e9783641064655_i0006.jpg

5

»Rosie, nein! Du musst das machen!« Ed stellte seinen Kaffeebecher mit Nachdruck auf dem Ladentisch ab. »Bessere Publicity können wir uns doch gar nicht wünschen. Sämtliche Leser der New York Times – überleg dir nur mal, wie viele neue Kunden wir auf diesem Wege gewinnen könnten!«

So gut beziehungsweise schlecht lief es also bislang mit meinem tollen, todsicheren Plan, Celias »West Siders«-Kolumne zu entkommen … Als Ed heute etwas früher als sonst zur Arbeit gekommen war, hatte ich geglaubt, den perfekten Augenblick erwischt zu haben. Marnie würde erst in einer Stunde eintrudeln, und ich hatte gehofft, Ed bis dahin schon auf meiner Seite zu haben und weitere Diskussionen vermeiden zu können. Ganz einfach eigentlich – sollte man zumindest meinen. Wie immer hatte ich uns erst mal einen Kaffee gemacht und dann ganz beiläufig erzählt, was Celia vorhatte und was ich davon hielt – nämlich nichts. Mit Einwänden hatte ich gerechnet, war aber davon ausgegangen, Ed letztlich von meiner Sicht der Dinge überzeugen zu können.

Was mir bislang nicht gelungen war. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Und heute Morgen, noch immer ganz aufgewühlt von dem Traum der letzten Nacht, setzte mir das richtig zu. Ich holte tief Luft und machte mich auf eine längere Auseinandersetzung gefasst.

»Ich wüsste nicht, warum auch nur irgendwer etwas über mich erfahren sollte. Über Kowalski’s – meinetwegen. Aber nicht über mich. Wer will so etwas lesen? Das ist doch … langweilig.«

»Was?« Ed schaute mich so entgeistert an, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass sich die Freiheitsstatue über Nacht schweinchenrosa verfärbt hätte. »Wie kommst du denn darauf, Rosie?«

Ich rang nach Worten. »Weil … weil … ich einfach glaube, dass es andere, interessantere Menschen gibt, Leute, die es eher verdient haben, dass …«

Ed schüttelte den Kopf. »Was soll das denn heißen – es eher verdient haben?« Er musterte mich aufmerksam. »Wovor hast du eigentlich Angst?«

Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften. »Vor gar nichts. Ich will nur nicht …«

Ed unterbrach mich erneut und klang nun auf geradezu beängstigende Weise wie meine Mutter. »Rosie, du hast aus diesem Laden einen vollen Erfolg gemacht. Mit Mimi Suttons Winterball hast du uns außerdem unseren bislang größten Auftrag an Land gezogen. Komm mir jetzt nicht wieder mit deinem ›Mehr Großaufträge kann Kowalski’s nicht verkraften‹. Marnie und ich haben dir schon mal gesagt, dass wir uns das durchaus zutrauen. Und nur weil wir mal ein paar größere Aufträge annehmen, geben wir ja nicht gleich alles auf, wofür wir stehen. Könnte es nicht an der Zeit sein, in größeren Dimensionen zu denken? Ich begreife einfach nicht, warum du diese Chance ausschlagen willst oder meinst, dass niemand an dir interessiert sein sollte …« Plötzlich schien ihm die Erleuchtung zu kommen. »Ah, doch … jetzt weiß ich es. Schon verstanden.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

»Es geht gar nicht darum, dass dir die Publicity peinlich wäre. Oder dass Kowalski’s zu schnell zu groß werden und uns über den Kopf wachsen könnte. Dass der Laden seinen Charme verliert. Nein, du willst einfach nur nichts über dich und dein Leben preisgeben – davor hast du Angst«, stellte er fest und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.

»Habe ich nicht …«

»Doch, hast du, Rosie. Du weißt, wie das bei solchen Interviews läuft: Name, Alter und Lieblingsfarbe genügen Journalisten heutzutage nicht mehr. Sie wollen mehr. Die Leser wollen mehr. Vielleicht geben sie sich ja mit ein paar Eckdaten deines Lebens zufrieden – vielleicht aber auch nicht. Und davor hast du wirklich Angst.«

»Ed, ich finde es absolut lächerlich, was du aus dieser Sache machst …«

»Und ich finde es lächerlich, dass du glaubst, ich würde auf deine ›Es wäre mir ja sooo peinlich, erfolgreich und bekannt zu sein‹-Nummer hereinfallen. Dafür kenne ich dich viel zu gut, Rosie.«

»Tja, vielleicht kennst du mich ja längst nicht so gut, wie du glaubst. Dann würdest du nämlich verstehen, warum ich dieses Interview nicht machen möchte.«

Ed holte tief Luft. »Okay, dann klär mich auf.«

Ich kämpfte abwechselnd mit meinen Tränen und meiner Wut. Ich finde es ganz furchtbar, wenn Ed und ich uns streiten. Irgendwie schafft er es immer, meinen wundesten Punkt zu treffen, und es ärgert mich, dass er am Ende meistens den Sieg davonträgt.

»Ich … ach, keine Ahnung. Ich will es einfach nicht machen. Also hör auf, mich damit zu nerven, okay?«

»Siehst du!«, rief Ed. »Genau wie ich dachte. Du weißt es selber nicht. Du hast keinen einzigen guten Grund dafür. Außer vielleicht einem.«

»Würdest du jetzt bitte damit aufhören? Und was hat meine angebliche Zurückhaltung, mich über jedes langweilige Detail meines Privatlebens zu verbreiten, mit dir zu tun? Was geht dich das überhaupt an?«

»Es geht mich etwas an, weil ich sehe, was du dir damit alles verbaust.«

»Ach ja? Was denn? Nicht mein ganzes Leben mit einer unendlichen Serie von belanglosen Dates zu verbringen? Hunderttausendmal dieselben nervtötenden Unterhaltungen zu führen – nur dass mir jeweils ein anderes Gesicht gegenübersitzt? Oh ja, da verpasse ich wirklich was.«

Ed stöhnte genervt. »Findest du nicht, dass das meine Sache ist?«

»Absolut. Mir tun nur die armen Mädels leid, die du datest.«

»Ich zwinge niemanden dazu, sich mit mir zu verabreden«, erwiderte er gereizt. »Und bis jetzt hat sich noch keine beschwert.«

»Wie auch, wenn du dann längst wieder verschwunden bist? Du bist eine Schlampe, Steinmann! Eine egozentrische, bindungsunfähige Schlampe!«

»Wenigstens verkrieche ich mich nicht vor der Welt und tue so, als wäre ich damit völlig glücklich und zufrieden«, giftete er zurück. »Wenigstens habe ich ein Leben außerhalb dieses Ladens. Okay, es ist vielleicht nicht das Leben, das du gern hättest, tugendhaftes Fräulein Floristin, aber ich komme damit bestens zurecht.«

Ich schnaubte verächtlich und sah beiseite. »Na dann.«

Ed schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich einfach nicht, Rosie. Tut mir leid, aber ich verstehe dich wirklich nicht. Es gibt in deinem Leben offensichtlich ein paar Dinge, von denen du nicht willst, dass andere sie erfahren. Das ist okay. Ich würde auch nicht jedem alles erzählen. Aber du vertraust dich ja nicht mal deinen besten Freunden an. Marnie und ich wissen noch immer nicht, warum du damals nach New York gekommen bist, und wenn wir dich fragen, weichst du aus. Mir kommt es manchmal so vor, als gäbe es noch eine ganz andere Seite an dir, von der wir überhaupt nichts wissen.«

»Ihr braucht auch nichts darüber zu wissen«, erwiderte ich und versuchte mein Unbehagen zu verdrängen, das mich bei diesem Thema immer überkam. »Ich bin schließlich nicht meine Vergangenheit. Ich schaue nicht zurück. Nehmt mich einfach so, wie ich bin, oder lasst es bleiben.«

Ed verschränkte die Arme vor der Brust. »Mach dieses Interview, Rosie.«

»Nein. Ich will es nicht machen.«

»Na schön«, meinte er. »Wenn du nichts über dich erzählen willst, mache ich es eben.« Er ging durch den Laden und riss die Tür auf. »Liebe Bewohner Manhattans, dürfte ich Ihnen die formidable Rosie Duncan vorstellen, die jede geschäftliche Herausforderung mit Bravour meistert, sich aber vor Angst ins Hemd macht, wenn sie anderen ihr Herz öffnen soll …«

»Du bist ja bescheuert!« Ich zerrte ihn zurück in den Laden und knallte die Tür zu. »Gut gemacht, Ed, ich bin beeindruckt! Eine absolut zutreffende Analyse meines Lebens vom großartigen Amateurpsychiater Ed Steinmann, der sich anmaßt, alle seelischen Abgründe seiner Mitmenschen zu durchschauen, sich aber selbst erstaunlich bedeckt hält, wenn es um seine eigenen Schwächen geht! Der furchtbar perfekte Mr Steinmann, der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der rundum glücklich und zufrieden ist und überhaupt keine Probleme hat!«

Mein letzter Satz hallte im Laden wider wie ein Pistolenschuss. Schweigend starrten wir uns an, rangen nach Atem und nach Worten.

Ed holte tief Luft und sah als Erster beiseite. »Da täuschst du dich, Rosie. Was weißt du schon von meinen Problemen? « Wie weggeblasen war die Wut, sie war einem leisen Trotz gewichen.

»Und was weißt du schon von meinen?«, entgegnete ich. Meine Stimme klang dünn und zittrig. Tränen brannten in meinen Augen. Wir standen uns gegenüber wie zwei Revolverhelden kurz vor dem Showdown. Ich war fest entschlossen, nicht nachzugeben – bis Ed das Schweigen brach.

»Danke für deine ehrlichen Worte. Wenigstens weiß ich jetzt, woran ich bin«, bemerkte er trocken, und da bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun. Einer von uns würde nachgeben müssen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, suchte in seinem Gesicht nach der leisesten Spur einer Andeutung, dass er mir verzeihen würde.

»Ed, es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur … Ich habe es nicht so gemeint. Es tut mir leid … lass uns wieder Freunde sein, ja?«

Seine Schultern hoben und senkten sich schwer bei jedem Atemzug. Er hielt den Kopf gesenkt und blickte zu Boden, sein zerzaustes dunkles Haar verdeckte fast seine blauen Augen, deren Blick sich eben noch in die meinen gebrannt hatte. Gespannt wartete ich auf seine Antwort und hatte doch Angst vor dem, was er jetzt sagen würde. Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, ehe er endlich aufsah und mich anschaute. Er musterte mich so prüfend, als könnte er es noch immer nicht fassen, wie ich ihn so sehr verletzen konnte. Mein Puls legte währenddessen kräftig zu. So langsam fürchtete ich wirklich, unsere Freundschaft für ein billiges Wortgefecht aufs Spiel gesetzt zu haben. Außer dem gleichmäßigen Ticken der Uhr hinter dem Ladentisch war es totenstill im Laden. Auch die Welt schien den Atem anzuhalten. Schaute zu. Wartete.

Schließlich seufzte Ed und kam zu mir. Seine Umarmung war warm und verzeihend, sein Hemd streifte weich meine Wange. Erleichterung erfüllte mich, als ich mich an ihn schmiegte.

»Es tut mir leid, Rosie …«, sagte er leise und streichelte meinen Kopf. »Ich habe es auch nicht so gemeint. Schon gut, alles ist wieder gut …«

Und dann kamen mir die Tränen, ganz zaghaft erst, doch bald schon so heftig, dass ich laut an Eds Schulter schluchzte. Eine ganze Weile war nichts zu hören außer meinem Schluchzen und dem kräftigen Schlagen seines Herzens. Dann flüsterte er mir sanft etwas ins Ohr.

»Aber es wird wirklich Zeit, dass du anfängst, ein bisschen zu leben. Mehr wollte ich gar nicht sagen. Du hast Freunde, die dich mögen, und diese Stadt, die nur darauf wartet, dass du dich in ihr vergnügst. Und vergiss nie, dass du uns alles anvertrauen kannst.«

Langsam versiegten meine Tränen. Ich hob meinen Kopf, und unsere Blicke trafen sich.

»Danke, Ed. Ich weiß, dass du mich magst und dass ich dir alles erzählen kann. Aber der Grund, weswegen ich nach New York gekommen bin … darüber kann ich noch nicht reden, weil ich es selbst noch nicht so ganz begriffen habe. Aber du wirst der Erste sein, der davon erfährt, wenn ich so weit bin, okay?«

Ed schüttelte den Kopf, doch die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Na gut. Du kannst dich verdammt glücklich schätzen, dass du mich zum Freund hast. Ich werde dich nämlich an dein Versprechen erinnern, Duncan.«

Ich erwiderte sein Lächeln. »Tu das«, meinte ich und war froh, dem Thema, das ich mehr als alles andere fürchtete, mal wieder knapp entkommen zu sein.

 

Wenn man klein ist, erzählt einem niemand, wie schwer das Leben sein kann, wenn man erst mal groß ist. Niemand klärt einen darüber auf, dass Freundschaften plötzlich nicht mehr einfach und unkompliziert sind, Entscheidungen auf einmal viel mehr Bedeutung haben und die Freuden der Kindheit mit einem Schlag vorbei sind. Stattdessen fragen sie einen, was man denn mal werden will, wenn man groß ist. Als ob dies alles wäre, was das Erwachsenenleben an Komplikationen bereithalten würde. Eigentlich muss man sich als Kind nur über diese eine Frage Gedanken machen und sich mit einer Antwort wappnen. Und wenn man sich etwas Vernünftiges überlegt hat, ist auch alles gut – wenn man also beispielsweise sagt, dass man Kinderärztin oder Gehirnchirurg werden will. Aber wenn man stattdessen antwortet – so wie ich –, dass man Tinkerbell werden wolle, lächeln sie einen gutmütig an und tätscheln einem den Kopf … und man ahnt, dass sie sich noch Jahre später auf ihren furchtbar erwachsenen Dinnerpartys darüber amüsieren werden. Die Welt der Erwachsenen scheint einem trotzdem ein unwiderstehlich romantischer Ort zu sein – einer, der in weiter Ferne liegt, doch an dem man so gern wäre, dass man alles dafür täte, um endlich dorthin zu gelangen. Na ja, fast alles.

Nun, da ich selbst dem illustren Kreis der Erwachsenen angehöre, wünsche ich mir erschreckend oft, wieder fünf Jahre alt zu sein. Alle Entscheidungen waren so einfach (Johannisbeer- oder Orangenbrause?), und ich wusste immer ganz genau, was ich wollte (Johannisbeere!). Ich weiß noch, wie toll ich es gefunden hätte, Lolliverkäuferin wie unsere Nachbarin Mrs Pearson zu sein (Plan B, falls aus meinen Ambitionen, eine kleine Elfe zu werden, doch nichts werden sollte). Tatsächlich hatte ich mit fünf Jahren meinen Bruder einen ganzen Sommer lang dazu genötigt, Auto zu spielen (kein Scherz), damit ich ihn anhalten und ihm meine selbst gemachten Lollis verkaufen konnte. Wenn man ein Kind ist, können so einfache Dinge wie ein Himbeerbonbon darüber entscheiden, wessen Freundin man ist. Freundschaften waren so einfach: Wenn du heute den ganzen Tag kein einziges Wort mit ihr sprichst, darfst du meine Freundin sein – aber wehe du sprichst mit ihr, dann bin ich nämlich nicht mehr deine Freundin. Andererseits unterscheidet sich das gar nicht so sehr davon, wie manche Erwachsene sich benehmen. Viele Erwachsene sind vielleicht einfach nur große Kinder, die sich wie Erwachsene anziehen. Insbesondere in einer Stadt wie New York.

Wie ich bald erfahren sollte.

 

Um halb eins verließ ich den Laden und winkte mir ein Taxi heran, um zur New York Times zu fahren. Schlimmer als der Tag begonnen hatte, konnte er eigentlich kaum noch werden. Dass ich Ed um ein Haar meine Vergangenheit offenbart hätte, brachte mich noch immer etwas aus der Fassung. Als ich im Taxi saß, kamen mir Zweifel, ob ich wohl jemals eine zweite Chance bekäme, es ihm zu sagen. Noch immer wurde mir ganz anders, wenn ich an unseren Streit dachte. Wir hatten uns zwar wieder versöhnt, aber genügte das?

»Alles okay, Lady?«, fragte der Taxifahrer, ein sanft lächelnder Asiate, und musterte mich besorgt im Rückspiegel.

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Alles in Ordnung, danke. Bei Ihnen auch?«

In New York kann dies eine verhängnisvolle Frage sein. Normalerweise bekommt man auf diese bloße Nettigkeit nämlich eine mehr oder minder unterhaltsame Mischung aus allgemeinen Klagen und spezifischen Wutausbrüchen zu hören, die von den Mietpreisen und desaströsen Staatsfinanzen bis zu Mutmaßungen über den Geisteszustand des Fahrers vor ihm reichen konnten. Deshalb frage ich meistens gar nicht erst. Aber in meinen Gedanken herrschte ein solches Durcheinander, dass ich für jede Ablenkung dankbar war.

Glücklicherweise wollte Ken, mein freundlicher Fahrer, heute nicht über Gott und die Welt jammern, sondern nur über seine kleine Tochter reden. Er holte ein schon ziemlich abgegriffenes Foto hinter der Sonnenblende hervor und reichte es mir über die Schulter nach hinten. Zu sehen war eine lächelnde Frau, die ein winzig kleines, ebenfalls lächelndes Baby im Arm hielt.

»Wie heißt sie?«, fragte ich.

»Sunshine.« Ken strahlte über das ganze Gesicht. »Sunshine Wang. Wir nennen sie Sunny. Morgen wird sie fünf Wochen alt – unser kleiner Sonnenschein. Meine Frau ist mächtig stolz auf sie. Sie ist sowieso ganz begeistert davon, Mutter zu sein. Können Sie sich das vorstellen? Sie hat ihren tollen Job an der Wall Street gekündigt, weil sie sich ganz um Sunny kümmern will. Ich fahre jetzt immer zwei Schichten, damit sie zu Hause bleiben kann.«

»Das ist bestimmt nicht einfach für Sie«, meinte ich verständnisvoll und gab ihm sein kostbares Foto zurück.

»Ach, geht schon«, erwiderte er, nahm mir das Foto von Sunny ab und schob es zurück hinter die Sonnenblende. »Ich stelle mir einfach vor, dass ich meinem kleinen Mädchen New York zeige, wenn ich hier den ganzen Tag rumfahre.«

Ich musste lächeln und ließ mich in meinen Sitz zurücksinken, um New York an mir vorbeirauschen zu lassen. Häuser, Menschen und Verkehr verschwammen vor meinen Augen zu einem bunten Einerlei, während ich meine aufgewühlten Gedanken in der Anonymität des gelben Taxis treiben und mich durch die Stadt tragen ließ, die ich so sehr liebte. Ich war entsetzlich müde. So erschöpft hatte ich mich seit langem nicht mehr gefühlt. Aber da war noch etwas anderes, etwas Neues. Tief in mir spürte ich eine kaum merkliche Veränderung vor sich gehen – nahezu unmerklich, wie der Übergang vom Spätsommer zum Herbst, aber unverkennbar der Vorbote einer neuen Zeit. Der Traum letzte Nacht hatte so viele verborgene Erinnerungen an die Oberfläche treiben lassen – Erinnerungen, denen ich mich jetzt genauso wenig gewachsen fühlte wie vor sechs Jahren … Nur dass diesmal noch viel mehr auf dem Spiel zu stehen schien.

Um ein Geheimnis zu bewahren, braucht es mehr, als dass man es nur nicht jemand anderem erzählt. Es beansprucht einen ganz und gar – es beherrscht das Bewusstsein, den Körper, jeden Gedanken und jedes unausgesprochene Gefühl. Aber selbst wenn man meint, alles unter Kontrolle und Verschluss zu haben, kostet es immer noch weiter Kraft. Man hat eine mentale Checkliste, die in jeder neuen Situation abgearbeitet werden muss: Gesprächsthemen, die es unter allen Umständen zu vermeiden gilt, beiläufige Bemerkungen, die mehr über einen preisgeben als beabsichtigt, und – ganz wichtiger Punkt – Menschen, denen man nicht zu nahekommen sollte, weil bei ihnen die Gefahr besonders groß ist, dass man sich sein wohlgehütetes Geheimnis entlocken lässt.

Ich gab es nur ungern zu, aber Ed hatte den Nagel vorhin ziemlich genau auf den Kopf getroffen.

Mir kommt es manchmal so vor, als gäbe es noch eine ganz andere Seite an dir, von der wir überhaupt nichts wissen.

Es gab einen guten Grund, warum ich mein Geheimnis so gut bewahrte: Wenn ich niemanden nah genug an mich heranließ, würde auch niemand je erfahren, warum ich nach Amerika gekommen und letztlich Zuflucht inmitten von Mr Kowalskis friedfertigen Blumen gesucht hatte. Es gab nur einen einzigen Menschen in New York, der wusste, wovor ich weggelaufen war und was ich versteckte: Celia. Und nicht einmal sie wusste alles.

Das Taxi fuhr so scharf in eine Kurve, als versuchte es, meinen hin und her springenden Gedanken zu folgen. Aber es ist sechs Jahre her, warf mein Gewissen schüchtern ein, wobei es sich der Ungeheuerlichkeit dieses Einwands bewusst war. Vielleicht wollte der Traum letzte Nacht dir ja sagen, dass es an der Zeit ist, die Vergangenheit endlich loszulassen? Mir stockte der Atem, als mir diese Möglichkeit so grell vor Augen flimmerte wie das gleißende Sonnenlicht, das sich auf dem Dach eines vorbeifahrenden Taxis spiegelte. Wie lange durfte, sollte man sich an so etwas festklammern? Und was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn andere davon wüssten? Würden Ed und Marnie ihre Meinung von mir ändern, wenn sie davon wussten? Mein Herz begann schneller zu schlagen, und meine Wangen glühten, als ich mögliche Schreckensszenarien in Gedanken durchspielte wie ein Daumenkino.

Erst als das Taxi langsamer fuhr und wir das Redaktionsgebäude der New York Times fast erreicht hatten, verbannte ich meinen inneren Widerstreit in die Tiefen meines Bewusstseins und zwang meine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, während ich in meiner Handtasche nach dem Geld suchte.

Celia erwartete mich am Haupteingang. Gereizt schaute sie auf die Uhr und bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick, als mein Taxi am Straßenrand hielt. Ich gab Ken ein paar Scheine mehr, als er eigentlich verlangt hatte.

»Ein kleines Trinkgeld für Ihr kleines Mädchen«, meinte ich, als ich seine verdutzte Miene sah. Ich stieg aus, und der freudestrahlende Vater fuhr davon.

Celia packte mich ungeduldig beim Arm und zerrte mich ins Gebäude. Ehe ich wusste, wie mir geschah, waren wir auch schon im Fahrstuhl und auf dem Weg in den vierzehnten Stock. Wenn Celia eine Mission hat, muss alles immer ganz schnell gehen.

»Ich sehe dir an, dass du einen schrecklichen Tag hattest, Süße«, sagte sie, als sich die verchromten Türen zu ihrem Büro öffneten, »aber darüber reden wir später, einverstanden? «

Ich nickte und war nicht im Geringsten beleidigt. Celia liegen ihre Freunde wirklich am Herzen, und wenn erst mal alles erledigt ist, was sie im Augenblick so umtreibt, findet sich immer irgendwann Zeit, über alles zu reden. Irgendwann, wohlgemerkt. Mich stört das nicht. Heute kam es mir gerade recht. Ich hatte absolut keine Lust, so bald schon wieder meine Seele zu entblößen. Davon hatte ich heute wirklich schon genug gehabt.

»Also hör zu, wegen des Interviews … ich bin ja so aufgeregt! Ich habe tatsächlich Josh Mercer, unseren neuen Feature-Reporter, dafür bekommen«, teilte Celia mir mit, sowie wir in ihrem Büro waren. »Ich dachte mir, dass sein Blick auf dich frischer und unverstellter wäre, als wenn ich über dich schreibe. Ein Foto brauchen wir noch, aber das kann Josh machen, wenn er im Laden vorbeikommt. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er dich bei Kowalski’s interviewt – ist das okay?«

Mir blieb wenig mehr übrig, als ergeben die Hände zu heben und zu lächeln. »Gerne.«

»Perfekt! Geht nächsten Dienstag? Dann bekommen wir es noch in die Wochenendausgabe.«

Widerstand war zwecklos, das wusste ich. »Klingt gut«, meinte ich lächelnd und hoffte, wenigstens ein bisschen begeistert zu klingen.

Aber Celia war schon wieder ganz woanders und hämmerte mit gereizter Miene auf der Tastatur ihres Computers herum. »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr Technik mich nervt? Herrgott, wo ist es denn? Vor einer Sekunde hatte ich es noch auf dem Schirm, und jetzt ist es spurlos verschwunden … ah, da hast du dich versteckt …«, brabbelte sie, sah dann zu mir herüber und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, Rosie. Ich habe noch nicht mal Hallo gesagt.«

Ich musste lachen und winkte ihr zu. »Hi Celia.«

»Hi Rosie. Tut mir leid.«

»Schon gut.«

Eine neue Seite wurde geladen, und der Celia-Reighton-Express raste mit unvermindertem Tempo weiter. »Also, wo war ich stehengeblieben? Ah, ja … hier.« Sie zeigte auf den Bildschirm. »Das wollte ich dir zeigen, Rosie. Du meintest, du hättest keine Ahnung, warum sich nach dem Autorentreffen so viele Leute nach dir erkundigt hätten – hier ist des Rätsels Lösung.« Sie winkte mich zu sich an den Schreibtisch und zeigte mir eine Mail von Mimi Sutton.

 

 

An: celia.r@nyt.com
Von: madamemimi@suttoncorps.com
Betreff: Deine wunderbare englische Rose

 

Liebste Celia,

ich habe eben mit deiner Floristin gesprochen – die übrigens ganz reizend ist –, und ihre Arbeiten haben ein gewisses Etwas. Ich bin ziemlich beeindruckt. So sehr, dass ich gerade eine Rundmail rausgeschickt und für ihren Laden geworben habe. Jeder, der in dieser Stadt jemand sein will, dürfte sich fortan für sie entscheiden. Bei aller Bescheidenheit: ein weiterer Trend, den New York mir zu verdanken hat. Rosie Duncan ist jetzt ganz offiziell das nächste große Ding. Und was Nathaniel Amie angeht … tja, von ihm dürfte wohl sehr bald ein großer Auftrag zu erwarten sein – genügt es, wenn ich andeute, dass er Caitlin endlich zu einer ehrbaren Frau zu machen gedenkt? Wir können nur hoffen … Und nicht vergessen – nächsten Donnerstag um 18:00 Uhr Drinks im Viva Gramercy,

 

Herzlich, Mimi xxx

 

 

»Was sagst du dazu?«, fragte Celia mich triumphierend. »Du hast eine der einflussreichsten Frauen Manhattans für dich eingenommen!« Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich dazu sagen sollte. Celia ersparte mir eine Antwort und fuhr fort: »Aber das Allerbeste ist ja der Anruf, den ich heute bekommen habe!«

»Von wem?«

Celia legte eine Pause ein, um die Spannung zu erhöhen. »Philippe. Er schäumt vor Wut, Rosie!«

Oh je. Das war nicht gut.

»Was hat er gesagt?«, fragte ich vorsichtig. Ich konnte es mir denken und wollte es eigentlich gar nicht hören.

»Einige seiner wichtigsten Kunden sind abgesprungen.«

Absolut gar nicht gut. Ich verzog gequält das Gesicht. »Lass mich raten: alles Leute, die in Mimis Adressbuch stehen?«

»Kor-rekt!«, trällerte Celia vergnügt, während ich mir stöhnend die Hände vors Gesicht schlug.

»Toll«, jammerte ich. »Echt toll. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, welche Probleme er Kowalski’s machen kann, wenn er es drauf anlegt?«

Celias Lächeln verblasste ein wenig. »Wie meinst du das, Honey?«

»Denk doch mal nach! Ich will mir Philippe Devereau nicht zum Feind machen. In Sachen Floristik ist er in New York Marktführer. Sein Unternehmen ist riesig. Er wird es sich nicht bieten lassen, wenn ein kleiner Laden wie Kowalski’s ihm seine besten Kunden wegschnappt.«

Celia umarmte mich. »Du schnappst sie ihm ja nicht weg«, beruhigte sie mich. »Sie kommen von selbst zu dir! Außerdem machst du dir mal wieder viel zu viele Sorgen, Rosie. Das ist Business, alles völlig legitim.«

Wenn sie sich da mal nicht täuschte.