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Im zarten Alter von zwölfeinhalb Jahren beschloss ich, niemals Floristin zu werden.

Ich traf diese bedeutsame Lebensentscheidung an einem Samstagmorgen. Es war fünf Uhr früh, und ich half meiner Mutter dabei, viele kleine Knopflochsträuße für eine Hochzeit zu binden. Die Mutter der Braut hatte uns eine Stunde zuvor in höchster Panik aus dem Bett geklingelt, weil ihr gerade eingefallen war, dass sie für die Familie des Bräutigams zu wenige Sträußchen bestellt hatte. Noch am selben Tag traf ich eine weitere bedeutsame Lebensentscheidung, die da lautete, nie zu heiraten. Niemals nie. Weil Leute, die heirateten, völlig den Verstand zu verlieren schienen.

Mum meinte mal, dass die zukünftigen Bräute, die in ihren Laden kämen, sich in vier Kategorien einteilen ließen: neurotisch, gelassen (aber meist von neurotischen Müttern begleitet), herrisch (»Ich weiß genau, was ich haben will, und wenn Sie nicht machen, was ich sage …«) und nett und unkompliziert. Leider hatte ich den Eindruck, dass die letztgenannte Kategorie stark unterrepräsentiert war. Später, als ich samstags im Laden meiner Mutter aushalf, konnte ich drei Handgreiflichkeiten mitansehen, unzählige lautstarke Auseinandersetzungen mitanhören und einmal gar aus nächster Nähe miterleben, wie eine Verlobung mitten in unserem Laden ihr Ende fand. Und das alles wegen ein paar Blumen! Verrückt, absolut verrückt. Was mich dabei fast noch mehr verwunderte, war, wie ruhig und freundlich Mum jedem noch so unhöflichen, unausstehlichen oder einfach nur durchgeknallten Kunden begegnete und allen Beteiligten mit wahrer Engelsgeduld zu einer allseits befriedigenden Entscheidung verhalf.

Bei meinem Namen war meine Berufswahl fast schon unausweichlich. Mum hat mich Rose genannt – nach meiner Großmutter. Sie selbst heißt Rosemary. Mein Bruder James meint immer, dass sie ihn eigentlich Daisy hätte nennen müssen, um dem Blumenthema treu zu bleiben. Trotzdem habe ich unserem Laden so bald wie möglich den Rücken gekehrt, habe Medien- und Kommunikationsdesign studiert, einen erstaunlich guten Abschluss gemacht und bin nach London gezogen, um für eine große Werbeagentur zu arbeiten. Es war ein toller Job, der mir viel Spaß gemacht hat. Es war anstrengend und stressig, aber genau das mochte ich. Wenn eine Deadline nahte, blühte ich geradezu auf. Ich genoss die Phasen angespannter Kreativität und freute mich wie ein kleines Kind, wenn ich dann das Ergebnis meiner Arbeit auf riesigen Plakaten über die ganze Stadt verteilt sah. Mum war auch unglaublich stolz auf mich und stellte meine Anzeigen sogar in ihrem Laden aus. Aber ab und an konnte sie es sich nicht verkneifen, mich daran zu erinnern, dass mein kreatives Können im Designbereich ja eigentlich von meinem floristischen Talent herrühre.

»Du bist ein Naturtalent, Rosie«, behauptete sie dann, »und nichts ist doch schöner, als etwas aus lebendiger Materie zu erschaffen.« Darüber konnte ich nur lachen, aber Mums wissendes Lächeln ließ mich doch stets mit einem kleinen, leicht beunruhigenden Fragezeichen im Hinterkopf zurück.

Und dann, als ich gerade glaubte, mein Leben könnte gar nicht besser werden und ich hätte alles, was ich mir nur wünschen könnte, merkte ich auf einmal, dass wirklich etwas fehlte. Und eine meiner beiden bedeutsamen Lebensentscheidungen wurde auf eine harte Probe gestellt. Ich verliebte mich.

Dieses eine, einzigartige Ereignis sollte mein ganzes Leben verändern. Es sollte dazu führen, dass ich England, meine Familie und meinen geliebten Job zurückließ und nach Amerika ging, um meinen Traum wahrzumachen.

Als der Traum ausgeträumt war, warf ich auch meine zweite bedeutsame Lebensentscheidung über den Haufen und fand in der Floristik ungeahnten Trost. Ich hatte tatsächlich vergessen, wie viel Freude es machte, mit lebendigen Dingen zu arbeiten: Düfte und Farben miteinander zu kombinieren, Blüten und Blätter zu einer stimmigen Einheit zu verbinden, neue Formen zu kreieren, etwas Schönes zu schaffen und darin einen tieferen Sinn zu finden. Ich stellte fest, dass die vergängliche Schönheit der Blumen ein tief in mir verborgenes Bedürfnis weckte: das Leben und alles Lebendige zu feiern und so schön wie möglich zu machen – so kurz und vergänglich die Freude daran auch sein mochte. Wenn ich meine floralen Kreationen meinen Kunden überreichte, hatte ich stets das Gefühl, mit meiner Arbeit an wichtigen Momenten ihres Lebens teilzuhaben – an freudigen und traurigen Anlässen, an Feiern und Gedenktagen – , und der Gedanke, mit meinen Blumen Teil ihrer Geschichten und ihres Lebens zu sein, war schöner und beglückender als alles, was mir mein früherer Job je gegeben hatte. Mum hatte also Recht gehabt. Und mittlerweile kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, jemals etwas anderes sein zu wollen als Floristin.

Um die Mittagszeit ihres großen Tages kam Celia kurz im Laden vorbei, um zu schauen, wie weit ihre kleinen Arrangements schon gediehen waren. Stolz konnte ich ihr berichten, dass wir bis auf zwei Stück fertig wären. Wie eine aufgeregte Dreijährige sprang Celia durch die Werkstatt, jauchzte vor Entzücken, als sie die »pittoresken« Körbchen sah, schwärmte vom »göttlichen, unverkennbar englischen Duft« der Rosen und lobte unser solides Handwerk, dem »Philippe nicht das Wasser reichen könnte«. Nachdem sie einige Minuten alles bestaunt und bewundert und uns versichert hatte, dass viele, viele Aufträge folgen würden, war sie auch schon wieder weg und eilte zu ihrem nächsten Termin.

»Puh.« Ed ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wie hältst du das nur aus, Rosie? Diese Frau hat einfach zu viel Energie.«

»Das frage ich mich auch manchmal. Aber sie hat das Herz am rechten Fleck.«

»Klar, aber bleibt bei diesem Tempo nicht irgendwas auf der Strecke?«

Marnie und ich machten die letzten beiden Blumenkörbchen fertig und betrachteten dann zufrieden unser vollbrachtes Werk.

»Perfekt!«, verkündete ich. »Alles pünktlich fertig.«

Ed runzelte die Stirn. »Halt, Moment – nicht ohne das Kowalski-Ritual.« Er schnappte sich Mr Kowalskis alte Lesebrille aus dem Regal und setzte sie auf, schob sie sich ganz nach vorn auf die Nasenspitze und sprach mit weichem und bedächtigem polnischem Akzent: »So, so … ja, ich glaube, wir könnten wohl fertig sein … oder? Gut! Dann flink aufgeräumt und frisch ans Werk!«

Ich lächelte ihn an. Manchmal fehlte Mr Kowalski mir so sehr, dass es richtig wehtat.

»Kann ich jetzt Mittagspause machen?«, fragte Marnie hoffnungsvoll.

»Ja, klar«, sagte ich und schaute auf die Uhr. »Mach ruhig eine Stunde, du hast die letzten Tage so viel gearbeitet. Viel Spaß.«

Noch während ich sprach, hatte Marnie sich ihre Jacke und ihre Tasche geschnappt und rief mir über die Schulter ein »Danke!« zu, als sie zur Tür hinausstürmte.

Ed schaute ihr belustigt nach. »Auch zu viel Energie«, meinte er. »Muss dieser Typ sein, den sie letzte Woche in ihrer Theatergruppe kennengelernt hat.«

Lächelnd räumte ich Rosenblätter und Raphiabast vom Werktisch. »Ah. Ein neues Kapitel in Marnies Leben …«

»Arme Marnie. Ihr Liebesleben liest sich wie das Drehbuch einer Soap Opera«, fand Ed und fing an, die fertigen Blumengebinde in den Lagerraum zu tragen. »Kürzlich habe ich versucht, es meiner Mutter zu erzählen. Mal sehen, ob ich die Höhepunkte noch zusammenbekomme: Alles fing mit diesem Medizinstudenten an – das ging vier Monate, bis er ihr dann eines Tages sagte, dass er Gynäkologe werden wollte …«

»Immer ein Stimmungskiller.«

»Dann der kleine Italiener, der ihr erzählt hat, er wäre Austauschstudent und komme aus dem wild-romantischen Sizilien – und der eigentlich aus dem wild-romantischen Queens kam.«

»Und der ihr dieses kleine Detail seines Lebens auch erst verraten hat, nachdem sie ihm bereits drei Wochen lang die Sehenswürdigkeiten von New York gezeigt hatte.«

»Nicht zu vergessen der Typ, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, und der sich dann als ihr lang verschollener Halbbruder herausstellte.«

Bei der Erinnerung daran mussten wir beide grinsen. Ed schüttelte den Kopf und schnappte sich die letzten beiden Körbchen. »Wenn du schon mal Kaffee machst, räume ich hier fertig auf.«

Meine Kaffeemaschine ist die beste der Welt. Eine der wenigen Gewohnheiten, die ich aus meiner Zeit in der Werbeagentur übernommen habe, ist die, dass ich Kaffee brauche, um kreativ sein zu können. Kunden haben mir schon gesagt, dass die angenehme Mischung aus dem Geruch frisch aufgebrühten Kaffees und dem Blumenduft ihnen beim Betreten des Ladens sofort ein heimeliges Gefühl gäbe. Und es scheint sie auch immer zu ermutigen, sich Zeit für ihre Auswahl zu nehmen. Mittlerweile gibt es nachmittags aber nur noch entkoffeinierten Kaffee – erstens, weil wir alle unseren Schlaf in der Nacht brauchen, und zweitens, weil Marnie geradezu unheimlich wird, wenn sie zu viel Koffein intus hat. Und schließlich wollen wir die Kunden ja nicht gleich wieder vergraulen. Meine Kaffeemaschine hat auch schon mal bessere Zeiten gesehen, aber ihr angeschlagenes Äußeres und die seltsamen Geräusche, die sie von sich gibt, machen ihren unverwechselbaren Charme aus. Marnie findet, wir sollten sie langsam in den Ruhestand schicken, aber Ed ist ganz meiner Meinung, dass keine so guten Kaffee macht wie sie, womit es zwei zu eins steht und die Sache geklärt wäre. Weshalb Old Faithful, wie wir sie liebevoll nennen, eine meiner wichtigsten und treuesten Mitarbeiterinnen bleibt.

Als der Kaffee nach viel Geschnaube, Gepruste und lautem Geklacker seitens Old Faithfuls schließlich fertig war, setzte Ed sich zu mir an den Ladentisch. Ed isst zum Lunch immer riesige Pastrami-Sandwiches, die er sich morgens auf dem Weg zur Arbeit bei Schaeffer’s Deli kauft, das nur ein paar Blocks von seiner Wohnung im East Village liegt. Ich habe ihn mal gefragt, wie er eigentlich so viel essen kann, ohne dabei kugelrund zu werden, worauf er grinsend meinte, dass er eben »einen guten Stoffwechsel« habe. Wahrscheinlich liegt es eher daran, dass er jeden Tag fünf Meilen läuft, regelmäßig ins Fitnessstudio geht und den größten Teil seiner Freizeit damit verbringt, den schönsten Frauen New Yorks hinterherzujagen. Oder sich von ihnen jagen zu lassen.

Nachdem wir eine Weile einvernehmlich gefuttert hatten, gönnte Ed seinem in Brot verpacktem Fleischberg eine kleine Pause und warf mir einen seiner ernsten Blicke zu. »Und, wie sieht es mit deiner Dating-Vergangenheit aus, Rosie?«

Oh, oh. Jetzt näherten wir uns allzu vertrautem Gebiet:

ACHTUNG! SIE BETRETEN JETZT DIE GEFAHRENZONE!

Population: nur ich.

Ich versuchte es mit einem kleinen Ausweichmanöver. »Wie soll es da denn aussehen?«

Das funktionierte natürlich überhaupt nicht. Wahrscheinlich war es sogar das Dümmste, was ich sagen konnte, denn nichts gefällt Ed Steinmann besser als eine ordentliche Herausforderung.

»Ach, komm schon, Rosie … Ein paar Herzen wirst du doch im guten alten England gebrochen haben.«

»Ähm …«

»Bling! Du hast gezögert!« Nur Ed konnte aus einer peinlichen Unterhaltung eine Quizshow machen. »Du bist von einer Tränenflut über den großen Teich geschwemmt worden – gib es zu.«

Ich schluckte schwer. »So ähnlich.«

»Und dann … wo warst du vorher nochmal? Washington? Chicago?«

»Boston.«

»Ah, Boston. Und? Hast du da auch reihenweise Herzen gebrochen?«

»Ich … nein. Okay, könnten wir jetzt bitte das Thema wechseln?«

Ed hob beschwichtigend die Hände. »He, ich wollte mich einfach nur unterhalten. Du bist jetzt seit sechs Jahren hier, und wir haben noch kein einziges Mal mitbekommen, dass du ein Date hattest.«

Ich seufzte, tief und schwer. »Für so was habe ich auch keine Zeit.«

»Weil du dein halbes Leben damit verbringst, den Launen deiner verrückten Journalistenfreundin nachzugeben«, stellte Ed fest, biss in sein Sandwich und kaute bedächtig.

»Das ist nicht fair, Ed. Celia ist eine wirklich gute Freundin.«

»Und weshalb hat sie dann noch nie versucht, dich zu verkuppeln?«

»Ed!«

»Nur so ein Gedanke. Ich meine, es wird bei der Times doch genügend smarte Schreiberlinge geben, die du mal treffen könntest.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte ich mich so weniger verletzlich fühlen. »Seit wann interessierst du dich eigentlich so für mein Liebesleben?«

»Nicht nur ich, Marnie auch. Also, um ganz ehrlich zu sein, vor allem Marnie. Sie macht sich Sorgen um dich.«

Dass meine beiden Angestellten allem Anschein nach in aller Ausführlichkeit mein Privatleben diskutierten, fand ich leicht irritierend. Es machte mir zwar nichts aus, dass sie sich Gedanken machten – genau das mochte ich ja an unserem Team: Es war schön zu wissen, dass wir uns alle ein bisschen umeinander kümmerten und aufeinander aufpassten. Aber das galt definitiv nicht für mein Liebesleben. Darüber wollte ich mit niemandem sprechen – und schon gar nicht über das, was in London und Boston gewesen war. Dafür hatte ich meine Gründe. Ziemlich gute Gründe, wie ich fand.

»Sag ihr, sie braucht sich keine Sorgen zu machen. Mir geht es bestens. Außerdem dürftet ihr beiden Manhattan doch schon ziemlich abgegrast haben.«

Er nickte. »Gutes Stichwort. Dann frag mich eben nach meinem aufregenden Liebesleben, wenn du schon keine Zeit für ein eigenes hast.« Ed schafft es immer wieder, mich zum Lächeln zu bringen, obwohl ich ihn manchmal am liebsten treten würde. Sehr entwaffnend und stets erfolgreich.

»Also gut. Dann erzähl mal, wer heute Abend die Glückliche ist.«

Ed grinste selbstgefällig, und seine blauen Augen funkelten. »Anwältin.«

»Oh, toll.«

»Kann man so sagen.«

»Name?«

»Mona. Italienerin.«

»Lass mich raten – zweiter Name Lisa, unergründliches Lächeln, schön wie ein Gemälde?«

Ed verzog keine Miene. »Ruf den Notarzt, Rosie. Ich platze vor Lachen. Nein, sie vertritt meinen Cousin Klaus.«

»Was hat er denn ausgefressen?«

Ed legte sein Sandwich beiseite und wischte sich bedächtig die Finger an einer Papierserviette ab. »Wie kommt es eigentlich«, meinte er dann, »dass du meine ganze Familie für eine einzige Verbrecherbande hältst?«

»Sorry.« Ich sah reumütig drein und war froh, das Gespräch wieder in unverfängliche Bahnen gelenkt zu haben.

»Hmmm. Mach das nicht nochmal, Duncan. Nein, er ist von einem ehemaligen Patienten verklagt worden, der behauptet, Klaus habe ihn während einer Sitzung hypnotisiert und zu katastrophalen Fehlentscheidungen verleitet, die letztlich seine Firma in den Ruin getrieben hätten.«

»Dein Cousin ist Hypnotherapeut?«

»Nein, das ist ja das Verrückte. Er ist Psychiater. Alle in meiner Familie sind Psychiater. Nur ich nicht.«

»Und hat die Klage Aussicht auf Erfolg?«

»Kaum. Der Typ ist total durchgeknallt, aber hey, das ist New York: Du brauchst nur mal zur falschen Zeit am falschen Ort zu niesen, und schon verklagt dich irgend so ein Idiot. Mona geht davon aus, dass ein Blick auf den Kläger dem Richter genügen dürfte, um das Verfahren einzustellen. Aber bis dahin bin ich es meinem Cousin schuldig, seine reizende Anwältin über jedes Detail auf dem Laufenden zu halten.«

»Doch, das stelle ich mir sehr vergnüglich vor. Vor allem die Details.«

»Siehst du? Gib doch zu, dass ich unwiderstehlich bin!«

»Ja, ja, wie du meinst«, gab ich lachend zurück, nahm unsere Becher und ging zu Old Faithful, um Kaffee nachzufüllen.

»Tja, Rosie, so lustig kann das Leben sein. Da siehst du mal, was du dir alles entgehen lässt.«

»Anwältinnen sind nicht mein Fall, und Psychiater kenne ich keine.«

»Dann versuch es doch mit einem Polizisten. Oder einem Fotografen. Meinetwegen auch mit einem Taxifahrer. Herrje, alles wäre einen Versuch wert, damit du nur mal wieder rauskommst! Wie wäre es, wenn Marnie dir einen ihrer Exfreunde empfiehlt?«

Ich reichte Ed seinen Becher und setzte mich wieder. »Nette Idee, aber danke, kein Bedarf. Ich wage sehr zu bezweifeln, dass irgendeiner davon auch nur annähernd mein Typ sein könnte. Und jetzt sei still und iss endlich deine tote Kuh im Brot auf.«

»Versuch nicht abzulenken. Du weißt, dass das bei mir nicht zieht. Stell dich lieber schon mal darauf ein, dass wir nicht so bald lockerlassen werden.«

Mir rutschte das Herz in die Hose, aber ich versuchte es mit einem strahlenden Lächeln. »Alles andere würde mich auch schwer enttäuschen.«

Ed nickte zustimmend und widmete sich wieder seinem Fleischberg.

Ich saß schweigend da und beobachtete ihn. Ed gehört zu den Leuten, die man einfach mögen muss. Mir gefällt sein Humor und seine Schlagfertigkeit, auch wenn beides öfter auf meine Kosten geht, als mir lieb ist. Trotzdem muss ich über Eds knappe, treffende Kommentare stets schmunzeln. Vielleicht liegt es an seiner jungenhaften, verschmitzten Art, dass man ihm fast alles verzeiht und halb Manhattan ihn unwiderstehlich findet. Und aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Hat Ed Steinmann sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, ist es fast unmöglich, es ihm abzuschlagen. Obwohl – wenn man Eds und Marnies Diagnose glauben darf, kann ich aufgrund meiner Malaise Anglais ohnehin niemandem etwas abschlagen, weshalb das vielleicht nicht zählt. Und selbst wenn Ed total müde oder verkatert ist, blitzt noch sein unwiderstehlicher Charme hervor. Ehrlich gesagt wirkt er gerade dann besonders reizvoll und charmant, wenn er noch zerzauster aussieht als gewöhnlich.

Ed findet seinen Stil »entspannt«, aber meine Mutter würde ihn »schluffig« nennen. Seine dunkelbraunen Haare sehen immer irgendwie verstrubbelt aus, was aber perfekt zu seinem Stil passt. Obwohl er sich hin und wieder sichtlich Mühe mit seinem Äußeren gibt und eigentlich auch nie geschäftsschädigend »entspannt« aussieht, macht er doch meist den Eindruck des netten Typen von nebenan, mit dem Männer gern einen trinken gehen und den Frauen liebend gern umsorgen würden. Heute beispielsweise trug er über einem weißen T-Shirt ein ziemlich zerknittertes dunkelgraues Hemd, dazu ziemlich verwaschene, ehemals schwarze Jeans. Als ich ihn fragte, warum er so düster daherkomme, meinte er, dass er damit dem Marnie-Effekt etwas entgegensetzen wolle – der Marnie-Effekt ist ein Phänomen, das es so nur bei Kowalski’s zu bestaunen gibt. Meine Assistentin sieht nämlich immer aus, als wäre sie nicht nur in einen, sondern in eine ganze Reihe von Farbtöpfen gefallen, angefangen bei ihren Haaren (in dieser Woche leuchtend orange) über das grellbunte T-Shirt mit ebensolchem Rock und Strumpfhose bis hin zu den quietschgelben Doc Martens. Ich wiederum bin das Kontrastprogramm zu beiden. Bei der Arbeit mag ich es ganz gern ein bisschen schicker, solange es nur bequem ist. Eines haben Marnie und ich übrigens gemeinsam: Wir lieben Vintage-Klamotten – und zum Glück haben wir hier in New York reichlich Auswahl an Boutiquen, die Retro-Chic und günstige Einzelstücke verkaufen. Seit ich in New York lebe, ist mein Stil viel … ja, entspannter geworden. Genauso wie ich übrigens.

Vom allerersten Tag an haben Ed und ich uns richtig gut verstanden. Ein unbeteiligter Betrachter könnte leicht den Eindruck bekommen, als würden wir uns andauernd übereinander lustig machen, aber der Eindruck trügt. Mir ist es wirklich wichtig, was Ed über mich denkt. Da ich nach gewissen Ereignissen in der jüngeren Vergangenheit eher misstrauisch geworden bin und Leute nicht mehr so nah an mich heranlasse, tut es gut zu wissen, dass Ed und Marnie einfach nur für mich da sind. Sogar zu wissen, dass sie sich meinetwegen Sorgen machen, finde ich überraschend tröstlich. Alles in allem sind wir ein ziemlich bunt zusammengewürfelter Haufen grundverschiedener Persönlichkeiten, Vergangenheiten und Kleidungsstile, verstehen uns aber bestens und sind ein perfekt eingespieltes Team.

Willkommen bei Kowalski’s, wo die Floristen ebenso farbenfroh und vielfältig sind wie die Blumen!

 

Um halb fünf verstaute ich Celias Blumenkörbchen im Lieferwagen und machte mich auf den Weg zum Café Bijou. Marnie und Ed hatten sich großzügig bereiterklärt, im Laden allein die Stellung zu halten, damit ich schon mal losfahren konnte, denn Celia war kurz davor durchzudrehen. Ihre Angstattacken hatten um zwei Uhr mit einem panischen Anruf eingesetzt, und ehe ich es mich versah, hatte ich ihr hoch und heilig versprochen, um Viertel nach fünf vor Ort zu sein und mich höchstpersönlich um alles zu kümmern. Marnies und Eds Mienen machten jeden weiteren Kommentar überflüssig, aber als ich im Wagen saß, sah ich, dass Ed mir ein Arztrezept ausgestellt und an den Lieferschein getackert hatte.

VERORDNUNG FÜR MS ROSIE DUNCAN ZUR
BEHANDLUNG EINER DIAGNOSTIZIERTEN
CHRONISCHEN MALAISE ANGLAIS.
FOLGENDER SATZ SOLL VON DER PATIENTIN
NACH BEDARF GROSSZÜGIG UND ORAL
VERABREICHT WERDEN: »NEIN, TUT MIR
LEID, KOMMT ÜBERHAUPT NICHT INFRAGE.«

Als ich beim Restaurant ankam, war Celia bereits da, ein Klemmbrett in der Hand und voller nervöser Energie. Sofort bekam ich Mitleid mit dem armen Maître d’, der von den auf ihn einprasselnden Fragen völlig überfordert schien. Kaum hatte er mich entdeckt, hellte sich seine Miene auf, und er kam herbeigeeilt, wobei er eine sichtlich erzürnte Celia einfach mitten im Redefluss stehen ließ.

»Oh, Madame, bitte erlauben Sie mir, Ihnen mit diesen Blumen zu ’elfen. Isch werde sie ’ereintragen pour vous«, säuselte er.

»Merci beaucoup, Monsieur.«

Während er schnell das Weite suchte, ging ich zu Celia hinüber.

»Dieser Mann ist so was von nervtötend!«, begrüßte sie mich und knallte das Klemmbrett auf den spiegelblank polierten Tresen. »Ich habe noch so viel zu organisieren – und es ist schon zwanzig nach fünf! Wie sollen wir das schaffen? Hat Claude überhaupt den geringsten Schimmer, was noch alles zu tun ist?«

Ich lächelte und umarmte sie. »Setz dich, Celia. Tief durchatmen. Bis zweihundert zählen …«

Celia setzte sich und schaute zu mir auf wie ein gescholtenes Kind. »Du klingst wie meine Mutter«, beschwerte sie sich.

»Glaub mir, alles wird ganz fantastisch werden«, versicherte ich ihr und klang auf einmal wie meine. »Dir bleibt noch genügend Zeit. Komm und schau dir die Blumen an. Die Rosen riechen absolut betörend, und wir haben noch etwas Lavendel dazugetan, um eventuell bloßliegende Nerven zu beruhigen.«

Celias sorgenvolle Stirn glättete sich etwas, als sie mir in den hinteren Teil des Restaurants folgte, wo Claude seinen Ärger gerade an einem der Kellner ausließ.

»Hey, Joey – guck dir mal die Servietten an!«, schrie er, und sein Akzent klang auf einmal eher nach dem Paten als nach Paris. Ich musste mir ein Kichern verkneifen, als er sich galant zu uns umdrehte und ganz plötzlich wieder seine gallischen Wurzeln präsentierte. »Ah, Madame Reighton … isch ’offe, der Raum ist gut pour vous

Celia atmete tief durch. »C’est très bien, Claude, merci.«

Claude lächelte knapp und entschwand eilends in die Küche. Ich nahm Celia beim Arm. »Gut gemacht«, sagte ich, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft sah ich wenigstens die Andeutung eines Lächelns über ihr erhitztes Gesicht huschen.

»Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde, Rosie!«

Café Bijou war wirklich ganz frisch eröffnet – wenn man das Restaurant betrat, konnte man sogar noch ein bisschen frische Farbe riechen –, wirkte aber sehr einladend und gemütlich. Es lag in einer schmalen, von Bäumen gesäumten Straße, von der einige Stufen hinauf zum Eingang führten. Innen dominierten warme und dezente Töne und vermittelten gepflegtes Understatement: dunkle Holztische, die Stühle mit auberginefarbenem Samt bezogen, das Licht gedämpft, die Wände in Creme, Braun und Karamell gehalten. Die Tischtücher waren aus weißem Leinen, und die polierten Holzdielen knarrten behaglich unter meinen Füßen. Und auch wenn das Lob von mir kommt – meine Blumendeko passte perfekt in das Ambiente. Cremeweiße und hellrosa Rosenknopsen, umgeben von ein paar dunkel schimmernden Rosenblättern und Lavendelzweigen, dicht gesteckt in kleinen Körbchen aus dunklem Weidengeflecht und großzügig abgerundet mit goldgelbem Raphiabast, der sich zudem anmutig über das Tischlinnen ausbreitete.

Als alle Tische eingedeckt und auch die Platzkarten strategisch verteilt waren, ließ Celia einen letzten prüfenden Blick über den Raum schweifen und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Du hattest Recht, Rosie«, meinte sie und legte mir ihren Arm um die Schultern. »Es ist wirklich ganz fantastisch geworden.«

Ich weiß, dass viele Leute Celia absolut unmöglich finden. Sie hat sogar die berühmte unerschütterliche Ruhe meiner Mutter auf eine harte Probe gestellt, als die beiden sich das erste Mal begegnet sind. Aber ich kenne sie lang genug, um zu wissen, dass sich hinter dem überspannten Äußeren ein Herz aus Gold verbirgt. Celia ist sehr New York – sie ist erst dann glücklich, wenn sie sämtliche Mängel der Welt erkannt und benannt hat. Die Mieten sind astronomisch , die Preise in Hotels und Restaurants grotesk, und es ist doch unglaublich, wie derangiert die Parks dieser Tage aussahen. Mal ganz abgesehen davon, dass New York einfach nicht mehr so wie früher sei, seit Giuliani nicht mehr Bürgermeister ist. (Es versteht sich von selbst, dass sie kein gutes Haar an ihm gelassen hatte, als er noch im Amt war.) Ihre Kolumne ist wegen ihres nüchternen Blicks auf das städtische Leben sehr beliebt bei den New Yorkern. Celia schreibt wie ihre Leser reden – eine Mischung aus New Yorker Intellekt, Snobismus und gepflegter Nörgelei, angereichert mit unbestechlich scharfer Beobachtungsgabe und abgerundet durch unvergleichlich trockenen Humor. Es ist größtenteils Celia zu verdanken, dass ich die Eigenheiten und das einzigartige Lebensgefühl dieser Stadt verstehen und lieben gelernt habe.

Hier könnte ich vielleicht kurz erzählen, wie wir uns überhaupt kennengelernt haben: Es war auf einer Party in Boston, kurz nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, von Boston nach New York zu ziehen. Celia war in der Stadt, um ihre Mutter zu besuchen, die wiederum kürzlich von New York nach Boston gezogen war. Ein gemeinsamer Freund hatte sie eingeladen. Die meisten Gäste auf der Party waren Harvard-Absolventen, die sich einmal im Jahr in informellem Rahmen trafen, um sich über ihre Erfolge auszutauschen. Einer dieser illustren Alumni war mein Freund Ben, den ich noch aus England kannte. Wir hatten uns an der Uni kennengelernt, und ich hatte mir mit ihm und fünf anderen Studenten ein Haus in einer der weniger guten (Celia würde sagen derangierten) Gegenden Yorks geteilt. Nach dem Abschluss war er nach Harvard gegangen, um dort seinen Master zu machen, und gleich danach bekam er eine tolle Dozentenstelle. Bevor ich nach New York gezogen bin, habe ich ein halbes Jahr bei ihm gewohnt. Er war es auch, der mich und Celia einander vorgestellt hat. Wir mochten uns auf Anhieb, und Celia hatte mir sofort angeboten, in New York bei ihr und ihrem Partner Jerry zu wohnen, bis ich eine eigene Wohnung gefunden hätte.

Sich in einer neuen Stadt einzuleben ist gleich viel einfacher, wenn man dort jemanden kennt, und Celia zu kennen, war vielleicht das Beste, was mir passieren konnte. Sie hat zunächst eine Wohnung für mich gefunden und mich dann – nachdem sie erfahren hatte, dass ich mich mit Blumen auskenne – einem »guten alten Freund ihrer Familie« vorgestellt – Mr Kowalski, ganz genau –, der jemanden suchte, der seinen Blumenladen übernehmen würde, wenn er sich zur Ruhe setzte. Und Celia war sich ganz sicher, dass ich dafür genau die Richtige wäre.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich das allererste Mal seinen Laden betrat – es war, als wäre ich nach Hause gekommen. Sogar das kleine Glöckchen über der Tür klang genauso wie jenes im Laden meiner Mutter. Die Blumen standen nach Farben geordnet in verzinkten Eimern – eine regenbogenbunte Farbenpracht, ganz links sattes Rot, dann Orange und Gelb, Blau, Violett und schließlich Weiß. Und dann dieser unverkennbare, einzigartige Geruch, den man schlecht beschreiben kann, aber sofort wiedererkennt, wann immer man einen Blumenladen betritt.

Mr Kowalski meinte, ich könne ihn ruhig Franz nennen, aber für einen Mann seines Alters, seiner Erfahrung und Weisheit fand ich »Mr Kowalski« irgendwie angebrachter. Er war wie ich inmitten von Blumen aufgewachsen – seine Familie hatte im Flower District gelebt und gearbeitet, seit seine Eltern in den Zwanzigern aus Polen nach New York gekommen waren. Obwohl er, anders als ich, in New York geboren worden war – als das jüngste von sechs Kindern –, hatte er sich zeitlebens den polnischen Akzent seiner Eltern bewahrt. In dem einen Jahr, das ich an seiner Seite arbeiten durfte, habe ich unglaublich viel von ihm gelernt. Celia war natürlich überglücklich, dass sie richtiggelegen hatte, und sorgte sofort dafür, dass all ihre Freunde ihre Blumen fortan nur noch bei uns kauften.

Mag sein, dass Celia auf den ersten Blick ziemlich egozentrisch und von sich eingenommen wirkt, aber ich weiß, dass sie tief im Innern sehr darum besorgt ist, wie andere sie sehen und was sie von ihr denken. Diese andere, leisere und längst nicht so selbstsichere Celia, die sich hinter der lauten, selbstbewussten Fassade verbirgt, ist es, die ich von ganzem Herzen mag und respektiere.

Es heißt, wahre Freunde sind jene, die zu gleichen Teilen Freud und Leid mit einem teilen. In diesem Sinne kann ich ganz ehrlich sagen, dass Celia immer für mich da war und immer für mich eingetreten ist, wenn ich sie brauchte. Sie hat mit mir geweint, wenn alles schrecklich schiefgegangen ist – sie gehört übrigens zu den wenigen Menschen, die wissen, weshalb ich damals überhaupt nach New York gekommen bin –, und sie hat mir Kraft gegeben, als ich am absoluten Tiefpunkt angelangt war. Wenn schöne Dinge passiert sind, hat sie sich mit mir gefreut und mit mir gefeiert, zum Beispiel, als Kowalski’s gleich im ersten Jahr, nachdem ich den Laden übernommen hatte, eine begehrte Auszeichnung für Kleinunternehmer erhalten hatte. Und wenn Celia sich freut und feiert, dann von ganzem Herzen und mit all ihrer Energie.

Celias Veranstaltungen sind so etwas wie das Goldene Vlies der Upper West Side. Sie gehört zu den wenigen Menschen hierzulande, denen es tatsächlich gelingt, alles, was in Amerika Rang und Namen hat, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zusammenzubringen, ohne die Einladungen bereits mindestens ein Jahr im Voraus zu verschicken. Ihr Talent, ihre Gäste in spannenden Konstellationen zu gruppieren und interessante Menschen miteinander bekanntzumachen, ist berühmt-berüchtigt und unübertroffen. Das Beste an allem ist natürlich, dass auch ich immer eingeladen werde. Und obwohl ich den Verdacht habe, dass sie mich vor allem deshalb einlädt, um mich ganz nebenbei interessanten, heiratsfähigen Männern vorzustellen, freue ich mich sehr über jede Einladung. Auf Celias Partys kann man scharenweise kreative, faszinierende Menschen kennenlernen, und schon viele schöne Freundschaften haben dort ihren Anfang genommen.

 

Kurz nach acht trafen die ersten Gäste ein, und binnen einer Stunde war Café Bijou von angeregtem Stimmengewirr erfüllt. Viele der geladenen Autoren hatten sich lange nicht gesehen, weil sie auf Werbetour für ihr jüngstes Werk oder einer ausgedehnten Lesereise gewesen waren. Schnell fanden sich kleine Grüppchen zusammen, und es wurde erst mal der Inhalt der Präsenttaschen gesichtet, mit denen Celia jeden Gast empfangen hatte – schlichte Leinentaschen mit einer Auswahl aktueller Werke der anwesenden Autoren. Mit dezent prüfendem Blick auf meine Blumenkörbchen schlenderte ich zwischen den Gästen umher und schnappte einige mehr oder minder interessante Gesprächsfetzen auf.

»Ich hatte den Eindruck, dass Bernanns Kritik an Gershwins Einfluss auf die amerikanische Musik sich auf nur einen einzigen Aspekt beschränkt …«

»Und du hättest erst mal die Hotels sehen sollen, die mein Agent in Quebec für mich gebucht hatte …«

»Das derzeit sogar an den literaturwissenschaftlichen Instituten der Ivy-League-Unis gepflegte Englisch ist doch absolut unerträglich …«

»Nennen Sie mich ruhig reaktionär, aber ich finde, dass wir in Amerika keinen modernen Denker haben, der es mit den Philosophen der Antike aufnehmen könnte. Ich weiß, ich weiß, mir kann es niemand recht machen …«

Eine Unterhaltung ließ mich indes aufhorchen. Ein Grüppchen aus drei Frauen und zwei Männern stand an einem der Tische und begutachtete eines meiner Blumenkörbchen.

»Nein, ich bin mir absolut sicher, dass es französischer Lavendel ist«, meinte eine der Frauen, rückte ihre Lesebrille zurecht und nahm die Blumen genauer in Augenschein.

»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen englischem und französischem Lavendel?«, fragte der jüngere der beiden Männer.

»Nichts leichter als das«, erwiderte der andere und grinste vergnügt. Gespannt schauten alle ihn an. »Der eine kommt aus Frankreich und der andere aus England!« Die Antwort wurde mit freundlichem Lachen aufgenommen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich mich kurz einmische«, sagte ich und wagte mich in die Unterhaltung vor, »aber den Unterschied kann man ganz leicht am Blütenstand erkennen. Französischer Lavendel hat größere, offenere Blüten mit deutlich zu erkennenden Blütenblättern, während englischer Lavendel eher kleine, kompakte Blüten hat. Das hier ist englischer. Wir beziehen ihn von einem Hof auf der Isle of Wight.«

Alle schienen zufrieden, und die Dame mit der Lesebrille reichte mir die Hand.

»Haben Sie vielen Dank für diesen wirklich sehr interessanten Beitrag. Ich bin Mimi Sutton.«

Ich erwiderte ihren herzlichen Händedruck. »Rosie Duncan. Ich bin eine Freundin von Celia und ihre Floristin.«

Auch diese Information wurde mit anerkennendem Gemurmel aufgenommen, gefolgt von Komplimenten der vier anderen des kleinen Zirkels, die Mimi mir nun der Reihe nach vorstellte: Zunächst Anya Marsalis, eine große, grazile Frau mit tiefschwarzen Haaren und großen grünen Augen. Sie war früher ein international gefragtes Model gewesen und neu auf der literarischen Bühne. Kürzlich hatte sie ihr erstes Buch veröffentlicht – eine Art Reisebericht ihrer Zeit in Mailand, Paris und Rom. Als Nächstes kam Brent Jacobs an die Reihe, der Mann mit dem vergnügten Grinsen. Er hatte zwanzig Jahre als Kriminalpsychologe gearbeitet und schrieb nun sehr erfolgreiche Thriller. Sein Bauch war fast ebenso breit wie sein Lächeln, und sein sich lichtendes grau gelocktes Haar bauschte sich über den Ohren. Die dritte Frau, von zierlicher Gestalt und zurückhaltendem Wesen, war Jane Masterson-Philips, eine Historikerin Mitte vierzig, deren Biografien herausragender Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte bei den Kritikern große Anerkennung gefunden hatten. Ihre ganze Erscheinung wirkte ebenso ordentlich und adrett wie ihr strenger Haarknoten.

Meine Aufmerksamkeit galt jedoch dem letzten aus der Gruppe. Er war jünger als die anderen – ich schätzte ihn auf Anfang dreißig –, und er wirkte ebenso lässig und entspannt wie seine keineswegs nachlässige Kleidung. Sofort musste ich an einen Satz denken, mit dem meine Mutter gern meinen Bruder James beschreibt: »Er fühlt sich einfach wohl in seiner Haut.« Ich ertappte mich dabei, ihn anzustarren, riss mich rasch zusammen und schaute Mimi erwartungsvoll an. Doch ehe sie ihn mir vorstellen konnte, trat er auch schon vor, nahm seine Hand aus der Hosentasche und streckte sie mir in einer einzigen fließenden Bewegung entgegen.

»Hi«, sagte er lächelnd. Seine Stimme war sanft und leise. »Ich bin Nathaniel Amie. Aber nennen Sie mich ruhig Nate.«

»Nathaniel arbeitet bei Gray & Connelle Publishing«, ließ Mimi mich wissen. »Er ist Pessimist aus Überzeugung und verantwortlich für so manchen Alptraum unter uns Literaten. «

Diese Beschreibung schien gar nicht zu dem scheinbar so freundlichen und unkomplizierten Mann zu passen, den ich soeben kennengelernt hatte.

Anya, die meine Verwunderung zu bemerken schien, erklärte mir: »Nathaniel entscheidet darüber, ob unsere geschätzten Werke gedruckt werden oder nicht. Glücklicherweise war er schon öfter zu gewissen Risiken bereit.«

»Und dafür schätzen wir ihn sehr«, ergänzte Jane und errötete leicht, als Nate ihr verschwörerisch zuzwinkerte und kurz den Arm um sie legte.

»Ich euch auch – denn was wäre ich ohne euch?«, erwiderte er in die Runde, wandte sich dann jedoch mit mahnend erhobenem Zeigefinger wieder an Jane. »Aber du wirst trotzdem noch die Änderungen vornehmen müssen, die wir heute besprochen habe, bevor ich mein Okay gebe.«

»Sehen Sie, was ich meine?«, flüsterte Mimi mir vertraulich zu. »Ein absoluter Alptraum.«

»Wie ich sehe, habt ihr meine wunderbare Freundin Rosie bereits kennengelernt«, rief Celia erfreut und kam herbeigerauscht. »Mimi, du musst sie unbedingt die Blumendekoration für deinen Winterball machen lassen. Sie ist fantastisch. Ein absolutes Genie!«

Ich wäre am liebsten im Boden versunken, als ich Nates belustigten Blick auffing. »Ein Genie?« Fragend schaute er mich an, und seine Augen, so braun wie dunkle Schokolade, funkelten vergnügt. Ich versuchte zu lächeln und schaute dann verlegen in mein leeres Glas.

»Aber ja, natürlich …«, meinte Mimi und zückte ihre Visitenkarte. »Jede Empfehlung von Celia Reighton ist einen Versuch wert. Rufen Sie mich kommende Woche an, Rosie, dann besprechen wir alles Weitere.«

»Danke«, sagte ich und nahm ihre Karte. Celia strahlte angesichts dieser geglückten Transaktion über das ganze Gesicht.

»Haben Sie einen Laden?«, wollte Brent wissen und kramte ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch und einen Stift aus seiner Jackentasche. »Meine Frau hat Ende des Monats Geburtstag, und ich hätte gern etwas ganz Besonderes für sie.«

»Kein Problem«, erwiderte ich und gab ihm meine Visitenkarte, ganz angetan von den neuen Möglichkeiten, die sich hier auftaten. »Mein Laden heißt Kowalski’s und ist an der Ecke West 68th und Columbus. Kommen Sie einfach vorbei, dann suchen wir zusammen etwas Passendes für Ihre Frau aus.«

»Und es wird wirklich etwas ganz Besonderes, das verspreche ich dir, mein Lieber. Rosies Kreationen sind einfach göttlich«, schwärmte Celia mit einem fast schon furchterregenden Lächeln und so großer Geste, dass sie wie einer dieser übereifrigen Verkäufer in billigen Werbespots wirkte. »Jetzt erlaube ich euch aber nicht länger, meine geschätzte Floristin in Beschlag zu nehmen, und entführe sie euch einfach!« Damit schnappte sie mich bei der Hand und zog mich weiter.

Sobald wir weg waren, nahmen die fünf ihre Unterhaltung wieder auf, doch ich bemerkte, dass Nate Amie sich kaum daran beteiligte. Celia stellte mich bereits jemand anderem vor, aber ich sah noch, wie Nate mich beobachtete. Lächelnd schaute er zu mir herüber und hob sein Glas, ehe er sich wieder seinen Freunden zuwandte.

Eine ganze Weile später, nachdem das Essen genossen, alle Reden gehalten und auch die letzten Gespräche verklungen waren, strahlte Celia noch immer mit so unerschöpflicher Energie, als wollte sie den Times Square im Alleingang erleuchten.

»Alles in allem ein unglaublich erfolgreicher Abend, würde ich sagen«, verkündete sie.

»Absolut«, stimmte ich zu und reichte ihr eines meiner Blumenkörbchen. »Der strahlenden Gastgeberin für ihren jüngsten Triumph.«

Ergriffen legte Celia sich die Hand aufs Herz. »Eine echte Kowalski’s-Kreation – für mich? Das ist aber eine Ehre!«

Ich musste lächeln und schüttelte den Kopf. »Du verrückte alte Amerikanerin.«

»Hey, das ›alt‹ habe ich nicht gehört. Obwohl ich mich langsam so fühle.« Sie verzog das Gesicht und rieb sich den Nacken. »Ich fürchte, die Tage der rauschenden Feste sind gezählt.«

»Du willst deine berühmten Partys aufgeben? Du? Niemals! «, erwiderte ich lachend und freute mich, als ihre Miene sich wieder aufhellte. »Es waren wieder einmal beeindruckende Gäste, die du um dich versammelt hast. Alle haben sich bestens amüsiert, ich habe einige faszinierende Leute kennengelernt, und es ist dir gelungen, mir ganz beiläufig ein paar neue Aufträge an Land zu ziehen. Wie du bereits sagtest – ein unglaublich erfolgreicher Abend!«

Wir räumten noch ein bisschen auf und packten meinen Lieferwagen, dann fuhr ich Celia nach Hause. Es war schon spät, doch die Lichter am Broadway strahlten noch in allen Farben, als wir langsam durch Manhattan in Richtung Columbus Circle und weiter zur Upper West Side fuhren.

Nachts durch New York zu fahren, ist wie ein Traum. Fast möchte man vor Ehrfurcht den Atem anhalten, wenn man im Dunkeln durch die bei Tag vertrauten Viertel fährt, von denen jedes seine ganz eigene Architektur und Atmosphäre hat. In den rund um die Uhr geöffneten Diners sitzen Menschen auch noch zu so später Stunde vor dampfenden Kaffeebechern, und die prächtigen, hell erleuchteten Schaufenster stellen ihre Schätze auch dann noch zur Schau, wenn die Ladentüren längst geschlossen sind. Auf den Straßen wimmelt es von gelben Taxis, die sich flink in den Verkehr einfädeln, zwischen den anderen Autos ein- und ausscheren, als schwebten sie, leicht und lautlos von der Luft getragen. Es fühlt sich an, als bewege sich die ganze Stadt auf einmal in Zeitlupe, als hätte die unermüdliche, hektische Betriebsamkeit sich in ein kunstvoll choreographiertes Ballett verwandelt – eine Sinfonie aus Lichtern und Geräuschen, Gerüchen und Bewegungen. Oft schon bin ich zu eigentlich nachtschlafender Stunde durch »die Stadt, die niemals schläft« gefahren, doch jedes Mal versetzt mich ihre majestätische Schönheit und stolze Selbstgewissheit aufs Neue in ehrfürchtiges Staunen. So wie die Menschen, die tagtäglich durch seine Straßen laufen, in den hoch aufragenden, geradezu ehrfurchtgebietenden Gebäuden arbeiten und die Stadt ganz selbstverständlich ihr Zuhause nennen, so weiß auch New York, dass es etwas Besonderes ist, und scheut sich nicht, es aller Welt zu zeigen.

In der West 91st Street angekommen, hielt ich vor Celias Haus. Als sie ausstieg, drehte sie sich noch einmal zu mir um. »Danke, Rosie. Danke, dass du meine Panikattacken erträgst. Danke, dass du immer für mich da bist. Ich kann es gar nicht oft genug sagen, aber du bist wirklich eine wahre Freundin. Sehen wir uns am Samstag?«

Ich lächelte. »Natürlich. Gute Nacht, Celia.«

»Gute Nacht. Ich rufe dich an!«

Auf der Fahrt nach Hause konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Alles in allem war es wirklich ein überraschend schöner Abend gewesen.