtig Panik.

»Ich will nach Hause, Celia. Ich schaffe das nicht!«, beharrte ich, während mein Magen sich vor Angst zusammenkrampfte.

»Ich kann mir nur schwer vorstellen, was du gerade durchmachst, Rosie, aber eines weiß ich ganz gewiss: Dein Leben befindet sich jetzt – in diesem Augenblick – an einem Wendepunkt. Entweder du beißt dich da heute durch, oder du wirst dich für den Rest deines Lebens verstecken. Es ist ganz allein deine Entscheidung.«

Für mich klang das nicht so, als bliebe mir eine große Wahl.

Aus den Tiefen meines Bewusstseins meldete sich Mr Kowalskis Stimme: »Die Erfahrung hat mich gelehrt, Rosie, dass es Augenblicke im Leben gibt, in denen man in die Fußstapfen des Schicksals tritt. Es sind seltene Momente, die einem vielleicht nur zwei- oder dreimal im Leben widerfahren, und die man deshalb umso mehr schätzen sollte. Sie sind unglaublich wertvoll, ukochana. Meistens sind sie auch schmerzlich. Sehr schmerzlich. Aber der Schmerz ist notwendig, um dich zu dem aufblühen zu lassen, wozu Papa dich ausersehen hat. Du kannst diese Augenblicke nicht vorausahnen, sie kommen völlig unerwartet. Aber eines Tages wirst auch du die Spur des Schicksals erkennen – und der Weg, für den du dich dann entscheidest, wird eine Entscheidung für oder gegen das Leben sein. Wenn es so weit ist, Rosie, entscheide dich dafür zu leben. Entscheide dich für den Weg, auf dem Papa dich wachsen und zu dem Kunstwerk werden lässt, das er in dir angelegt hat.«

Es sah also so aus, als wäre meine Entscheidung längst gefallen.

 

Mum weinte, als ich ihr sagte, dass ich nach Boston gehen würde. Aber sie merkte, dass an meinem Entschluss nicht zu rütteln war, und gab mir ihren Segen. Während ich mein Leben in London abschloss, meine Wohnung verkaufte und mich von allem trennte, was nicht unbedingt mit mir in die Staaten umsiedeln musste, war David bereits nach Boston zurückgeflogen. Einen Monat später hatte ich alles verkauft, verpackt und war startklar. Am Terminal 4 von Heathrow Airport verabschiedete ich mich von Mum und James und ging an Bord der Maschine, die mich binnen weniger Stunden in mein neues Leben tragen würde. Ich sah England unter mir entschwinden und flog meinem Schicksal entgegen.

Boston war eine Offenbarung. Alles war neu für mich und unglaublich aufregend. Ich genoss es, in die amerikanische Kultur einzutauchen, Englisch mit neuen und fremden Akzenten zu hören und eine Lebensart kennenzulernen, die zugleich schnelllebiger, aber auch entspannter war, als ich es gewohnt war. In Boston frischte ich die Freundschaft mit meinem ehemaligen Studienkollegen Ben auf. Er hatte jetzt eine Stelle in Harvard und war von seinem neuen Leben total begeistert. Ich fand, dass er amerikanischer geworden war als die Amerikaner – er sprach mit tadellosem Bostoner Akzent und war ein glühender Anhänger der New England Patriots –, aber für Baseball, Basketball und alle möglichen weiteren Sportarten begeisterte er sich ebenso. Die Sonntage verbrachten wir entweder auf den Zuschauerrängen irgendwelcher Stadien, oder wir spielten bei ihm im Hof Basketball.

Mein Job war eine große Herausforderung, aber ich war in meinem Element. Ich half beim Aufbau eines jungen Teams und verfolgte mit angehaltenem Atem, wie fünfzehn frischgebackene Absolventen sich in nur wenigen Wochen zu den besten und kreativsten Köpfen mauserten, mit denen ich je zusammengearbeitet hatte. Ich hatte das Gefühl, endlich da angekommen zu sein, wo ich immer hinwollte. Ich fand Erfüllung in meiner Arbeit und war glücklich wie noch nie.

Und David? David war einfach unglaublich. Er war alles, was ich mir nur wünschen konnte, und immer für eine Überraschung gut. Ich hätte am liebsten jede freie Minute mit ihm verbracht, und zu wissen, dass ich bald seine Frau sein würde, machte mein Glück vollkommen. Ich wusste, dass er mich liebte – und ich war mir auch bewusst, dass er mich brauchte. Manchmal hielt er mich die ganze Nacht in den Armen, als hätte er Angst, ich könnte verschwinden, sobald er mich losließe. Wenn wir abends und an den Wochenenden unser künftiges Zuhause renovierten – ein wunderschönes altes Haus mit weißen Holzschindeln –, ertappte ich ihn immer wieder dabei, wie sein Blick lange und unergründlich auf mir ruhte, und auch wenn er längst gemerkt haben musste, dass es mir aufgefallen war, wandte er den Blick nicht von mir. Umgeben von Kaffeeduft und dem Geruch von frischer Farbe hatte ich in meinem künftigen Zuhause gestanden und hinaus in den Garten mit seinen prächtigen alten Ahornbäumen geschaut und mir vorgestellt, wie unsere Kinder darin spielen würden.

Unsere Heirat war für Juni geplant. Mum und James kamen beide nach Boston, um mir bei den letzten Vorbereitungen zu helfen. Die Trauung und die Feier sollten im Haus von Davids Eltern stattfinden, das etwas außerhalb der Stadt im Grünen lag. Dreihundert Gäste waren eingeladen – die meisten davon Freunde und Geschäftspartner von Davids Vater.

Mum weinte, als sie mich bei der letzten Anprobe in meinem Brautkleid sah. Auf meinen Wunsch hin hatte sie sich um Blumen und Brautschmuck gekümmert, und mein Brautstrauß war aus weißen, cremefarbenen, blassgelben und dunkelrosa Rosen und in helles Grün gebunden. Am Abend vor meinem großen Tag saß ich noch bis spät in die Nacht mit Mum zusammen und half ihr, die letzten Anstecksträußchen fertig zu machen. Es war wie früher, und wir lachten viel und schwelgten in Erinnerungen.

»Tja, Rosie, jetzt ist es so weit. Morgen wirst du Rosie Lithgow sein. Ein sehr großer und … distinguierter Name für mein kleines Mädchen.«

»Oh Mum …«, stöhnte ich. »Ich wollte niemand anders mehr sein.«

Mum lächelte, doch es kam mir ein wenig wehmütig vor, und ich fragte mich, ob sie jetzt wohl an ihre eigene Hochzeit dachte. »Wenn du dir ganz sicher bist, dass du das willst, dann ist es gut.«

»Ich bin mir sicher.«

»Gut. Und jetzt ab ins Bett, junge Dame! Du hast morgen einen großen Tag vor dir, der dein ganzes Leben verändern wird.«

Und wie so oft hatte Mum mal wieder Recht behalten.

 

Mit einem plötzlichen Ruck blieb der Fahrstuhl stehen, und die Türen öffneten sich auf Celias Stockwerk. Sie schaute mich fragend an.

»Bereit?«

»Ich weiß nicht …«

Sie lächelte mir aufmunternd zu und drückte meine Hand. »Jetzt oder nie, Baby.«

Langsam folgte ich ihr ins Büro.

Nate stand am Fenster. Er wirkte angespannt und schaute abwesend auf die Skyline von Midtown Manhattan. Rechts von ihm erhob sich stolz das Empire State Building. Als er uns hereinkommen hörte, drehte er sich um, und die Erleichterung, mich zu sehen, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Da bist du ja!«, rief er. »Ich hatte mir solche Sorgen gemacht, Rosie! Bist du okay?«

»Ja, doch … ich arbeite daran …« Dann verstummte ich, doch Celia drängte mich weiterzureden. »Ähm, ja … Nate, ich muss dir etwas sagen. Es ist etwas, das ich noch nicht vielen Menschen erzählt habe, weil … ja, weil eben.« Es mag vielleicht seltsam klingen, aber sein eindringlicher Blick schien mir neue Kraft zu geben. Ich erkannte mich kaum wieder, als ich mich an Celia wandte und meinte: »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern allein mit Nate reden.«

Celias sorgenvoll gerunzelte Stirn glättete sich ein wenig. »Bist du dir da ganz sicher?«

Ich lächelte zuversichtlich, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug. »Ja, bin ich.«

»Dann warte ich draußen.« Schnellen Schrittes eilte Celia hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.

Nun waren wir allein. Der Moment war gekommen. Nate machte einen Schritt auf mich zu. »Rosie, nur für den Fall der Fälle gilt immer noch unsere alte Abmachung: Ich rede, und du hörst zu. Du musst mir nichts erzählen.«

Ich lächelte schwach. »Ja, ich weiß. Aber ich möchte reden. Setz dich, Nate. Bitte.«