Kapitel 5

Überschätzte Hilfsmittel bei der Hundeerziehung

Ein Hund macht sich nichts aus innovativen Trends, er braucht kein modernes Leben. Und er schert sich einen Dreck darum, ob seine Erziehung dem Zeitgeist entspricht. Das braucht er ja auch nicht. Es läuft doch alles gut – genetisch »programmiert« –, und das schon seit Tausenden von Jahren. Doch was machen wir Menschen? Wir versuchen, den Hund unseren Bedürfnissen anzupassen. Soll heißen: Wir möchten ihn gerne gut erziehen – aber bitte schön so, dass die Erziehung unseren Maßstäben entsprechend »artgerecht« und »liebevoll« ist.

Ein Blick auf den »Erziehungsalltag« in einem Hunderudel würde zeigen, dass ein Mensch mit einem Hund in der Regel nicht so »grob« umgeht wie Hund mit Hund. So liebevoll, rücksichtsvoll und höflich wie wir Menschen untereinander, verhalten sich Hunde unter sich nicht. Dafür sind sie aber auch niemals link, trotzig oder oberflächlich, wie Menschen es manchmal sind – dazu sind sie auch gar nicht in der Lage (siehe Kapitel 6, (Un-)Hündische Vermenschlichung). Hunde reagieren instinktiv und kennen – anders als wir Menschen – kein Abwägen zwischen Verstand und Emotion.

Natürlich hält das moderne Leben Innovationen bereit, die auch für den Hund gut sind. So kommt zum Beispiel die moderne Medizin sowohl Zweibeinern als auch Vierbeinern zugute. In den vergangenen Jahren gab es aber auch einige als modern und innovativ gehypte Erziehungshilfsmittel wie Halti, Futterbeutel, Geschirr und Klicker, die aus meiner Sicht nur den entsprechenden Herstellern geholfen haben. Denn sie verändern die Welt der Hunde und Hundehalter nicht unbedingt zum Guten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Industrie für Hundezubehör den Bedürfnissen der Hunde nicht immer Rechnung trägt.

Könnten Hunde sprechen, würden sie ihren Haltern vermutlich sagen: »Was soll das ganze neumodische Zeug?! Andauernd müssen wir als Versuchskaninchen herhalten. Lass das! Komm zurück zur Basis, nutz deine Führungsqualität, deine Stimme, deine Hände. Setz mir Grenzen, wenn ich über die Stränge schlage, und lob mich, wenn ich etwas richtig mache. Dann fühle ich mich wohl – und folge dir. Auch ohne Hilfsmittel.«

Klicker

Das populärste unter den modernen Erziehungs-Hilfsmitteln ist der Klicker, den ich kurz nach der Jahrtausendwende zum ersten Mal auf einer Hundemesse in Nürnberg entdeckte. Ein großer Hersteller verteilte statt Kugelschreibern Tausende von Klickern an die Messebesucher.

Der Klicker funktioniert im Grund genommen ähnlich wie der früher bei Kindern so beliebte Knackfrosch.

Bild20.tif

Zwei verschiedene Klickertypen

Er gibt auf Druck ein immer gleich klingendes akustisches Signal von sich. Der Hund soll auf diese Weise lernen: Wenn der Klick erfolgt, habe ich gerade etwas richtig gemacht (ein Kommando befolgt, ein Kunststück gemacht etc.). Dabei muss das Klickersignal unmittelbar danach erfolgen, damit der Hund das Geräusch mit seinem Verhalten verknüpfen kann. Manchmal (oder auch immer) gibt’s noch ein Leckerchen dazu. Hört sich theoretisch – von den Leckerchen einmal abgesehen – gar nicht schlecht an. Unterziehen wir das Klickertraining einmal einem Praxistest: Nehmen wir an, ich bringe von der Messe in Nürnberg mehrere dieser Werbegeschenk-Klicker mit und verteile sie in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ein paar Tage später stehe ich mit einem Bekannten auf der Rheinwiese. Wir beide haben unsere Hunde zu Hause auf den Klicker konditioniert. Bisher funktioniert das ziemlich gut. Dann passiert Folgendes: Ich klickere meinen Hund genau in dem Moment für sein vorbildliches Verhalten, als der Hund meines Bekannten hinter meinem Rücken Schafkot frisst. Da die Klicker exakt gleich klingen, fühlt sich auch der andere Hund in seinem »Scheiß-Verhalten« bestätigt. Dumm gelaufen. Zwischenfazit: Die Klicker können durchaus Nachteile haben. Man darf niemanden in der Nähe haben, der auch mit einem solchen Klicker trainiert, sonst ist Fehl- bzw. Chaos-Klickern vorprogrammiert. Stellen Sie sich nur eine Hundewiese vor, auf der alle mit dem gleichen Klicker arbeiten: Das wäre etwa so, als würde bei einem Fußballspiel die Ansage kommen, dass Uwe ausgewechselt werden soll – und alle Spieler verlassen das Feld.

Moment Mal, werden die Klicker-Befürworter jetzt sagen, mittlerweile gibt’s doch längst ganz viele verschiedene Klicker-Varianten mit unterschiedlichen Tönen. Stimmt, aber es gibt noch viel mehr Klingeltöne fürs Handy, und trotzdem passiert es nicht nur mir regelmäßig, dass ich mein Handy aus der Tasche ziehe, weil jemand neben mir den exakt gleichen Klingelton eingestellt hat. Verstehen Sie jetzt, warum ich kein Freund von Klicker-Training bin? Ich will dieses Hilfsmittel nicht verteufeln, vermutlich ist es für manche Menschen einfach leichter und bequemer zu klickern, als mit Worten zu loben oder mit der Hand zu streicheln. Außerdem klingt das Klicker-Signal immer gleich, während ein verbales Lob das nie hundertprozentig tut. Nicht umsonst war das Klickertraining schon längst in der Agility- und Hundewettbewerbszene verbreitet, wo perfektes Timing wichtig ist, bevor es den Sprung zu Otto Normalhundehalter schaffte.

Ich jedenfalls möchte nicht, dass mir jemand »dazwischenklickert«, wenn ich mit meinem Hund kommuniziere. Außerdem würde ich meine Tochter ja auch nicht mit Klickern und Bonbon belohnen, wenn sie eine Eins geschrieben hat, sondern sie loben und umarmen. Und genauso lobe ich meinen Hund lieber mit warmer Stimme und einer Streicheleinheit, als über ein lebloses, knarzendes Plastikteil zu kommunizieren. Das ist aus meiner Sicht effektiver und natürlicher – und bewahrt mich vor bösen Überraschungen, wie zum Beispiel vor Nachbarskindern, die den Klicker mal ausprobieren wollen, wild darauf rumdrücken und meinen Hund »jeck« machen.

Nach dem Schafkot-Erlebnis habe ich bisher nur ein weiteres Mal mit Klicker gearbeitet, und zwar während eines Urlaubs an der niederländischen Nordseeküste. Dort fanden meine Freunde und ich eine ölverschmierte Trottellumme (wir nannten sie Konrad, nicht Uwe), die nicht mehr schwimmen konnte. Ich rettete sie aus der Brandung und päppelte sie in Düsseldorf in der Badewanne meiner Wohnung auf, bevor sie an eine Vogelauffangstation auf Texel übergeben wurde. Einmal Klickern hieß für Konrad: Jetzt gibt’s eine Fischmahlzeit. Mit einer ebenso konditionierten Konkurrenz war im Fall von Konrad natürlich nicht zu rechnen.

Bild21.tif

Die gerettete Trottellumme Konrad bei mir zu Hause

Halti

Mit dem Halti-Hundehalfter (auch Gentle Leader genannt) verhält es sich wie mit Tempo-Taschentüchern: Die populärste Marke hat sich als gängige Bezeichnung eingebürgert. Beim Halti handelt es sich um eine Anti-Zieh-Konstruktion aus Riemen und Schlaufen, die dem Halter ermöglicht, den Kopf des Hundes über die Leine zu lenken. Ein Riemen verläuft um den Nacken des Hundes, der andere um die Schnauze – ähnlich dem Halfter beim Pferd.

Bild22.tif

Die Leine verfügt üblicherweise über zwei Haken, die zum einen ganz normal am Halsband und zum anderen an der Unterseite des Halti befestigt werden. Zieht man am Halti, bewegt der Hund seinen Kopf automatisch Richtung Herrchen. Gleichzeitig zieht sich die untere Schlaufe so zusammen, dass der Hund zwar noch atmen, trinken, schnüffeln, hecheln oder bellen, aber seine Schnauze dabei nicht mehr ungehindert öffnen kann. Das klingt ein bisschen wie eine Art Ersatz-Maulkorb. In der Tat begann der Siegeszug des Halti nach dem bereits erwähnten Beißvorfall im Jahr 2000 in Hamburg. Damals waren die Besitzer vieler als gefährlich eingestufter Rassen wenig begeistert von der neuen Maulkorbpflicht und legten stattdessen den ähnlich aussehenden Halti an – in Nordrhein-Westfalen später sogar offiziell genehmigt durch das Landeshundegesetz. Anders als beim Maulkorb kann ein Hund trotz Halti immer noch zubeißen – und zwar dann, wenn die Leine locker und ganz ohne Zug gehalten wird. Daher ist der Halti zum Beispiel bei der Deutschen Bahn und anderen Verkehrsbetrieben, die bestimmte Hunderassen nur mit Maulkorb befördern, nicht als Ersatz-Maulkorb zugelassen.

Wie der Name schon sagt, kommt der Halti nur dann zum Einsatz, wenn ein Hundebesitzer Schwierigkeiten hat, den Hund an der Leine zu führen bzw. zu halten. Etwa, weil dieser permanent zieht oder andere Hunde anpöbelt. Warum ich den Halti kritisch sehe, verdeutlicht folgendes Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Problemhund, der keinem Konflikt aus dem Weg geht und erzogen werden soll. Sie legen ihm also Leine und Halti an und spazieren los. Auf halbem Weg kommt Ihnen ein anderer Hund (ebenfalls an Herrchens Leine) entgegen. Ihr Hund gibt sich durch seine Körpersprache (Blick, Ohrenstellung etc.) sofort als Alpharüde zu erkennen. Nun kommt der Halti ins Spiel: Im Moment des Vorbeilaufens dirigieren Sie mit dem Halti den Kopf Ihres Hundes zur Seite, sodass sein Blick den Blick des anderen Hundes nicht mehr treffen kann. Sie nehmen Einfluss auf seine Körpersprache. Das können Sie ganz deutlich bei dem Hund auf dem Foto links erkennen. Sehen Sie den Unterschied zu seiner Körpersprache ohne Halti auf Seite 52? Das irritert den anderen Hund: Erst Rumpöbeln – und dann plötzlich Meideverhalten?! Für Sie bringt in diesem Fall der Einsatz des Halti weniger Stress, denn Ihr Hund ist gezwungen, dem Konflikt auszuweichen. Allerdings bleibt der Lerneffekt aus, denn der Halti lenkt um, er erzieht aber nicht. Ihn im Alltag einzusetzen ist ungefähr so, als würde ein Kind regelmäßig bei Klassenarbeiten abschreiben und gute Noten nach Hause bringen. Dabei hat es aber eigentlich nichts gelernt. Doch was passiert, wenn das Kind einen neuen Sitznachbarn bekommt, bei dem es sich nicht lohnt abzuschreiben?

Ohne Halti wird Ihr Hund weiterhin das gewohnte Pöbelverhalten zeigen. Wie bei der Erziehung mit Leckerchen hängt die Bindung zwischen Hund und Halter nicht an Ihrer Persönlichkeit, sondern an einem Hilfsmittel. Man könnte auch sagen: Ihr Hund wird zur Halti-Marionette. Was aber, wenn Sie den Halti einmal vergessen haben? Sind Sie dann überhaupt noch darauf vorbereitet, wie Ihr Hund reagiert? Schließlich haben Sie ihn sonst immer durch Umlenken aus schwierigen Situationen geleitet. Und was geschieht, wenn eine andere Person den Hund führt und nicht mit dem Halti vertraut ist?

Wenn ein Arzt es schafft, seinen Patienten mit guten Argumenten zu überzeugen, dass er vom Kettenraucher zum Nichtraucher wird, hat er ganze Arbeit geleistet. Würde er seinen Patienten von den Zigaretten fernhalten, indem er ihm permanent Scheuklappen anlegt oder ihn »an die Kette« nimmt, hätte er den bequemen Weg gewählt, statt ihm ausführlich und gründlich zu erklären, warum es gut für ihn ist, mit dem Rauchen aufzuhören. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Halti. Er bringt oberflächliche Erfolge, aber keine substanziellen. Zudem sitzt der vordere Halti-Riemen genau an der Stelle, wo in der Hundewelt die Hundemutter mit ihrer Schnauze über die Schnauze des Welpen greift, um ihn zu erziehen (Schnauzgriff). Die Hundemutter tut das in der Regel eher sanft und nur kurz, der Dauerdruck durch den Halti-Riemen erzwingt jedoch einen dauerhaften, nicht artgerechten Schnauzgriff und kann daher durchaus kritisch betrachtet werden. Der Halti bringt den Hund auch dann in eine unterwürfige Körperhaltung, wenn er sich gar nicht so fühlt. Die natürliche Körpersprache ist eingeschränkt. Fazit: Mit einem Halti klebt man immer wieder frische Pflaster über unverheilte Wunden. Er hilft uns, den Hund unter Kontrolle zu halten – mehr nicht. Gut erzogen ist Ihr Hund erst dann, wenn er in schwierigen Situationen auf Hörzeichen (»Nein!«, »Aus!«) reagiert und daraufhin Meideverhalten zeigt – ohne Halti, dafür aber mit echtem Respekt vor Herrchens oder Frauchens Autorität.

Futterbeutel

Wenn ich mit meinem Handy nicht nur telefonieren, sondern mich auch noch rasieren könnte, würde ich diese zweite Funktion wahrscheinlich ebenfalls nutzen. Was das mit Hundeerziehung zu tun hat? Nun, die meisten Hundehalter benutzen Leckerchen, und viele von ihnen machen mit ihrem Hund das übliche Spielchen: Herrchen/Frauchen wirft einen Stock oder Ball, der Hund rennt hinterher, apportiert und bekommt dafür eine Belohnung. Da der Halter die Leckerchen irgendwo verstauen muss, stopft er sie entweder in die Jackentasche oder trägt sie in einem kleinen Säckchen am Gürtel. Das hat einige Marketingleute zu einer »genialen« Idee inspiriert: den Futterbeutel. Eigentlich sieht er genauso aus wie das gute alte Federmäppchen aus der Schulzeit – aber dafür kann er mindestens doppelt so viel. Statt mit Stiften wird er mit Leckerchen befüllt und anschließend als Apportierspielzeug benutzt.

Bild23.tif

Futterbeutel

Wenn der Hund den Beutel zurückbringt, öffnet man den Reißverschluss, und der Hund bekommt sein Leckerchen. Oder man versteckt den Futterbeutel, und der Hund muss ihn suchen. Hört sich toll an und findet dementsprechend reißenden Absatz – in allen möglichen Variationen von »wasserdicht« bis »aus Kaninchenfell«.

Wenn es jemals Rasier-Handys geben sollte, so werden sie die Welt nicht besser machen, sie werden aber auch keine Konflikte auslösen – im Gegensatz zum Futterbeutel. Im Kapitel »Die Leckerchen-Lüge« habe ich bereits erklärt, warum die durch Bestechung mit Leckerchen erzielten Erfolge oberflächlich und mitunter gefährlich sind. Daran ändert auch die Futterbeutel-Verpackung nichts. Beute bleibt Beute – und ein Rudelführer bzw. Ranghöherer gibt seine Beute niemals dem Rangniedrigeren. Ein unterwürfiger Hund wird den Futterbeutel daher als Provokation empfinden, auf die er nicht eingehen möchte. Nach dem Motto »Das ist deine Beute, da geh ich nicht dran, ich will ja keinen Ärger«. Ein besonders dominanter Hund wird sich den Beutel womöglich schnappen und im Handumdrehen damit beginnen, ihn zu zerbeißen. (Wenn er könnte, würde er stattdessen den Reißverschluss aufmachen.)

Und selbst wenn das alles nicht passiert: Das Training mit dem Futterbeutel ist alles andere als artgerecht. Der Ranghöhere (Mensch) wirft die Beute, der Randniedere (Hund) holt sie sich. Der Rangniedere bringt die Beute zum Ranghöheren. Der Ranghöhere öffnet die Beute-Verpackung. Der Rangniedere bekommt die Beute. Der Ranghöhere schließt die Beute-Verpackung und wirft sie erneut. Und so weiter. Kein hündischer Rudelführer würde sich auf ein aus seiner Sicht derart verwirrendes und unlogisches Spiel einlassen. Aber wen interessiert das schon? Der stylishe Futterbeutel wirkt modern und innovativ. Manche Hundeschulen verschenken Futterbeutel als Werbegeschenke und lassen ihren Namen draufdrucken. »Das kann nicht schlecht sein«, denkt sich Otto Normalhundehalter – und verwandelt sich freiwillig in einen Leckerchen-Automaten 2.0. Auf Deutschlands Hundewiesen fliegen Zehntausende von Futterbeuteln durch die Gegend. Klar, dass darauf nicht nur der eigentliche Adressat scharf ist, auch die vierbeinige Konkurrenz riecht fette Beute. Herrchens und Frauchens Liebling will die Beute natürlich verteidigen, und weil eine Hundewiese keine Waldorfschule ist, steigt mit jedem fliegenden Futterbeutel die Gefahr einer »Massenschlägerei«. Bisswunden nicht ausgeschlossen. Aus diesem Grund halte ich den Futterbeutel im Gegensatz zum Klicker nicht nur für unsinnig, sondern auch für gefährlich.

Geschirr

In den vergangenen Jahren hat sich die Meinung durchgesetzt, dass die Verwendung eines Brustgeschirrs für den Hund gesundheitlich deutlich besser sei als die eines Halsbands. Als Vorteile werden dabei üblicherweise angeführt, dass das Geschirr Kehlkopf, Luftröhre und Halswirbelsäule schont und den Druck über den Brustkorb verteilt.

Bild24.tif

Geschirr oder Sattel? Die breiten Riemen verdecken eventuell aufgestellte Nackenhaare und verfälschen so die Körpersprache des Hundes

Doch das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Auch wenn das Geschirr längst ein Lifestyle-Accessoire geworden und in allen möglichen Farben, Materialien und auf Wunsch mit lustigen Klett-Buttons wie »Alpharüde«, »Zufallsprodukt« oder »Kampfschmuser« zu haben ist – eine kurze Reise in die Zeit vor dem Hundetrainer-Boom illustriert, warum all das mit dem ursprünglichen Zweck des Hundegeschirrs nichts mehr zu tun hat. Denn es wurde nicht für Haushunde, sondern einzig und allein als »Arbeitsanzug« für Gebrauchshunde konzipiert. Nicht damit sie weniger ziehen, sondern damit sie leichter ziehen können! Mit ihrem »Arbeitsanzug« führen Rettungs- und Suchhunde ihre Halter zu Verletzten oder Verschütteten. Schlittenhunde bekommen das Geschirr nur dann umgelegt, wenn sie den Schlitten ziehen sollen – sonst nicht. Ein Halsband wäre im Arbeitsalltag dieser Hunde, die zum Ziehen angehalten sind, nur störend und würde in der Tat zu körperlichen Schäden führen.

Der Alltag des Haushundes sieht jedoch komplett anders aus. Viele Hundebesitzer schaffen es, dass ihr Schützling nicht mehr an der Leine zieht, viele aber auch nicht. Somit kommt das Anlegen eines Hundegeschirrs oft der Kapitulation vor dem Hund gleich, nach dem Motto: Wenn ich meinen Hund schon nicht das Ziehen an der Leine abgewöhnen kann, schwäche ich es wenigstens ab, indem ich das Halsband durch ein Geschirr ersetze. Das ist ungefähr so, als würde ich glauben, dass man mit Stützrädern besser und sicherer Fahrrad fahren kann als ohne. Das stimmt natürlich – aber nur solange man nicht gelernt hat, selbstständig zu fahren. Die entscheidende Frage lautet also: Kann ich wirklich nicht ohne Stützen auskommen – oder bin ich lediglich zu bequem, das Fahrradfahren zu lernen?

In meiner Trainingsphilosophie gibt es keine Stützräder. Ich bin überzeugt, dass mit der nötigen Konsequenz und Disziplin jeder körperlich gesunde Mensch lernen kann, seinen Hund so zu erziehen, dass er nicht mehr an der Leine zieht. Wie man einen Leinenzieher in den Griff bekommt, habe ich bereits demonstriert (siehe Extra-Tipp: Die Leinenführigkeit üben, S. 96): Sie klopfen Ihrem Hund per Leinenruck »auf die Schulter«, holen ihn von der Ablenkung weg und gewinnen seine Aufmerksamkeit. Das funktioniert nur dann optimal, wenn die Leine mit einem Halsband verbunden ist. Ist sie dagegen in ein Geschirr eingehakt, kommt das durch die Bewegung im Handgelenk ausgelöste Leinensignal beim Hund nur sehr abgeschwächt bzw. überhaupt nicht an. Er ist somit nur bedingt erziehbar und wird sich oft noch stärker in das Geschirr hängen.

Das Geschirr hat in seiner Wirkungsweise Gemeinsamkeiten mit dem Halti: Es schwächt ab und lenkt um, aber es erzieht nicht. Die Symptome, die zum Ziehen führen, bleiben unbehandelt. Die angebliche körperliche Entlastung durch das Brustgeschirr ist somit relativ: Lebt ein notorischer Leinenzieher, der sein Leben lang am Geschirr läuft, wirklich gesund? Nein, denn in solchen Fällen kann das Geschirr gesundheitliche Schäden verursachen. Zwar wird der Hals entlastet, dafür ist die marionettengleiche Aufhängung des Hundes im Rückenbereich nicht optimal und führt zu einseitiger Belastung.

Fazit: Wenn Ihr Hund ohne größere Probleme an der Leine läuft, spricht im Grunde nichts dagegen, dass Sie ein Geschirr benutzen. Und für Hunde mit Wirbelsäulenschäden ist das Geschirr sicher die bessere Wahl. Für die Welpen-Ausbildung sowie als Freifahrtschein für Leinenzieher halte ich das Hundegeschirr jedoch für nicht geeignet. Im Grunde genommen sollte es doch darum gehen, wie man dem Hund das ständige Leineziehen am besten abgewöhnen kann – und nicht darum, wie man den Druck, der aus dem Zug resultiert, am besten auf den ganzen Körper verteilt. Nicht zu vergessen: Die Riemen des Geschirrs verdecken einen Teil des Körpers und behindern die hündische Körpersprache, eine durchgehende »Bürste« an aufgestellten Rückenhaaren etwa ist somit nur zur Hälfte sichtbar. Außerdem kann es bei spielerisch miteinander rangelnden Welpen passieren, dass ein Hund den anderen in das Geschirr beißt und so die Information speichert, fest zubeißen zu können, ohne dass sein Gegenüber Schmerz empfindet.