Kapitel 6

(Un-)Hündische Vermenschlichung

Überall Wunderhunde. Sie verstehen »alles« und sind manchmal sogar »traurig« oder »beleidigt«. Sie haben »ein schlechtes Gewissen« und machen vor »Freude Pipi«. Sie geben sich »trotzig« und können sogar »zickig« und »eifersüchtig« werden. Und wenn wir Menschen mal nicht da sind, vermissen sie uns »ganz schrecklich«. Ist ja klar, schließlich lieben sie uns über alles. Diese Hunde sind uns Menschen ebenbürtig. Manche meinen sogar, sie seien die besseren Menschen. Vielleicht macht ja bald der erste Wunderhund eine Praxis als Menschenpsychologe auf. Oder er geht in die Politik und gründet eine Hundepartei. Dann könnten sich die Vierbeiner offiziell dagegen wehren, dass manch einem Zweibeiner bei der Hundeerziehung die Hand ausrutscht. Und dass so viele Vierbeiner von Problem-Zweibeinern als schickes Lifestyle-Accessoire missbraucht und entgegen ihrer Natur vermenschlicht werden. Welcher Mensch würde sich schon gerne als Hund behandeln lassen?!

Aber mal im Ernst: Es stimmt, dass Hunde sich nicht hinterlistig und falsch verhalten können, aber genauso wenig kennen sie Dankbarkeit und Anstand. Man könnte sie durchaus als vom Instinkt getriebene »Egoisten« bezeichnen. In jedem Fall handelt es sich bei allen oben genannten hündischen Gemütszuständen um menschliche Fehlinterpretationen, die, wie Sie nachfolgend sehen werden, weit von der Realität entfernt sind.

Der »Mein Hund versteht alles, was ich sage«-Mythos

Zunächst einmal: Sie können Ihrem Hund so viel erzählen, wie Sie wollen. Das wird ihm nicht schaden. Ihr Hund hört sich das alles an – was soll er auch sonst tun? Wenn sein Name oder bekannte Wörter wie »Gassi« vorkommen, wird er natürlich aufmerksam schauen und irgendeine Reaktion zeigen (bei »Gassi« läuft er womöglich in Richtung Haustür). Eins dürfen Sie jedoch nicht erwarten: nämlich dass Ihr Hund das, was Sie ihm erzählen, auch versteht. Wenn ich meinen Hund Gysmo frage: »Willst du Futter?«, kommt bei ihm etwa Folgendes an: »Fzhriks Futter.« Am Ende bleibt bei ihm nur das Wort »Futter« hängen, das er mit einem gefüllten Napf verknüpft, den er immer unmittelbar nach diesem Wort bekommt.

Oft bleibt es im alltäglichen Zusammensein von Halter und Hund nicht bei so kurzen »Konversationen« oder besser gesagt Monologen. Vielmehr werden die Hunde als ganz normale Gesprächspartner vermenschlicht.

Etwa so: Der Hund Bobby sitzt am Fenster und bellt, sein Herrchen sitzt im Nebenzimmer am Computer.

»Boooobieeeeeee! Was ist denn da los? Kommt die Mama, oder warum bellst du?«

Herrchen geht zum Fenster und schaut hinaus. Bobby blickt ihn an und bellt erneut. Herrchen schaut noch einmal aus dem Fenster.

»Da ist doch gar nichts, warum bellst du denn so?«

Bobby schaut Herrchen wieder an und bellt noch einmal. Diesmal etwas lauter. Herrchen schaut noch einmal aus dem Fenster, nun sieht er, dass soeben sein Nachbar mit der Hündin Else um die Ecke gebogen ist. »Aha«, denkt er, »das war es. Bobbys Hunde-Freundin Else. Bestimmt hat er sie gesehen, und jetzt ist klar, was er will«.

»Ist da die Else?! Du willst bestimmt mit ihr spielen. Ist ja gut, die Mama kommt gleich und geht mit dir raus. Sei schön lieb. Wo ist denn dein Ball? Der Papa muss jetzt arbeiten und kann nicht mit dir spielen.«

Bobby bellt weiter und schaut immer wieder aus dem Fenster. Damit Herrchen weiterarbeiten kann, beschließt er, den Hund mit ins andere Zimmer zu nehmen.

»Bobby! Komm vom Fenster weg! Na komm!«

Herrchen läuft auf Bobby zu, doch der schießt an ihm vorbei in den Flur und springt an seiner Leine hoch, die dort hängt.

»Nein, Bobby! Wir gehen nicht raus! Die Mama kommt gleich und geht Gassi mit dir. Vielleicht ist die Else noch auf der Wiese, und dann könnt ihr spielen.«

Bobby zerrt an seiner Leine und reißt den Haken aus der Wand. Er springt wie von der Tarantel gestochen die Wohnungstür an, kratzt ein Loch in die Wand, zerkratzt die Tür. Dabei kläfft er immerzu. Herrchen wird sauer. Schließlich erledigt sich seine Arbeit nicht von allein. Weil er merkt, dass Bobby nicht auf seine Worte reagiert, schreit er laut:

»AUS!«

Bobby verstummt sofort, legt die Ohren an, senkt den Kopf, klemmt seinen Schwanz unter den Bauch und trottet ins Wohnzimmer. Dort legt er sich unter den Tisch.

»Geht doch.«

Herrchen kehrt zurück ins Nebenzimmer und widmet sich wieder der Arbeit am Computer.

Wie lässt sich das Bellen des Hundes am Fenster, das Herrchen nicht verstanden hat, erklären? Die Ursache könnte folgendermaßen aussehen:

Version a): Das Fenster ist geschlossen.

Bobby liegt im Wohnzimmer auf dem Boden und schaut aus dem Fenster. Da er normalerweise ein sehr aktiver Hund ist, ist ihm langweilig, also reagiert er auf jede Bewegung. Plötzlich setzt sich eine Taube auf das Fensterbrett. Nun ist Bobby nicht mehr langweilig, die Taube interessiert ihn. Aufgrund des geschlossenen Fensters ist sie für eine »Geruchskontrolle« aber nicht erreichbar. Bobby ist aufgeregt, er bellt und springt ans Fenster, um Kontakt mit der Taube aufzunehmen. Die fliegt zwischenzeitlich weg und landet auf dem nächstgelegenen Baum. Bobby beobachtet sie weiter – und bellt. Und als Herrchen den Namen seiner Hunde-Freundin Else, die Bobby weder sehen noch hören kann, erwähnt, bellt er noch mehr.

Version b): Das Fenster steht auf Kipp.

Dass auf der anderen Straßeseite seine Freundin Else vorbeiläuft, kann Bobby durch die parkenden Autos und Bäume vor dem Fenster nicht sehen. Aber er hört sie durch den Fensterspalt! Die beiden Metallmarken an Elses Halsband klimpern. Ein vertrautes Geräusch. Bobby verknüpft es mit Else und Spielen, schließlich kennt er das Klappern von der Hundewiese. Weil das Gehör von Hunden dem menschlichen weit überlegen ist, kann Bobby Elses Metallmarken bereits in weiter Entfernung hören. Und er kann es auch noch hören, als sie schon längst um die nächste Ecke gebogen ist. Da er das Klimpern die ganze Zeit hört und Herrchen noch dazu mehrmals Elses Namen erwähnt, will er natürlich zeigen, dass er zum Spielen bereit ist. Also bellt er.

Von Herrchens verbalen Reaktionen kommt bei Bobby in jedem Fall nur ein Bruchteil an:

»BOBBY ngrjngp nvenpeng KOMM bhgeeügn MAMA«

»kj durt lpo fhtzes, jdfbi kdroib gi hzrc«

»dse uztld gr ELSE kf hrslöp mgrekfpo kjdl few SPIELEN, urs kgz gut, aot MAMA KOMM lfhtyc lfm odkuz fgd üdg tzdc RAUS, oui SCHÖN LIEB dk lpo juik hztr BALL, jui PAPA oud lidrt rtz gbie göpsz hji gtz SPIELEN«

»BOBBY KOMM trs opüdlea idz, iö KOMM«

»NEIN BOBBY rej ogklp khzne, fgt MAMA KOMM jhzay üpo fgra dfrtu ui GASSI puo ölofhruse frg ELSE gr ölst rtz zrt WIESE klw dkoa lhuto kfi SPIELEN«

»AUS«

»lofz hkou«

Mit diesem Monolog aus Hundesicht wird besser deutlich, wie schwer es Bobbys Halter seinem Hund macht, ihn zu verstehen. Bobby wird aus dem, was sein Herrchen sagt, lediglich einzelne Worte herausfiltern, die er verknüpfen kann, weil sie ihm – sei es bewusst (»KOMM!«/»GASSI«) oder unbewusst (»WIESE«/»ELSE«) – antrainiert wurden:

BOBBY KOMM MAMA / ELSE SPIELEN MAMA KOMM RAUS SCHÖN LIEB BALL PAPA SPIELEN / BOBBY KOMM KOMM / NEIN BOBBY MAMA KOMM GASSI ELSE WIESE SPIELEN / AUS

Wer diese Wörter hintereinander an seinen Hund richtet – und nichts anderes ist in unserem fiktiven Beispiel geschehen – der wird ihn geradezu in einen Zustand höchster Erregung und Anspannung pushen. Wir erinnern uns: »nvwo«, »cbahq« oder »wdhgf« kann der Hund nicht verstehen. Dafür bewirkt die ständige und motivierend betonte Ansprache von Bobbys Herrchen eine fortwährende Bestätigung seines aktuellen Verhaltens. Also: springen, bellen, rumrennen etc.

Hund.epsIrrtum Nr. 17:

»Der Napf meines Hundes sollte immer voll sein.«

Falsch! Und nicht artgerecht! Schließlich gibt es in freier Natur auch nicht ständig was zu fressen. Man kann die Verdauung und dementsprechend die Spaziergänge mit seinem Hund besser planen, wenn er zu festen Zeiten (zum Beispiel morgens und abends) sein Futter bekommt. Auch die Gewichtskontrolle ist so deutlich einfacher. Wachhunde sollten ihre Hauptmahlzeit am besten morgens bekommen, damit sie abends und nachts besonders aufmerksam sind. Noch etwas: Ein Hund, der permanent Futter zur Verfügung hat, ist in der Regel sehr viel schlechter für Positivdressuren (zum Beispiel »Männchen« oder »Rolle« machen gegen Leckerchen-Belohnung) jenseits der Basiserziehung zu motivieren als einer, der zeitlich abgestimmt gefüttert wird.

Bobbys Bellen ist natürlich als Aufforderung zu interpretieren, denn aus den wenigen Worten, die er verstanden hat, schließt er: »Jetzt geht es gleich los!« Und da diese Worte in ein fortlaufendes »Gebrabbel« eingebettet sind, muss Bobby noch dazu den Eindruck haben, sein Herrchen sei genauso aufgeregt wie er selbst. Dass sein Herrchen hinter ihm herläuft und wieder zurück, wo er herkam, trägt sein Übriges dazu bei, dass Bobby vollends ausflippt und schließlich sogar den Haken, wo seine Leine hängt, aus der Wand reißt. Kein Wunder: Alle Worte, die der Hund verstehen konnte, hat er in der Prägephase durch die Bestätigung seines Halters »positiv« verknüpft. Also glaubt Bobby, dass Herrchen sein Verhalten auch in dieser Situation gut findet. Umso verwirrter ist er, als er plötzlich mit dem korrigierenden Kommando »Aus!« konfrontiert wird. Doch weil er ein eher unterwürfiger Hund ist, der nichts lieber will, als seinem Herrchen zu folgen und zu gehorchen, trottet er zurück ins Wohnzimmer und legt sich unter den Tisch. Was zeigt uns diese Geschichte erneut? Wer will, dass sein Hund ihn versteht, muss mit wenigen, kurzen, klaren, richtig betonten und getimten Kommandos arbeiten.

Das »Mein Hund lernt durch Bestrafung«-Märchen

Wenn ich etwas Verbotenes tue – etwa ein Graffiti an eine Hauswand sprühe oder im Geschäft etwas mitgehen lasse – und dabei erwischt werde, bekomme ich eine Strafe. Das ist in unserer Gesellschaft so, weil wir davon ausgehen, dass der Bestrafte sein Vergehen und die Bestrafung dafür einsieht. Und selbst wenn sich der Bestrafte nicht einsichtig zeigt oder seine Strafe als unsinnig oder überzogen erachtet, wird er doch zumindest verstehen, warum er bestraft wurde – und in der Regel danach entsprechend anders handeln.

Nicht so in der Hundewelt: Wenn Dauerbeller und Leinenzieher Balu sein Herrchen den ganzen Tag genervt hat und der ihm zur Strafe sein Lieblingsspielzeug wegnimmt, hat Balu das nach drei Minuten vergessen. Und er wird bei nächster Gelegenheit erneut bellen oder an der Leine ziehen. Wird ein Kind mit Hausarrest bestraft, denkt es meist sehnsüchtig daran, wie sich die anderen Kinder gerade auf dem Abenteuerspielplatz vergnügen. Ein Hund käme nie auf die Idee, sehnsüchtig an die anderen Hunde auf der Hundewiese zu denken. Auch die Schlussfolgerungen der beiden sind unterschiedlich. Das Kind denkt: »Das nächste Mal verhalte ich mich anders, dann kann ich wieder mitspielen.« Der Hund dagegen wird vom Instinkt getrieben, für ihn zählt nur, was er als Nächstes machen kann. Er ist nicht in der Lage, aus der Bestrafung für die Zukunft zu lernen und sich zu sagen: »Ist ja dumm gelaufen heute! Besser, ich ziehe und belle weniger, dann darf ich später wieder zu den Kollegen auf die Wiese.«

Hund.epsIrrtum Nr. 18:

»Mein Hund lernt, wenn ich ihn bestrafe.«

Falsch! Ihr Hund handelt nicht wie ein Mensch (durchdacht und absichtsvoll), sondern hündisch (instinktiv und aus dem Augenblick heraus). Daher kann er den Sinn einer Bestrafung nicht nachvollziehen. Das Einzige, was ein Hund versteht, sind Korrekturen, die wir unmittelbar an ein unerwünschtes Verhalten koppeln. Wenn ich meinem Hund durch Leinenkorrektur und/oder ein Hörzeichen konsequent verbiete, ein bestimmtes Zimmer zu betreten, speichert er das und verhält sich fortan dementsprechend. Andere als Strafe gedachte Maßnahmen wie Futterentzug, Hausarrest oder gar körperliche Züchtigung (Tabu! Das zerstört Vertrauen!) kommen beim Hund nicht in der gewünschten Form an.

Mit dem Märchen von der Bestrafung verhält es sich genauso wie mit dem Mythos »Mein Hund versteht alles, was ich sage«: Hunde können Sachverhalte und Entscheidungen nicht verstehen und nachvollziehen wie wir Menschen. Daher verstehen sie auch nicht, was eine Strafe ist. Sie können nicht »nach vorne« denken, denn sie leben voll und ganz im Jetzt. Sie erinnern sich allerdings an bestimmte Ereignisse, die sie in der Vergangenheit mit einer unmittelbar an ein Ereignis gekoppelten Korrektur verknüpft haben. Auf unsere Menschenwelt übertragen hieße das zum Beispiel: Wenn ich mich dorthin (zum Beispiel aufs Sofa) lege, tut mir das nicht gut. Oder: Wenn ich da (zum Beispiel ins Badezimmer) reingehe, tut mir das nicht gut. Hunde lernen nicht, weil sie etwas einsehen, sondern weil sie es mit einer positiven oder negativen Erfahrung verknüpfen. Aus diesem Grund kann man einen Hund nicht auf die gleiche Art und Weise bestrafen wie einen Menschen. Man kann lediglich unerwünschtes Verhalten immer dann, wenn es passiert, durch ein Leinensignal und/oder ein »Aus!« korrigieren – und zwar unmittelbar in der Sekunde danach. Im besten Fall bremst man den Hund schon vorher aus – wenn er gerade im Begriff ist, etwas Unerwünschtes zu tun (Leinensignal und »Nein!«) Dadurch, dass dem Hund ein Erfolgserlebnis verwehrt bleibt, wird er früher oder später lernen, das unerwünschte Verhalten nicht mehr zu zeigen. Korrektur und Lob müssen natürlich in einem angemessenen Verhältnis stehen. Daher dürfen Sie nicht vergessen, das erwünschte Verhalten mit warmer Stimme und/oder Streicheln zu belohnen.

Ihr Hund muss wissen, dass Sie ihm keinen Schaden zufügen wollen. Wenn Sie auf unerwünschtes Verhalten reagieren, sollte das unmittelbar nach der »Missetat« erfolgen. Sind bereits Minuten oder gar Stunden vergangen – zum Beispiel, wenn ein Hund während Ihrer Abwesenheit das Sofa angeknabbert hat –, weiß er nicht, weshalb er sanktioniert wird, und kann Ihre Reaktion nicht mit seinem (Fehl-)Verhalten in Verbindung bringen. Die Folge: Der Hund speichert: »Manchmal bekomme ich einfach so Ärger mit meinem Zweibeiner«, das verunsichert ihn und zerstört sein Vertrauen.

Die »Der braucht ab und zu mal einen Klaps«-Lüge

Wo wir gerade beim Thema Bestrafung sind: Der Irrglaube, einem Hund könne es nicht schaden, wenn er bei Fehlverhalten »eine verpasst bekommt« – im »besten« Fall einen Klaps, im schlimmsten Fall eine Tracht Prügel –, hält sich hartnäckig. Manche Halter von »schwierigen« Exemplaren sind überzeugt davon, dass das die einzige Sprache sei, die ihr Hund verstehe. Sogar manche Trainer propagieren in bestimmten Situationen die körperliche Züchtigung, indem der Hund bei schwerem Fehlverhalten beispielsweise mit der Leine geschlagen wird.

Das alles ist natürlich ganz großer Quatsch und in der Hundeerziehung ein Tabu: Hunde soll man genauso wenig schlagen wie Kinder – weder mit der Hand noch mit der eingerollten Zeitung oder mit der Leine. Schon ein regelmäßiger »kleiner Klaps« fügt dem Verhältnis zwischen Hund und Halter schweren Schaden zu. Wie schon zuvor erklärt: Hunde können den Sinn einer Bestrafung – egal welcher Art – nicht nachvollziehen. Wenn Herrchen oder Frauchen den Hund schlägt, weil er zum Beispiel vor ein paar Minuten einen Keks vom Wohnzimmertisch geklaut hat, speichert der Hund nicht: »Ich habe jetzt eine Ohrfeige bekommen, weil ich vorhin den Keks geklaut habe.« »Lieb sein« oder »böse sein« ist in der Welt des Hundes keine fassbare Kategorie. Der Hund weiß nicht, dass er Herrchen gerade genervt oder enttäuscht hat. Ein Hund fühlt sich nicht geschlagen, und er zieht auch keine Schlüsse daraus. Vielmehr bleibt hängen, dass Herrchen und Frauchen manchmal komische Zuckungen haben, die wehtun. In etwa so, als hätten Sie einen Freund, der einen Tick hat und Ihnen immer wieder völlig unvorhergesehen eine Ohrfeige verpasst. Wenn ein Hund regelmäßig solche »Ohrfeigen« bekommt, fühlt er sich in der Nähe seines Halters immer unsicherer, und irgendwann rechnet er jederzeit mit schmerzhaften Zuckungen. Das kann schließlich sogar zu einer aggressiven Gegenreaktion führen.

Ich will an dieser Stelle nicht moralisieren: Auch viele Eltern haben ihrem Kind schon mal eine Ohrfeige verpasst, weil sie im Stress waren und sich in dem Moment nicht anders zu helfen wussten oder das Kind schützen wollten, das kurz davor war, auf die Straße zu laufen. Das macht sie noch lange nicht zu Rabeneltern. Deshalb kann ich nachvollziehen, dass auch einem Hundehalter, den sein Schützling zur Weißglut gebracht hat, mal die Hand ausrutscht und er dem Hund im Reflex einen kleinen Patscher auf die Nase verpasst. Da kann ich als Trainer gerade noch ein Auge zudrücken. Das gilt übrigens auch, wenn ein Hund nach mir schnappt: Wenn der Hund bereit ist, dem Menschen wehzutun, darf der Mensch auch mal dem Hund wehtun. Abgesehen von diesen Einzelfällen gilt jedoch allgemein und jederzeit: Schlagen Sie niemals Ihren Hund!

Der Freudenpipi-Mythos

Herrchen und Frauchen bekommen Besuch. Zur Begrüßung springt ihr einjähriger Hund wild mit dem Schwanz wedelnd an den Gästen hoch, danach legt er sich auf den Rücken, und als die Gäste ihn streicheln wollen, passiert es: Der Hund hinterlässt einige Tröpfchen Urin. »Freudenpipi«, so die Erklärung der Halter. »Das macht der immer, wenn er jemanden besonders mag.« Kaum ein Mythos über Hunde hält sich hartnäckiger als der vom »Freudenpipi«. In Wirklichkeit geht es dabei nicht um Freude, sondern um Unterwerfung.

Hund.epsIrrtum Nr. 19:

»Mein Hund macht vor Freude Pipi.«

Falsch! Das »Freudenpipi«, das vor allem Welpen und Junghunde abgeben, ist nichts anderes als eine Geste der Unterwürfigkeit, die mit dem Urin unterstrichen wird. Wären wir Hunde, könnten wir das riechen.

Ein Vergleich mit der Welt der Zweibeiner macht das vielleicht klarer: Stellen Sie sich vor, Sie sehen in der Stadt einen alten Bekannten. Franz, ein liebenswerter Zwei-Meter-Mann. Franz geht vor Ihnen, also klopfen Sie ihm, um ihn zu überraschen, von hinten auf die Schulter. »Hallo Franz, wie geht’s dir?« Franz dreht sich um – und da bemerken Sie: Das ist gar nicht Franz. Der Typ sieht Franz zwar ganz ähnlich, er ist aber auch ziemlich gefährlich und wirkt nicht unbedingt liebenswert. Nun schaut er auch noch böse drein, weil Sie ihn erschreckt haben. Fast haben Sie den Eindruck, er wolle Sie schlagen. Sie versuchen die Verwechslung zu erklären, machen sich angesichts der imposanten Erscheinung durch beschwichtigende Handbewegungen und Worte klein: »Das war doch gar nicht so gemeint.« Schließlich lenkt der Franz-Doppelgänger ein und geht seines Weges.

Zurück in die Welt der Hunde: Ein Welpe oder Junghund hat nicht die Möglichkeit, sich durch Worte mitzuteilen. Wenn er glaubt, dass seine Körpersprache (unterwürfige Haltung) nicht ausreicht, um sein Gegenüber gnädig zu stimmen, springt er die Person zunächst an, um ihr das Gesicht (für den Hund: Ihre Lefzen!) zu lecken, und lässt dann auch schon mal unter sich, so die Fachsprache. Der Urin ist im Grunde genommen eine Friedensfahne unter Nasentieren, denn ein anderer Hund würde die Unterwerfung sofort am Uringeruch erkennen. Genauso markiert ein Hund, der sich am anderen Ende der Dominanzskala bewegt, seinen Status möglichst hoch und für jeden Konkurrenten gut erreich- bzw. erriechbar. Immerhin beschränkt sich das »Unter-sich-Lassen« bei unterwürfigen Hunden auf Welpen und Junghunde und geht danach in der Regel vorbei. Dominante Hunde markieren hingegen das ganze Leben.

Der »Hunde haben Gewissensbisse«-Mythos

Das Gewissen »drängt, aus ethischen bzw. moralischen und intuitiven Gründen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen« – so die Definition bei Wikipedia. Demnach hat ein Mensch, der diesem Drang folgt, ein gutes Gewissen, und einer, der ihm nicht folgt, ein schlechtes. Auch wenn es noch so schön wäre, für Hunde spielen Ethik, Moral und Intuition sicherlich keine Rolle, sie folgen ihrem Trieb, ihrem Instinkt. Logische Schlussfolgerung: Hunde kennen weder ein gutes noch ein schlechtes Gewissen.

Dennoch hören wir immer wieder Sätze wie »Mein Hund macht das, weil er ein schlechtes Gewissen hat«. Machen wir doch mal die Probe aufs Exempel und nehmen wir an, Herrchen kommt nach Hause und findet ein vollkommen lädiertes und zerbissenes Sofa vor. Was Herrchen nicht weiß: Nur einer seiner beiden Hunde ist während seiner Abwesenheit als Sofa-Beißer in Erscheinung getreten, der andere hat ruhig im Korb gelegen. Herrchen wird laut: »Wer WAR das!?« Hätten Hunde ein Gewissen, müsste sich der Täter nun bibbernd und mit schlechtem Gewissen in die Ecke verziehen – während sich der unschuldige Hund entspannt und mit gutem Gewissen »zurücklehnt«. Der Hund, den ein schlechtes Gewissen plagt, wäre sich demnach bewusst, dass er etwas falsch gemacht hat – und der andere Hund wäre sich bewusst, dass er eine reine Weste hat.

Doch was passiert nach Herrchens lautstarker Rüge wirklich? Beide Hunde – sowohl Täter als auch der Arglose – zeigen unterwürfiges Verhalten: ausweichender Blick, gesenkter Kopf, angelegte Ohren, eingezogener Schwanz. Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen? Nein, denn erstens war nur einer der Übeltäter, zweitens ist es für Hunde moralisch nicht fragwürdig, wenn sie (zum Beispiel weil sie unterbeschäftigt oder auf der Suche nach Kekskrümeln in den Ritzen sind) ein Sofa zerstören, und drittens ist die Zerstörung ohnehin schon viel zu lange her, als dass der Täter-Hund sie noch mit der erhobenen Stimme seines Herrchens verbinden könnte. Beschwichtigungssignale? Ja! Und zwar von beiden Hunden, denn natürlich beziehen sie den tadelnden Ton automatisch auf sich. Sie können nicht differenzieren, wer etwas falsch gemacht hat und wer gemeint ist. Sofa-Attacken und ähnliche Untaten von Hunden erfolgen also immer komplett gewissenlos.

Hund.epsIrrtum Nr. 20:

»Mein Hund hat ein schlechtes Gewissen, ist trotzig, beleidigt, traurig oder eifersüchtig.«

Falsch! Bei allen genannten Gemütszuständen handelt es sich um menschliches Verhalten, das fälschlicherweise auf den Hund projiziert wird. So hat die mit »schlechtem Gewissen« verbundene unterwürfige Körpersprache des Hundes einzig und allein mit einer (in diesem Moment) dominanten Körpersprache des Menschen zu tun. Auch zu trotzigen und beleidigten Reaktionen sind Hunde nicht fähig, dazu müssten sie (wie wir Menschen) strategisch und vom Verstand bzw. emotional gesteuert handeln. Als »eifersüchtig« wahrgenommene Hunde haben nichts anderes im Sinn, als ihren Rang direkt unter dem Rudelführer zu verteidigen oder schlichtend zu »splitten«, um das Rudel nicht zu gefährden. Kurzum: Hunde haben keine Gemütszustände, wie wir sie bei Menschen kennen, auch wenn viele Menschen sich das manchmal wünschen. Aber immerhin: Gemeinsames Kuscheln löst bei Hunden genauso wie beim Menschen Glückshormone aus.

Eine amerikanische Studie4 hat sich mit der Frage »Haben Hunde ein schlechtes Gewissen?« beschäftigt. Dazu wurde folgendes Experiment durchgeführt: Mehrere Besitzer verboten ihren Hunden, ein Leckerchen zu fressen, das sich in ihrer Nähe befand. Danach mussten die Halter den Raum verlassen. Während ihrer Abwesenheit wurden einige Hunde von einem Forscherteam dazu animiert, das Leckerchen trotz des Verbots zu fressen, andere »durften« sich an das Verbot halten, indem das Leckerchen einfach entfernt wurde. Als die Halter wieder in den Raum kamen, erzählte man ihnen entweder, dass ihr Hund brav gewesen sei und das Leckerchen nicht gefressen habe, oder, dass ihr Hund nicht brav gewesen sei und das Leckerchen trotz Verbot verspeist habe. Diese Angaben entsprachen mal der Realität, mal nicht. Die Aufgabe der Halter war es nun, ihren (»gehorsamen«) Hund freudig zu begrüßen bzw. ihren (»ungehorsamen«) Hund mit Worten zu rügen. Anschließend analysierten die Forscher die Reaktionen der Hunde. Ergebnis: Die Reaktionen hatten nichts damit zu tun, ob der Hund das Leckerchen tatsächlich gefressen hatte oder nicht. Alle Hunde, die ermahnt wurden, zeigten die typische schuldbewusste Körpersprache. Hunde, die das Leckerchen gefressen hatten und zu Unrecht von ihrem falsch informierten Halter gelobt wurden, zeigten keinerlei Schuldgebaren. Hunde, die das Leckerchen nicht gefressen hatten, aber von ihrem falsch informierten Halter gerügt wurden, wirkten in dieser Studie sogar »am schuldigsten«. Fazit: Die Körpersprache des Hundes, die manche Menschen als »schuldbewusst« interpretieren, hat nichts mit einem tatsächlichen Schuldbewusstsein zu tun. Wie sich ein Hund in solchen Situationen verhält, wird ausschließlich vom Verhalten des Besitzers beeinflusst.

Das »Aus Trotz oder Protest pinkeln/fressen/bellen«-Missverständnis

Ein Hund macht etwas Unerwünschtes. »Der hat aus Trotz auf den Autositz gepinkelt, weil er Autofahren so hasst«, heißt es dann. Oder: »Weil er Regen nicht mag, will er aus Protest nicht Gassi gehen.« Solche vermeintlichen Trotz- oder Protestreaktionen sind aber nichts weiter als eine Vermenschlichung hündischen Verhaltens. Tatsächlich sind Hunde zu Trotz und Protest gar nicht fähig. Denn dann müssten sie auch in der Lage sein, strategisch und vom Verstand gesteuert zu handeln – nach der Devise: »Also das gefällt mir wirklich gar nicht, und deswegen wehre ich mich jetzt ganz gezielt dagegen.«

Wenn Herrchen um 16 Uhr wieder zu Hause sein wollte, aber erst vier Minuten nach 16 Uhr auftaucht, macht ein Hund doch nicht aus Protest auf den Teppich. Und genauso wenig wählt er dabei ausgerechnet den teuren Flokati, der sich so schwer reinigen lässt, statt den billigen Läufer im Flur, der bei Ikea im Sonderangebot war. Nein, es gibt ganz andere Gründe für sein Verhalten: Eventuell hat er sich den Magen verdorben. Oder er musste einfach zu lange allein und ohne Auslauf in der Wohnung ausharren. Vielleicht hat auch Lärm-Stress, etwa durch eine Kreissäge in der Nachbarwohnung oder durch ein Gewitter oder Feuerwerk, seine Verdauung unaufhaltsam angeschoben. Wann er dann wo hinmacht, ist jedenfalls purer Zufall – fernab von Trotz und Protest.

Eine weitere vermeintliche »Protestreaktion«, die ich in meinem Alltag als Hundetrainer in ähnlicher Form immer wieder erlebe, ist die Nahrungsverweigerung. »Mein Hund frisst sein Futter nicht – aus Protest«, sagt der Kunde. »Der weiß nämlich genau, wenn er da nicht drangeht, bekommt er danach anderes Futter.« Warum der Hund tatsächlich das zunächst angebotene Futter verschmäht, bleibt sein Geheimnis. Leider können wir ihn nicht fragen, und selbst wenn wir ihn mit einem Leckerchen bestechen, würde er uns keine Antwort geben. Vermutlich schmeckt ihm das Futter einfach nicht besonders gut, und daher lässt er es erst mal liegen. Auf einer Hundezunge befinden sich nämlich rund 2.000 Geschmacksrezeptoren. Diese sagen dem Hund nicht nur, ob etwas überhaupt fressbar ist oder nicht. Sie übermitteln ihm auch, ob er den Geschmackseindruck als angenehm, neutral oder unangenehm empfindet. Im Zweifelsfall entscheidet das Nasentier Hund jedoch bei zwei oder mehreren Futterquellen über den Geruch, was er zuerst antastet und frisst. Somit würde er sich bei der Auswahl »Steak oder Salat« klar für das Fleisch entscheiden. Befände sich jedoch das Steak unter einer hermetisch abgeschlossenen Plexiglasglocke und der Salat auf einem Teller daneben, so würde er, hätte er sehr großen Hunger, womöglich sogar den weniger attraktiven Salat fressen. Stark riechendes Essen wird also eindeutig bevorzugt.

Es gibt auch sehr unterwürfige Hunde, die sich nicht trauen, in Anwesenheit eines Menschen zu fressen, weil sie diesen nicht provozieren wollen. Meist bedrängt der Mensch einen solchen Hund dann umso mehr (»Friss das doch! Ist sooo lecker!«), statt ihn beim Fressen allein zu lassen. Das alles hat jedenfalls rein gar nichts mit kalkuliertem Protest zu tun. Und der Einzige, der genau weiß, dass der Hund ein anderes Futter bekommt, wenn er an das, was ihm vorgesetzt wurde, nicht rangeht, ist der Mensch. Allenfalls stellt der Hund eine Verknüpfung her: Wenn ich das erste Futter nicht nehme, bekomme ich das nächste.

In diesem Sinne: Hunde, die angeblich aus Protest oder Trotz bellen, pinkeln, nicht fressen oder was auch immer machen oder nicht machen, haben gute Gründe für ihr Verhalten – aber sicher nicht die beiden gerade genannten. Entweder haben sie etwas in der Vergangenheit negativ bzw. positiv verknüpft und handeln nun dementsprechend. Oder sie zeigen ein Verhalten, das auf eine Erkrankung zurückgeht. Nicht zu vergessen: Protest und Trotz lassen sich Hunden sicherlich auch deswegen gerne andichten, weil der Mensch dann aus dem Schneider ist. Ich habe beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass »Protest«-Beller meist nur schlecht erzogen sind.

Der »Mein Hund ist beleidigt«-Irrtum

Ganz oben in der Liste der populären Mythen zur »tierischen Vermenschlichung« steht: »Mein Hund ist beleidigt.« Doch wie soll ein Hund das können? Um zu einem solchen Gefühl fähig zu sein, müsste er über die Kapazität verfügen, etwas zu reflektieren. Denn nur, wenn man etwas versteht, kann man beleidigt sein. Eine Mutter reagiert vielleicht beleidigt, wenn ihr Sohn den Muttertag vergisst. Und ein Kind, wenn es seine Lieblingssendung im Fernsehen nicht sehen darf. Aber ist ein Hund beleidigt, wenn man vergisst, ihm zum Geburtstag einen Extraknochen zu schenken? Oder wenn er nachmittags nicht zum Spielen mit seinen Hundekumpels auf die Wiese darf? Ein klares Nein, denn zu so einer Einsicht ist ein Tier nicht fähig.

Besonders häufig wirken Hunde auf Menschen »beleidigt«, nachdem sie gerade etwas Unerwünschtes gemacht haben und dafür mit lauter Stimme gemaßregelt und ins Körbchen geschickt worden sind. Ruft der Halter den Hund nämlich danach zu sich, kann es passieren, dass der lieber im Körbchen bleibt, statt zu kommen. Nimmt der Hund seinem Halter wirklich übel, dass der ihn »zusammengefaltet« hat? Nein, vielmehr reagiert der Hund auf die Stimme und die Körpersprache des Besitzers, der tief drinnen immer noch sauer auf den Hund ist, sodass seine Stimme entsprechend negativ aufgeladen klingt. Hunde sind in dieser Hinsicht sehr feinfühlig und erkennen anhand der Stimme und der Gestik eines Menschen seine Stimmung. Vielleicht betont der Halter den Namen des Hundes ganz anders oder nicht so freudig wie sonst. Das kennt der Hund nicht – und bleibt lieber im Körbchen. Woraufhin der Halter ihm wiederum eine menschliche Regung unterstellt und annimmt, er sei beleidigt.

Auch Hunde, die ihrem Halter den Rücken zuwenden, werden schnell in die Schublade mit der Aufschrift »Der ist beleidigt« gesteckt. »Schau mal, jetzt dreht er sich extra weg.« Auch in diesem Fall bewertet der Halter seinen Hund fälschlicherweise wie einen Menschen. In der Hundewelt hat das Den-Rücken-Zudrehen jedoch eine ganz andere Bedeutung: Es ist ein Vertrauens- und Beschwichtigungssignal. Ein Hund, der einem Menschen nicht vertraut, wird ihm kaum den Rücken zuwenden und sich schon gar nicht von hinten kraulen oder streicheln lassen. Er beobachtet stattdessen das Verhalten seines Gegenübers, um jederzeit reagieren zu können. Im Gegensatz dazu signalisiert ein Hund, der dem Halter (oder einem anderen Hund!) den Rücken zuwendet, dass von ihm keine Gefahr ausgeht.

Das »Mein Hund ist traurig«-Märchen

Ein Hund läuft Hunderte von Kilometern zurück zu Herrchens Haus. Ein anderer wartet jahrelang am Bahnhof, dass sein verschollener Besitzer zurückkommt. Das ist der Stoff, aus dem Hollywood-Filme gesponnen werden. Gibt es wirklich Hunde, die sich so verhalten? Und wenn ja, machen sie das, weil sie traurig sind? Oder sind Hunde, die trauern, bloß ein Mythos?

Natürlich gehen wir bei der Einschätzung zunächst einmal von unserer eigenen, menschlichen Definition von Trauer aus. Wir trauern, wenn ein geliebter Mensch (ein Haustier) stirbt oder wenn eine Beziehung zu Ende geht. Über solche Ereignisse hinaus, die früher oder später jeden Menschen betreffen, kann Trauer aber auch etwas sehr Persönliches sein: Worüber der eine trauert, ist für den anderen keinen Gedanken wert. Menschen trauern aus unterschiedlichsten Gründen und auf vielfältige Art und Weise. Trauer kann nicht nur Menschen gelten, sondern auch Gegenständen. Etwa wenn ein Auto, das man 15 Jahre lang gefahren hat, in die Schrottpresse kommt. Manchmal empfinden wir auch Mitleid und trauern mit, weil jemand, den wir gut kennen, etwas Schreckliches erlebt hat.

Aber wie ist das bei Hunden? Um Mitleid zu empfinden, müssten sie in der Lage sein, sich in andere hineinzuversetzen. Das wird ihnen kaum jemand unterstellen. Dann bliebe nur die »einfache« Trauer bzw. Traurigkeit übrig. Wenn ein kleines Kind seinen Ball beim Spielen auf der Wiese vergisst, ist es womöglich den ganzen Tag danach traurig (weil es der Lieblingsball war, den es von der Oma zum Geburtstag bekommen hat!). Eine Katastrophe, die ein Kind tagelang beschäftigen kann. Einem Hund ist dagegen nicht einmal bewusst, wer ihm seinen favorisierten Ball zum Spielen geschenkt hat. Und wenn er ihn auf der Wiese zurücklässt, weiß er das schon gar nicht mehr, wenn er nach dem Spaziergang mit seinem Halter die Wohnung betritt. Wobei es durchaus vorkommen kann, dass er am nächsten Tag an der Stelle, wo er zuletzt mit dem verlorenen Ball gespielt hat, die entsprechende Geruchsverknüpfung herstellt und nach dem Ball sucht. Der Mensch interpretiert dann schnell: »Der Hund ist traurig, weil er seinen Ball verloren hat.« Oder: »Der Hund vermisst seinen Ball.« Und genau aus solchen Erfahrungen heraus würden die meisten Hundebesitzer die Frage, ob ihr Hund manchmal traurig ist, mit einem spontanen »Ja!« beantworten.

Kommen wir noch einmal zurück zu den bereits erwähnten hollywoodreifen Hunde-Anekdoten: Die populärste spielt sich nicht im Wartehäuschen eines Bahnhofs, sondern auf dem Grab von Herrchen oder Frauchen ab. Offenbar scheint es nicht wenige Hunde zu geben, die neben oder auf dem Grab ihres verstorbenen Halters sitzen. Aus Trauer? Um dem geliebten Besitzer immer noch nahe zu sein? Eines ist sicher: Weil wir Menschen Hunde so sehr lieben, fänden wir es toll, wenn ein Hund so um einen Menschen trauern würde. Das ist eine Vorstellung, die uns unsere vierbeinigen Freunde noch sympathischer macht und sie uns noch näherbringt in einer Welt, die wir oft als kühl und falsch empfinden und in der wir Hunde im Unterschied zum Menschen gerne als reine, warme, unverdorbene Wesen glorifizieren.

Keine Frage: Hunde sind toll und liebenswert – doch als trauernd oder traurig im menschlichen Sinne habe ich sie noch nie erlebt. Ich beschäftige mich seit 1985 intensiv mit Hunden – seit über 15 Jahren auch professionell – und ich habe in meinem Umfeld noch nie von einem Hund gehört, der neben oder auf einem Grab sitzt, geschweige denn auf dem Friedhof einen solchen Hund getroffen. Meine Erklärung für die unzähligen Anekdoten dazu ist folgende: Nehmen wir an, Herrchen ist gerade beerdigt worden und Frauchen geht mit dem Hund jeden Tag zum Friedhof, um das Grab zu pflegen und ihre Trauer zu verarbeiten. Während Frauchen nun am Grab steht oder sitzt und an ihren geliebten Mann denkt, fühlt sie sich einsam. Also krault sie ihren Hund, sie kuschelt mit ihm, ist ihm so nah wie sonst selten im Alltag. Sie spricht mit leiser, einfühlsamer Stimme zu ihm: »Du vermisst Herrchen auch, oder?« Der Hund versteht natürlich nicht, was Frauchen meint, aber er speichert sehr wohl etwas Positives ab: Wenn ich mit Frauchen an diesem Ort bin, geht es mir richtig gut. Mit der Zeit wird er sich immer mehr an das Grab und die entspannte Zeit dort gewöhnen. Und sicher wird er dann manchmal schon von Weitem Richtung Grab ziehen oder es sich in Frauchens Beisein bei gutem Wetter auf dem Grab bequem machen. Der Hund weiß nicht, was ein Grab ist. Genauso wenig kennt er den Unterschied zwischen einer Wiese im Park und einem Vorgarten. Entscheidend ist für ihn jedoch, wie sich der Halter an diesem Ort benimmt. Das speichert der Hund, und dementsprechend verhält er sich. Fazit: Hunde denken nicht übers Sterben nach, sie wissen gar nicht, was das ist. Daher sind sie auch nicht dazu in der Lage, so wie Menschen zu trauern oder traurig zu sein. Aber sie reagieren auf menschliches Verhalten manchmal auf eine Art und Weise, die wir Menschen als Trauer interpretieren.

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Ist dieser Hund wirklich traurig über den vermeintlich toten Artgenossen?

Auch bei den erwähnten »Hund wartet jahrelang am Bahnhof auf Herrchen«-Geschichten würde ich von Gewohnheitsverhalten des Hundes ausgehen – nicht von Trauer. Denn der Hund kann gar nicht wissen, dass Herrchen verschwunden oder verstorben ist. Wenn er wüsste, was »tot sein« bedeutet, und sich noch dazu bewusst wäre, dass sein Herrchen tot ist, würde er sich den Weg zum Bahnhof sparen und den Bus zum Friedhof nehmen. Warum also kommt ein Hund immer zur gleichen Uhrzeit zum Bahnhof zurück? Und: Ist es wirklich immer genau die gleiche Uhrzeit? Oder haben die Menschen im Nachhinein »an der Uhr gedreht«? Der Hund hat jedenfalls weder eine Uhr ums Bein geschnallt noch kann er den Fahrplan lesen. Aber es gibt Dutzende Möglichkeiten (positive Verknüpfungen), warum er schon zu Herrchens Lebzeiten immer zur ungefähr gleichen Zeit den Bahnhof aufgesucht haben könnte, vielleicht ist er sogar von Frauchen dazu animiert worden. Und wenn Menschen am Bahnhof einen Hund sehen, beschäftigen Sie sich natürlich mit ihm. Er wird angesprochen, bekommt vielleicht etwas zu trinken oder zu fressen, wird gestreichelt – und fühlt sich wohl an diesem Ort. Und dann kommt auch noch Herrchen von der Arbeit zurück und freut sich wahnsinnig, dass sein Hund auf ihn wartet. Der Reiz »Bahnhof« ist groß, der Reiz »Herrchen« ist noch größer, also geht der Hund Tag für Tag mit Herrchen vom Bahnhof zurück nach Hause. Und wartet am nächsten Tag wieder am Bahnhof, um ihn »abzuholen«. Fällt nun der Reiz »Herrchen« weg, bleibt immer noch der Reiz »Bahnhof«. Wie gesagt: Der Hund weiß nicht, dass sein Herrchen gestorben ist, aber viele der Angestellten und Passanten am Bahnhof wissen es – und gehen daher aus Mitleid umso freundlicher und liebevoller mit dem Hund um. Der wiederum verknüpft einmal mehr: Dieser Ort (Bahnhof) tut gut. Also behält er seine Gewohnheit auch nach Herrchens Tod bei. Ein Hund, der aus Trauer und Treue am Bahnhof auf sein gestorbenes Herrchen wartet – diese Interpretation klingt einfach zu herzzerreißend, um wahr zu sein. Eine Traumvorlage für Drehbuchautoren bietet sie allemal.

Alle bisher genannten Einschränkungen und Zweifel an den kursierenden Geschichten über Hunde, die trauern, sollen nicht bedeuten, dass der Verlust eines nahestehenden Menschen oder eines vierbeinigen, im gleichen Haushalt lebenden Spielkameraden einen Hund völlig kalt lässt. So etwas kann beim Hund zu einem Verlust von Sicherheit und damit zu großem Stress führen. Schließlich ändert sich die Struktur des Rudels, wenn ein Mitglied (womöglich das ranghöchste) plötzlich verschwunden ist. Von einem auf den anderen Tag muss sich der Hund einer bislang ständig präsenten Vertrauensperson nicht mehr unterwerfen. Das wirft auch für ihn instinktiv die Frage auf: Wer hat jetzt das Sagen? Wem muss ich folgen?

Die »Mein Hund ist eifersüchtig«-Projektion

Können Hunde Eifersucht empfinden? Aufschluss gibt dazu eine Alltagssituation, die fast jeder Hundebesitzer so oder ähnlich schon einmal erlebt hat: Frauchen spaziert mit dem Rüden Blacky über die Hundewiese, die beiden treffen einige andere Hund-Halter-Gespanne. Die Hunde laufen frei, beschnuppern sich, spielen. Einer der anderen Hunde lässt sich zwischendurch von Blackys Frauchen mit Streichel- und Krauleinheiten versorgen. Frauchen geht dabei in die Hocke, um den Hund besser erreichen zu können. Das gefällt Blacky überhaupt nicht: Er drängt sich dazwischen, versucht den Streichelkontakt zu verhindern. »Ach, mein Hund ist immer so eifersüchtig«, sagt Frauchen und erntet von den anderen Besitzern ein verständnisvolles Nicken. Blacky, ein eifersüchtiger Hund?

Wenn Blacky sprechen könnte, würde er nicht sagen: »Hallo, was soll das?! Mein tolles Frauchen gehört nur mir allein.« Sondern: »Hey, Kollege, weg da! Du hast überhaupt nicht den Status, dich in dieser Form meinem Rudelführer zu nähern!« Blacky drängt sich also dazwischen, um seinen Rang deutlich zu machen und zu verteidigen. Sein Frauchen sieht er als die Rudelführerin, und direkt darunter kommt er. Wäre Blacky dominanter, könnte aus dem Weg- oder Dazwischendrängen schnell ein Verjagen oder gar Wegbeißen werden. Je dominanter ein Hund, desto sensibler wird er darauf reagieren, wenn jemand seinem Rudelführer zu nahe kommt.

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Der gescheckte langhaarige Hund ist ein klassischer Beta-Hund: Um Streit im Rudel zu verhindern, wirft er sich zwischen die Kontrahenten, um diese zu »splitten«

Bei sozial sehr verträglichen Beta-Hunden – also solchen, die weder besonders dominant (Alpha) noch besonders unterwürfig (Omega) sind – kann das Dazwischengehen auch noch einen anderen Grund haben: Sie wollen »splitten«, sprich zwei starke Kontrahenten auseinanderbringen. Diese Aufgabe hat die Natur einigen Hunden im Rudel zugewiesen, um die stärksten Rudelmitglieder, die sich häufig bekämpfen, auseinanderzubringen, da sie sonst das Rudel insgesamt schwächen. Diese Beta-Hunde »splitten« nicht nur Artgenossen, sondern sie tun das auch manchmal bei Begegnungen zwischen Mensch und Hund oder Mensch und Mensch. Ein solcher Hund kann schon eine stürmische Begrüßung unter Menschen als »Kampf« empfinden, der beendet werden muss. Vielleicht haben Sie das auch schon einmal erlebt: Sie haben einen neuen Partner, und Ihr Hund (oder der Hund des Partners) lässt anfangs in seinem Beisein keine Annäherung zu, schon bei einer kurzen Umarmung drängt er sich sofort dazwischen. Ein solches Verhalten bestätigt natürlich einmal mehr das Fehlurteil »eifersüchtiger Hund«. Doch mit Eifersucht, wie wir sie unter Menschen kennen, hat all das nichts zu tun, denn dieses Gefühl ist frei von Status, Rangordnung und Rudeldynamik oder, wie es im Zeit-Lexikon heißt, ein »qualvoll erlebtes Gefühl vermeintlichen oder tatsächlichen Liebesentzugs«.

Wie so oft ist, was die Eifersucht betrifft, bei der Beurteilung hündischen Verhaltens ein gutes Stück menschliche Eitelkeit im Spiel. Verständlich – denn wenn ich davon ausgehe, dass mein Hund eifersüchtig ist, fühle ich mich geliebt und bestätigt.

Die »Mein Hund liebt und vermisst mich«-Einbildung

Herrchen »parkt« seine Mischlingshündin Basca zwei Stunden lang bei seiner Mutter, weil er einen Arzttermin hat. Als er die Wohnung seiner Mutter verlässt, macht Basca zunächst Anstalten, ihm zu folgen. Als die Mutter anfängt, sich sehr intensiv um Basca zu kümmern – sie streichelt, mit ihr spielt –, scheint die Hündin sich schließlich doch wohlzufühlen, auch ohne ihr Herrchen. Wenn Herrchen im Sommer in den Urlaub nach Andalusien fährt, möchte er seiner schon etwas älteren Mutter nicht ganze drei Wochen mit Basca zumuten, also gibt er sie in dieser Zeit in der Hundepension seines Vertrauens ab. Da hat sie genügend Auslauf und trifft jede Menge Artgenossen. Dennoch hat Herrchen dabei Jahr für Jahr ein schlechtes Gewissen. An das kurzfristige »Parken« bei seiner Mutter hat sich der Hund schnell gewöhnt, aber drei Wochen ohne ihn – das ist schon eine andere Nummer. Wenn Basca bellt, weil er sie in der Hundepension zurücklässt, fühlt sich Herrchen richtig mies. Und wenn er sie dann nach drei Wochen abholt und Basca ihn schwanzwedelnd begrüßt, sein Gesicht ableckt, sich auf den Rücken legt und von ihm streicheln lässt, dann fühlt er sich fast noch mieser. »Basca muss mich ganz schön vermisst haben«, denkt Herrchen in dem Moment – und hat erneut ein schlechtes Gewissen.

Ich sage: Es gibt keinen Grund dafür. Erstens würden Basca die Temperaturen von bis zu 40 Grad an Herrchens Urlaubsort gar nicht guttun, mal ganz abgesehen von dem Stress, den ein Transport per Hundebox im Frachtraum eines Flugzeugs mit sich bringt. Und zweitens stellt sich ein Hund sehr schnell auf das Leben in einer neuen Umgebung und in einer neuen Struktur ein. Hunde befolgen eine Grundregel: Sie machen immer das Beste aus ihrer Situation. Auch Basca ist schon nach zwei bis drei Tagen komplett in den neuen Alltag eingetaucht. Sie ist nicht in der Lage, wie ein Mensch an den Bezugspartner zu »denken« – daher kann sie Herrchen auch nicht vermissen. Zumal das geschulte Personal einer guten Hundepension schnell das Vertrauen eines Hundes gewinnen und ihn auf sich fixieren kann.

Auch Hunde, die in neuer Umgebung nicht fressen, tun dies nicht, weil sie ihren Halter vermissen. Meistens handelt sich in solchen Fällen um Exemplare, die im Alltag fast immer mit dabei sind – sei es auf Autofahrten, beim Einkaufen oder am Arbeitsplatz. Ist Herrchen oder Frauchen nun plötzlich nicht mehr da, ist das für den Hund eine ungewohnte Situation, die zu Unsicherheit und Stress führt. Diese »Verlustangst« bezieht sich allerdings weniger auf die Persönlickeit des Halters als, vielmehr auf die üblichen Alltagsaktivitäten, die der Hund mit diesem verknüpft. Nach diesen Aktivitäten »sehnt« sich der Hund, und wenn sie wegfallen, kann Appetitlosigkeit die Folge sein. Appetitlosigkeit kann aber auch dann vorkommen, wenn ein Hund, der sehr unterwürfig ist, von einer »neuen« Person Essen angeboten bekommt. Der unbekannte oder nicht gänzlich vertraute Mensch wird vom Hund oft als ranghöher einstuft und so kann es passieren, dass er das Essen nicht antastet, weil er zunächst die »Lage checken« will.

Natürlich ist es wichtig, dass wir ein inniges und von Vertrauen geprägtes Verhältnis zu unserem Hund haben. Aber so wichtig, dass unser Hund nicht mal ein paar Tage oder Wochen ohne uns auskommen kann, sind wir nicht – auch wenn uns dieser Glaube ein wohliges Gefühl gibt. Dieses Gefühl ist aber zugleich eitel und egoistisch, weil dahinter der Gedanke steht: »Ich bin für meinen Hund unersetzlich.«

Genießen Sie Ihren Urlaub und genießen Sie es, wenn Ihr Hund beim Wiedersehen vor Freude ausflippt. Solange Sie dafür sorgen, dass der Hund in guten Händen ist und genügend Auslauf und Futter hat, kommt er schon klar. Vielleicht werden Sie manchmal von Ihrem Partner, Ihren Kindern, Ihren Eltern oder Ihren Freunden vermisst – Ihr Hund vermisst Sie keine Sekunde.

Wer davon ausgeht, dass sein Hund ihn zumindest genauso »über alles liebt« wie umgekehrt, wird ebenfalls enttäuscht: Hunde sind Tiere, die Form von Liebe, wie der Mensch sie kennt und idealisiert, ist ihnen fremd. Basca freut sich so sehr über das Wiedersehen mit Herrchen, weil sie ihn sofort wiedererkennt und er ihr sehr vertraut ist. Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub: Hunde können sehr wohl eine enge Beziehung und Bindung zu einem Zweibeiner aufbauen. Und wer dies einmal erreicht hat, braucht keine Angst haben, dass ein mehrwöchiger Urlaub daran etwas ändert. Hunde funktionieren über Instinkt und Verknüpfung, nicht über Gefühle. Sie können in diesem Sinne weder lieben noch hassen. Zum Glück: Ein Hund, der schlecht erzogen ist und dazu neigt, sich an Schuhen zu vergreifen, zerbeißt nicht die teuren Lederschuhe statt der billigen Flip-Flops, weil er sein Frauchen hasst. Und genauso wenig zerstört er »nur« die billigen Flip-Flops, weil er sein Frauchen liebt. Ein schlechtes Gewissen hat er dabei wie gesagt auch nicht.

Falscher »Zickenalarm«

Sie haben das sicher auch schon mal erlebt: Zwei Hunde plus Halter treffen sich im Park. »Vorsicht, das ist eine Zicke«, sagt der eine Halter zum anderen, als die beiden Hunde die Geruchskontrolle vornehmen. Er scheint recht zu behalten: Die »Zicke« zeigt Zähne und knurrt. Als ihr Gegenüber keine Anstalten macht, sich zu entfernen, und stattdessen weiterschnuppern will, schnappt sie kurz nach ihm. Beide Halter ziehen ihre Hunde auseinander. Ende der Begegnung. Der Halter der »Zicke« verabschiedet sich mit den Worten: »Ich weiß auch nicht, warum sie das immer macht.«

Eine typische Situation, bei der die angebliche »Zicke« (natürlich) eine Hündin ist, der andere Hund aber genauso gut ein Rüde oder ebenfalls eine Hündin sein könnte. »Zicken« sind eben immer »zickig«, unabhängig davon, auf welches Geschlecht sie treffen – so das Klischee der »Zicke«, der die üblichen Attribute zugeschrieben werden: launisch, überspannt, eigensinnig, selbstverliebt, arrogant, unberechenbar, link. Wie die Metapher der menschlichen »Zicke« entstanden ist und was dahintersteht, können Soziologen und Sprachwissenschaftler erklären. An dieser Stelle interessiert nur eines: Die Bezeichnung ist fester Bestandteil der Umgangssprache geworden – und wird gerne auf Hündinnen übertragen.

Hund.epsIrrtum Nr. 21:

»Meine Hündin ist eine Zicke.«

Falsch! Die Eigenschaften, die wir Menschen einer »Zicke« zuschreiben (launisch, selbstverliebt, arrogant etc.), lassen sich unmöglich auf die Hundewelt übertragen. »Zickiges« Verhalten bei Hündinnen ist vielmehr als Dominanz- oder Abwehrreaktion auf einen anderen Hund zu erklären, der bei Geruchskontrolle und Co. zu forsch und zu schnell Kontakt aufnimmt.

Dabei können Hündinnen genauso wenig »zickig« sein wie trotzig oder eifersüchtig. Was bei Begegnungen mit vierbeinigen »Zicken« tatsächlich passiert, ist Folgendes: Wenn sich ein Hund einer dominanten Hündin nach dem Motto »Hallo, hier bin ich! Wer bist du denn?« forsch nähert und sie beschnüffeln will, kann es sein, dass ihr das zu weit geht. Also zeigt sie Zähne, um zu signalisieren: »Lass das, ich will das nicht, du kommst mir zu schnell zu nahe!« Und wenn der oder die andere daraufhin nicht ablässt, schnappt die dominante Hündin eben kurz zu, um sich (artgerecht) Respekt zu verschaffen. Die gleiche Reaktion könnte auch eine Hündin zeigen, die eher unterwürfig ist. In diesem Fall wäre das Zähnezeigen und Schnappen allerdings keine Dominanzgeste, sondern eine Abwehrhaltung, weil die Hündin vielleicht selten andere Hunde trifft und deshalb etwas mehr Zeit braucht, um Kontakt aufzunehmen.

Warum stecken Hundehalter ihre eigene Hündin eigentlich in die »Zicken«-Schublade? Viele tun das vermutlich, weil sie sich dadurch für ein Verhalten, das sie nicht verstehen, eine plausible Erklärung gebastelt haben. Manchen gefällt vielleicht auch die Vorstellung, eine hündische »Zicke« zu haben. Nicht umsonst gehört die Aufschrift »Zicke« zu den beliebtesten Klett-Stickern bei Hundegeschirren.

Hündinnen können nicht »zickig« im Sinne von launisch, überspannt oder eigensinnig sein. In der relativ berechenbaren Hundewelt existieren diese unberechenbaren Eigenschaften schlicht und einfach nicht. Eine Hündin, der man ein unberechenbares Verhalten nachweisen könnte, müsste verhaltensgestört oder krank sein. Der von uns Menschen interpretierte »Zickenalarm« beim ersten Kennenlernen kann durchaus in eine spielerische und harmonische Begegnung übergehen.

Natürlich gibt es auch unter Hunden und Hündinnen Exemplare, die sich gut riechen können, wie auch das genaue Gegenteil. Manchmal dauert es eben nur ein paar Sekunden, bis klar ist, ob gegenseitiges Interesse besteht oder nicht.

Die »100 Prozent Verlass«-Floskel

Kennen Sie einen Menschen, auf den Sie sich zu 100 Prozent verlassen würden? Nicht 95 oder 99 Prozent, sondern 100 Prozent – Fehlerquote: null! Ich kenne niemanden, der infrage käme. Obwohl ich Familienangehörige, eine Partnerin und gute Freunde habe, denen ich sehr vertraue. Aber zu 100 Prozent?! Wie soll das funktionieren? Ich würde selbst von mir nie behaupten, dass man sich zu 100 Prozent auf mich verlassen kann. Schließlich ist keiner perfekt: Wer ist noch nie zu einem Termin zu spät gekommen oder hat noch nie etwas vergessen? Das ist doch menschlich. Mir ist schon klar, dass »100 Prozent verlässlich« eher eine Redensart im Sinne von »sehr zuverlässig« ist, die man weder allzu wörtlich noch allzu ernst nehmen sollte. Allerdings – und deswegen bringe ich das Thema zur Sprache – übertragen Menschen die »100 Prozent Verlass«-Floskel sehr gern auf Hunde. Wenn ich Sätze wie »Für diesen Hund lege ich meine Hand ins Feuer!« oder »Mein Hund würde niemals ein Kind beißen!« höre und der Sprecher dann noch ein beschwörendes »Auf den ist zu 100 Prozent Verlass!« hinterherschießt, kann es unter Umständen gefährlich werden. Denn wenn es um Verlass bei Hunden geht, ist natürlich nicht von Pünktlichkeit oder von Vereinbarungen die Rede. Vielmehr geht es um hündisches Verhalten, um Hundeerziehung bzw. darum, wie Hunde im Kontakt mit Menschen reagieren.

Wie schon beim Thema »Umgang zwischen Hunden und Kindern« angesprochen (siehe ab S. 58), möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor Leichtfertigkeit warnen. Was macht ein Hund, auf den »zu 100 Prozent Verlass« ist, wenn ihm ein Kind beim Spielen einen Finger in den After bohrt oder ihn an den Lefzen zieht? Im schlimmsten Fall wird er kurz zuschnappen oder zubeißen, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, wie das unter Hunden üblich ist. Für einen anderen Hund wäre diese Reaktion in der Regel kein Problem, für ein Kind sind die Folgen alles andere als ein Spiel.

Wenn ich als Trainer bzw. Halter erreiche, dass ein Hund acht von zehn Hörzeichen befolgt, so kann man bereits von einem gut erzogenen Hund sprechen. Wie viele der rund 5,3 Millionen Hunde in Deutschland (plus Dunkelziffer der nicht angemeldeten) kommen bei den Hörzeichen auf eine 100-prozentige Quote? Die wenigsten. Klar, ich kann meinem Hund »100 Prozent« Aufmerksamkeit schenken. Das sind dann die 100 Prozent Aufmerksamkeit, zu denen ich als Mensch mit all meinen Stärken und Schwächen in der Lage bin. Ich werde jedoch nie erfahren, wie viel Prozent an Aufmerksamkeit mir mein Hund zurückgibt. Eines ist sicher: 100 Prozent werden es nicht sein. Realistischer wäre es zu sagen: »Bisher konnte ich mich auf meinen Hund immer verlassen.«

4 Alexandra Horowitz in der Fachzeitschrift Behavioural Processes, Band 81, Ausgabe 3, Seite 447–453, 2009: Disambiguating the »guilty look«.