Kapitel 1

Die Leckerchen-Lüge oder das Oma-Margarete-Prinzip

Wer mit Bestechung oder Täuschung arbeitet, erreicht seine Ziele oft weitaus schneller als auf normalem Wege. Dafür leben Bestecher und Täuscher mit der permanenten Gefahr negativer Spätfolgen. In der Politik haben wir in den vergangenen Jahren diverse solcher Fälle erlebt. Hätten die Betroffenen den längeren oder steinigeren Weg gewählt, könnten sie ihr Leben guten Gewissens genießen – und die Erfolge wären nicht nur ehrlicher, sondern auch nachhaltiger. Was das mit der Hundeerziehung zu tun hat? Auch die große Mehrheit der Hundetrainer in Deutschland arbeitet – kaum hinterfragt – mit Bestechung und nimmt damit – bewusst oder unbewusst – negative Spätfolgen in Kauf. Konkret: In fast jeder Hunde-Sendung im Fernsehen und in fast jeder Hundeschule werden Vierbeiner von Zweibeinern mithilfe von Leckerchen bestochen – damit sie das tun, was wir wollen, und das lassen, was wir nicht wollen. Die im Basistraining durch Leckerchen erzielten Erfolge sind jedoch oberflächlich und mitunter sogar gefährlich.

Warum das so ist? Schauen wir uns die Szenerie mal aus Sicht der Hunde an, die auf Leckerchen konditioniert werden: Sie alle reagieren zunächst äußerst zuverlässig auf den magischen Griff in die Jackentasche oder das verheißungsvolle Knistern des Frischhaltebeutels. An dieser Stelle sprechen wir mal nicht über die Menge an Kalorien, denn Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.

»Ähm, Liebe? Was ist das denn?«, würde ein jeder Hund fragen, wenn er denn könnte. Im Hunderudel gibt es keine Liebe – und das merkt man auch, wenn ein Mensch bzw. mehrere Menschen und ein Hund ein Rudel bilden: Der Hund schließt sich dem Zweibeiner an, der ihm als Ranghöchster imponiert. Auf der anderen Seite wird er jedem »rangniedrigeren« Zweibeiner sofort die Beute streitig machen und sich danach wichtigeren Dingen zuwenden. Das ist seine Natur. Er testet in jedem Moment seine Rudel-Position und nutzt sie für sich.

Moment mal: »Rangniedriger« Zweibeiner?

»Ja klar!«, würde der Hund sagen, »schließlich muss ich mich nur vor meinen Zweibeiner setzen, ihn anspringen, abschlabbern oder anbellen, und schon gibt er seine Beute ab. Gelobt wird man dafür auch. Wirklich angenehm. Und so einfach! Manchmal ruft mich mein Zweibeiner auch zu sich und reißt sich regelrecht darum, seine Beute loszuwerden. Ja gut, wenn andere Hunde in der Nähe sind, muss man sich mit denen deshalb gelegentlich prügeln, aber das ist die Mühe wert. Seit Neuestem fliegt die Beute auch in schnauzengerechten Beuteln durch die Luft. Die Zweibeiner streiten sich dann mit meinen Kollegen und mir darum, wem welcher Beutel gehört. Mit seinem ganzen Verhalten zeigt mir der Zweibeiner, dass er rangniedriger ist als ich. Wieso sollte ich ihm vertrauen und mich ihm anschließen?«

Hund.epsIrrtum Nr. 3:

»Mit Leckerchen kann ich meinen Hund perfekt erziehen.«

Falsch! Wer mit Leckerchen arbeitet, nutzt den Beutetrieb des Hundes aus und macht sich aus Hundesicht zum Rangniedrigeren. Im Hunderudel gibt nur der Rangniedrigere sein Futter ab – und für den Hund sind Sie bzw. Ihre Familie sein Rudel. Die auf Leckerchenbestechung basierenden Erfolge sind oberflächlich und bringen den Hund auf eine angeblich »sanfte«, »artgerechte« und »gewaltfreie« Art und Weise in eine Abhängigkeit. Der Halter traut dem Hund nur, wenn er ihn mit Leckerchen an sich binden kann. Und der Hund folgt dem Halter in erster Line, weil der dauernd Beute abgibt. Das verhindert eine vertrauensvolle Bindung zwischen Hund und Halter. Die erreicht man nur, wenn man selbst die Rudelführerposition besetzt. Eine sinnvolle Belohnung für den Hund sind dagegen Lob und Streicheleinheiten – natürlich wohldosiert und im richtigen Moment.

Für viele Hundebesitzer ist die Erkenntnis schmerzhaft, dass ihr Hund weniger ihnen, sondern vielmehr seinem Beutetrieb folgt. Fühlt ein auf Leckerchen konditionierter Hund Schmerzen oder Angst (etwa nach einem Autounfall oder dem Tritt eines Joggers), ist er an keinem Fleischwürfel oder Futterbeutel der Welt interessiert. In solch einer Situation wird er Herrchen oder Frauchen nur dann aufsuchen, wenn beide eine innige Beziehung haben. An diesem Punkt schließt sich der Kreis zum Bestechungsbeispiel vom Anfang des Kapitels: Wäre der Hund nicht von klein auf mit Leckerchen gefügig gemacht worden, wäre die Erziehung vielleicht ein wenig mühsamer ausgefallen, dafür hätte sich eine nachhaltige und tief verbundene Hund-Halter-Beziehung entwickeln können.

Stattdessen greift die Leckerchen-Fraktion schon bei der Welpenerziehung tief in die Tüte oder den Kühlschrank und ist durch die dick aufgepumpten Jacken- bzw. Hosentaschen jederzeit zu identifizieren. Gerne tragen sie alternativ den hochgepriesen Futterbeutel mit sich herum. Unvorhersehbare Ereignisse können bei einem solchen Training natürlich zu bangen Minuten führen, zum Beispiel wenn einem die Munition ausgeht und sich das Waffenarsenal (der Kofferraum) in zwei bis drei Kilometern Entfernung befindet.

Manchmal führt die Bestechung mit Leckerchen auch zu gefährlichen Situationen. Ich spreche hier gerne von der Fremdfütterer-Plage: Ein Halter taucht mit seinem Liebling auf einer beliebten Hundewiese auf – bewaffnet mit einer Tüte fettiger Fleischwürfel, damit sich sein Hund auch ja für ihn interessiert. Das bleibt den Nasen der anderen Hunde natürlich nicht verborgen. Die finden die Fleischwürfel genauso bombastisch und dürfen automatisch an dem fettigen Segen teilhaben. Ob der jeweilige Besitzer das ebenso großartig findet wie sein Bello? Das kommt dem Fremdfütterer gar nicht erst in den Sinn. »Der darf doch was haben, oder?!«, wird nur der Form halber gefragt, während der Snack schon im Rachen des betroffenen Hundes verschwunden ist. Dann die Scheinentschuldigung: »Er hat doch so süß geguckt!« Dabei steckt man wildfremden Kindern doch auch nicht einfach so ein Stück Schokolade in den Mund.

Ignorieren die Fremdfütterer noch dazu die anderen Hunde, schaffen die tierischen Instinkte ein weiteres Problem, da die Hunde, die leer ausgingen, nun knurrend und zähnefletschend versuchen, das nächste Leckerchen zu ergattern. Doch auch dafür hat der Fremdfütterer eine Erklärung: »Alle Hunde lieben mich, und jetzt sind sie eifersüchtig!« Weit gefehlt – denn hier geht es keineswegs um menschliche Phänomene wie Liebe und Eifersucht: Der Leckerchensegen stachelt den Beutetrieb und das Konkurrenzverhalten der Hunde an, sodass es in der Folge zu schweren Beißereien kommen kann. Und zwei streitende Konkurrenten wird man kaum auseinanderbringen, indem man ihnen noch mehr Leckerchen hinwirft.

Wir Menschen neigen dazu, die Hunde, die wir lieben, genau so zu behandeln wie die Menschen, die wir lieben. Doch eben diese Vermenschlichung von Hunden, die oft schon ab dem Welpenalter beginnt, legt den Grundstein für viele Problemhundkarrieren. Obwohl ich jedem Hundehalter eindringlich davon abraten möchte, seinen Schützling wie einen Menschen zu behandeln, spiele ich den Ball gerne zurück und lasse Hunde »sprechen« oder übertrage typisches Fehlverhalten in der Mensch-Hund-Erziehung in überspitzter Form auf eine Mensch-Mensch-Beziehung. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass meine Kunden die Wurzeln ihrer Probleme dann viel besser nachvollziehen und mit einem Schmunzeln besser abspeichern können. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: ein grün und blau geschlagenes Kind (Laura-Marie), 14 weitere Kinder im Kampf um Süßigkeiten und Spielzeug im Klassenzimmer, sechs Kinder auf dem Schulflur, ein verzweifelter Lehrer, der die Klasse nicht mehr im Griff hat. Zeitgleich führen die Eltern von Laura-Marie zu Hause folgende Unterhaltung: »Du, Schatz, ich glaube, es war eine gute Idee, unserem Kind das ganze Spielzeug und die vielen Süßigkeiten mit in die Schule zu geben«, sagt die Mutter. Schatz antwortet: »Stimmt! Gut, dass du Laura-Marie auch noch gesagt hast, dass sie immer schön laut mit der Tüte rascheln soll, damit ihre Klassekameraden auch wissen, was sie da Schönes mitgebracht hat!«

Heutzutage wird die Mehrzahl der Hunde in Deutschland schon im Welpenalter mit der Bestechung durch Leckerchen konfrontiert – und das teilweise mit kuriosen Auswüchsen. So erzählte mir kürzlich eine Welpenbesitzerin, dass sie in einer Hundeschule, die »hundepsychologisch« lehrt, dazu angehalten wurde, neben ihrem elf Wochen alten Welpen minutenlang in gebeugter Haltung herzulaufen und ihm dabei ein Stück Fleischwurst vor die Nase zu halten. Ziel: den Hund daran zu gewöhnen, »bei Fuß« zu laufen. Offen bleibt die Frage, ob die Hundebesitzer nach zehn Trainingseinheiten einen Gutschein für den Besuch in einer Physiotherapie-Praxis erhalten …

Wie würde eigentlich ein Hund mit einem Hund umgehen? Keine Hundemutter würde ihren Welpen mit Leckerchen erziehen! Im Hunderudel sanktioniert der Ranghöhere den Rangniedrigeren körperlich, etwa durch einen kurzen (unblutigen!) Biss oder durch Drohgebärden (Knurren, Zähnezeigen). Den eigenen Hund in einen Leckerchen-Junkie zu verwandeln, ist also alles andere als artgerecht.

Mein Ansatz: Anstatt sich zum (rangniedrigeren) Leckerchen-Automaten zu degradieren, sollten Herrchen und Frauchen möglichst die Erziehung der Welpenmutter bzw. des Rudelführers kopieren. Dazu braucht es keine körperliche Gewalt (Schlagen Sie niemals Ihren Hund!), es reicht zum Beispiel ein kurzes Leinensignal aus dem Handgelenk, das den Biss des Erziehungsberechtigten simuliert (siehe Kapitel 3). Natürlich ist es angenehmer, dem Hund ein Leckerchen zu geben, als ihn mithilfe der Leine zurechtzuweisen. Deshalb vertrauen Blümchentrainer und Blümchenhundehalter oft auf die Bestechung mit Leckerchen. Der Grund dafür liegt im Sozialverhalten der Menschen: Wir wollen andere durch Liebe und Freundlichkeit überzeugen und an uns binden – und nur wenn es nicht anders geht durch Zurechtweisung. Aber: Der Hund ist kein Mensch und versteht das natürliche Sozialverhalten seiner Art deutlich besser. Keine Angst! Sie können das hündische Sozialverhalten auch dann simulieren, wenn Sie – wie die meisten Menschen – kein »Alphatier« sind und sich Ihren Mitmenschen gegenüber lieber nett und freundlich verhalten. Bei der in diesem Buch vorgestellten Trainingsphilosophie geht es weder darum, den Hund ständig zu unterwerfen, noch um auoritäre Machtausübung. Es geht lediglich darum, ihn freundschaftlich und gleichzeitig konsequent zu führen. Setzen Sie sich also nicht mit überhöhten Ansprüchen à la »Ich muss der Rudelführer sein« unter Druck. Es reicht, wenn Sie dem Hund gegenüber signalisieren, dass Sie der Ranghöhere sind. Erziehungsberechtigter, Vorgesetzter, Chef, Familienoberhaupt – es ist letztendlich egal, wie man es nennt, das Ziel bleibt das gleiche: derjenige zu sein, an dem sich der Hund orientieren kann und der ihm zeigt, wo es langgeht. Hunde brauchen das. Herrchen und Frauchen, die dem Hund alles durchgehen lassen bzw. in der Erziehung Slalom fahren (mal führen, mal den Hund führen lassen, mal etwas erlauben, mal nicht), verwirren und verunsichern ihren Schützling.

In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie durch eine gefestigte Stellung als Ranghöherer eine enge Bindung zu Ihrem Hund aufbauen und ihn auf sich fixieren. Ganz ohne Leckerchen. Die Tatsache, dass auch bei der Ausbildung von Blindenhunden in aller Regel komplett auf Leckerchen verzichtet wird, bestätigt diesen kalorienarmen Grundansatz. Schließlich ist bei Blindenhunden maximale Zuverlässigkeit das A und O. Oder haben Sie schon mal einen Blindenhund gesehen, der seinen Zweibeiner einfach so stehen lässt, um einen Artgenossen zu beschnüffeln oder sich einen weggeworfenen Burger zu schnappen?

Als ich drei oder vier Jahre alt war, kümmerte sich oft meine Oma Margarete um mich. Sie erklärte mir die Welt ruhig und geduldig. Manchmal trafen wir bei unseren Spaziergängen auf diese pelzigen Wesen, die hechelten und den Schwanz oft wie einen Propeller hin- und herbewegten. Das seien Hunde, erklärte mir Oma Margarete, ich müsse keine Angst vor Hunden haben, aber ich dürfe auf keinen Fall einen anfassen, wenn kein Erwachsener dabei sei. Auf diese Weise versuchte Oma Margarete, mir Respekt vor Hunden zu vermitteln, ohne mir Angst zu machen.

Genauso gut hätte sie mich auf diesen Spaziergängen auch mit einer Tüte Gummibärchen oder Bonbons ablenken können, immer in der Hoffnung, dass sie bereits durch das Rascheln der Tüte meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie hätte der Sorge, ich könnte beim Anblick eines »Wauwau« erschrecken oder – noch schlimmer – mich ihm aus Neugier nähern, immer wieder mit einem Bonbon vorbeugen können.

Zum Glück brauchte meine Oma Margarete keine Gummibärchen und Bonbons. Sie wollte mich nicht reflexartig ablenken. Sie wollte, dass ich durch Worte und Gesten verstehe und lerne. Wenn ich »Danke« zu ihr sagte, weil sie mir drei Groschen schenkte, wurde ich mit warmer Stimme gelobt. Und ich spürte ihre Hand, die meinen Kopf streichelte. Positive Verknüpfung – auch ohne Süßigkeiten.

Bei Unwetter stand Oma Margarete am geschlossenen Fenster und schaute hinaus. Ich hatte Angst, wenn es blitzte und donnerte. Doch meine Neugier und die Beobachtung, dass meiner Oma so nah am Fenster nichts Schlimmes passierte, zog mich mehr und mehr in ihre Nähe. Bei ihr angekommen, erklärte sie mir Blitz und Donner: Weil ich so schön »Danke« sagen könne, wolle mich der liebe Gott fotografieren, und dazu brauche er eben genügend Licht. Oder: Weil die Wolken sich schon mal uneinig seien, welche als Erste regnen dürfe, höre man sie am Himmel streiten.

Das klang logisch, also zuckte ich jedes Mal weniger zusammen, wenn es blitzte und donnerte, und mit der Zeit verflog meine Angst komplett. Oma Margaretes Gewitter-Erklärungen wirken sich bis heute aus: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, unter freiem Himmel einen Blitz zu fotografieren. Ein Privileg. Andere sitzen während eines Unwetters in einer schallisolierten Kammer, müssen Gummibärchen oder Bonbons futtern und können diese Situation auch nicht diskutieren, weil das Rascheln von Omas Süßigkeitentüte alles übertönt.

Sie verstehen sicherlich, worauf ich mit meinem Oma-Margarete-Prinzip hinauswill: Die Gummibärchen und Bonbons, die meine Oma nicht benutzte, sind die Leckerchen, die heute schon in der Welpenerziehung fast standardmäßig als Ablenkungsmanöver zum Einsatz kommen. Menschen mit einem riesigen »Futterbeutel« voller Ablenkungsmanöver sind hilflos und einfallsarm.

Deshalb brauchen wir mehr Menschen, die engagiert und einfallsreich wie Oma Margarete sind, und weniger Leckerchen.