Kapitel 2

Populäre Erziehungsfehler vermeiden

Die Eingewöhnungsfalle

»Och, der ist doch noch sooo klein, da darf man doch mal eine Ausnahme machen, oder?« Sätze wie diesen höre ich in meinem Traineralltag immer wieder. Zugegeben: Es ist wirklich schwer, einem süßen kleinen Knäuel von Hund zu widerstehen, wenn er einen putzig anschaut. Man nimmt Rücksicht, entschuldigt vieles, lässt den neuen Mitbewohner gewähren – und steckt ihm obendrein hier und da ein Leckerchen zu. Durchaus verständlich – und doch ein Fehler! Konsequente Hundeerziehung kennt keine Ausnahmen. Das gilt nicht nur in Sachen Leckerchen-Bestechung.

Wenn ein Welpe permanent fiept, heißt es zum Beispiel oft: »Ach, lass ihn doch erst mal zwei bis drei Wochen machen, was er will! Der Kleine vermisst bestimmt seine Mutter. Und schwupps! – sitzt der Fiepser auf dem Schoß oder auf dem Sofa. »Ist ja gut, wir sind bei dir.« Wenn Sie das öfter machen, haben Sie den Salat, denn Ihr Welpe wird fortan immer wieder fiepen – bis Sie ihn auf den Schoß lassen. Das gleiche Muster zieht er dann auch in anderen Situationen durch. Die Folge: Sein Verhalten wird konditioniert. Im schlimmsten Fall fiept Ihr Hund später immer, wenn er etwas machen oder haben möchte, aber nicht zu seinem »Recht« kommt. Das Essen steht auf dem Tisch? Will ich haben, also fiepe ich. Ein anderer Hund bellt vor der Tür? Ich will raus und mit ihm spielen, also fiepe ich. Ich soll im Restaurant unter dem Tisch liegen? Frauchens Schoß ist viel bequemer, also fiepe ich. Und so weiter. Jetzt ist klar, warum es für einen Welpen, egal wie süß, verlassen oder traurig er aussehen mag, keine mehrtägige oder gar mehrwöchige »Eingewöhnungsphase« geben darf, oder? Das gleiche gilt übrigens auch, wenn Sie einen Hund aufnehmen, der das Welpen- oder Junghundalter bereits hinter sich hat. Schon ab dem ersten Tag im neuen Zuhause stellen Sie die Weichen für das spätere Zusammenleben.

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»Der Kleine darf doch mal aufs Sofa!« – Diese Ausnahme kann schnell zur unliebsamen Gewohnheit werden

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Beim kleinen Hund ist es noch niedlich, doch er wird auch später jeden Schuh für ein Kauspielzeug halten

Leider legen Hundehalter gerade in dieser »Eingewöhnungsphase« oft den Grundstein für Unarten, die sich später nur schwer korrigieren lassen. Ein kleiner Welpe, der Besucher freudig anspringt, wird von den meisten als süß empfunden. Also speichert der kleine Hund: Alle Menschen, die uns besuchen, finden es toll, wenn ich sie anspringe. Wenn derselbe Hund nur ein paar Monate später und um etliches gewachsen auf die Besucher zuspringt, stößt er in der Regel auf wenig Begeisterung – und muss das erst mal verarbeiten.

Ich vergleiche das mit einer Computer-Festplatte: Das unerwünschte Hundeverhalten wird gespeichert. Zu einem späteren Zeitpunkt kann man es nicht mehr löschen, sondern nur noch überschreiben. Allerdings ist dieses Überschreiben für den Halter meist mit viel Arbeit, Konsequenz und Disziplin (und gegebenenfalls hohen Kosten für einen Hundetrainer) verbunden. Insofern bekommen meine Kunden auf die häufig gestellte Frage »Kriegt man dieses Verhalten wieder weg?« folgende Antwort: »Wegkriegen geht nicht, kontrollieren schon.«

Hund.epsIrrtum Nr. 4:

»Mein Welpe bzw. neuer Hund muss sich erst mal eingewöhnen.«

Falsch! Wer in den ersten Tagen und Wochen gut gemeinte, aber falsch verstandene »Rücksicht« auf seinen Hund nimmt, wird später dafür bezahlen. Unerwünschtes Verhalten muss vom ersten Tag konsequent unterbunden werden. Gleichzeitig sollten Sie Ihren Hund (ohne Leckerchen!) mit lobender Stimme und durch Streicheleinheiten belohnen, wenn er sich richtig verhält. So schaffen Sie mit klaren Grenzen die Basis für ein funktionierendes Hund-Halter-Team.

Ihre Aufgabe, wenn ein Welpe ins Haus kommt: Kontern Sie so »sachlich«, wie es auch eine Hundemutter machen würde – selbst wenn der Hund anfangs nach seinem alten Umfeld, sprich dem Rudel mit seinen Eltern und Geschwistern, ruft und fiept und jault. Denn von nun an zählt für ihn sein neues Umfeld – und in dem sind Sie die Hundemutter bzw. der Rudelführer. Unerwünschtes Verhalten sollten Sie von Anfang an konsequent (sprich: immer!) korrigieren, erwünschtes Verhalten sollten Sie durch positive Verstärkung belohnen. Loben Sie Ihren Hund in ruhiger und freundlicher Stimmlage und streicheln Sie ihn (keine Leckerchen!). Was ist dem Hund in der Wohnung erlaubt, was nicht? Auch in dieser Frage sollten Sie eine klare Linie fahren, denn ein Schlingerkurs verwirrt Ihren Hund.

Hund.epsEXTRA-TIPP:

Sich zum Kasper machen!

Vor allem männliche Hundebesitzer, aber auch »dominante« Hundehalterinnen kommen sich bei dem künstlichen »Vor-Freude-Ausflippen« oft ziemlich blöd vor. Es ist ihnen peinlich, ihre Stimme in unnatürlich hohe Lagen anzuheben, und sie wollen sich nicht zum »Kasper« machen. Aber das gehört zum Hundetraining dazu – also bitte überwinden! Hunde können sich zwar einfache Wörter merken und sie mit etwas verknüpfen, aber sie achten zugleich sehr genau darauf, wie man sie ausspricht. So würde der Hund ein tiefes, scharfes, knappes und lautes »Fein!« vollkommen entgegengesetzt auffassen, während ein erfreutes, sanftes und lang gezogenes »Aus!« oder »Pfui!« eher positiv ankäme. Will sagen: Wer richtig betont, erzieht besser und schneller.

Wo wir gerade beim Loben sind: Unter Hunden wird nicht gelobt, sondern bei Fehlverhalten sanktioniert. Schließlich kann ein Hund den anderen schlecht kraulen, streicheln oder nette Worte sagen. Zurechtweisen funktioniert dagegen immer. Durch unsere Fähigkeit zu streicheln, zu kraulen und wohlklingende Worte zu bilden, haben wir im Vergleich zur Hundemutter also einen Vorteil. Körperliche und verbale Streicheleinheiten setzen bei einem Hund nämlich genauso wie beim Menschen die sogenannten Glückshormone frei. Hunde genießen diese Behandlung sehr, werden schnell »süchtig« danach und fordern die Streicheleinheiten sogar ein. Gehen Sie aber nicht auf solche Forderungen ein, sondern entscheiden Sie selbst, wann Sie Ihren Hund streicheln wollen. So können Sie die Streicheleinheiten gezielt als »Bezahlung« für erwünschtes Verhalten in die Erziehung einbringen – angemessen dosiert und optimal getimt (was genauso für Korrekturen gilt!). Zu spätes Lob bringt gar nichts, denn der Hund kann es schon nach einigen Sekunden nicht mehr mit der Situation verknüpfen. Im Zweifelsfall gilt deshalb: Lieber ein Lob zu wenig als eines zu viel.

Ich erlebe oft, dass Hundehalter überfordert sind, wenn sie mehrere aufeinanderfolgende Kommandos geben müssen. Sie fragen sich beispielsweise: Was mache ich, wenn ich meinen Hund, der gerade frei auf der Wiese rumläuft, mit einem »Nein« korrigiert habe und ihn danach mit einem »Hier« zu mir rufe? Dass nach einer Korrektur nicht gelobt wird, wissen die meisten (siehe S. 101). Und dass man den Hund, der auf ein »Hier«-Kommando zu einem kommt, loben soll, ist den meisten ebenfalls klar. Aber wie reagiert man, wenn beide Situationen unmittelbar aufeinander folgen? Mein Rat: Nicht loben, so sind Sie auf der sicheren Seite und verhindern, dass Ihr Hund das Lob falsch, also mit dem »Nein« oder »Aus« statt mit dem »Hier« verknüpft.

Die Hundespielzeug-Schwemme

Was können Sie im ersten Lebensjahr sonst noch für Ihren Welpen bzw. Junghund tun, um es Oma Margarete nachzumachen und nicht hilflos und einfallsarm zu sein? Beschäftigen Sie sich intensiv mit ihm, ohne es zu übertreiben. Gemeinsames Spielen ist so lange sinnvoll, wie Sie dem Kleinen danach auch die nötige Ruhe geben. Sonst besteht die Gefahr, dass Sie den Hund zu sehr »anschubsen«.

Natürlich sollte man im Sinne eines gesunden Ausgleichs zwischen Spielen und Ruhen je nach Hund und Rasse unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Jagdhunde etwa brauchen mehr »Action« als eher phlegmatische Rassen wie Labrador, Neufundländer oder Berner Sennenhund.

Auf jeden Fall sollten Sie im ersten Hundejahr eine ruhige Basis schaffen. Immer wieder erlebe ich Halter, die ihre Hunde, insbesondere Welpen, so mit Spielzeug eindecken, dass diese gar nicht mehr wissen, woran sie zuerst schnüffeln sollen. Auch in dieser Hinsicht hat der Markt wie bei den Leckerchen in den vergangenen zehn bis 20 Jahren einen riesigen Sprung gemacht: Mit Hundebedarfsartikeln wie Spielzeug und Kleidung werden jährlich rund 155 Millionen Euro umgesetzt (Quelle: Gesellschaft für Konsumforschung/GfK).

Angesichts dieser Angebotsvielfalt mag bei vielen Haltern der Eindruck entstehen, ihrem Hund ganz viele tolle Spielzeuge kaufen zu müssen. Müssen Sie nicht! Denn der wichtigste Spielpartner für den Hund sind Sie – und nicht irgendein nach Kunststoff stinkendes Spielzeug aus dem Tier-Discounter.

Hund.epsIrrtum Nr. 5

»Um meinen Hund optimal auszulasten, benötige ich Hundespielzeug.«

Falsch! Meistens handelt es sich um sogenannte Zerr- und Reißspielzeuge, etwa Seile oder Ringe, die in vielen Tiermärkten angeboten werden und im schlimmsten Fall beim Zubeißen auch noch Quietschgeräusche von sich geben. (Es gibt sogar Quietschis, die wie ein Baby klingen!) Ich rate von diesen Spielzeugen ab, da sie das Tier in seiner Beutemotivation bestärken. Viele Hunde sind nicht in der Lage, zwischen einem solchen Spielzeug und einem Schuh, einer Tasche oder sogar dem Ärmel eines Kindes zu unterscheiden. Unterlassen Sie daher Zerrspiele: der Hund wird so lange an dem Gegenstand ziehen, bis er ihn bekommt, um als »Sieger« aus der Situation hervorzugehen. Die Gefahr ist also nicht zu unterschätzen! Ausnahme: Bei der Schutzhundausbildung arbeitet man mit dieser Form des Trainings. Natürlich spricht nichts dagegen, wenn Sie Ihren Hund hin und wieder einen Ball apportieren lassen. Aber es sollte klar sein, dass das Interesse des Hundes in erster Linie Ihnen gelten soll – und nicht dem Spielzeug. Auf keinen Fall sollten Sie Gummispielzeug herumliegen lassen: Wenn der Hund es zerkaut und Teile davon verschluckt, verhärtet es sich womöglich durch die Magensäure und kann nicht mehr ausgeschieden werden. Im schlimmsten Fall ist eine Operation nötig.

Einmal habe ich bei einer Kundin sage und schreibe 57 Spielzeuge gezählt, die ihr Jack-Russel-Welpe Tag für Tag in der gesamten Wohnung verteilte, sodass Frauchen permanent damit beschäftigt war, alle Spielzeuge brav wieder zurück ins Körbchen zu bringen. Wer erzieht hier wen? Wenn Sie Ihrem Hund freien Zugriff auf sämtliche Spielzeuge gewähren und sie ihm auch noch zurück in den Korb, also in sein Territorium, tragen, vermitteln Sie ihm sicherlich nicht den Eindruck eines Ranghöheren.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich plädiere keineswegs für ein Spielzeugverbot. Ein bis zwei Teile sind völlig okay, solange es keine Zerr- und Reißspielzeuge oder »Quietschis« sind. Quietschis kann ich nicht empfehlen, weil ihre Geräusche den Beißtrieb des Hundes so anstacheln und konditionieren können, dass er beim Spielen mit anderen Hunden deren Schmerzquietschen und das Signal »Ey, das tut weh, ich ergebe mich« nicht mehr wahrnimmt. Quietschi-konditionierte Hunde können deshalb auch für Kinder gefährlich sein.

Hund.epsEXTRA-TIPP:

Ein Holzknochen aus Buchenholz zum Spielen!

Am besten ist es, wenn Sie Ihrem Hund schon im Welpenalter einen Knochen aus Buchenholz anbieten (im Handel auch Apportierholz genannt). Dann hat er ein Spielzeug, das sowohl sicher ist (meine Erfahrung: durch Speichel benetztes Buchenholz splittert nicht) als auch (wie bei Kindern) als eine Art Beißring gegen Schmerzen beim Zahnwuchs fungiert. Und wenn Sie den Holzknochen dann auch noch regelmäßig mit Ihrem Speichel benetzen, speichert der Hund bei Zahnweh eine angenehme Verknüpfung nach dem Motto »Dieses Teil riecht nach Herrchen oder Frauchen, es tut mir gut und es ist immer da«. Der Holzknochen wird somit zu einem »Bindungssymbol« zwischen Ihnen und Ihrem Hund und kann diesem während Ihrer Abwesenheit über Verlustängste hinweghelfen. Sicher nicht jedermanns Sache, aber eine hilfreiche Methode bei knabberfreudigen Hunden: Reiben Sie mit dem Holzknochen, wenn Sie geschwitzt haben (zum Beispiel nach dem Joggen), an Ihren Füßen – dann wird Ihr Hund sich in Zukunft von Ihren Schuhen fernhalten.

Dann lieber stumme Bälle oder segelnde Hunde-Frisbees. Allerdings sollten auch diese nur in Maßen zum Einsatz kommen, sonst besteht die Gefahr, dass Ihr Hund – seinem Jagdinstinkt folgend – zum Ball- oder Frisbee-Junkie wird und ständig Zoff mit Artgenossen hat, weil er sein Spielzeug verteidigen will. Und ganz wichtig: Direkt nach dem Spielen sollten all diese Spielzeuge wieder in der Schublade verschwinden, damit sie etwas Besonderes bleiben. Sie kennen das doch aus Ihrem eigenen Leben: Etwas, das permanent verfügbar ist, verliert schneller seinen Reiz als etwas, das man nur gelegentlich und im besten Fall in immer neuen Variationen erleben kann. Die einzige Ausnahme und meine besondere Empfehlung: ein Holzknochen.

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Ein Buchenholzknochen kann auch ein sehr gutes Spielzeug sein

Natürlich ist es bequemer, dem Hund ein Dutzend Spielzeuge ins Körbchen zu legen und sich selbst zu überlassen, als sich intensiv mit ihm zu beschäftigen. Doch Sie lesen dieses Buch ja nicht, weil Sie faul und bequem sein wollen, sondern weil Ihnen Ihr Hund am Herzen liegt.

Am besten beschäftigen Sie Ihren Welpen so natürlich wie möglich. Lassen sie ihn an Ihrem Gesicht schnüffeln, halten Sie ihm eine Hand hin, damit er seine Beißkraft ausprobieren kann und lernt, sie richtig zu dosieren. Kinder greifen mit den Händen, ein Hund hat nur sein Maul. Zeigen Sie ihm dabei auch die Grenzen, wenn er zu stark zuzwickt. Im Freien kann der Hund zum Beispiel im Laub schnüffeln oder über einen Baumstamm krabbeln. Die Welt ist für einen kleinen Welpen so unendlich groß, dass er alle zwei Meter etwas Spannendes entdeckt.

Beobachten Sie auch, welche Körperhaltung Ihr Hund beim Spiel mit Artgenossen einnimmt. Wenn er sich zum Beispiel gerne in die Flanke oder an den Hals greifen lässt, können Sie diese Vorliebe nutzen, um Ihren Hund zu animieren. Bellt Ihr Hund beim Spielen, dann merken Sie sich seinen »Tonfall«. Auf diese Weise können Sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt mit einem Laut oder einem Wort in ebendiesem »Tonfall« zum Spielen einladen.

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Ab und zu darf der Hund gerne ein Stöckchen apportieren

Natürlich reichen Zweibeiner alleine nicht. Es gehört außerdem dazu, dass Ihr Hund draußen – wenn erlaubt auch ohne Leine – auf andere Hunde trifft. Es kann sicherlich nicht schaden, ihn zu einer Welpengruppe in einer Hundeschule anzumelden – sofern er dort nicht durch Blümchentraining mithilfe von Leckerchen (v)erzogen wird und darüber hinaus auch Kontakt zu erwachsenen und somit ranghöheren Hunden hat, die ihn daran gewöhnen, zurechtgewiesen zu werden. Sie können Ihren Kleinen aber auch genauso gut auf jeder x-beliebigen Hundewiese in die »Vorschule« schicken. Einem Hund es ist egal, wo er seine Erfahrungen macht. Der Kontakt sollte allerdings möglichst kontrolliert (zunächst an der Leine und auf einem übersichtlichen Gelände) und nur mit sozialen Hunden stattfinden.

Die »Zu schnell auf Du und Du«-Falle

Der kleine Yorkskireterrier Jerry thront auf dem Sofa. Als Familie Schneider Besuch bekommt, der es sich neben Jerry gemütlich machen will, fletscht seine Majestät die Zähne. Klare Ansage: »Das ist (mittlerweile) mein Reich! Da versteht es sich wohl von selbst, dass ich bestimme, wer sich hier hinsetzen darf und wer nicht! Du nicht, Fremder!« So sieht der Familienalltag der Schneiders aus. Ein Bild, das zunächst zum Schmunzeln verleitet – aber nur, weil King Jerry so putzig aussieht, wenn er sich die Krone aufsetzt und einen auf Rudelführer macht. Spätestens wenn der mühsam vom Sofa vertriebene Jerry nach der Verabschiedung des Besuchs ebendieses Sofa markiert, um erneut seine Herrschaft zu demonstrieren, schmunzelt keiner mehr. Und wäre Jerry ein Bullterrier oder ein Schäferhund, würde ohnehin niemand über ihn lachen.

Ich habe solche Fälle schon häufig erlebt und kann Ihnen daher nur empfehlen: Egal wie klein oder groß Ihr Hund ist, er darf auf keinen Fall »Feldherrenplätze« allein für sich beanspruchen und verteidigen. Sonst geht es Ihnen so wie Jerrys verzweifelten Besitzern: Sie tappen in die »Zu schnell auf Du und Du«-Falle. Nach dem Motto »Wenn man sich einmal duzt, kann man sich nicht plötzlich wieder siezen«. Und genau deshalb sollte man seinen Hund nicht leichtfertig aufs Sofa, also auf die gleiche Ebene holen (auch nicht mit der Hundedecke!). Selbst wenn es »nur« ein kleiner Welpe ist, der einen aus seinen Kulleraugen so süß, unschuldig und verloren anschaut.

Hund.epsEXTRA-TIPP:

Zukunftsorientiert auslasten und erziehen!

Ein Hundehalter hat einen hyperaktiven Hund, der weder allein zu Hause bleiben noch zwischendurch im Körbchen ruhen will. Was ist passiert? Der Mann hat sich den Hund zugelegt, als er gerade keine Arbeit hatte, und ihn an rund vier bis fünf Stunden Spiel und Auslauf pro Tag gewöhnt. Der Hund war tagsüber fast nie allein und wurde permanent bespaßt. Nun hat Herrchen einen neuen Job gefunden – und muss den Aktivitätsdrang seines Hundes wieder auf ein normales Maß herunterfahren. Besser wäre gewesen, vorausschauend auf die neue Lebenssituation zu trainieren, ohne dass der Hund zu kurz kommt. Dann fiele die Anpassung an den neuen Rhythmus viel leichter. Solche und ähnliche Fälle treten in der heutigen, auf viel Flexibilität ausgerichteten Arbeitswelt immer öfter auf: Wer umzieht, sollte sich daher schon lange vorher Gedanken machen, wie der Hund mit dem neuen Umfeld klarkommen wird, und ihn gegebenenfalls vorbereiten. Generell gilt dabei: Mehr Raum und Auslauf ist kein Problem, weniger meistens schon. Will ich von einer Wohnung mit Garten auf dem Land in eine Stadtwohnung im vierten Stock ziehen, muss ich mir Gedanken machen – andersherum nicht. Und wenn ich plötzlich viel mehr arbeiten muss als vorher, habe ich immer noch die Möglichkeit, meinen Hund mehrere Stunden pro Tag bei einem Dogsitter abzugeben.

Natürlich wird nicht jeder Hund automatisch ein derart extremes Territorialverhalten wie Jerry zeigen, wenn er auf der Couch oder gar im Bett liegen darf. Letztendlich müssen Sie Ihren Hund im Laufe der Zeit so gut wie möglich kennenlernen und selbst entscheiden, wie viel Freiheit Sie ihm in der Wohnung gewähren, ohne Ihre Chef-Position bzw. Ihren Status als Rudelführer zu gefährden. Neigt Ihr Hund, wie Jerry, zu dominantem Verhalten? Dann gilt in Bezug auf Sofa und Co. die Null-Toleranz-Strategie, sonst wird es im Alltag gefährlich – sowohl für Menschen als auch für andere Hunde. Denn Ihr Hund wird seine Territorial-Allüren nicht nur auf dem Sofa, sondern auch unter freiem Himmel ausleben. Oder ist Ihr Hund ein eher ruhiger Vertreter ohne Dominanz-Allüren? Wenn die Hierarchie zu Ihren Gunsten geklärt ist, spricht im Grunde genommen nichts dagegen, dass er es sich auch mal »auf Du und Du« neben Ihnen bequem machen darf. Gerade während der Erziehung von Welpen und gerade aufgenommenen Hunden rate ich aber definitiv dazu, auf Nummer sicher zu gehen: Vermeiden Sie alles, was ein King-Jerry-Verhalten begünstigen könnte – umso mehr, wenn in den kommenden Jahren menschlicher Nachwuchs geplant ist (siehe S. 58).

Übrigens: Jerry setzt sich nicht nur zu Hause die Krone auf, sondern auch, wenn er mit Frauchen auf deren Schoß im Bushaltestellenhäuschen wartet. Oder wenn er auf der Picknickdecke im Park liegt. King Jerry muss schließlich nicht nur seine Untertanen, sondern auch noch deren Proviant, sprich seine Beute, verteidigen. Ich wiederhole es noch mal: Stellen Sie sich vor, Jerry wäre kein Yorkshireterrier, sondern ein größeres Kaliber, und ein kleines Kind, das einem Ball hinterherrennt, käme der Picknickdecke zu nahe …

Wo wir gerade von Picknick sprechen: Würde ein Hund sein Fressen mit auf die Hundewiese nehmen, wenn er denn könnte? Ganz sicher nicht! Wer mit seinem Hund in der Öffentlichkeit (im Park, auf einer Wiese, im Wald etc.) picknickt, bringt ihn in eine Lage, die dem Hundeinstinkt widerstrebt. Kein Hund würde der vierbeinigen Konkurrenz freiwillig seine Beute präsentieren. Wenn Ihr Hund sprechen könnte, würde er sagen: »Lass uns in Ruhe zu Hause fressen – und dann ’ne Runde laufen gehen.« Für Ihren Hund ist die Open-Air-Mahlzeit in der Öffentlichkeit eine mit Stress verbundene Provokation. Ständig muss er auf der Hut sein, ob sich Artgenossen oder Zweibeiner dem Territorium (der Picknickdecke) nähern, weil sie scharf auf seine Beute (sprich: das Picknick) sind. Das heißt natürlich nicht, dass es dabei immer zum Eklat kommen muss – aber die Gefahr besteht. Je dominanter und somit angriffslustiger und verteidigungsfreudiger der Hund, desto wahrscheinlicher.

Das »Den Hund Hund sein lassen«-Märchen

»Bei mir soll der Hund Hund sein dürfen.« Das hört sich toll an, aber wie soll’s funktionieren? Haben Sie schon einmal davon gehört, dass in einem wilden Hunderudel das Ordnungsamt die Anleinpflicht kontrolliert? Oder dass dort der Briefträger vorbeikommt? Ich weiß nicht, ob dieses Märchen vom Hund, den man Hund sein lassen muss, ein »artgerecht« (v)erziehender Blümchentrainer oder ein Halter aufgrund gut gemeinter, aber falsch verstandener Hundeliebe erfunden hat. Auf jeden Fall steckt hinter diesem Satz der Wunsch, dass der Hund in seinem Alltag nicht zu stark eingeschränkt werden soll. In meinem Traineralltag begegnet mir dieses Denken immer wieder. Besonders oft höre ich diesen Satz, sobald ich die Wohnung eines Kunden das erste Mal betrete: »Herr Lenzen, nur damit Sie Bescheid wissen – bei uns soll der Hund Hund sein dürfen.« Ich kontere dann mit Gegenfragen, um meinem Gegenüber freundlich, aber bestimmt klarzumachen, dass sein Liebling im Alltag bereits unzähligen Einschränkungen unterworfen ist, die ihn eben nicht Hund sein lassen. Zum Beispiel: »Warum sperren Sie Ihren Hund in der Wohnung ein, anstatt ihn frei draußen herumlaufen zu lassen?« Oder: »Warum lassen Sie ihn nicht im Garten Katzen oder im Park Kaninchen jagen?« Den Hund Hund sein lassen, würde in der Tat bedeuten, ihm einen Freifahrtschein auszustellen, mit dem er seinen Instinkten folgen kann. Er dürfte seinem Halter das Essen vom Tisch klauen – denn er hat nun mal Hunger. Er dürfte sein kleines Geschäft auf der Fußmatte des Nachbarn verrichten – denn er muss nun mal gerade jetzt und in diesem Moment sein Revier markieren. Er dürfte Besucher anbellen und angreifen, die das Haus betreten – denn es ist nun mal sein Territorium.

Hund.epsIrrtum Nr. 6:

»Bei mir soll der Hund Hund sein.«

Falsch! In freier Natur gibt’s kein Ordnungsamt, keine Briefträger und keine Anleinpflicht. Es ist unmöglich, einen Haushund »Hund sein« zu lassen«, sprich: ihn allein seinen (Jagd-)Instinkten zu überlassen. Denn so ein Verhalten ist mit unserem modernen Alltag nicht kompatibel.

Außerdem ist jeder Hund ohnehin unzähligen Einschränkungen bzw. in der Hundewelt nicht existenten Mensch-hilft-Hund-Maßnahmen unterworfen, die dem Halter oft gar nicht als solche bewusst sind – von der Leine über die Fellbürste und das Trimmmesser bis hin zum Zeckenschutz.

Auch in hygienischer Hinsicht brächte die Prämisse »Bei mir soll der Hund Hund sein« – konsequent umgesetzt – einige Probleme mit sich. Die meisten Hundehalter verabreichen ihren Vierbeinern Anti-Floh-Mittel und drehen Zecken mit Spezialwerkzeugen heraus. Manche trimmen den Hunden auch das Fell oder putzen ihnen die Zähne. Und wenn ein Hund sich in den Exkrementen eines Schafes oder auf dem Kadaver eines Karnickels gewälzt hat, um sich ganz im Sinne seines Jagd-Urtriebs ein natürliches Tarnparfüm aufzulegen, findet das kein Mensch besonders betörend. Darf der Hund das? Soll er das? Wenn er könnte, würde er instinktiv mit »Ja« antworten, wir Menschen hingegen in aller Selbstverständlichkeit und aus unserer Sicht zu Recht mit »Nein«. Und genau aus diesem Grund kann man im Zusammenleben mit Menschen einen Hund nicht Hund sein lassen. Weil es in der Regel dem Hund nicht guttut und für den Menschen unangenehme, womöglich übel riechende und im schlimmsten Fall lebensgefährliche Situationen entstehen.

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Wenn man den Hund Hund sein lässt …

Stellen Sie sich einen Jagdhund vor, der einem Reh bzw. seinem Beutetrieb folgend die A3 überquert! Dabei will er doch bloß Hund sein … Wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel: Wenn etwa ein Border Collie nicht als Haus-, sondern als Arbeitshund eingesetzt wird, muss er sogar »Hund sein«, um mithilfe seiner Urinstinkte eine Schafherde zusammenzuhalten.

Bleibt festzuhalten: Wer seinen Hund im Alltag so wenig wie nötig einschränken möchte, sollte ihn so gut wie möglich erziehen. Denn ein gut erzogener Hund hat natürlich mehr Freiheiten als einer, den der Halter nicht im Griff hat und der deshalb ständig angeleint ist, bei Besuch weggesperrt und bei Ausflügen selten mitgenommen wird.

Meistens höre ich das »Bei mir soll der Hund Hund sein«-Märchen in Kombination mit einem äußerst populären Irrtum. Dazu ein Beispiel: Ich komme zu einem Kunden, der Probleme mit seinem Schäferhund Henry hat. Henry springt Besucher an, deshalb hat die Familie, seit er aus dem Welpenalter raus ist, kaum noch Besuch. Vor allem Henrys Herrchen macht sich deshalb Sorgen – und zwar wesentlich mehr um seinen Schützling als um seine Freunde: »Wir möchten auf keinen Fall seinen Willen brechen!« Ich bitte ihn, Henry »Sitz« machen zu lassen. »Sitz!« – Henry gehorcht. Herrchen ist stolz, und ich rufe mit gespieltem Entsetzen aus: »Verdammt, jetzt ist es passiert! Was haben Sie nur getan! Der Hund wollte eigentlich stehen bleiben, und Sie haben durch das Kommando ›Sitz!‹ seinen Willen gebrochen.« Herrchen und Frauchen gucken mich schmunzelnd an. Ich führe meine spielerische und lieb gemeinte Provokation fort: »Und das ist noch nicht alles: Sie haben seinen Willen ja schon viel früher gebrochen. Wäre es nach Henrys Willen gegangen, wäre er sicher viel lieber bei seinen Eltern und seinen Geschwistern geblieben. Doch Sie haben ihn für 1000 Euro zu sich geholt und seine Familienidylle zerstört.« Herrchen und Frauchen lachen – und verstehen.

Nur schwerhörige Hunde brauchen eine laute Ansprache

Sie sollten bei der Erziehung Ihres Hundes immer bedenken, dass Ihr Tier auf drei Ebenen erreicht werden kann: Geruch, Akustik, Körpersprache. Geruchstechnisch können Sie eher weniger auf Ihren Hund einwirken. Er ist aber sehr wohl in der Lage, viele Ihrer Gesten und Stimmungen wahrzunehmen. Daher sollten Sie im Umgang mit Ihrem Tier sehr sorgsam sein. Ihre Gesten (Sichtzeichen) und Ihre Stimme (Hörzeichen) müssen bei der Kommunikation übereinstimmen, sonst ist der Hund verwirrt und reagiert anders, als Sie es erwarten. Ein Beispiel: Bei dem Kommando »Ab!«, das dem Hund signalisiert, dass er sich entfernen bzw. Abstand halten muss, sollte Ihr Tonfall bestimmend sein und die Bewegung Ihrer Hand weist von Ihnen weg. Das Tier muss die Ernsthaftigkeit Ihrer Aufforderung verstehen. Anders ist die Situation beim gemeinsamen Spiel. Wenn Sie Ihren Hund in forschem Tonfall mit »Such!« oder »Hol’s!« auffordern, einen Ball zu apportieren, weil er ins Wasser gefallen ist und abzutreiben droht, und dabei auch noch mit dem Zeigefinger in Richtung Ball zeigen (was der »Ab!«-Geste ähnelt!), könnte der Hund eine falsche Verknüpfung herstellen, unterwürfig reagieren und den Ball nicht holen. Stehen Sicht- und Hörzeichen nicht im Einklang, vermischen sich in der Wahrnehmung des Hundes »Spiel« und »Drohgebärden«.

»Ein Hund, der wiederholt nicht auf ein Kommando reagiert, muss mit erhobener Stimme zur Räson gebracht werden.« Diesem weitverbreiteten Irrtum begegne ich gerne mit folgendem Satz: »Wenn der Hund nicht hört, sollten Sie schnell mit ihm zum Tierarzt gehen!« Oder anders formuliert: Wenn Ihr Hund Sie nicht versteht, müssen Sie konsequenter trainieren oder einen guten Trainer aufsuchen. Es ist vollkommen unnötig, Hörzeichen mit erhobener Stimme zu geben oder sogar zu schreien; nicht selten offenbart ein solches Verhalten eine mit Unwissen gepaarte Hilflosigkeit.

Ein Hund hört viel besser als ein Mensch, das sollte man ausnutzen. Man muss ihn deshalb, wenn er einem Hörzeichen auch nach zwei Wiederholungen nicht folgt, keineswegs ins »Platz!« oder »Sitz!« schreien. Das mag im einen oder anderen Fall durchaus funktionieren, weil ein Hund, der von klein auf ans »Anschreien« gewöhnt ist, darauf in der Tat zuverlässiger reagiert als auf eine normale Ansprache. Viel besser und konsequenter ist es jedoch, den widerspenstigen Hund (wie ab S. 71 ff. beschrieben) mit zusätzlicher Hilfe von Hand und/oder Leine dazu zu bringen, dass er das Kommando ausführt – und in der Folge so gut zu trainieren, dass künftig das akustische Signal ausreicht. Das können übrigens Frauen genauso gut erreichen wie Männer, auch wenn sich hartnäckig das Vorurteil hält, Hunde würden besser auf Männer hören, weil ihre Stimme tiefer und somit autoritärer ist. Wenn dem wirklich so wäre, dürfte es auch keine Polizeihundeführerinnen geben, die ihre Tiere perfekt im Griff haben – ebenso wenig wie gute Hundetrainerinnen. Die gibt es aber doch.

Wie sensibel Hunde auf akustische Feinheiten und »Zwischentöne« reagieren, zeigt folgende Anekdote, die ich bei einem Spaziergang am Niederrhein erlebt habe: Eine Frau steht am Rande eines Maisfeldes und ruft ihren offenbar im Mais-Dschungel untergetauchten Hund: »Poldy! Pooldyyy!« Je länger Poldy verschwunden bleibt, desto verzweifelter wird Frauchen, deshalb ruft sie seinen Namen immer lauter. Bis sie schließlich schreit. Keine Reaktion, kein Poldy. Ich erlaube mir, die Frau anzusprechen, und rate ihr: »Gehen Sie doch einfach 30 Meter weg vom Maisfeld und rufen Sie noch einmal in ganz normaler Lautstärke nach Ihrem Hund!« Die Frau guckt skeptisch, aber dann folgt sie meinem Rat. Und siehe da: Schon nach dem zweiten »Poldy« in normaler Lautstärke und aus größerer Entfernung springt der Ausreißer aus dem Maisfeld und läuft zu Frauchen. Warum? Weil er die ganze Zeit genau registriert, dass Frauchen in der Nähe und jederzeit erreichbar ist. Doch als er Frauchens Stimme plötzlich abseits des Maisfelds in größerer Entfernung verortet, schließt er daraus, dass sie im Begriff ist, den Ort des Geschehens zu verlassen – und will ihr folgen.

Hund.epsIrrtum Nr. 7

»Mein Hund hört nur auf mich, wenn ich laut bin.«

Falsch! Wer seinen Hund konsequent erzieht, kommt bei »Sitz!«, »Platz!«, »Hier!« und anderen Kommandos mit ganz normaler Stimmlage aus. Konsequent sein bedeutet, dass der Hund schon nach dem ersten Nichtbefolgen eines Hörzeichens mithilfe der Leine oder der Hand entsprechend korrigiert wird – so lange, bis er auf das Hörzeichen zuverlässig reagiert. Nur schwerhörige Hunde und solche, die von klein auf an Schrei-Kommandos gewöhnt sind, reagieren auf die erhobene Stimme besser.

Wer seinen Hund anschreit, erntet von seinem Umfeld sofort besorgte bis kritische Blicke, aus denen sich entweder a) »Was für ein schwieriger Hund!« oder b) »Was für ein inkompetenter Halter!« herauslesen lässt. Wenn Ihnen das – wie den meisten Menschen – unangenehm ist, sollten Sie umso mehr auf eine konsequente Erziehung achten, die auf überlaute Kommandos verzichtet.

Sollten Sie übrigens im Raum Düsseldorf jemandem begegnen, der drei Cairn Terrier lauthals mit Hörzeichen wie »Komm!« oder »Hier!« zu sich ruft, könnte es sich um mich handeln. Alice (17 Jahre), ihr Sohn Gysmo (15) und ihre Tochter Houkey (14) sind zwar rüstige Senioren – aber mittlerweile fast taub. Schwerhörigkeit ist der einzige Grund, das Schreiverbot in der Hundeerziehung außer Kraft zu setzen.

Der Welpenschutz-Mythos

Ein Großvater geht mit seinem achtjährigen Enkel spazieren. Der Großvater bekommt nicht mit, dass der Enkel jedem, der vorbeikommt, einen Tritt ans Schienbein verpasst. Dann tritt plötzlich einer der Passanten zurück. Der Großvater ist empört: »Lassen Sie das! Das ist doch noch ein kleines Kind!« Wir lernen: Wenn sich jemand grob danebenbenimmt, gibt es keinen Enkel-Schutz. Und Sie ahnen schon, warum ich dieses überspitzte Beispiel erzähle. Welpen haben genauso wenig Narrenfreiheit wie kleine Kinder. Es existiert kein natürlicher Schutz im Sinne von »Da kann nichts passieren, der ist ja noch Welpe«. Verhält sich ein Welpe wie ein Welpe, ist er unterwürfig und entzieht sich Konfliktsituationen, anstatt zu provozieren, wird er in der Tat mit anderen Hunden kaum Probleme haben. Das hat aber nichts mit »Welpenschutz« im Sinne von hündischer Toleranz und genereller Beißhemmung zu tun, sondern schlicht und einfach damit, dass sich der Welpe seinem Alter angemessen präsentiert. Die meisten Welpen machen das so, aber eben nicht alle. Bei einigen hat die Natur vorgesehen, dass sie sich schon früh sehr mutig und sehr dominant verhalten (Stichwort »Alphatier«). Wenn sich ein Welpe oder Junghund zu erwachsen benimmt oder gar einem anderen Hund »gegen das Schienbein tritt«, kommt oft eine entsprechende Reaktion, und er wird schlimmstenfalls auch mal gebissen. Zudem gibt es erwachsene Hunde und besonders Hunde-Senioren, die quirlige Welpen als anstrengend empfinden und keine Lust haben, sich von ihnen anrempeln, beschnüffeln oder bespringen zu lassen. Auch wenn Dominanz-Allüren eines kleinen Welpen in unseren Augen putzig wirken, sollte Sie sie doch von Anfang an unterbinden und an der Unterordnung arbeiten, sonst steigt die Gefahr, dass Sie sich nach Ende der Prägephase mit einem Problemhund auseinandersetzen müssen.

Hund.epsIrrtum Nr. 8

»Da kann nichts passieren, der hat noch Welpenschutz.«

Falsch! Einen allgemeingültigen Welpenschutz gibt es nicht. Wenn sich ein Welpe nicht wie ein Welpe verhält, kann es sehr wohl passieren, dass ein ranghöherer Artgenosse ihn entsprechend zurechtweist und ihn im Extremfall auch beißt.

Der »Die machen das unter sich aus«-Irrtum

Wenn es auf der Wiese oder im Hundeauslauf Zoff gibt, hört man schnell den Satz: »Kein Problem, die machen das schon unter sich aus.« Zwar trifft diese Annahme in den meisten Fällen zu, aber manchmal endet so eine Begegnung unter Hunden in einer schweren Beißerei oder sogar in der Notaufnahme einer Tierklinik. Und obendrein flattert eine mehrere Hundert Euro teure Tierarztrechnung ins Haus. Deshalb sollten Sie sich vorab immer Gedanken machen, bevor Sie zwei (oder mehrere) Hunde miteinander spielen lassen: Sind die Größenverhältnisse sehr unterschiedlich? Dann kann es für den kleineren der beiden Hunde unter Umständen gefährlich werden, wenn die beiden den Ärger unter sich ausmachen. Schließlich ist es schon vorgekommen, dass ein größerer Hund einem Chihuahua oder Dackel beim Spielen aus Versehen das Rückgrat gebrochen hat. Sie sollten außerdem hinterfragen: Neigt der eigene oder der andere Hund zu Dominanzverhalten? Und: Kennen sich die Hunde schon und haben bereits miteinander gespielt bzw. die Verhältnisse geklärt (sprich: einer hat sich unterworfen)? Mein Rat an dieser Stelle: Lassen Sie Ihren Hund niemals aus einer »Die machen das schon unter sich aus«-Haltung heraus unkontrolliert mit einen »neuem« Hund bzw. mit einer ganzen Gruppe von Hunden spielen. Lernen Sie den anderen Hund erst einmal kennen und beobachten Sie genau, wie Ihr Hund auf ihn reagiert. Zu diesem Zweck können Sie mit dem anderen Hundehalter vereinbaren, die beiden Hunde vor dem ersten Kontakt ein paar Minuten angeleint hintereinanderherlaufen zu lassen. Dazu geht der andere Halter zunächst mit seinem Hund voran – und Sie folgen ihm mit Ihrem Hund. Reduzieren Sie dabei die Distanz von anfangs drei auf später ein bis zwei Meter und beobachten Sie die Reaktionen. Sicherlich wird Ihr Hund nicht nur am Hinterteil des anderen schnüffeln, um sich eine »Nase« zu nehmen und zu analysieren, sondern auch per Urin eine Markierung absetzen. Dadurch zeigen sich die Hunde quasi gegenseitig den Personalausweis, um diverse Informationen abzuchecken wie Geschlecht, Sexualtrieb, Dominanz. Danach wechseln Sie die Positionen: Nun läuft der andere Halter mit seinem Hund Ihnen und Ihrem Hund hinterher. Stehen die Zeichen auf Entspannung? Dann können Sie ein Spiel ohne Leine riskieren. Gibt es Anzeichen für einen Konflikt (aufgestelltes Nackenhaar, aufgestellte Rute, gesträubtes Fell, Knurren etc.)? Dann gehen Sie auf Nummer sicher und lassen kein Spiel zu. Leider verlaufen viele Begegnungen typischerweise so: Es stehen sich zwei angeleinte Hunde gegenüber. Die beiden kennen sich noch nicht, die Halter sind sich unsicher, ob die Begegnung gut gehen wird, und zögern, ihren Schützlingen die nötige Leinenfreiheit zu geben, um die gegenseitige Geruchskontrolle vorzunehmen. Die beiden Hunde stehen sich also Auge in Auge und ein bis zwei Meter voneinander entfernt an straffer Leine gegenüber. Allein das baut schon Spannung auf, derweil wechseln die Halter ein paar Worte und tauschen die üblichen Infos aus: Geschlecht? Kastriert? Alter? Die Hunde werden ungeduldig, hängen sich weiterhin in die Leine, die Halter strahlen Unsicherheit aus, die Hunde merken das, die Spannung steigt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die beide vordergründig den als allgemeingültig angenommenen Satz »Die sind nur aggressiv, weil sie angeleint sind« bestätigen: Entweder beginnt einer der beiden Hunde zu bellen oder zu knurren, und die Halter verzichten darauf, dass sich die Hunde näher kennenlernen. Oder sie riskieren den Kontakt an der Leine. Was ihnen dabei nicht bewusst ist: Je mehr Zeit bis zu diesem ersten Kontakt vergeht, desto ungünstiger und angespannter wird die Atmosphäre zwischen den Hunden. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einer der beiden – durch die Wartezeit und das Ziehen an der Leine aufgeputscht – aggressiv die Zähne fletscht oder angreift, sobald sich die Hunde im Gesicht beschnuppern. Die Folge: Die Halter sehen sich in ihrer Vorsicht bestätigt und ziehen ihre Hunde schnellstens auseinander. Als »Schuldiger« erkannt: die Leine. Tatsächlich wird die Aggression der Hunde in den meisten Fällen nicht durch die Leine, sondern erst durch das zögerliche Verhalten der Hundebesitzer im Umgang mit der Leine ausgelöst.

Hund.epsIrrtum Nr. 9

»Die machen das schon unter sich aus.«

Falsch! Diese Annahme beinhaltet, dass schon nichts passieren wird, wenn zwei oder mehrere Hunde aneinandergeraten – und dass man auf keinen Fall dazwischengehen sollte. Das mag manchmal gut gehen, aber sicherlich nicht immer: Wenn mindestens einer der Kontrahenten besonders dominant und übermutig auftritt, kann der Konflikt eskalieren und zu schweren bis tödlichen Bissverletzungen führen. Für diesen Extremfall sollte man sich entsprechende Eingreif-Techniken einprägen (etwa: einen Eimer Wasser auf die Kontrahenten schütten, Hunde an den Hinterbeinen packen und aus dem Gleichgewicht bringen). Diese Techniken sind allerdings gefährlich, nicht jeder sollte sie anwenden. Wenn der Halter unüberlegt, wütend oder gar hysterisch eingreift, besteht die Gefahr, dass auch er im Getümmel gebissen wird.

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Die Situation eskaliert, weil der Besitzer des hellen Hundes versucht, ihn an der Leine aus dem Geschehen zu ziehen. Seine dadurch manipulierte Körpersprache verwirrt den Dobermann und bringt ihn dazu zuzubeißen

Hundehalter stehen hier vor einem Dilemma. Denn der Umkehrschluss – beiden Hunden sofort Leinenfreiheit geben und den Kontakt zulassen – verhindert zwar, dass zusätzliche Spannung aufgebaut wird, schließt aber keineswegs aus, dass es zwischen den Hunden nicht doch »knallt«. Eine »Garantie« gibt es in dieser Hinsicht ohnehin nicht. Wer sich jedoch ein paar Minuten Zeit nimmt und wie oben beschrieben durch kontrolliertes Hintereinander-Herlaufen eine gegenseitige »Ausweiskontrolle« ermöglicht, kann sehr wohl auch bei angeleinten Hunden die Anspannung minimieren und für ein entspanntes Kennenlernen sorgen.

Im Freilauf reicht es manchmal schon, wenn sich ein dritter Hund zu zwei friedlich spielenden Hunden gesellt, plötzlich kippt die Harmonie, und die Zeichen stehen auf Sturm. Wenn Sie merken, dass beim Spiel heftige Aggressionen auftreten, sollten Sie die Hunde trennen. Ebenso, wenn einer der beteiligten Hunde »unter die Räder« zu kommen droht und von einem oder mehreren Hunden »gemobbt« wird. Sollte es trotzdem zu einer Beißerei kommen, gilt es, Ruhe zu bewahren und nicht in Panik auszubrechen.

Normalerweise lassen die Hunde schnell wieder voneinander ab. Meistens macht es Sinn, die Regel »Nicht dazwischengehen!« zu befolgen und die eigene Sicherheit nicht zu gefährden.

Doch wie reagiert man, wenn ein Hund sich verbeißt und nicht loslässt? Was zählt die eigene Sicherheit, wenn im schlimmsten Fall das Leben des geliebten Hundes in Gefahr ist? Es gibt Momente, da muss jemand eingreifen. Dabei geht es keineswegs darum, den Helden zu spielen. Die einfachste und ungefährlichste Variante, zwei ineinander verbissene Hunde zu trennen, ist eine kühlende »Dusche« mit einem Eimer Wasser oder dem Gartenschlauch. Das schaffen auch weniger starke oder mutige Menschen. Aber wer hat beim Spazierengehen schon einen Eimer Wasser oder einen Gartenschlauch zur Hand? Oft bleibt daher nur folgende Notlösung, um die Hunde zu trennen: Jeweils eine Person packt einen der verbissenen Hunde am Halsband, dann werden die Hunde gegeneinander gedrückt, statt sie auseinanderzuziehen. Das überrascht die Hunde und bewirkt meistens, dass sie sich gegenseitig loslassen bzw. der beißende Hund erst loslässt, dann aber nachgreifen will. Diesen Moment muss man nutzen und die Hunde trennen. Bei größeren Rassen hilft es auch, die Hinterläufe des zubeißenden Hundes zu packen, den Hund wie eine Schubkarre zu halten und so aus dem Gleichgewicht zu bringen. Man muss allerdings gut festhalten, damit sich der Hund nicht umdreht und zubeißt. Sollte der Hund loslassen, ziehe ich ihn im »Schubkarrengriff« an den Hinterbeinen so schnell wie möglich aus dem Geschehen heraus. Erst dann greife ich ihn am Halsband und versuche ihn anzuleinen und zu kontrollieren. Eine letzte Lösung für schwierige Fälle, die allerdings nur erfahrene Hundehalter anwenden sollten: Den Kehlkopf des Zubeißers fest umgreifen – in Intervallen und immer fester zudrücken –, bis der Hund loslässt. Das sollte ein geübter Griff sein, denn natürlich bringt man sich bei einem durch das Adrenalin gekickten, übereifrigen Hund in Gefahr. Wenn auch das nicht hilft, hat sich bei Rüden, die zubeißen und sich nicht trennen lassen, als letzte Lösung schon oft ein Kniff in die Weichteile bewährt.

Damit Sie erst gar nicht in solche mehr als unangenehmen Situationen kommen, sollten Sie Ihren Hund so erziehen, dass Sie ihn auch aus Begegnungen mit anderen Hunden heraus abrufen können. So minimieren Sie das Risiko so weit wie möglich.

Die Kastrationsfalle

Als ich nach dem Aufstehen in den Spiegel gucke, bin ich geschockt: Ich sehe eine Frau mit langen, lockigen Haaren, knappem Top, Minirock, rosa Handtäschchen und schwarzen, kniehohen Lederstiefeln. Das bin doch nicht ich! Ich bin ein Mann! Ein Mann, der noch nicht eine Sekunde den Drang gehabt hat, eine Frau zu sein. Ein Mann, von dem einige Frauen behaupten, er sei manchmal ein ziemlicher Macho. Ein Mann, der sich an Karneval am liebsten gar nicht, und wenn schon, dann eher als Cowboy oder Pirat verkleidet – aber auf keinen Fall als Karikatur einer aufgedonnerten Tussi. Doch genau einer solchen gucke ich im Spiegel ins grell geschminkte Gesicht. Karneval ist sowieso schon seit Monaten vorbei. Was ist also passiert? Habe ich Halluzinationen? Hat mir gestern Abend in der Kneipe jemand Tropfen in den Drink gemischt? Meine äußerliche Verwandlung macht mich aggressiv, denn im Kopf bin ich total klar. Ist sicher alles nur Einbildung, geht vorbei. Am besten erst mal an die frische Luft. Ich habe gleich einen Termin und bin ohnehin spät dran.

Kaum trete ich aus der Haustür, pfeifen mir die Typen von der Baustelle gegenüber hinterher. Oder meinen die mich gar nicht? Hm, die alte Dame neben mir haben sie sicher nicht gemeint. Doch warum guckt die mich jetzt so abwertend an? Sie meint mich nicht, das muss eine Verwechslung sein! Da biegt der Postbote um die Ecke. Gut, dass ich den noch erwische, ich erwarte nämlich einen wichtigen Brief. Doch der Postbote, mit dem ich sonst immer ein paar nette Worte wechsele, scheint mich nicht zu erkennen, dafür steckt er mir einen Zettel mit seiner Handynummer zu und fragt, ob ich Lust hätte, ihn nach Feierabend zu treffen. Während er das sagt, leckt er sich regelrecht pervers über die Lippen, und ich habe große Lust, ihm sofort ein paar auf die Nase zu hauen. Weil ich immer noch total verwirrt bin, stecke ich die Faust in die Tasche und gehe weiter. Bis zur Straßenbahnhaltestelle. Beim Einsteigen in die Bahn kneift mir jemand in den Hintern. Ich drehe mich um und sehe den rüstigen alten Herrn aus dem Nachbarhaus, der mich jetzt auch noch ganz verwegen anlächelt. Ein paar junge Frauen lachen sich kaputt und machen abfällige Bemerkungen. Nicht über ihn, über mich! Verdammt, ich will nicht, dass mir einer hinterherpfeift, mir seine Nummer zusteckt oder in den Hintern kneift! Und mich auslachen sollen die Leute schon gar nicht! Ich will als Mann behandelt und ernst genommen werden. Der Nächste, der mir blöd kommt, wird sein blaues Wunder erleben. Damit alle wissen, was Sache ist! Ich in Minirock, rosa Handtäschchen und schwarzen Lederstiefeln! Was für ein Quatsch! Nicht ich – die anderen leiden unter Halluzinationen! Ups, hat der Fahrkartenkontrolleur gerade wirklich so anzüglich geguckt, als er mein Ticket gecheckt hat? Jetzt reicht’s! Den schnapp ich mir!

Dieses moderne Märchen lässt sich in die Hundewelt übertragen: Stellen Sie sich vor, der Macho, den plötzlich alle für eine Frau halten und der schließlich kurz davor ist, den Fahrkartenkontrolleur zu verprügeln, wäre ein Hund. Genauer gesagt: ein Rüde. Oder noch genauer gesagt: ein dominanter Rüde, der es gewohnt ist, die Oberhand zu behalten und keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Und die Bauarbeiter, der Postbote, der rüstige alte Herr aus dem Nachbarhaus wie auch der Fahrkartenkontrolleur wären ebenfalls Rüden. Wie würde sich ein dominanter Rüde fühlen, wenn ihn seine Geschlechtsgenossen plötzlich wie eine Hündin behandeln und sogar versuchen, ihn zu begatten? Sprechen kann er ja nicht, und selbst wenn er es könnte, würden auch unzählige »Ich bin ein Rüde«-Beteuerungen nichts an der knallharten Gegendiagnose der anderen Rüden ändern: Du riechst NICHT wie ein Rüde – also behandeln wir dich wie eine Hündin. Irgendwie sogar verständlich, dass der »Vom Kopf her«-Rüde, den keiner mehr für voll nimmt, öfter mal aggressiv reagiert, oder?

Eine Kurzversion des Märchens vom Mann, der sich in eine Frau verwandelt, bringe ich immer dann, wenn ich Kunden überzeugen möchte, dass die Kastration ihres Rüden, die sie als Selbstverständlichkeit annehmen, für das Tier selbst alles andere als Vergnügen mit sich bringt.

Tatsächlich höre ich in meinem Alltag als Trainer immer wieder die folgende Frage von Welpen-Besitzern: »Herr Lenzen, wann sollen wir unseren Hund kastrieren lassen?« Meine Gegenfrage: »Warum soll der Hund denn kastriert werden?« Die Antwort, die üblicherweise kommt, lässt mich regelmäßig erschaudern: »Ja, das muss er doch!«

Muss er? Oder besser noch: Darf er? Das sinnlose, nicht medizinisch indizierte Kastrieren von Hunden ist in Deutschland gemäß § 6 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes nämlich untersagt. Die Realität sieht leider anders aus, denn das Gesetz beinhaltet bereits Ausnahmefälle, etwa wenn die »Gefahr unkontrollierter Vermehrung« droht. Das lässt sich natürlich sehr großzügig auslegen, sodass man das Kastrationsverbot völlig legal unterlaufen kann. Für manche Tierärzte sind Kastrationen eine durchaus willkommene Einnahmequelle.

Freie Bahn also für den Trend zur Kastration. Auch die folgende Anekdote (diesmal kein Märchen!) ist symptomatisch: Ungefähr fünf Monate nach der Anschaffung seines Rüden fragt mich ein Hundebesitzer, wann denn nun der richtige Zeitpunkt für die Kastration gekommen sei. »Unser Rüde ist doch so dominant und hat Ärger mit anderen Hunden. Und der Jagdtrieb nervt uns auch!« Mich trifft fast der Schlag. Denn gerade dieser Kunde hat vor der Anschaffung des Welpen sehr lange darüber nachgedacht, welche Rasse für ihn geeignet ist, und sich schließlich für einen Weimaraner (einen Jagdhund!) entschieden. Wie ich erst im Nachhinein erfuhr, war ein Auswahlkriterium, dass »das graue Fell so schön mit den bernsteinfarbenen Augen harmoniert«. Ob es lieber eine Hündin oder ein Rüde werden sollte, bedachte der Kunde im Vorfeld ebenfalls fast vier Monate lang. Tenor: Eine Hündin sei zwar leichter zu führen, ein Rüde aber einfach stattlicher und werde nicht läufig. Also fiel die Wahl auf einen Weimaraner-Rüden. Man kann sicher nicht behaupten, Herrchen und Frauchen hätten sich nicht ausreichend Zeit für ihre Entscheidung genommen. Umso mehr schockiert es mich, dass es – sogar in solchen Fällen – zur gängigen Praxis geworden ist, hundespezifische Verhaltensprobleme einfach wegzuoperieren. Wenn der Hund dann aus der Narkose aufwacht – so die Vorstellung der Besitzer –, sind die Probleme, für die sie in den meisten Fällen selbst verantwortlich sind, raus- bzw. abgeschnitten. Der Hund als Produkt, das möglichst den Erwartungen der Menschen entsprechen soll: sieht hübsch aus, ist lustig, pflegeleicht und macht keinen Ärger.

Wenn das mal so einfach wäre! Warum das Dominanzverhalten des Rüden nach einer Kastration häufig noch vorhanden ist oder sich sogar steigert, stellt die Halter vor ein Rätsel. Und der Hund hat Pech gehabt, weil er jetzt von intakten Rüden bedrängt wird, da er nicht mehr nach Rüde riecht. Die Erklärung ist simpel: Ein dominanter Hund, der ein, anderthalb oder gar zwei Jahre als starker Rüde auftritt, bleibt auch nach der Kastration ein starker Rüde. Ganz einfach, weil er in dieser prägenden Phase gewisse Erfahrungen gemacht und entsprechende Verhaltensweisen angenommen hat. Er selbst mag jetzt zwar anders riechen, aber die Rüden, mit denen er sich vorher immer angelegt hat, riechen für ihn noch genauso wie zuvor.

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Ein kastrierter Rüde, der immer noch eindeutig dominantes Rüdenverhalten zeigt, aber nicht mehr nach Rüde riecht

»Unser Rüde ist aber nach der Kastration viel ruhiger geworden«, wird nun der eine oder andere Kastrationsbefürworter einwenden. Meine These: In solchen Fällen handelt es sich fast immer um nicht ganz so dominante Rüden. Und die Halter sehen allein schon aufgrund ihrer Erwartungshaltung nach dem Eingriff oft eine Veränderung.

Hund.epsIrrtum Nr. 10

»Eine Kastration wird meinen aggressiven Hund ruhiger und umgänglicher machen.«

Falsch! Eine Kastration ist nicht mit einem Druck auf die Reset-Taste vergleichbar. Ein Hund wird auch nach der Kastration auf seine Erfahrungen als potenter Rüde zurückgreifen und sich dementsprechend verhalten. Weil er nun aber nicht mehr wie ein Rüde riecht, behandeln ihn männliche Artgenossen wie eine Hündin. Das führt oft zu Konflikten – je dominanter der kastrierte Rüde ist, desto häufiger.

Als Problemhundtrainer kenne ich aber weit mehr (und meistens dominante) Rüden, die sich nach der Kastration so verhalten, als hätten sie ein drittes Ei dazubekommen. Für den Menschen ist die Kastration eine vermeintliche Wohlfühl-OP, die zum Ziel hat, dass es ihm (nicht dem Hund!) besser geht. Für den Hund ist eine Kastration aus nicht-medizinischen Gründen fast immer eine Falle: Denn nun gibt er über den Geruch Fehlinformationen ab. Er ist in Wirklichkeit viel dominanter, als er riecht, und wird manchmal sogar von Hündinnen angegangen, weil sie seinen Geruch nicht einordnen können.

Manche Halter begründen eine Kastration auch damit, dass ihr intakter Rüde, der einer läufigen Hündin die üblichen Bereitschaftssignale sendet, unter seinem Trieb leide: »Der jault und weint sooo seehr, der Arme, und das möchten wir ihm in Zukunft ersparen.« Stimmt, ein Rüde hat Stress und ist eher angespannt, wenn er auf eine läufige Hündin trifft – das wäre er in freier Natur aber auch. Kein Grund also, sich um den ach so »armen« Hund Sorgen zu machen. Das kann er gut aushalten. Es stellt sich also vielmehr die Frage, ob Herrchen und Frauchen dieses völlig artgerechte und natürliche Verhalten ihres Hundes »aushalten« können bzw. wollen.

Seit einiger Zeit treibt der Trend zur Kastration neue Blüten: Manche Züchter lassen die Käufer einen Vertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, den Hund bis zu einem bestimmten Alter (zum Beispiel, wenn er ein Jahr alt ist) nachweislich kastrieren zu lassen. Warum? Damit ihnen später keiner der Käufer durch Nachzüchtungen Konkurrenz machen kann. Andere gehen noch weiter. So habe ich von einem Labradoodle-Züchter gehört, der die Welpen bereits kastriert abgibt, sozusagen als Copyrightschutz einer neuen und (noch) seltenen Moderasse.

Unter Tierärzten ist es umstritten, ob eine Operation mit Vollnarkose dem in diesem Alter noch relativ instabilen Immunsystem der Welpen zuzumuten ist. Zwar hat die Kastration im Welpenalter den Vorteil, dass die Hunde praktisch als Eunuchen groß werden und oft gar nicht erst lernen, sich Artgenossen gegenüber als Rüde zu verhalten. Dennoch bin ich der Meinung, dass eine Kastration auf keinen Fall die Regel sein darf. Schließlich kommen Rüden nicht umsonst mit Hoden auf die Welt. Sie gehören zu ihrem Körper und zu ihrem Dasein als Rüde dazu. Daher bin ich gegen die standardmäßige Kastration aus nichtmedizinischen Gründen – egal wie alt der Hund ist. Ausnahmen sind natürlich die Kastrationen (bzw. Sterilisation) von Straßenhunden in ost- und südeuropäischen Ländern (siehe dazu Kapitel 7, Das Straßenhund-Phänomen).

In Deutschland ist als Alternative zur Kastration bzw. als ihre Vorstufe »zum Ausprobieren« der Kastrationschip in Mode gekommen. Dabei wird dem Hund ein kleiner Hormonchip unter die Haut implantiert, der die Testosteronproduktion in den Hoden mindert und den Rüden chemisch kastriert. Nach einer Übergangsphase von ca. zwei Wochen, während der der Hund sogar aggressiver als vorher auftreten kann, tritt die gleiche Wirkung ein wie nach der herkömmlichen Kastration: Der Sexualtrieb lässt nach, die Samenproduktion wird vermindert. Diese Wirkung hält rund 180 Tage lang an, danach muss die chemische Kastration erneuert werden. Ich halte auch den Kastrationschip nicht für eine ideale Lösung, denn der Hund greift nach diesem Eingriff genauso wie nach der normalen Kastration weiterhin auf seine bisherige Prägung als potenter Rüde zurück. Und bevor der Kastrationschip richtig zu wirken beginnt, nimmt er womöglich noch die eine oder andere schlechte Erfahrung durch eine kurzfristig erhöhe Aggressionsbereitschaft nach der Implantation mit.3 Dennoch drücke ich bei der chemischen Kastration eher ein Auge zu als bei der operativen: Zum einen lässt sie den Hund weniger leiden. Und zum anderen kann ein Halter, der merkt, dass die chemische Kastration kaum oder gar keine Verbesserung im Verhalten gebracht hat, danach immer noch zur Vernunft kommen und seinem Rüden das Skalpell ersparen, indem er die Unarten (sofern überhaupt vorhanden) durch konsequente Erziehung in den Griff bekommt.

Die »Mein Hund hat Angst«-Ausrede

Übersetzungsfehler gibt’s nicht nur bei Politikerzitaten, sondern auch in der Hundeerziehung: Wenn ein Hund seinen Schwanz einklemmt und die Ohren anlegt, interpretieren wir Menschen seine Körpersprache häufig falsch: »Der hat Angst.« Dabei will der Hund in solchen Momenten nur zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht, dass er gerade alles andere als dominant ist, jegliche Konfrontation meiden und sich unterwerfen möchte. Nun kann man zwischen Unterwürfigkeit und Angst zwar noch einen gewissen Zusammenhang erkennen, doch wenn Hundehalter die Diagnose »Der hat Angst« heranziehen, um Unarten zu erklären, so ist das meist nicht mehr als eine faule Ausrede.

Warum kläfft ein Hund jeden Fahrradfahrer und jeden Artgenossen wild an? Warum attackiert ein Hund Jogger und Briefträger? Ist da wirklich Angst im Spiel? Meine Antwort: Nein, wir haben es in den allermeisten Fällen schlicht und einfach mit schlecht erzogenen Hunden zu tun, denen keine klaren Grenzen gesetzt wurden. Womöglich haben die Halter eine Unart sogar unbewusst bestätigt – und entschuldigen das nun mit der Begründung, der Hund habe Angst. So ist Herrchen aus dem Schneider, und auch der Hund kann nichts dafür. Dumm gelaufen, er ist nun mal ein »Angstbeißer« oder »Angstbeller«.

Hund.epsIrrtum Nr. 11

»Mein Hund macht das, weil er Angst hat.«

Falsch! Wenn ein Hund angeblich aus Angst zubeißt oder bellt, so ist das fast immer eine Entschuldigung für mangelhafte Erziehung. Wenn Hunde wirklich Angst haben, kennen sie nur einen Gedanken: »Schnell weg von hier!« Insofern passt das »Angstbeißer«-Etikett bloß auf Hunde, die sich in die Enge getrieben fühlen und nicht mehr anders zu wehren wissen. Sprich: Für Briefträgerwadenbeißer und Alles-und-jeden-Ankläffer gelten keine Angst-Entschuldigungen.

Wirklich ängstliche Hunde wird man in Deutschland ohnehin sehr selten zu sehen bekommen, weil ein Hund, der Angst hat, meistens flüchtet. Typisches Beispiel: An Silvester reagiert ein Hund panisch auf einen in seiner Nähe gezündeten Böller, reißt sich von Leine los und rennt auf und davon. Aus Angst beißt ein Hund in der Regel nur, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlt. Ich habe im Rahmen von Straßenhunde-Hilfsprojekten in Rumänien und Moldawien viele solcher Hunde erlebt. Sie hatten noch nie Menschenkontakt und fingen deshalb schon an zu beißen, als wir sie einfangen wollten, um sie zu kastrieren bzw. zu sterilisieren.

Bello Normalhund in Deutschland ist an Menschen gewöhnt und erlebt Vergleichbares allenfalls beim Tierarzt: Wenn ihm auf dem Behandlungstisch eine Spritze verpasst wird oder eine Wunde gesäubert werden soll und ihn die Tierarzthelferin dabei festhält, kann es passieren, dass er sich bedroht fühlt und zuschnappt. Woher soll er auch wissen, dass man ihm doch bloß helfen will? Nur in solchen Ausnahmesituationen entwickelt sich ein Hund zum »Angstbeißer«.

Dennoch hat sich das »Angstbeißer«-Etikett geradezu inflationär in der Hundeszene verbreitet. Das ist so ähnlich wie mit den »Sonntagsfahrern«: Dieses Vorurteil passt auf jeden Fahrer, der störend im Straßenverkehr auffällt, es sagt aber nichts Konkretes aus. Wenn zum Beispiel ein kleiner Mischling auf der Wiese einen Schäferhund angreift, heißt es häufig entschuldigend: »Der hat Angst vor Schäferhunden, weil er schon mal von einem gebissen worden ist.« Hätte der kleine Mischling aber wirklich Angst vor Schäferhunden, was rein theoretisch möglich ist, würde er so schnell wie möglich in eine andere Richtung rennen. Sprich: Er würde alles tun, um nicht auf sich aufmerksam zu machen und Distanz zwischen sich und den Schäferhund zu bringen. Aus Angst attackieren würde er ihn ganz sicher nicht – es sei denn, man sperrt die beiden Hunde gemeinsam in eine Vier-Quadratmeter-Kammer, wo sie sich nicht aus dem Weg gehen können.

Die Rücksicht-Bremse

Wie bei uns Menschen gibt es auch unter Hunden eher selbstbewusste und eher unsichere Exemplare. Letztere reagieren oft empfindlich auf bestimmte Herausforderungen im Alltag: Sie weigern sich beispielsweise, einen Aufzug zu betreten, mit dem Bus oder der Bahn zu fahren, Treppen herauf- oder herunterzugehen oder auf glattem Parkettboden zu laufen. Leider nehmen einige Hundehalter viel zu stark Rücksicht auf das Verhalten ihrer Tiere. Weigert der Hund sich beim ersten Mal, einen Aufzug zu betreten, wird er eben (wenn möglich) auf den Arm genommen, oder man benutzt stattdessen die Treppe. Zieht ein Welpe in die Wohnung ein, legt der Halter im Wohnzimmer extra einen neuen Teppichstreifen auf dem glatten Parkettboden aus, damit der neue Mitbewohner nicht ausrutscht. Das hat zur Folge, dass der Welpe zwar auf Teppichen gut laufen kann, aber im Flur, in den restlichen Zimmern und natürlich auch in anderen teppichfreien Wohnungen schnell auf die Nase fällt. Ein Fehler, denn natürlich kann sich jeder Welpe an das Laufen auf Parkettboden gewöhnen.

Durch falsche Rücksichtnahme erzieht man einen Hund förmlich zum Aufzugs- oder Parkettmuffel, statt ihn aufzubauen und ihm die anfängliche Unsicherheit abzutrainieren. Hund und Halter bewegen sich gebremst durch den Alltag. Stattdessen sollte der Halter seinem Hund den Aufzug, die Bahn, den Bus, die Treppe, den glatten Boden als Selbstverständlichkeit verkaufen. Ich behaupte: Mit etwas Disziplin und Konsequenz kann man jeden Hund an vermeintliche Unannehmlichkeiten gewöhnen. Will er nicht mit in den Aufzug? Dann ziehe oder trage ich ihn hinein – und fahre erst einmal eine Zeit lang rauf und runter. Dabei streichele ich ihn zunächst begeistert und vermittle ihm, dass wir gerade etwas ganz Tolles machen. Zusätzliche Bestechung durch Leckerchen ist – obwohl von vielen Trainern in solchen Situation empfohlen – nicht nötig, schließlich soll der Hund lernen, dass Aufzug fahren etwas ganz Normales ist, und nicht, dass sich sein Halter dort in einen Futterautomaten verwandelt. Hat er die erste Scheu verloren, behandele ich meinen Hund genauso wie zu Hause oder im Garten, damit er zu dem Schluss kommt: Aha, der Aufzug beißt nicht, und wir leben jetzt dort. Dafür reichen 20 Sekunden nicht aus, eine Viertelstunde pro Übungseinheit sollte es schon sein. Danach verlassen Sie den Aufzug – locker und entspannt, zuerst Sie und dann der Hund – und betreten ihn gleich darauf wieder. Dieses »Rein in den Aufzug, raus aus dem Aufzug«-Spiel wiederholen Sie in diversen Etagen. Am nächsten Tag machen Sie erneut eine Aufzug-Session nach dem gleichen Schema. Wenn Sie das einige Tage lang ganz selbstverständlich durchziehen, wird Ihr Hund früher oder später seine Scheu verlieren – das gilt genauso fürs Straßenbahn- oder Busfahren, Treppensteigen und jede andere Alltagssitution, die dem Hund zu schaffen macht. Wer kurzfristig Trainingszeit investiert, gewinnt langfristig Alltagsqualität – für sich selbst und für den Hund.

Der »Hund und Kind müssen beste Freunde sein«-Leichtsinn

Jahr für Jahr lesen wir in der Presse Horrormeldungen: Hunde fügen Babys und Kindern schwere Bissverletzungen zu – manchmal sogar mit Todesfolge. Ich bin mir sicher, dass die Ursache für diese Katastrophen meistens menschlicher Leichtsinn und nicht hündisches Fehlverhalten ist. Das wiederum kommt selten ans Licht, laden doch die verantwortlichen Eltern die Schuld gerne komplett auf den »bösen« Hund ab, der vorher immer »so lieb« war. Das ist schließlich viel einfacher, als sich einzugestehen, dass man die Gefahr bei der Begegnung zwischen Kind und Hund fatalerweise unterschätzt hat.

Der Hund soll der beste Freund des Kindes werden, und zwar so schnell wie möglich – das ist die idealisierte, aber durchaus nachvollziehbare Wunschvorstellung. Denn natürlich kann ein Kind durch einen Hund viel lernen und seine soziale Kompetenz stärken. Das Problem: Obwohl Mensch und Hund eine mehr als 10 000 Jahre alte gemeinsame Geschichte haben, lernen viele Kinder zwischen Kita und Kindergarten, zwischen musikalischer Früherziehung und Grundschule nur sehr wenig über den Umgang mit Hunden. Welche Bedürfnisse haben sie? Wie liest man ihre Körpersprache? Was ist im Zusammensein mit Hunden tabu? Häufig verfügen auch die Eltern nur über rudimentäres Basiswissen; sie lassen den Kontakt zwischen Hund und Kind vollkommen unkontrolliert zu und nehmen die Erziehung des Hundes auf die leichte Schulter. Da wird zum Beispiel die (überforderte) Oma mit Hund und Baby allein gelassen – es wird schon gut gehen. Oder das Baby krabbelt auf den Korb oder den Fressnapf des Hundes zu – und die Eltern gucken nicht hin, weil sie gerade den Abwasch machen. Kleinkinder probieren ihren Tastsinn aus und zupfen den Hund am Ohr oder an den Lefzen, drängen ihn mit dem Dreirad in die Ecke oder reiten auf ihm – und die Eltern finden das sogar noch lustig und machen Fotos oder Filmchen davon, nach dem Motto »Endlich ist die Familie komplett!«. Wer bei Youtube die Stichworte »Hund« und »Baby« eingibt, findet einen Haufen haarsträubender Clips. Klar sieht das niedlich aus, wenn Hund und Baby im Korb des Hundes oder auf dem Sofa kuscheln oder auf dem Boden gemeinsam »spielen«. Doch wer genau hinschaut, hinterfragt und analysiert, sieht die Gefahr hinter der vermeintlichen Harmonie. Da liegt zum Beispiel ein stattlicher Rottweiler auf dem Familiensofa neben einem Baby, das sich an ihn kuschelt. Jeder, der sich nähert – auch Herrchen oder Frauchen –, wird angeknurrt. »Braver Hund, wie süß«, denken die meisten, der »beschützt sein Baby« – und verkennen dabei, wie dünn das Eis in dieser Situation ist. Was wir in Fällen wie diesem oft als »Beschützerinstinkt« des Hundes interpretieren, zeigt, in welcher Position der Hund sich im Familienrudel einordnet: Das Baby stuft er in der Hierarchie unter sich ein, infolgedessen fühlt er sich als »erziehungsberechtigt«. Allerdings sieht er offenbar auch Herrchen und Frauchen unter sich, sonst würde er sie nicht anknurren. Eine extrem gefährliche Situation! Was passiert, wenn das Baby dem Hund zum Beispiel mit dem Finger ins Ohr, in die Nase oder in die Augen sticht, sodass er Schmerzen hat? Was ist, wenn das Baby aufsteht und über den Hund fällt, sodass er erschrickt? Oder wenn das Baby plötzlich zu kreischen beginnt? Hilft es dann, dass die Eltern bei der ersten Begegnung des Babys den Hund einmal an einer vollen Windel schnuppern haben lassen, wie eine alte Volksweisheit rät? Können die Eltern als Rangniedrigere überhaupt ungehindert dazwischengehen? Knurrt der Hund wirklich nur, um das Baby zu »verteidigen«? Oder macht er das vielleicht aus purer Dominanz, um seinen Feldherren-Platz auf dem Sofa zu sichern? Klar ist: Bei einem knurrenden Hund ist immer auch Aggression mit im Spiel. Und ein aggressiver Hund (egal wie klein er sein mag) gehört nicht gemeinsam mit einem Kind aufs Sofa! Und überhaupt: Wie steht ein Halter, der sich seinem Kind nähern will, denn da, wenn der eigene Hund ihm das durch Knurren verbietet?!

Einen ähnlichen »Ach, wie niedlich«-Effekt erzeugen Kinder, die den Hund – meistens eher unfreiwillig – füttern, etwa wenn ein Zweijähriger an einem Croissant knabbert und dem Hund einen Bissen davon entgegenstreckt. Was beim Hund hängen bleibt, kann später mehr und mehr zur Gefahr werden: Da der Kleine »Beute« abgibt, sieht der Hund sich in seiner Rolle als Ranghöherer bestätigt. Das kann dazu führen, dass er immer wieder versucht, dem kleinen Kind »Beute« streitig zu machen – so wie er das auch mit den Konkurrenten in einem Hunderudel machen würde. Doch was passiert, wenn das Kind einmal keine Lust hat, sein »Leckerchen« abzugeben? Oder wenn ihm ein Keks runterfällt, den es wieder aufheben möchte, der Hund jedoch ebenfalls Ansprüche auf diese »Beute« anmeldet und zuschnappt?

Die vierjährige Lena wird von der Mutter für das Familienalbum zusammen mit dem Schäferhund Rex abgelichtet. »Komm, Lena, leg mal den Arm um den Rex«, sagt die Mutter. Lena macht das, aber – wie Kinder nun mal sind – etwas überschwänglich. Sie legt nicht nur den Arm um Rex, sie drückt ihn fest an sich und hängt sich dabei sogar ein bisschen an ihn. Rex ist ein sozial verträglicher Hund, der noch nie Anstalten zur Aggression gegenüber Kindern machte, aber Lenas Gewicht am Hals wird ihm nun doch zu viel. Um sein Unbehagen mitzuteilen, schaut er zur Seite. Als das nichts hilft, beginnt er leise zu brummen – defensive Aggression als Abwehr einer Bedrohung. Das hört leider keiner, weil Lena die ganze Zeit laut plappert und vor Vergnügen kreischt. Außerdem haben die Eltern ihren Rex so tief in die Schublade mit der Aufschrift »Lieber Hund« gesteckt, dass sie seine Befindlichkeiten in der Kommunikation mit Kindern kaum noch beachten. »Lena, der Hund muss in die Kamera gucken, dreh ihn doch mal zu mir«, sagt die Mutter. Lena hängt immer noch mit beiden Armen am Hals von Rex, der wiederum zur Seite schaut, während sein »Lass mich in Ruhe«-Brummen im allgemeinen Geräuschpegel untergeht. Lena versucht nun, sein Gesicht in Richtung Mutter bzw. Kamera zu drehen. Doch Rex möchte das nicht, er stemmt sich dagegen, will sich am liebsten aus Lenas Umklammerung befreien. »Rex!«, ruft die Mutter, um ihn dazu zu bringen, sein Gesicht der Kamera zuzuwenden. Rex ist gut erzogen und weiß genau, was (normalerweise) von ihm erwartet wird, wenn die Chefin seinen Namen ruft: Er muss zu ihr. Das geht aber nicht, weil Lena ihn festhält. Nun kann er nicht mehr anders, er schnappt nach Lena und rennt zu Frauchen. Lena fällt um und beginnt zu heulen. Die Mutter ist entsetzt: Rex ist jetzt gar nicht mehr der »liebe Hund«, Rex ist »böse«.

Hund.epsIrrtum Nr. 12

»Hund und Baby müssen so schnell wie möglich beste Freunde werden.«

Falsch! Hunde und Kinder sollten so kontrolliert wie möglich, sprich nur sehr langsam und Schritt für Schritt, »beste Freunde« werden. Im Baby- und Kleinkindalter gilt zunächst die Grundregel: Den Hund nicht an das Kind ranlassen – und das Kind nicht an den Hund (Fressnapf und Körbchen sind für das Kind absolut tabu!). Nach und nach kann man dann Kontakt zulassen (Abschnüffeln, Abschlabbern) – jedoch niemals ohne jederzeit eingreifen zu können. Die meisten Beißzwischenfälle passieren, wenn Kinder den Hund so stören oder in die Enge treiben, dass dieser sich nur noch mithilfe seiner Zähne zu wehren weiß. Daher sollte man Kind und Hund niemals auch nur eine halbe Minute ohne Aufsicht allein lassen. Erst ab dem achten Lebensjahr ist ein Kind so weit, dass ein Hund es als Erziehungsberechtigten anerkennt. Wenn möglich, sollte sich eine Familie erst ab diesem Zeitpunkt einen Hund anschaffen.

Viele Eltern verhalten sich so leichtsinnig wie im obigen Beispiel. Meistens gehen Situationen wie diese verhältnismäßig »gut« aus und das Kind kommt mit dem Schrecken oder einer kleinen Schramme davon. Das ist aber leider nicht immer so – womit sich der Bogen zu den eingangs erwähnten Horrormeldungen über schwere Bissverletzungen schließt. Auch wenn er noch so süß ist und selbst wenn es sich »nur« um einen winzigen Yorkshireterrier oder einen typischen Familienhund wie Labrador oder Golden Retriever handelt – ich würde bei der Begegnung mit Kindern für keinen Hund der Welt die Hand ins Feuer legen. Ein Hund ist kein lebendiger Teddybär zum Spielen, sondern in jedem Fall ein für Menschen potenziell gefährliches Tier – auch dann, wenn er sich aus Hundesicht vollkommen stimmig verhält (siehe Rex). Begegnungen zwischen Hunden und Kindern lassen sich zwar bis zu einem gewissen Grad planen, aber weder Hund noch Kind sind zu 100 Prozent berechenbar. Daher müssen die Eltern so weit wie möglich Risiken vermeiden. Wenn das Kind nur einmal im falschen Moment den falschen »Knopf« drückt, kann das schlimme Folgen haben. Es gilt die goldene Regel: Lassen Sie Kinder und Hunde niemals unbeaufsichtigt zusammen, auch nicht für eine halbe Minute. Außerdem: Wippe, Laufgitter und Kinderwagen sind für den Hund tabu.

Oft fragen mich Kunden, die ein Kind bekommen wollen, wann der richtige Zeitpunkt sei, sich einen Hund anzuschaffen. Meine Antwort:

  1. Bekommen Sie die Kinder, bevor Sie sich einen Hund zulegen. Ein Welpe, der mit Kindern aufwächst, findet leichter seinen rangniedrigeren Platz im Familienrudel.
  2. Im idealen Fall sind die Kinder bereits acht Jahre oder älter, wenn ein Hund einzieht. Ab diesem Alter sind sie körperlich und mental reif genug, um effektiv an der Erziehung mitwirken zu können. Man kann ihnen erklären, dass der Hund ein eigenständiges Wesen ist, dem man mit Respekt begegnen muss und das gewisse Dinge nicht mag, wie zum Beispiel am Ohr ziehen, sich in seinen Korb legen oder ihm sein Essen zu stibitzen.

Es gibt eine Vielzahl von Familien, bei denen diese optimale Konstellation nicht möglich ist und die trotzdem einen Hund haben möchten. Wer mich in einem solchen Fall um Rat bittet, dem stelle ich zwei (rhetorische) Fragen, die zum Nachdenken und zur größerer Vorsicht anregen sollen: Wie bringt man einem Baby zuverlässig bei, nicht immer wieder munter Richtung Körbchen zu krabbeln? Und wie erklärt man einem Hund, dass ein Baby sehr empfindlich ist und ausnahmslos mit großer Vorsicht behandelt werden muss? Ein Ding der Unmöglichkeit – und eine große Gefahr für das Baby. Man stelle sich vor, dass ein gerade erst vom Kuschelkönig und Kinderersatz zum Familienmaskottchen degradierter Hund endlich mal in Ruhe in seinem Körbchen einen Knochen beknabbern möchte – und plötzlich schaut da ein Baby über den Körbchenrand und greift nach besagtem Knochen. Besonders Hunde, die vorher der Platzhirsch in der Familie waren, die immer noch permanent auf der Couch thronen und sich durch andauernde Bestechung mit Leckerchen und mangelnde Erziehung in der Rangfolge gleichauf oder über den Haltern einordnen, können – unabhängig von Hunderasse und -größe – gefährlich werden, wenn ein (aus Hundesicht rangniedrigeres) Baby ins Rudel aufgenommen wird.

Abgesehen von der Grundregel »Kinder nie mit dem Hund allein lassen« gebe ich Hundehaltern mit Babys oder Kleinkindern für den Anfang folgende Aufgabe: Sie dürfen den Hund nicht an das Kind ranlassen und das Kind nicht an den Hund. Zeigen Sie dem Hund, dass Sie »bissig« werden, sobald er sich dem Kind nähert. Auf diese Weise minimieren Sie das Risiko, dass etwas passiert, und handeln dabei auch noch so artgerecht wie menschenmöglich – denn eine Hundemutter würde genau auf diese Weise dafür sorgen, dass kein anderer Hund ihren Welpen zu nahe kommt. Ihr Hund ist ganz sicher nicht beleidigt, wenn Sie so handeln. (Er ist überhaupt nie beleidigt, vergleiche Kapitel 6, »Der ›Mein Hund ist beleidigt‹-Irrtum«). Sobald der Hund einmal gespeichert hat, dass er sich dem Baby nicht nähern darf, können Sie nach und nach Kontakt zulassen – aber nur kontrolliert (der Hund bleibt beispielsweise an der Leine!), sodass das Baby bzw. Kleinkind nicht gefährdet wird. Ein regelmäßiges kurzes Beschnuppern oder Abschlabbern ist okay (sofern der Hund geimpft und entwurmt ist), mehr erst mal nicht. Bedenken Sie, dass schon ein spielerischer Schwinger mit der Pfote, der unter Hunden völlig normal ist, einem Baby schwere Verletzungen zufügen kann. Wenn Ihr Kind aus dem Krabbelalter raus ist und sich Hund und Kind aneinander gewöhnt haben, gilt es jederzeit auf die Körpersprache Ihres Hundes zu achten: Ist ihm das Verhalten des Kindes unangenehm? Zeigt er Meideverhalten und dreht sich weg bzw. entfernt oder verkriecht er sich?

»Lesen« Sie Ihren Hund, reagieren Sie frühzeitig und greifen Sie ein. Manchmal hat der Hund Lust, mit Kindern zu spielen, manchmal will er aber auch einfach nur seine Ruhe haben. Auch Kinder können ganz schön grob sein. Wenn ein Hund sich durch ein Kind provoziert fühlt (so wie Rex im obigen Beispiel), wird er sich zur Wehr setzen – und als Greifwerkzeug hat er nur sein Maul.

Wie zeige ich meinem Hund, dass er sich einem Baby oder Kleinkind nicht nähern darf? Um dies zu illustrieren, möchte ich Ihnen die Geschichte von Familie Brehme und Boris erzählen. Die Brehmes sind ein Paar Mitte 30, das gerade sein erstes Kind bekommen hat. Boris ist ein fünf Jahre alter Terrier-Mischling, der schon als Welpe zu den Brehmes kam und von seinen natürlichen Anlagen her ein recht dominantes Tier ist. Durch inkonsequente Erziehung, Verhätschelung, permanente Bestechung mit Leckerchen und Blümchentraining in der Prägephase hat sich Boris zwischenzeitlich zu einem echten Problemfall entwickelt.

Als Ersthund war er für die damals noch kinderlosen Brehmes sicher alles andere als die ideale Wahl. Er zog wie wild an der Leine, knurrte Herrchen und Frauchen vom Sofa aus an und attackierte auf der Hundewiese regelmäßig andere, zum Teil viel größere Rüden. Das lag auch daran, dass sich Herr und Frau Brehme in der Erziehung selten einig waren und Probleme hatten, Boris zu korrigieren bzw. ihm Grenzen aufzuzeigen. Auch eine Kastration brachte nicht die von den Brehmes erhoffte Entspannung, sowohl die Aggression gegen Rüden als auch das Dominanzverhalten blieben erhalten.

Den Hund wegzugeben kam nicht infrage, die Brehmes waren bereit zu kämpfen. Mit konsequentem Training bekamen sie ihren Hund so weit in den Griff, dass ein einigermaßen geregelter und entspannter Alltag wieder möglich war: Die beiden zogen eine gemeinsame Linie durch, lasteten Boris durch viel Fahrradfahren aus, fanden einige Hündinnen, mit denen er regelmäßig spielen konnte, und mieden beim Freilauf Orte mit hoher Hundedichte. Doch obwohl die Brehmes ihr Bestes gegeben haben, wird Boris in ihrer Obhut nie ein Hund werden, den man bedenkenlos auf einer Hundewiese laufen lassen und jederzeit abrufen kann. Zu sehr hat er sich in der Prägephase als dominanter Rüde ausgelebt. Deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass neue Probleme auftauchen würden, sobald die Brehmes Familienzuwachs bekämen.

Als ich Boris nach anderthalb Jahren Trainingspause wiedersehe, merke ich sofort, dass seine konsequente Erziehung nachgelassen hat. Boris spielt sich schon an der Wohnungstür als Hausherr auf und zeigt dominante Allüren. Zum Glück nicht so schlimm wie bei unserer ersten Begegnung, aber ausreichend, um die Brehmes, die kurz zuvor Eltern geworden sind, fast an den Rande eines Nervenzusammenbruchs zu treiben. Das Baby schläft in der Wiege direkt neben dem Ehebett, Boris wie gewohnt im Wohnzimmer in seinem Körbchen. Immer wenn das Baby aufwacht und aus Hunger oder einem anderen Grund zu schreien beginnt also ziemlich oft und mehrmals pro Nacht –, reagiert Boris mit einem Bellkonzert, rennt zur Wiege und springt daran hoch. Wenn das Baby nur leise wimmert, hörbar atmet oder sich mit irgendwelchen Geräuschen bemerkbar macht (was häufig der Fall ist), antwortet Boris mit Dauerfiepen. Nach drei mehr oder weniger schlaflosen Nächten ruft mich Familie Brehme zu Hilfe. »Boris will unsere kleine Tochter beschützen, wenn sie weint«, so ihre Interpretation. Ich beobachte die Situation: Boris will das Baby nicht »beschützen«, er ist irritiert von den veränderten Lebensumständen. Ein neues Rudelmitglied stellt die bisherigen Gewohnheiten auf den Kopf. Es macht Geräusche, die er bisher noch nie in der Wohnung gehört hat, es bringt unbekannte Gerüche ins Haus und zieht ständig die Aufmerksamkeit von Herrchen und Frauchen auf sich.

Herr und Frau Brehme wiederum sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Boris aus Rücksicht auf die kleine Tochter zu maßregeln, und einem schlechten Gewissen, weil sie nur noch wenig Zeit für ihn aufbringen. Die Rücksichtnahme auf das Baby bremst auch die Hundeerziehung aus: Statt Boris deutlich zu korrigieren, flüstern sie »Aus!«, sobald Boris zu bellen beginnt oder an der Wiege hochspringt, damit die Kleine nicht gestört wird. Kurz nach der halbherzigen Korrektur wird Boris schon wieder gestreichelt – wenn sie gerade mal eine Hand frei haben.

Das muss sich nun ändern: Deshalb bekommt Boris in der Wohnung die Leine umgelegt, damit er leicht und schnell zu kontrollieren ist. Familie Brehme muss ihn fortan mit einem kurzen Leinenruck aus dem Handgelenk in Verbindung mit dem Kommando »Nein!« (siehe Kapitel 3, »Mit der Leine artgerecht ›beißen‹«) korrigieren, sobald er Anstalten macht, zu bellen oder zu fiepen oder sich in Richtung Baby zu bewegen. Boris soll lernen: Wenn ich mich der Wiege bzw. dem Baby nähere, tut mir das nicht gut. Mir geht’s besser, wenn ich mich fernhalte. Das klappt sehr gut. Nach nur einer halben Stunde Korrektur-Training haben wir Boris so weit, dass er das Baby meidet. Auch Bellkonzerte und Dauerfiepen stellt er ab.

Familie Brehme bekommt an diesem Punkt weitere Instruktionen, um das bisher Erreichte zu halten und zu vertiefen: Boris muss in der Wohnung weiterhin die Leine tragen und wird, sobald er bellt oder fiept, mit einem kurzen Leinensignal korrigiert. Außerdem muss die Familie darauf achten, dass beim Füttern des Babys kein Essen auf den Boden fällt, denn die »Beute« des Babys ist für Boris tabu. Ganz wichtig: Die Familie hat für Boris zwar weniger Zeit als früher, aber der Hund darf nicht zu kurz kommen oder ausgeschlossen werden. Die Brehmes sollen (wie alle Hundehalter mit Kindern!) versuchen, ihren Tag so einzuteilen, dass sie Boris in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit so intensiv wie möglich auslasten – und ihm auch die verdienten Streicheleinheiten zu geben, etwa wenn das Baby schläft.

Sechs Wochen nach dem »Baby weint, Hund bellt«-Notruf besuche ich die Brehmes noch einmal: In den ersten Tagen nach unserem Termin mussten sie Boris jeweils zwei- bis dreimal am Tag korrigieren, danach hatte er das Meidverhalten so verinnerlicht, dass er wieder ohne Leine in der Wohnung sein konnte. Nun besprechen wir die nächsten Schritte des durchaus langen Weges, Baby und Hund so risikoarm wie möglich aneinander zu gewöhnen. Das Baby der Brehmes kommt nämlich bald ins Krabbelalter. Ein krabbelndes Baby auf »vier Beinen« erscheint einem Hund zunächst wie ein Artgenosse, deshalb neigt er dazu, es auch wie einen solchen zu behandeln. Und das kann sehr gefährlich werden, denn wenn Boris nur einmal spielerisch die Pfote ausfährt, hat das Baby schon einen Kratzer im Gesicht. Daher steht für die Brehmes eine neue Aufgabe auf dem Plan: Nicht nur der Hund soll sich vom Baby fernhalten, auch das Baby soll den Hund meiden. Die Erziehung des Kindes ist allerdings die deutlich schwierigere Aufgabe. Sie wird aber im Lauf der Zeit – vom Kleinkindalter über die Kindergartenzeit bis zur Einschulung – immer leichter, weil das Kind mit zunehmendem Alter besser versteht, dass auch der Hund ein Ruhebedürfnis und eine Schmerzgrenze hat. Generell muss jedes Elternpaar dabei auch ein bisschen nach Gefühl handeln: Was kann ich wann zulassen im Kontakt zwischen Kind und Hund? Bei einem eher schwierigen, dominanten Exemplar wie Boris sollte man mehr Vorsicht walten lassen als bei einem gut erzogenen, eher unterwürfigen Hund.

Bringen Sie Ihrem Kind in jedem Fall bei, dass der Rückzugsort, der Fressnapf sowie die Spielzeuge des Hundes absolut tabu sind. Das Kind darf also nicht an das Kissen bzw. den Korb des Hundes ran, es darf ihn weder beim Fressen stören noch sein Spielzeug benutzen. Auch wenn Sie mit einem drei- oder vierjährigen Kind schon üben können, dem Hund Kommandos wie »Sitz!« oder »Platz!« zu geben, bedeutet es noch lange nicht, dass Ihr Hund das Kind als ranghöher einstuft, wenn er das Kommando befolgt. Wie schon gesagt: Nach meiner Erfahrung akzeptieren Hunde Kinder erst als Erziehungsberechtigte, wenn diese etwa acht Jahre sind. Sie kennen Ihr Kind, Sie kennen Ihren Hund. Nur Sie allein können entscheiden, ab wann Ihr Kind in der Lage ist, den Hund auch ohne Ihre Unterstützung zu führen und zu kontrollieren. Es gibt Achtjährige, die das bereits sehr gut können, es gibt aber auch Zwölfjährige, die besser nicht mit einem Hund allein bleiben sollten.

Das »Halter schwer erziehbar«-Phänomen

Eine sonntägliche Hundegruppe. Das Training beginnt um zwölf Uhr. Um Viertel vor zwölf trudeln die ersten Teilnehmer ein, spazieren die paar Hundert Meter vom Parkplatz zum eingezäunten Trainingsplatz. Man kennt sich, unterhält sich angeregt und achtet dabei wenig auf die Hunde. Die wiederum wissen schon, was kommt, sobald sie aus Herrchens oder Frauchens Auto gesprungen sind. Die meisten ziehen ihre Halter in freudiger Erregung und an straffer Leine Richtung Trainingsplatz. Dort angelangt, bekommen Hunde und Halter eine Lektion zum Thema Leinenführigkeit (Regel: Die Leine muss beim Gassigehen locker durchhängen und darf nicht unter Spannung kommen). Viertel vor eins: Das Training ist vorbei. Nun dürfen die Hunde ihre Halter wieder an straffer Leine zurück zum Auto ziehen, während diese über das diskutieren, was sie gerade gelernt haben. Zugegeben: Die Geschichte ist überspitzt formuliert. Dennoch ist sie ziemlich nahe an der Realität – und ein gutes Beispiel dafür, wie schwer erziehbar viele Hundbesitzer sind.

»Hör mal, ich komm mit meinem Herrchen irgendwie gar nicht klar. Der ist immer so unsicher und inkonsequent, und ich weiß nie, woran ich bin. Kannst du mir vielleicht helfen, den zu erziehen?« Wenn Hunde sprechen könnten, würden meine Trainerkollegen und ich diesen Satz wahrscheinlich ziemlich oft hören. Auch wenn Hunde relativ »zuverlässig« auf bestimmte Kommandos und Signale reagieren, ist es entscheidend, dass die Menschen zuverlässig in der Lage sind, diese Kommandos und Signale zum richtigen Zeitpunkt und konsequent anzuwenden – und zwar nicht nur auf dem Hundeplatz, sondern jederzeit und überall. Da wir Menschen viel weniger über Instinkt und Reflexe und weit mehr über Verstand und Gefühle funktionieren, sind wir viel weniger berechenbar – und produzieren eine höhere »Fehlerquote«. Aus meiner Erfahrung als Hundetrainer kann ich sagen, dass zu etwa 30 Prozent der Hund und zu rund 70 Prozent Herrchen und Frauchen erzogen werden müssen. Wenn die Pflegeanleitung vorgibt, dass ich den neuen Wollpullover nur mit der Hand waschen darf, ich ihn aber aus Faulheit in die Waschmaschine stecke, dann muss ich mich nicht wundern, wenn er einläuft. Will sagen: Manchmal reicht schon ein falscher Waschgang, um erste Trainingserfolge wieder zunichtezumachen.

Bei meiner Arbeit erlebe ich Kunden, die mit voller Konzentration trainieren und ziemlich schnell Erfolge erleben, aber auch solche, die sich quälen und schließlich sogar aufgeben, weil sie nicht in der Lage sind, Regeln gegen den »Willen« ihres Hundes durchzusetzen. Darüber hinaus gibt es auch Kunden, die den Begriff »Konsequenz« ganz neu definieren: »Herr Lenzen, der Sparky darf bei uns jetzt gar nicht mehr aufs Sofa, außer sonntags, da machen wir immer eine Ausnahme.«

Kein Wunder also, dass ein Hundetrainer immer auch ein Gespür für die Befindlichkeit des Menschen braucht. Ich muss erkennen, wenn sich ein Kunde selbst im Weg steht, und ihm auf respektvolle Art und Weise klarmachen, dass er mindestens so viel an sich selbst arbeiten muss wie mit seinem Hund. Oder dass er sich mit seiner Einschätzung, welche Ursache die Probleme des Hundes haben, auf dem Holzweg befindet. Besonders kompliziert wird es, wenn ein Kunde erst einmal ausführlich erklärt, wie viele Hunde er schon im Leben gehalten hat und wie gut er mit ihnen klargekommen ist – und dann irgendwann doch die Hosen runterlässt: »Aber dieser hier ist irgendwie anders.« Kurz: Der Problemhalter sucht die Ursachen des Problems ausschließlich bei seinem Hund und nicht bei sich selbst.

Seit einigen Jahren erweist sich auch das durch die Medien geprägte Bild vom Hundetraining zunehmend als Problemfaktor: Die Halter erzählen, dass sie ihren Hund genauso erzogen haben, wie es ihnen ein Trainer im Fernsehen oder in einem Hunde-Ratgeber vorgemacht hat. »Das hat bei unserem Hund aber nicht funktioniert. Was machen wir falsch?«, kommt dann häufig als Frage. Ich erkläre den Hundehaltern in solchen Fällen, dass sich Erziehungsmethoden selten eins zu eins auf den eigenen Hund übertragen lassen. Denn nur der Trainer, der den Hund »live« erlebt, ist in der Lage, ihn richtig zu interpretieren. Besonders das Training mit Leckerchen funktioniert wie gesagt nicht mit jedem Hund und kann sogar für viele Probleme mitverantwortlich sein.

Natürlich spielt bei der konsequenten Hundeerziehung auch der Faktor »Zeit« eine wichtige Rolle. Ein berufstätiger Hundehalter wird wahrscheinlich weniger schnell Erfolge feiern als einer, der viel Zeit fürs Training hat. Wer absehen kann, dass er nicht die notwendige Zeit aufbringen kann, sollte mit der Anschaffung eines Hundes lieber bis zur Rente warten.

3 Manche Tierärzte empfehlen, den zeitweiligen Anstieg des Testosterons, der zu einer erhöhten Aggression führt, zu minimieren, indem der Hund eine Woche vor der Implantation des Chips eine Delmadinonacetat-Spritze bekommt.