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14

Ich weiß nicht, wie ich mir die Geschäftsräume von Gray & Connelle vorgestellt hatte, aber auf jeden Fall anders, als sie dann tatsächlich aussahen. Wahrscheinlich hatte ich mir ausgemalt, dass Nate und seine Kollegen in einer verstaubten, holzgetäfelten Bibliothek säßen, umgeben von turmhohen Stapeln halbgelesener, noch zu lesender und verworfener Manuskripte hoffnungsvoller Autoren. Die Realität hätte anders nicht sein können. Nates Büro war nicht einem Agatha-Christie-Roman entlehnt, sondern hell und modern – und weit und breit war kein verstaubtes Buch oder zerlesenes Manuskript in Sicht.

Vermutlich gibt es in New York eine Agentur, die darauf spezialisiert ist, trendige Büros der Stadt mit superstylischen und hypereffizienten Empfangsdamen auszustatten. Die junge Frau am Empfang bei Gray & Connelle war groß und schlank (mindestens ein Meter achtzig, wovon der Großteil Beine waren), mit perfekt nachlässig frisiertem schwarzem Haar und einem eleganten Hosenanzug, dessen messerscharfe Bügelfalten einen Fisch hätten filetieren können.

»Guten Morgen, Ms Duncan. Mr Amie wird Sie gleich empfangen. Ich heiße Sondra – darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken bringen, solange Sie warten?«

Ich brauchte einen Moment, um mich von all der Perfektion zu erholen. »Ein Tee wäre nett. Vielen Dank.«

Sondra bedachte mich mit einem routinierten Lächeln, aber ich hatte das Gefühl, dass ihr Urteil über mich nicht allzu vorteilhaft ausfiel. »Kommt gleich, Ms Duncan. Bitte setzen Sie sich doch.«

Ich nutzte die Gelegenheit mich umzuschauen. Ich war in einer weißen Wüste gelandet. Alles hier war weiß – die Böden, der Empfangstresen, die Blumen auf dem Empfangstresen … sogar die moderne Kunst an den (weißen!) Wänden ließe sich mit »Weiß mit einem Hauch Creme« oder »Weiß mit blassrosa Rand« betiteln. Während ich dort saß und wartete, kam mir der Gedanke, dass es mich einschüchtern würde, in einer solchen Umgebung zu arbeiten. Wahrscheinlich müsste ich jeden Tag dem immer stärker werdenden Drang widerstehen, überall quietschbunte Sachen herumliegen zu lassen oder mich mit knalligen Farben an den Wänden zu vergehen. So viel weiße Fläche war einfach zu verlockend …

Viel Zeit für farbenfrohe Gedanken blieb mir nicht, denn schon wurde gegenüber des weißen Empfangstresens eine große weiße Tür schwungvoll aufgerissen. Nate lächelte erfreut, als er mich sah.

»Hi, Rosie. Tut mir leid, dass du warten musstest, aber ich hatte gerade ein ganz furchtbares Telefonat. Komm herein. « Er griff nach meiner Hand und führte mich an der effizient lächelnden Sondra vorbei in sein Büro.

Erleichtert sah ich, dass an den weißen Wänden unzählige Fotos hingen – manche gerahmt, die meisten nicht. Bilder von lächelnden Menschen, fernen Ländern, Bäume mit buntem Herbstlaub und schneebedeckte Berge. Über dem Fenster hatte ein bunter Wimpel von Yale einen Ehrenplatz bekommen, und auf dem großen Holzschreibtisch lag ein Baseball.

»Tja, das schöne Corporate Design verschandelt«, meinte Nate grinsend, als er meine belustigte Miene sah.

»Nein, überhaupt nicht. Da draußen war es doch etwas zu … weiß

Nate ließ sich in seinen komfortabel gepolsterten Schreibtischstuhl sinken. »Ach, wem sagst du das? Siehst du, genau deshalb mag ich dich so, Rosie. Ich wusste, dass du das sagen würdest. Wir sind uns ziemlich ähnlich.«

Wir lächelten uns in stillem Einvernehmen an.

»So, und wo ist jetzt dein Freund?«, fragte ich dann.

»Er müsste jeden Moment hier sein.« Nate warf einen Blick auf seine Uhr und runzelte die Stirn. »Nein, er hätte eigentlich längst hier sein sollen.« Er drückte eine Taste seines Telefons. »Sondra, wenn mein Elf-Uhr-Termin eintrifft, sagen Sie ihm bitte, er soll gleich durchkommen. «

»Wird gemacht, Sir«, kam die supereffiziente und formvollendete Antwort.

»Du meintest, es würde eine sehr große Hochzeit werden?«

»Nicht groß, sondern gigantisch. Und er will niemand anderen als dich! Er hat zu mir gesagt: ›Ich will Rosie Duncans floristisches Flair – mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden. Sie scheint eine absolute Offenbarung zu sein.‹ Eine absolute Offenbarung! Lass dir das bitte auf der Zunge zergehen. Seine Familie besitzt ein Vermögen – und ich meine richtig großes Geld.«

»Und du meinst nicht, dass das für Kowalski’s vielleicht eine Nummer zu groß ist?«, fragte ich und begann doch langsam nervös zu werden. Gerade erst hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass Kowalski’s Mimi Suttons Großem Winterball gewachsen wäre – die Vorstellung, einer riesigen Society-Hochzeit den passenden Rahmen zu geben, erschien mir fast zu erschreckend, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden.

»Nein, natürlich nicht.« Nate stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er setzte sich auf die Tischkante und nahm meine Hände in die seinen. Sein schiefes Grinsen breitete sich übers ganze Gesicht aus, und seine dunklen Augen nahmen mich scharf ins Visier. »Ich glaube an dich, Rosie. Du schaffst das. Man wächst mit seinen Aufgaben, und du bist diesem Auftrag gewachsen. Vertrau mir.«

Danach war es einen Augenblick ganz still, und seine weichen, warmen Hände hielten noch immer die meinen. Es war, als gäbe es in ganz New York nur noch uns beide.

Und New York lächelte mich an … wie Nate.

Der Moment endete ganz unvermittelt, als die große weiße Tür schwungvoll aufflog. Nate ließ meine Hände los und sah rasch auf, um seinen Freund mit einem strahlenden Lächeln zu begrüßen. »Das wurde auch langsam Zeit, David! Ich hatte elf gesagt, nicht halb zwölf. Rosie, ich möchte dir meinen permanent unpünktlichen, aber trotzdem sehr geschätzten Freund David Lithgow vorstellen.«

Ich war bereits aufgestanden und drehte mich gerade um, als der Name wie ein Blitz einschlug.

Plötzlich lief alles in Zeitlupe, die Welt wurde zu einem langsam kreisenden Wirbel verschwommener Laute und Bewegungen. Wie aus weiter Ferne nahm ich Nates unbeschwertes Geplauder wahr, überlagert von dem Namen, der in Endlosschleife durch meinen Kopf kreiste … David Lithgow … David Lithgow … All meine Gewissheit, mein Frieden, mein ganzes Leben löste sich in diesem einen Moment in Nichts auf, als ich mich jenen grauen Augen gegenübersah – Augen, die ich niemals wiederzusehen gehofft hatte. Mir wurde schlecht. Ich musste hier raus, und zwar schnell. Ich wollte weg, ganz weit weg, aber ich war wie erstarrt. Ich holte tief Luft und klammerte mich an die Lehne des Sessels. Ganz langsam begann die Welt sich in normalen Bahnen weiterzudrehen, und schließlich nahm ich auch wieder Nates Stimme wahr.

»Rosie … ich hatte dich gefragt, ob alles in Ordnung ist?« Nate klang besorgt.

»Ich … ja, alles in Ordnung …«, stammelte ich wenig überzeugend.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen, Rosie.« David sprach sanft und freundlich, doch jedes Wort riss alte Wunden auf.

»Hallo David«, erwiderte ich mit einer Ruhe, die nichts von den emotionalen Abgründen ahnen ließen, die sich in mir aufgetan hatten.

»Ihr beiden kennt euch?«, fragte Nate überrascht.

»Ja«, sagten David und ich gleichzeitig. Sein Blick war noch immer unverwandt auf mich gerichtet.

Ein Lächeln huschte über Nates Gesicht. »Na, das ist ja was! Setzt euch doch schon mal – ich sage nur eben Sondra Bescheid, dass sie uns ein paar Erfrischungen bringt, und dann wollen wir doch mal sehen, wie viel du für Rosies floristische Offenbarungen zu zahlen bereit bist.« Er zwinkerte mir zu und verschwand durch die weiße Tür nach draußen. Ich ließ mich wieder in meinen Sessel sinken und starrte haarscharf an David vorbei auf die Skyline von Manhattan.

Er machte einen Schritt auf mich zu. »Rosie … ich …«

Ich erstarrte.

»Okay!« Nate kam zurück, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und rieb sich die Hände. »So, David, jetzt bin ich aber mal gespannt, woher du Rosie kennst.«

Noch immer nahm David nicht den Blick von mir. »Das ist eine lange Geschichte. Wir haben eine Weile in London zusammengearbeitet. Es ist wirklich fantastisch, dass wir uns hier wieder über den Weg laufen – nach all den Jahren.«

Ich fing Nates Blick auf und versuchte zu lächeln. Aber er durchschaute mich, und sein Lächeln wirkte auf einmal angespannt.

»Fantastisch …«, wiederholte er bedächtig und schaute mich fragend an, ehe er sich wieder an David wandte. »Na, dann erzähl uns mal von der Hochzeit.«

David holte tief Luft und ließ sich in dem braunen Ledersessel neben mir nieder. »Also, sie wird nächstes Jahr im März stattfinden, im Haus meiner Eltern in den Hamptons. Wir erwarten ungefähr vierhundert Gäste, darunter zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Politiker und vielleicht ein paar ausgewählte Promis – Genaueres steht noch nicht fest. Rachel und ich möchten, dass es ein wirklich unvergessliches Ereignis wird.«

Mir stockte hörbar der Atem, denn so lebhaft hatte ich den Schmerz schon lange nicht mehr gespürt.

Nate schaute mich besorgt an. Ich tat, als müsste ich husten. Seine dunklen Augen verengten sich und betrachteten mich argwöhnisch. »Wenn ihr Rosie Duncan engagiert, dürfte es auf jeden Fall unvergesslich werden.«

Ich hustete erneut, diesmal heftiger, und sprang auf. »Ich … ich brauche einen Schluck Wasser … entschuldigt mich bitte …«

»Sondra kann dir welches bringen … warte, ich sage ihr kurz Bescheid«, erbot sich Nate, doch ich war schon an der Tür.

Bevor ich flüchtete, drehte ich mich noch mal um und stammelte: »Die Entwürfe … mein … äh … das Portfolio ist in meiner Tasche … schaut ruhig schon mal rein … Bitte entschuldigt mich …«

Draußen, in der weißen Vorhölle des Empfangs, blieb ich stehen und schnappte nach Luft. Sondra stand auf. »Ms Duncan? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Doch … Ich brauche nur … Wasser. Bitte.«

Fast mitfühlend meinte Sondra: »Die Damentoiletten sind gleich den Gang runter. Rufen Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen, okay?«

Ich mühte mir ein Lächeln ab. »Danke.«

Im Gegensatz zum klinisch reinen Weiß der Büros empfingen die Toiletten mich mit warmen Farben, gedämpfter Musik und angenehmem Duft. Ich füllte Wasser in ein Glas und ließ mich auf ein weiches Samtsofa sinken. Ich zitterte am ganzen Körper. Verzweifelt versuchte ich, Ordnung in den Aufruhr meiner Gedanken zu bringen. Ich muss von hier verschwinden … SOFORT … nichts wie weg, drängte einer. Sei nicht albern, das hier ist dein Zuhause … du darfst dich nicht von hier vertreiben lassen, ermahnte mich ein anderer. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn jemals wiedersehen müsste …, folgte ein weiterer Gedanke. Ja, aber du hättest dir auch nicht träumen lassen, dass er jemals versuchen könnte, dich zu finden, kam daraufhin die Erwiderung, und plötzlich ist er hier. Was wirst du jetzt tun?

Mein Gesicht glühte. Ich stand auf und ließ kaltes Wasser über meine Hände laufen, legte mir die nassen, kalten Hände auf die Wangen, um sie zu kühlen. Als ich aufschaute, sah ich mich in dem großen, gold gerahmten Spiegel, der über dem Waschbecken hing. In meinen dunklen Augen lag wieder genau dieselbe Angst wie damals in Boston, ehe ich nach New York gekommen war.

Nachdenklich betrachtete ich mich im Spiegel. Hier gehörte ich her, hier war ich glücklicher, als ich es jemals zuvor gewesen war … War ich wirklich bereit, all das aufzugeben, nur weil David Lithgow plötzlich wieder in mein Leben getreten war?

Und wie ich so da stand, spürte ich, wie sich etwas in mir veränderte. Ich weiß nicht genau, was geschah, aber auf einmal spürte ich eine unbändige Wut in mir aufsteigen. Einerseits stand ich noch immer unter Schock wegen des plötzlichen Wiedersehens mit David, andererseits versuchte ich meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Nein, ich würde nicht davonlaufen! Diesmal nicht.

Ich trocknete mir das Gesicht ab, strich mein Haar glatt und rückte meine Jacke zurecht. Mit einer Entschlossenheit, die mich selbst überraschte, lächelte ich mein Spiegelbild an. Ich würde nirgendwo hingehen – außer geradewegs zurück in Nates Büro.

Schnellen Schrittes eilte ich an Sondra vorbei durch die Lobby.

»Fühlen Sie sich besser?«, erkundigte sie sich.

Ich nickte. »Viel besser, danke.«

Hier gehöre ich hin, sagte ich mir. Das nimmt dir niemand weg. Als ich vor der weißen Tür von Nates Büro stand, wusste ich genau, was jetzt zu tun war: Ich würde den Auftrag annehmen. Als ich die Tür öffnete, standen Nate und David auf und sahen mich gespannt an.

»Bitte entschuldigt die kleine Unterbrechung. Hast du etwas Passendes gefunden?«, wandte ich mich an David.

Er gab mir mein Portfolio zurück. »Deine Entwürfe sind hervorragend, Rosie«, sagte er so ehrlich und aufrichtig, dass mir kalte Schauder über den Rücken liefen. »Du bist wirklich begabt.«

»Danke«, erwiderte ich und wollte das Buch entgegennehmen, doch er hielt es noch einen Moment fest und zog mich dabei kaum merklich an sich. Wütend riss ich ihm das Buch aus der Hand und wandte den Blick ab.

»David hat mir erzählt, dass du für eine Londoner Werbeagentur gearbeitet hast«, bemerkte Nate. Lächelnd schaute er mich an, doch mir entging nicht, wie gespannt er auf meine Reaktion wartete.

»Ja, habe ich – bevor sich die Prophezeiung meiner Mutter bewahrheiten sollte und ich doch noch Floristin geworden bin.« Ich versuchte möglichst unbefangen zu lächeln.

»Wie geht es Rosemary?«, fragte David.

Sofort verging mir das Lächeln wieder. »Gut.« Die Spannung zwischen uns war gewiss mit Händen zu greifen.

»Und, David – möchtest du Rosie für deinen großen Tag engagieren?«, fragte Nate. »Wobei du vielleicht in Betracht ziehen solltest, dass sie derzeit sehr gefragt und entsprechend teuer ist.«

David lächelte. »Aber bestimmt jeden Cent wert. Ja, sehr gern. Natürlich nur, wenn sie den Auftrag annehmen möchte.«

In mir tobten widerstreitende Gefühle. Wut und Empörung waren unvermindert und bestärkten meinen Entschluss, den Auftrag anzunehmen, aber mein ängstliches Selbst wehrte sich heftig: Nein, ich will dich nie wiedersehen! Ich widerstand der Versuchung, Nein zu sagen, auch wenn dies der einfache Weg gewesen wäre, auf den in meinem inneren Widerstreit alles hinauszulaufen schien. Doch als ich zu Nate hinübersah, nahm ich etwas in seiner Miene wahr, das mir merkwürdigerweise Vertrauen gab. Ich holte tief Luft und sagte Ja.

Damit hatte David nicht gerechnet. Er konnte seine Überraschung nur schlecht verbergen. »Rosie, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … Danke. Vielen Dank.« Er machte einen Schritt auf mich zu, und mein Magen schlug kleine Purzelbäume.

»Ich … ich müsste jetzt mal wieder zurück in den Laden«, stammelte ich, griff nach meiner Tasche und ging zur Tür. Nate und David begleiteten mich. »Sehen wir uns am Donnerstag, Nate?«

»Natürlich, gar keine Frage.« Lächelnd hielt Nate mir die Tür auf. Nun, da das Schlimmste vorerst überstanden war, fühlte ich mich auf einmal gestärkt und zuversichtlich.

Da rief David: »Rosie, kann ich dich anrufen? Wegen der Hochzeit? Möglichst bald …«

Ich spürte, wie das alte Unbehagen mich mit neuer Wucht überfiel. Aus Angst, völlig die Beherrschung zu verlieren, erwiderte ich schnell: »Ja, David. Ruf mich im Laden an. Nate hat meine Karte.«

Behutsam legte Nate mir den Arm um die Schultern und brachte mich zum Fahrstuhl, der für mich in diesem Moment nur eins bedeutete: Freiheit!

»Rosie, bist du sicher, dass alles okay ist?«

Nates Berührung beruhigte mich. Ich blieb stehen und erlaubte es mir, mich einen kurzen Moment an ihn zu lehnen. »Alles in Ordnung, Nate. Es war nur der Schock, David nach so langer Zeit wiederzusehen … Kein Grund zur Sorge. Wirklich nicht.«

Meinen Worten zum Trotz spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Und zu dem Aufruhr meiner Gefühle gesellte sich noch ein neuer Konflikt ganz anderer Art: Einerseits hatte ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, andererseits konnte ich mich gar nicht mehr von Nates warmen dunklen Augen und seiner tröstenden Umarmung losreißen. Als würde er meinen inneren Widerstreit spüren, zog er mich an sich, und ich spürte seinen Puls auf meiner Haut, als ich meine Wange an seinen Hals schmiegte. Als er sprach, hallte seine tiefe samtene Stimme in mir wider.

»Rosie, was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich dich verletzt?« Bei jeder Frage spürte ich seinen Atem warm in meinem Haar. Ich legte meine Hand auf seinen Rücken und spürte die festen Muskeln unter meinen Fingern – und ich spürte die Gefahr, mich im Aufruhr meiner widerstreitenden Gefühle und Empfindungen zu verlieren. Es war Zeit zu gehen.

»Nein, Nate, du hast nichts falsch gemacht … es ist alles in Ordnung.« Ich wich zurück. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Wir sehen uns am Donnerstag.«

Nate stand reglos da, den Blick unverwandt auf mich gerichtet, als die Fahrstuhltüren sich hinter mir schlossen. Endlich allein, ließ ich mich gegen die Wand sinken und begann zu schluchzen, als ich lautlos nach unten schwebte.

 

»Früher oder später wirst du wieder auf die Dinge treffen, die du am meisten fürchtest.«

Als Mr Kowalski das eines Tages zu mir gesagt hatte – nicht lange nachdem ich bei ihm angefangen hatte –, hatte ich ihm widersprochen. Man könne seinen Ängsten immer entkommen, hatte ich behauptet. Eigentlich sei es doch fast wie ein Spiel – je besser man seine Ängste kenne und wisse, wann und wo sie auf einen lauerten, desto besser könne man ihnen ein Schnippchen schlagen und ihnen aus dem Weg gehen.

Mr Kowalski hatte nur betrübt den Kopf geschüttelt, und ich erinnere mich an den Schmerz in seinen Augen, als er sprach. »Ukochana, dein Leben wird der Angst in die Falle gehen – so wie die Fallen, mit denen meine Mutter Kaninchen gefangen hat. Wenn du die Angst nicht loswirst, wird sie dich festhalten, und je mehr du dich wehrst und versuchst, dich zu befreien, desto fester hat sie dich im Griff. Es hilft dir überhaupt nichts, die Falle zu ›verstehen‹ oder sie zu ›kennen‹ – das ist der Falle egal. Sie ist da, sie lauert dir auf, und sie wird dich vernichten, wenn du dich nicht von ihr befreien kannst. Du musst kämpfen und die Falle vernichten, wenn du leben willst.«

Damals schon hatten seine Worte mich ein wenig beunruhigt. Und nun, wo sie sich zu bewahrheiten schienen, hätte ich alles dafür gegeben, mit ihm reden zu können. Ich hatte Mr Kowalski nie erzählt, weswegen ich nach New York gekommen war – doch nun, wo ich mit ihm darüber reden wollte, war er nicht mehr da.

Völlig aufgelöst verließ ich das Verlagsgebäude. Meine Schritte schienen wie von selbst immer schneller zu werden. Ich merkte, dass ich in die falsche Richtung lief, aber ich konnte meine Füße nicht zur Umkehr bewegen. Ich wollte weg, aber wohin? Nicht zu Kowalski’s, so viel stand fest. Nicht jetzt. Noch nicht. Ed würde mir helfen wollen, aber allein der Gedanke daran, ihm alles zu erzählen, war mir absolut unerträglich – und wenn ich ihm erklären wollte, warum ich so aufgelöst war, würde ich ihm alles erzählen müssen. Nach Hause konnte ich aber auch nicht: Undenkbar, jetzt mit dem lauten Stimmengewirr meiner widerstreitenden Gefühle allein zu sein.

Ich lief weiter – rannte fast, aus Angst, dass David mir nachlaufen könnte – und wusste doch nicht, wohin. Straßen, Gerüche, Geräusche wurden mir immer fremder, je weiter ich lief. Irgendwann entdeckte ich durch den Tränenschleier ein Starbucks-Logo und lief erleichtert darauf zu.

Die vertrauten Gerüche und Geräusche des Cafés legten sich wie eine schützende, wärmende Decke um meinen zitternden Körper. Ich bestellte einen Macchiato und suchte mir einen Tisch, der so weit wie möglich vom Fenster entfernt stand. Halb hinter einer großen Grünpflanze vor den Blicken der anderen Gäste verborgen, fühlte ich mich sicher. Mein Herz pochte noch immer laut in meinen Ohren. Ich schloss die Augen und versuchte tief durchzuatmen.

Bilder von David und Nate schossen mir durch den Kopf, mal von tiefem Widerwillen, dann wieder von heftiger Sehnsucht begleitet. Wie ein Walzer wogten meine widerstreitenden Gefühle in mir auf und ab. David Lithgow war hier – in meiner Stadt. Wie konnte er es wagen? In seinem Gesicht hatte reine Freude, reiner Triumph darüber gestanden, mich gefunden zu haben … Ich schüttelte den Kopf, als mir bewusstwurde, worauf ich mich eingelassen hatte: Ich hatte den Auftrag angenommen und mich dazu verdammt, monatelang meiner größten Angst ins Gesicht zu sehen. Das war wirklich das Letzte, was ich mir gewünscht hatte. Ich trank einen großen Schluck Kaffee, der mir heiß in der Kehle brannte, doch die Wärme dämpfte die Übelkeit, die noch immer in mir aufsteigen wollte. Meine Gedanken wanderten weiter zu Nate. Und daran, wie er mich in den Armen gehalten hatte. Die bloße Erinnerung an seine Umarmung jagte warme Schauer durch meinen Körper. Der Geruch seiner Haut, der rasche Schlag seines Pulses, seine starken Arme, die mich festhielten … Empfindungen, die ich vor Jahren sorgsam weggepackt hatte, lagen nun um mich herum verstreut, und ich sah mich außerstande, sie wieder ordentlich zu verstauen. Was war es, das ich fühlte?

Das schrille Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.

»Rosie? Wo bist du?«

Eine Welle der Erleichterung schlug über mir zusammen, und ich schluchzte ins Telefon. »Oh Celia …«

»Rosie, ich hab mir solche Sorgen gemacht! Nate auch. Er hat mich angerufen und von dem Meeting erzählt.«

Als Antwort brachte ich nur ein weiteres Schluchzen heraus.

»Oh Rosie – ist es wegen David?«

»Ja …«, jammerte ich.

»Und er heiratet wirklich?«

Das war zu viel. Ich konnte den Schmerz nicht mehr ertragen. Ich brauchte meine Freundin. Celia fluchte vernehmlich, und als sie sich wieder gefasst hatte, sprach sie mit sanfter Entschiedenheit: »Hör zu, Rosie: Du nimmst dir jetzt ein Taxi und kommst zu mir in die Redaktion – und zwar jetzt sofort –, und dann schauen wir, was wir machen können, okay?«

Aber da hatte ich meine Sachen längst zusammengesucht und war bereits auf dem Weg nach draußen. »Bin schon unterwegs.«