
6
Der nächste Morgen war sonnig und schön. Kleine weiße Schleierwolken hingen malerisch am Himmel, als ich meine Vorhänge zurückzog, um den Tag hereinzulassen. Das Laub des Silberahorns vor meinem Fenster begann sich langsam in prächtiges Goldgelb zu färben. Als ich die Haustür öffnete und die Treppe hinabeilte, schlug mir schon spürbar herbstliche Luft entgegen.
Von mir zu Celia ist es nicht weit, doch der kurze Spaziergang ist zu einem meiner Samstagsrituale geworden. Meine freien Samstage sind mir heilig – um nichts in der Welt würde ich sie mir nehmen lassen. Doch das war nicht immer so. Als ich Kowalski’s vor fünf Jahren übernommen hatte, wagte ich nicht eine Sekunde, meinen Laden aus den Augen zu lassen. Wenn der Laden geöffnet war, war ich da. Ich entwickelte eine geradezu apokalyptische Fantasie – so, als würden Aliens bei Kowalski’s einfallen, ein Komet einschlagen, alles in die Luft fliegen (oder all das auf einmal), sobald ich mal einen Augenblick nicht da wäre. Meine Schreckensvision war, dass meine traumatisierten Mitarbeiter mich bei meiner Rückkehr mit leerem Blick anstarren und mit tonloser Stimme fragen würden: »Wo warst du, als wir dich brauchten?«
Nach ungefähr einem Jahr war ich so erschöpft und ausgebrannt, dass meine Kreativität sich verflüchtigte – und ebenso einige unserer Kunden, da meine Entwürfe wirklich nicht mehr besonders einfallsreich waren. Höchste Zeit, dass Ed mich beiseitenahm und mir höflich, aber sehr bestimmt vorschlug, dass ich eine regelmäßige Auszeit vom Laden nehmen solle – nicht nur mir zuliebe, sondern zum Wohle aller.
»Du brauchst Zeit, um dich zu regenerieren«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Einen Tag die Woche kommen Marnie und ich auch ohne dich zurecht. Sagst du nicht selbst immer, wie sehr du New York liebst? Nimm dir Zeit, genieß die Stadt. Sonst wirst du hier nicht alt.«
Er hatte natürlich Recht. Und so nahm ich mir von da an samstags frei, um mich mit Celia und anderen Freunden zu treffen. Die Sonntage verbrachte ich mit Lektüre, Stilrecherche und Ideenfindung – oder damit, durch New York zu schlendern und meine wunderbare Stadt zu erkunden, was meist unter der kundigen (wenngleich etwas essensfixierten) Führung von Ed geschah.
Und da wir gerade vom Essen reden: Auf dem Weg zu Celia mache ich immer noch einen kleinen Abstecher bei meiner Hausbäckerei M&H Bakers, um ein paar frische Brötchen, Bagels oder Muffins für unser Frühstück zu besorgen. Was ich an New York besonders liebe, ist diese gesunde Mischung aus gutem Essen und guten Gesprächen. Irgendwie fällt es einem doch gleich viel leichter, schwerwiegende Probleme zu lösen, wenn einem ein warmer Bagel mit Frischkäse und Räucherlachs oder ein kleiner Blaubeermuffin nahrhaft zur Seite stehen. Sogar Ed, der eine herzliche Abneigung gegen die Upper West Side pflegt, ist von M&H begeistert.
Als ich heute hereinkam, grüßte Frank, der kleine kugelrunde Typ hinter dem Verkaufstresen, mich lautstark: »Die fabelhafte Rosie Duncan! Einen wunderschönen guten Morgen!«
»Hi Frank. Wie geht es dir heute?«
Er winkte ab. »Ach, lass gut sein.«
»Hmmm.« Ich nickte wissend. Das Wetter kann noch so schön, die Kundschaft noch so zahlreich und sein Leben überhaupt ganz wunderbar sein: Frank findet immer etwas, das ihn zur Verzweiflung treibt. In dieser Hinsicht ist er ganz New Yorker. »So«, meinte ich lächelnd und inspizierte die Auslage, »was gibt es denn heute Schönes? Irgendetwas besonders Gutes?«
Frank legte sich die Hand aufs Herz und tat beleidigt. »Ob es was besonders Gutes gibt, fragt sie mich! Was besonders Gutes! Ich bin schockiert. Bei mir gibt es nur Gutes. Okay, Lady, jetzt pass mal auf …« Er griff hinter sich und stellte einen Korb auf den Tresen. »Wie wäre es mit diesen kleinen Schätzchen?« In dem Korb stapelten sich große goldbraune Bagels. Der Duft nach warmem Bratapfel ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Mmmh, lecker … Apfel, Zucker und Zimt, stimmt’s? Ich nehme sechs.«
Frank klatschte jubelnd in die Hände. »Richtig!« Überraschend wendig wirbelte er herum und rief nach hinten in die Backstube: »Hey Luigi, sie hat wieder richtig geraten! «
Ein kräftiger, unglaublich behaarter Arm winkte kurz hinter der Tür hervor. »Ist toll, Frankie!«, rief eine heisere Stimme mit italienischem Akzent zurück.
Frank packte meine Bagels in eine braune Papiertüte. »Du bist gut, Rosie«, meinte er lächelnd und schüttelte den Kopf. »Zu gut. Aber eines Tages tricksen wir dich aus.«
In all den Jahren habe ich Luigi noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen (mal abgesehen von dem haarigen Arm und der gesichtslosen Stimme). Warum kommt er nie aus der Backstube? Versteckt er sich da? Was, wenn sie ihn dort verstecken müssen? Was, wenn sein Anblick für den durchschnittlichen Bäckereikunden gar zu schrecklich wäre? Im Laufe der Jahre habe ich mir einige tolle Geschichten über Luigi ausgedacht. Eine geht so: Es war einmal in einem kleinen sizilianischen Dorf … Zu später Stunde sucht ein junges Paar im Schutz der Dunkelheit den Priester auf. In der beengten, spärlich beleuchteten Küche zeigen sie ihm ihr einziges Kind. Blankes Entsetzen spiegelt sich im Gesicht des Geistlichen. Er muss den Blick abwenden. Selbst im schwachen Kerzenschein ist das Kind von unaussprechlicher, nie gesehener Hässlichkeit. Schluchzend wirft die Mutter sich ihrem Gatten an die Brust. Der verzweifelte Vater fleht den Priester an: Können Sie denn nicht etwas, irgendetwas für meinen Sohn tun? Sein Leben wird unerträglich sein – die Menschen werden ihn nur nach seinem Äußeren beurteilen, sich von ihm abwenden … Des alten Priesters Miene ist voller Mitgefühl für die Not des armen Kindes. »Es gibt etwas, das wir tun können«, erwidert er. »Wenn wir ihn ein Handwerk lehren – eines, das den Menschen Freude bringt, könnten sie ihn wohl respektieren …« Und so geben die Eltern ihren Sohn in die Obhut des Klosters, wo der kleine Luigi das Handwerk des Bäckers lernt … Viele Jahre später, nachdem der junge Mann seine Lehre beendet hat, geht er nach Amerika, um dort sein Glück zu machen. Er findet Arbeit (ja, genau: bei M&H Bakers!), und der Plan des weisen alten Priesters scheint aufzugehen. Doch gegen Vorurteile und Äußerlichkeiten ist kein Kraut gewachsen, auch nicht hier, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und so kommt es, dass Luigis köstliche Backwaren den Bewohnern der Upper West Side zwar ungeahnte, nie gekannte Freuden bescheren, sein unansehnliches Äußeres ihn jedoch dazu verdammt, die Backstube sein Lebtag nicht zu verlassen …
»Du bist schon ein verrücktes Huhn«, meinte Celia und kam lachend aus der Küche, als ich ihr meine Luigi-Geschichte erzählt hatte, »aber dein Geschmack ist vorzüglich .«
Ich deutete eine kleine Verbeugung an. »Danke.«
Celia setzte sich. »Und jetzt erzähl mal. Was war gestern los? Du warst blass wie ein Gespenst, als du endlich bei mir aufgetaucht bist.«
Ich zuckte kurz zusammen, als ich alles auf einmal wieder ganz lebhaft vor mir sah. »Ach … nur ein etwas anstrengendes Gespräch …«
Celia schaute mich fragend an. »Ach ja?«
»Mit Ed.«
»Ah … und warum anstrengend?«
»Wir hatten uns gestritten, weil …« Ich überlegte, was ich sagen sollte. »Wegen irgendeiner dummen Kleinigkeit. Ich habe es schon wieder vergessen.« Hoffentlich würde Celia nicht nachfragen, aber wie zu erwarten, war sie viel zu neugierig, um diskret zu sein. Ihre Augen blitzten auf, und ich sprach schnell weiter: »Kurzum, es sind einige unschöne Worte gefallen, ich habe mich entschuldigt, wir haben uns wieder versöhnt und dann … ähm …«
Gespannt beugte Celia sich vor und hätte dabei fast ihren Kaffee verschüttet. »Und dann …?«
»Und dann hätte ich ihm beinahe alles erzählt. Warum ich nach Amerika gekommen bin. Was dann passiert ist. Und so weiter.«
Celia hielt den Atem an. »Aber du hast es nicht getan?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht. Das Schlimmste daran ist, dass es für ihn jetzt so aussehen muss, als würde ich ihm nicht vertrauen.«
Celia gab sich entrüstet. »Aber nein, Süße, ganz und gar nicht!«
»Meinst du?«
»Natürlich. Aber ich habe den Eindruck, als würdest du dir Vorwürfe machen. Du glaubst, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.« Da hatte sie allerdings Recht. Celia legte ihre Hand auf meine. »Es steht dir völlig frei, anderen zu erzählen, was immer du willst – oder eben nicht. Niemand kann von dir verlangen, dass du ihnen etwas erzählst, was du nicht erzählen willst, verstanden?«
Ich nickte. »Ed meinte, ich hätte Angst davor, andere an mich heranzulassen. Und er hat Recht.« Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und schaute hinaus auf die Straße. »Keine Ahnung, vielleicht sollte ich mich wirklich mehr öffnen. Vielleicht ist es an der Zeit. Ich habe einfach nur das Gefühl, dass ich noch nicht so weit bin. Aber kommt man denn jemals an den Punkt, wo man meint, bereit zu sein? Oder passiert es vielleicht einfach so, irgendwann?«
Celia setzte sich auf, lächelte und drückte zuversichtlich meine Hand. »Das merkst du schon. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass du dann so weit bist, wenn du schon mitten dabei bist, es jemandem zu erzählen. So einfach ist das.«
»Hoffentlich hast du Recht«, erwiderte ich wenig überzeugt. »Ich habe nur Angst, dass ich gestern mein Stichwort verpasst habe.«
»Rosie, du findest schon den richtigen Zeitpunkt, glaub mir. Ich meine, erinnerst du dich noch daran, als du es mir erzählt hast? Wir kannten uns gerade mal ein paar Wochen, und schwups – schon kam es heraus, mitten in meiner Küche, während ich Hühnersuppe für Jerry gekocht habe.«
Ich musste lachen. Meine unverhoffte Offenheit Celia gegenüber hatte mich wahrscheinlich mehr überrascht als sie. »Das war wirklich ziemlich New York von mir.«
Celia grinste. »Ich war einfach die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Ich schaute mich in ihrem von Cremeweiß und Blautönen dominierten Wohnzimmer um, schließlich blieb mein Blick an dem alten Ölgemälde einer blauweißen Vase mit Lilien hängen – insofern eine Kuriosität, da Celia echte Lilien nicht ausstehen kann.
»Die Sache ist einfach die, dass ich im Grunde meines Herzens tatsächlich Angst davor habe, dass meine Vergangenheit mich einholt. Ich will nicht mit dem, was mir passiert ist, gleichgesetzt werden, verstehst du? Ich habe Angst davor, ein Etikett verpasst zu bekommen, wie in diesen Talkshows: Monica, 34, Verzweifelter Kinderwunsch … Jim, 27, Klinische Depression … Ich habe Angst, dass man mich auf diese eine Sache reduzieren und immer eine Verbindung suchen wird zwischen dem, was passiert ist, und dem, wie ich heute bin.«
Als Celia sah, wie schwer es mir fiel, darüber zu reden, lächelte sie ermutigend.
»Rosie, du bist eine rundum wunderbare Person. Du hast so viele Menschen, die dich lieben und dich so akzeptieren, wie du bist. Was in Boston passiert ist, war nicht deine Schuld, vergiss das nie! Du kannst nichts dafür. Und schau dich jetzt an: Du hast einen erfolgreichen Laden, und – das ist das Allerwichtigste – du bist ein herzensguter Mensch. Die Leute, auf die es ankommt, werden nicht anders über dich denken, wenn du ihnen dein Geheimnis anvertraust.«
Ich lächelte zaghaft. »Meinst du?«
»Das weiß ich. Hey, ich bin hier die Journalistin. Also vertrau meinem journalistischen Instinkt, okay?«
»Okay.«
»Und da wir gerade von Journalismus reden: Du wirst einen fantastischen Artikel in der Samstagsausgabe bekommen. Mein Redakteur ist ganz angetan von deiner Geschichte, und wir haben grünes Licht für das Interview bekommen.«
»Wirklich?«
Celia nickte. »Wirklich. Josh Mercer ist nicht nur ein großartiger Reporter, sondern auch einer der besten Fotografen, den wir seit Jahren hatten. Du siehst: Für Kowalski’s nur das Beste! Bei Josh bist du in guten Händen. Also hör auf, dich deswegen verrückt zu machen.«
»Danke, Celia. Nicht nur dafür – für alles.«
Sie strahlte. »Gern geschehen. Oh … oh!«, rief sie dann, als ihr ein gänzlich neuer Gedanke kam. »Ich wollte es dir eigentlich schon gestern sagen, aber ich muss es ganz vergessen haben. Wie konnte ich das nur vergessen? Wo es doch so interessant ist …« Aufgeregt gestikulierte sie mit den Händen und begann zu hyperventilieren.
Ich musste lachen. »Celia, beruhige dich! Tief durchatmen. Worum geht es?«
Sie legte eine dramatische Pause ein, dann streckte sie mir beide Hände entgegen, als wollte sie mir ein Geschenk überreichen. »Nathaniel Amie«, verkündete sie triumphierend. Ihr Gesicht strahlte voll freudiger Erwartung.
Meine Reaktion war wahrscheinlich ein bisschen ernüchternd. »Der Verlagsmensch? Von der Party?« Celia nickte ungeduldig. Ich tat so, als wüsste ich noch immer nicht, worauf sie hinauswollte. »Was ist mit ihm?«, fragte ich betont beiläufig.
Celia war kurz davor zu explodieren. Sie funkelte mich an und stieß einen ungläubigen Schrei aus. »Ooooh, Rosie Duncan, du bist wirklich unmöglich! Versuch doch wenigstens ein bisschen interessiert zu wirken.«
Länger schaffte ich es nicht, unser kleines Spiel durchzuhalten. Ich gab auf. »Tut mir leid, Celia. Ich bin sehr interessiert, wirklich.«
Celia schien skeptisch. »Davon merke ich wenig.«
Ich rang die Hände in gespielter Verzweiflung. »Oh bitte erzähl mir von Nathaniel Amie, Celia, ich flehe dich an!«
Begeistert klatschte sie in die Hände. »Schon besser. Also, wie wäre es damit: Nachdem du gestern gegangen warst, hatte ich einen Termin mit ihm – wegen meines Buchs. Hatte ich dir schon erzählt, dass ich ein Buch schreibe?«
»Gefühlte fünftausendmal.«
Celia überhörte es geflissentlich. »Also, ich schreibe ein Buch. Ich hatte wie gesagt einen Termin mit ihm, da ich gern bei Gray & Connelle publizieren würde. Und stell dir vor – er hat mich nach dir gefragt!«
»Wirklich?«, sagte ich, und auf einmal war ich wirklich interessiert.
»Wirklich«, wiederholte sie und sah mich vorwurfsvoll an. »Du hast mir nicht gesagt, dass ihr euch bei Mimi begegnet seid.«
»Ja, doch, ich bin … ihm über den Weg gelaufen – sozusagen«, meinte ich ausweichend und hoffte, dass Celia nichts Näheres wusste.
Natürlich vergebens.
»Ja, das hat er mir erzählt. Du wärst geradewegs in ihn hineingerannt und sehr spektakulär zu Boden gegangen.«
»Toll«, stöhnte ich und schlug die Hände vors Gesicht.
»Sei unbesorgt, Süße, ihm hat das nichts ausgemacht. Er hatte vielmehr Angst, dass du dich verletzt haben könntest. Du wärst so schnell verschwunden gewesen, dass er kaum ein Wort mit dir wechseln konnte, und er fürchtet, dich verärgert zu haben.«
Ich stöhnte nochmal. »Das war sooo peinlich, Celia. Nicht gerade die beste Art, einen guten Eindruck zu machen. «
Celia bemühte sich vergeblich ernst zu bleiben. »Tja, trotzdem scheinst du einen ziemlichen Eindruck auf Nate gemacht zu haben.«
Draußen brach die Sonne durch die dünnen Wolken und fiel in hellen Strahlen ins Zimmer.
»Habe ich das? Was hat er gesagt?«
»Er hat mich über dich ausgefragt. Wie alt du bist. Woher genau du in England kommst. Wie lange du schon in New York lebst. Und weshalb du überhaupt hierhergekommen bist.« Als sie meine entsetzte Miene sah, fuhr sie rasch fort: »Nein, keine Sorge, ich habe ihm nichts gesagt. Nur dass du ein Jobangebot aus Boston hattest, Ben dir angeboten hätte, bei ihm zu wohnen, du dich dann aber entschieden hättest, etwas ganz anderes zu machen und nach New York gezogen wärst. Okay?«
Ich atmete erleichtert auf. »Sehr okay. Danke.«
»Gerne. Wie gesagt, er wollte einfach alles über dich wissen. Wahrscheinlich kommt er demnächst mal bei dir im Laden vorbei. Freu dich – was Blumen angeht, sind seine Vorlieben ziemlich kostspielig. Er bestellt Unmengen, wie ich aus sicherer Quelle weiß …«
»Tut er das? Du unverbesserliche Journalistin, du«, frotzelte ich. »Okay, ja, ich will wissen, warum er so viele Blumen bestellt.«
»Du weißt ja bestimmt, dass er mit Caitlin Sutton zusammen ist – Mimis Tochter?«
Plötzlich verstand ich, was ich in Mimis Mail an Celia gelesen hatte. Caitlin war also Caitlin Sutton. Kein Wunder, dass Mimi so scharf auf eine Hochzeit war.
»Nein, das wusste ich nicht. Ist sie nett?«
»Hmmm … nett ist nicht unbedingt das Adjektiv, das ich verwenden würde.« Celia runzelte angestrengt die Stirn, doch ihre Augen funkelten amüsiert. »Vielleicht eher manipulativ oder egozentrisch oder …«
»… genau wie ihre Mutter?«, schlug ich vor.
»Das bringt es auf den Punkt. Aber sie ist absolut umwerfend. «
»Verstehe. Wahrscheinlich gilt hier das alte Sprichwort, dass man einer schönen Frau alles verzeiht?«
Celia schmunzelte. »Ganz genau …« Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Wahrscheinlich findet Nate es nur vernünftig, mit ihr zusammen zu sein. Und Recht hat er – sie ist reich, kommt aus einer guten, einflussreichen Familie, und wenn er sich mit ihr auf Partys blicken lässt, wird es gewiss nicht zu seinem Nachteil sein, wenn du weißt, was ich meine.«
Seltsam. Obwohl ich Nate Amie kaum kannte, hatte ich doch nicht den Eindruck gehabt, dass er zu den Männern gehörte, die Frauen als Statussymbole betrachteten.
»Weshalb war sie dann nicht mit ihm beim Autorentreffen? «
Celia verzog das Gesicht. »Weil sie Bücher nicht mag. Und Schriftsteller erst recht nicht. Sie ist Geschäftsfrau – bei ihr muss alles klar und eindeutig sein, da gibt es nur schwarz oder weiß. Künstler bringen sie aus dem Konzept. Außerdem findet sie, dass Kunst und Kreativität Ausreden für Leute sind, die nichts Richtiges arbeiten wollen.«
»Dann muss sie von dir ja ganz begeistert sein.«
»Fast genauso wie meine Mutter, wenn ich sie warten lasse. Und du kannst dir vorstellen, was sie von dir halten würde. Aber eine Schwäche hat sie: Blumen. Je mehr, desto besser. Nate bestellt mehrere Sträuße pro Woche für sie …«
»Klingt doch ganz romantisch.«
»… auf ihre ausdrückliche Bitte hin«, schloss Celia. »Aber geduldet werden sie nur in ihrem Büro. Es gefällt ihr, wenn ihre Wall-Street-Kollegen sehen, wie sehr sie begehrt und verehrt wird. Und wer sie zu Hause besucht, ist auch immer ganz angetan von den herrlichen Blumen in allen Zimmern, aber ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Caitlin sie beseitigen lässt, sowie die Besucher weg sind. Und ob das stimmt, weiß ich zwar nicht, aber ich habe auch gehört, dass sie Nate eine Liste gegeben haben soll, welche Blumen sie zum Valentinstag bekommen will – die Rechnung belief sich auf zweitausend Dollar! Sie hat sogar dazugeschrieben, was auf den beigelegten Karten zu stehen habe.«
»Verstehe«, meinte ich belustigt. »Romantik und Spontanität scheinen nicht unbedingt ihre Stärken zu sein.«
Celia nahm unsere Kaffeetassen und verschwand damit in der Küche. »Für Caitlin eher notwendige Übel.«
»Und für ihn?« Eigentlich hatte ich das nicht laut fragen wollen, es war mir nur so in den Sinn gekommen und, ehe ich michs versah, herausgerutscht. Darauf folgte Stille. Von draußen hörte ich Vogelgezwitscher, aus der Küche, wie Kaffee eingegossen wurde. Und ich hörte Celia lächeln.
Sie kam zurück und setzte sich, reichte mir meine Tasse und zuckte kurz zusammen, weil sie so heiß war. »Warum willst du das denn wissen, Rosie?«, fragte sie süffisant.
Ich pustete in meinen Kaffee und vermied es, Celia anzusehen. »Nur so«, erwiderte ich. »Einfach nur so.«
Als ich am Nachmittag nach Hause kam, hatte ich eine Nachricht von Ed auf dem Anrufbeantworter. »Rosie, wenn du das hier noch vor fünf hörst, ruf mich im Laden an. Hier passieren ziemlich spannende Sachen. Große Sachen.«
Statt zurückzurufen, nahm ich ein Taxi, um so schnell wie möglich bei Kowalski’s zu sein.
Marnie empfing mich schon an der Tür und strahlte mit ihren knallgelben Zöpfen um die Wette.
»Rosie, das ist so aufregend!«, rief sie und zog mich in den Laden. »Komm, das musst du dir anschauen!«
Sie zerrte mich zum Ladentisch und zeigte mir stolz einen ganzen Stapel Auftragsformulare, allesamt in ihrer schnörkeligen Handschrift ausgefüllt. Ed sah von der Arbeit am Werktisch auf und wollte gerade zu uns nach vorn kommen, als das Telefon klingelte. Er schnappte sich den Hörer.
»Ganz richtig, das ist der Laden von Rosie Duncan«, sagte er und grinste mich an. »Was kann ich für Sie tun?«
»So geht das schon den ganzen Tag«, erklärte Marnie mir aufgeregt. »Das ist Wahnsinn! Als wir morgens kamen, war noch alles ruhig, und dann plötzlich … um neun Uhr: Am laufenden Band Anrufe und Leute, die in den Laden kommen – neue Kunden –, und alle haben nach dir gefragt. Vorhin war sogar die Assistentin von Martha Stewart hier! Wir haben superviele Aufträge bekommen. Bis Weihnachten ist das Auftragsbuch praktisch voll, und für nächsten Juni sind wir für drei Hochzeiten gebucht.«
Als Ed das Telefonat beendet hatte, kam er zu uns herüber und schwenkte einen weiteren Auftragsbogen. »Jon O’Donner«, verkündete er. »CEO der größten Investment-Gesellschaft New Yorks. Seine Tochter heiratet nächsten Herbst. Da liegt das große Geld, Rosie.«
Obwohl ich selber ganz aufgeregt war, hatte ich auch ein bisschen Angst, weil ich wusste, dass die meisten unserer Neukunden wahrscheinlich Exkunden von Philippe waren.
»Mimi Sutton hat uns ihrem ganzen Bekanntenkreis empfohlen«, sagte ich. »Und weil niemand Mimi vor den Kopf stoßen will, folgen sie ihrer Empfehlung und laufen Philippe in Scharen davon.«
»Ah«, meinte Ed nachdenklich. »Also doch nicht so gut. Aber trotzdem …«, fügte er zuversichtlich hinzu. »Künstlerisch konnten wir es schon immer mit ihm aufnehmen. Und findest du es nicht auch gut, dass Kowalski’s endlich die Anerkennung bekommt, die wir verdient haben?«
Klar, fand ich auch. Natürlich war das in Ordnung. So lief das eben auf dem freien Markt. Wer sagte denn, dass Philippe Devereau ein größeres Stück vom Kuchen zustand? Und Kowalski’s würde das schon schaffen, überhaupt kein Problem. Wir würden ein paar Aushilfen einstellen müssen, aber das wäre schon okay. Wahrscheinlich würden wir auch einen zweiten Lieferwagen anschaffen müssen. Aber das wäre auch okay. Ich lächelte Marnie und Ed an.
»Tja, sieht so aus, als wären wir endlich in New York angekommen!«, erwiderte ich, woraufhin Ed einen Freudenschrei ausstieß und wir uns alle in die Arme fielen.
Ich beschloss, im Laden zu bleiben, und brach meinen heiligen Samstagsschwur. Aber es war völlig undenkbar, jetzt nach Hause zu gehen – jetzt wo alles gerade so richtig anfing. Ich übernahm den Telefondienst und sah mit ungläubigem Staunen, wie die Aufträge eine Seite um die andere füllten. Natürlich hatte ich schon immer gewusst, dass Kowalski’s das Potenzial hatte, erfolgreich zu werden – das hatte ich zumindest immer den anderen gesagt, wenn es mal wieder gar nicht danach aussah –, aber dieser plötzliche Erfolg ungeahnten Ausmaßes überraschte sogar mich. Ich versuchte, meine Befürchtungen hinsichtlich Philippe zu verdrängen und den Augenblick zu genießen, denn selbst eine unverbesserliche Optimistin wie ich mochte nicht so recht glauben, dass es ewig so weitergehen würde.
Kurz vor Feierabend nahm Ed mich beiseite und ging mit mir nach hinten in die Werkstatt. Er machte die Tür hinter uns zu und drehte sich zu mir um.
»Rosie, wegen gestern …«
Ich wich unwillkürlich zurück. »Ed, ich …«
Wie angewurzelt blieb ich stehen, als Ed mir sanft einen Finger auf die Lippen legte und mir bedeutete zu schweigen. »Diesen Streit hätte es gar nicht geben sollen. Ich glaube, wir haben beide Dinge gesagt, die wir nicht so meinten. Mir jedenfalls tut es leid.« Er musste merken, dass mir gerade ein zentnerschwerer Stein vom Herzen plumpste, denn er lächelte. »Ich dachte mir, dass du dir deshalb vielleicht Sorgen machst.«
Ich erwiderte sein Lächeln. »Danke, Ed. Mir tut es auch leid.«
»Dann ist es also nie passiert?«
»Was ist nie passiert?«
Einen Augenblick standen wir schweigend da und hatten wahrscheinlich genau dasselbe erleichterte Grinsen im Gesicht. Dann klatschte Ed auf einmal so laut in die Hände, dass ich vor Schreck zusammenfuhr.
»Was denkt die Besitzerin des gefragtesten, florierendsten Blumenladens der ganzen Stadt sich eigentlich dabei, die Zeit mit eitlem Geschwätz zu vertrödeln? Los, los, frisch an die Arbeit!« Lachend riss er die Tür auf und marschierte zurück in den Laden.
Ich schaute ihm hinterher, ließ mich gegen den Werktisch sinken und spürte, wie mich ein tiefes Gefühl der Ruhe überkam. Es tat gut zu wissen, dass bei uns alles wieder beim Alten war – zumal heute, wo bei Kowalski’s solche Aufbruchsstimmung herrschte. Das Wechselbad der Gefühle der letzten Tage hatte mich ziemlich erschöpft. Ein richtiger emotionaler Marathon! Aber jetzt hatte ich das Gefühl, die Zielgerade erreicht zu haben. Lächelnd kehrte ich in den Laden zurück, sah zufrieden auf meine Blumen und meine beiden Assistenten. Eine ganz neue Hoffnung erfüllte mich, dunkel verstaubte Fenster taten sich auf und ließen Licht und Sonne herein. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, ein neues Kapitel in meiner Geschichte aufzuschlagen. Mein Leben – und mein Laden – blühten so richtig auf. Ich war voller Zuversicht. Von jetzt an würde alles wunderbar werden.
Natürlich täuschte ich mich.