Kapitel 3

Dem Hund Grenzen setzen

Mit der Leine artgerecht »beißen«

Hundemütter loben nicht. In der Hundewelt wird, wie schon gesagt, durch Zurechtweisung erzogen – auch wenn das nicht so recht zu den Idealen unserer modernen westeuropäischen Menschenwelt passt. »Zurechtweisung« ist dabei keineswegs mit »Bestrafung« gleichzusetzen. Im Zusammenhang mit der »Leckerchen-Lüge« habe ich es bereits angesprochen: Herrchen und Frauchen sollten so weit wie möglich die Muster der Erziehung zwischen Hund und Hund kopieren. Natürlich können Sie schlecht nach Ihrem Hund schnappen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Zur Korrektur unerwünschten Verhaltens können Sie aber die Leine auf eine Art und Weise einsetzen, die eben diesen erziehenden Biss der Hundemutter oder des Erzieherhundes simuliert – ein kurzes, vollkommen unblutiges Zwicken, Greifen, Beißen oder Stoßen im Hals- oder Nackenbereich, wo die Haut faltig und weniger empfindlich ist, als viele denken. (An der Flanke würde die Haut nach einem Biss viel schneller einreißen.)

Hund.epsIrrtum Nr. 13:

»Die Hundemutter schüttelt ihren Welpen im Nacken, um ihn zu bestrafen – also mache ich das auch.«

Falsch! Die Hundemutter benutzt ihre Nase, um den Welpen im Nacken anzuschubsen, sie würde ihn aber niemals am Nacken packen und schütteln, denn das Nackenschütteln steht in der Hundewelt für den »Beuteschlag«. Sprich: Ein Kaninchen oder eine Ratte wird totgeschüttelt. Vielleicht haben Sie dieses Verhalten schon einmal in spielerischer Form bei Ihrem Hund erlebt, als er einen Lappen oder ein Stofftier mehrere Sekunden wie wild hin- und hergeschüttelt hat. Für einen Hundewelpen wäre eine solche »Bestrafung« jedoch alles andere als Spaß oder Spiel, sondern ein schlimmes, (todes)angsteinflößendes Signal.

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Der »erziehungsberechtigte« Hund weist den Jüngeren mit einem Biss in den Hals in seine Grenzen

Zweibeiner »beißen« mithilfe eines kurzen Leinenrucks aus dem Handgelenk. Wichtig dabei: Die Leine muss so gehalten werden, dass sie nicht wegrutschen kann – Schlaufe um den Daumen, Hand schließen, die andere Hand direkt anschließen und das Ganze vor die Brust nehmen.

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In dieser Position können Sie den Leinenruck mit einer kleinen Bewegung auch an einen größeren Hund weitergeben. Die Leine wird nur für einen Sekundenbruchteil auf Spannung gebracht und muss vorher und nachher – das ist entscheidend – locker durchhängen. Es geht nicht darum, den Ruck mit besonderer Wucht auszuführen und den Hund wegzuzerren, und schon gar nicht darum, ihm Schmerzen zu bereiten. Ein kurzer Impuls aus dem Handgelenk reicht, etwa so, als würden Sie eine Peitsche schnalzen lassen. Auf diese Weise rufen Sie bei einem Hund, der gerade etwas Unerwünschtes macht, wenn er zum Beispiel an der Leine zieht oder sich ein weggeworfenes Brötchen vom Boden schnappen will, eine Schrecksituation hervor. Der Leinenruck holt meinen Hund aus einer Aktion heraus, nimmt ihm die Motivation und verhindert, dass er sein Ziel erreichen kann und ein Erfolgserlebnis hat. Außerdem unterstreiche ich dadurch, wer im Rudel das Sagen hat (denn auch ein Mensch und ein Hund sind zusammen bereits ein Rudel!). Häufig wird der Leinenruck mit einem Antippen auf die Schulter verglichen, das zum Ziel hat, die Aufmerksamkeit des Angetippten ab- bzw. umzulenken.

Entscheidend für einen korrekt ausgeführten Leinenruck ist, dass er – genau wie das Lob – zum richtigen Zeitpunkt und darüber hinaus angemessen dosiert erfolgt. Das kann (fast) jeder lernen, aber es erfordert weitaus mehr Aufwand, Willen und Konsequenz, als den Hund mit Leckerchen zu bestechen. Ich vergleiche das gern mit dem Führerschein. Auch beim Autofahren geht es weniger um Talent, sondern vielmehr um geduldiges Üben. Dem einen fällt es leichter, der andere scheitert am Anfang immer wieder daran, ein Gefühl für die Koordination von Gaspedal und Kupplung zu entwickeln – und schließlich klappt es in den allermeisten Fällen trotzdem. Autofahren lerne ich eben nicht, indem mir der Fahrlehrer ein paar Bonbons zusteckt.

Wer Unarten wie Dauerbellen oder Leineziehen frühzeitig mit einem richtig ausgeführten Leinenruck korrigiert, wird später keine bzw. weniger Probleme haben. Schwieriger stellt sich die Situation dar, wenn sich der Hund das schlechte Benehmen bereits angewöhnt und sich im übertragenen Sinne eine »Hornhaut« zugelegt hat. Ein solcher Hund ist oft schreckresistent und »immun« gegen eine Leinenkorrektur. Bei »eingeübten« Dauerziehern kann ein falsch ausgeführter Leinenruck (zu sanft, zu stark, zu spät, zu lang) das Fehlverhalten sogar noch verstärken. In solchen Fällen ist professionelle Anleitung notwendig. Das gilt auch, wenn große, schwere Hunderassen von eher zierlichen Menschen an der Leine geführt werden oder wenn der Hund aus medizinischen Gründen (zum Beispiel, weil er einen Wirbelschaden hat) nicht trainierbar ist.

Hund.epsIrrtum Nr. 14:

»Ein Leinenruck ist Tierquälerei.«

Falsch! Ein richtig dosierter und getimter Leinenruck simuliert ein kurzes Zwicken der Hundemutter in den Nacken und hat nichts mit Tierquälerei zu tun. Wenn er angewandt wird, um einem Hund das Dauerziehen an der Leine sowie Aggressions- und Bellverhalten abzugewöhnen, so ist das im Gegensatz zur Bestechung mit Leckerchen nicht nur weitaus effektiver, sondern auch artgerecht. Selbstverständlich muss der Leinenruck mit entsprechendem Fingerspitzengefühl ausgeführt werden. Ein abgestumpfter Dauerzieher benötigt eine andere Ansprache als ein eher zarter, kleiner Hund. Will sagen: Schießen Sie nicht mit Kanonen auf Spatzen. Im Zweifelsfall sollten Sie die technischen Fertigkeiten bei einem Experten lernen, statt wild draufloszurucken. Vorsicht: Es kann zu Schädigungen der Halswirbel kommen, wenn Laien statt eines normalen Halsbandes ein Kettenhalsband verwenden. Von solchen Halswirbelschädigungen sind übrigens häufig auch Hunde betroffen, die im Alltag an der Kette gehalten werden und immer wieder ruckartig daran zerren. Aus diesem Grund ist Kettenhaltung komplett abzulehnen!

Problemhunde unterordnen

Entgegen der undifferenzierten Komplett-Ablehnung des Leinenrucks durch Blümchentrainer und Co. bin ich als Leinenruck-Befürworter keineswegs der Meinung, dass man einen Hund in jedem Fall und in jeder Situation mit dessen Hilfe erziehen muss. Einem leicht erziehbaren »Blümchenhund« begegne ich auf »Blümchenebene«, das heißt: Konditionierung auf Hörzeichen, kein Leinenruck, positive Verstärkung durch Lob (aber ohne Leckerchen!). Allerdings wird man damit bei Problemhunden in der Regel nicht weit kommen. Problemhundtrainer treffen überwiegend auf Hunde mit mindestens zwei bis drei der folgenden Eigenschaften: aggressiv, stark, groß, schnell, kampffreudig, hyperaktiv, entschlossen, bissig. Sie sind häufig von einem Halter zum nächsten geschoben worden, kommen oft aus dem Ausland oder aus dem Tierheim und sind meist älter als zwei Jahre. Solche in ihrem Extremverhalten »durchgeprägten« Hunde lassen sich von »Blümchenmethoden« meist nicht beeindrucken bzw. sind erst durch diese Methoden zum Problemhund geworden. Viele sind bereits aus der Hundegruppe einer Blümchenschule ausgeschlossen oder dort nach erfolglosem Einzeltraining als »verhaltensgestört« und »nicht therapierbar« abgestempelt worden. Ich spreche aus Erfahrung: Der Großteil der Hundehalter, die zum Einzeltraining zu mir kommen, hat vorher mindestens eine andere Hundeschule ausprobiert. Viele haben ihr Glück sogar bei drei oder vier Trainern versucht. Bei besonders schwierigen Fällen höre ich manchmal: »Sie sind unsere letzte Hoffnung, sonst müssen wir unseren Hund abgeben oder einschläfern lassen.«

Trainer, die wie ich in bestimmten Fällen auf den Leinenruck als Bestandteil der Hundeerziehung vertrauen, scheinen im Zuge des Booms von Leckerchen, Klicker, Halti und Futterbeutel (vergleiche Kapitel 5, Überschätzte Hilfsmittel bei der Hundeerziehung) und Hunde-Esoterik (Bach-Blütentherapie, Hand auflegen, Energie fließen lassen, Telepathie Mensch-Hund) zur Minderheit geworden zu sein. Was zum einen an den vielen neuen Hundetrainern liegt, die einen Teil vom großen Kuchen abhaben möchten und den schnellen, Erfolg versprechenden und auf Leckerchen-Bestechung basierenden Blümchenweg wählen (was, wie schon gesagt, für Labradore und andere Blümchenhunde nicht notwendigerweise schlecht sein muss). Zum anderen vermeiden viele Kollegen, die – wenn nötig – mit Leinenruck arbeiten, diese Methode in den Medien oder auf Ihrer Website zum Thema zu machen, nicht zuletzt, um der »Golden-Labby-Lobby« keine Angriffsfläche zu bieten. Manchmal wird der Leinenruck auch als Leinenimpuls, Leinenkorrektur oder Leinensignal bezeichnet – weil das nicht ganz so »böse« klingt. Neben einigen wenigen, oft sehr erfahrenen und renommierten deutschen Kollegen vertraut übrigens auch der führende amerikanische Hundetrainer Cesar Millan auf den Leinenruck – und ist dafür im Internet regelmäßig Hasstiraden angeblicher »Tierfreunde« ausgesetzt. Ignoranz verhindert hier einen klaren Blick auf die Fakten. Denn ein Training mit korrekt eingesetztem Leinenruck hat schon viele Problemhunde von ihrer Rudelführer-Position gestoßen und vor dem Einschläfern gerettet – ein Haufen Leckerchen, Klickertraining oder Bach-Blüten tun das ganz sicher nicht. Ist eben auch alles eine Frage von PR und Marketing. Versuchen Sie mal, einen Leinenruck positiv zu verkaufen! Die Bilder, die dabei im Kopf entstehen, sind natürlich lange nicht so positiv besetzt wie die Gabe eines Leckerchens – auch wenn es in beiden Fällen darum geht, den Hund zu beherrschen: artgerecht nachgeahmte Korrektur versus unnatürliches Abhängigmachen. Gefragt ist eben nicht immer das, was in der Hundewelt üblich ist und am besten wirkt, sondern das, was in der Menschenwelt am ehesten irgendwelchen Trends oder dem Zeitgeist entspricht.

Wer sich zum Thema Leinenruck in den Hundeforen im Internet umschaut, stellt schnell fest, dass es dabei hitzig und hochemotional hergeht. Die Argumente werden oft dermaßen wild durcheinandergeworfen, dass der Laie hinterher gar nicht mehr durchblickt. Die Befürworter einer sanften und leisen Erziehung kommen schnell mit dem pauschalen Vorwurf der Tierquälerei. Wird ein Hund durch einen Leinenruck gequält? Die differenzierte Antwort lautet: Nein. Außer, wenn der Leinenruck wiederholt und über einen längeren Zeitraum falsch ausgeführt wird – sonst nicht!

Was in der Diskussion oft vergessen wird: Wenn ein Hund einen Adrenalinkick bekommt (zum Beispiel weil er einen Artgenossen auf der anderen Straßenseite sieht) und in die straffe Leine springt, verpasst er sich im Grunde selbst einen Leinenruck – ohne Herrchens oder Frauchens Einwirkung. Notorische Leinenzieher und In-die-straffe-Leine-Springer sind einer permanenten Belastung der Halswirbel und zusätzlich einer erheblichen psychischen Belastung ausgesetzt. Korrigiert ein Halter einen solchen Problemhund kurzfristig mit einer wohldosierten, an seinen Körperbau angepassten Leineneinwirkung, wird er früher oder später ganz aufhören, an der Leine zu ziehen.

Das verleitet mich zu einer provokant zugespitzten Frage an Leinenruck-Gegner: Was ist Ihnen lieber – ein Hund, der sein ganzes Leben lang auf Dauerzug verbringt und damit definitiv seine Halswirbel schädigt, oder einer, der durch eine kurzfristige dosierte Leineneinwirkung vom Dauerzieher zum Musterschüler wird? Schließlich dauert ein erfolgreiches Leinenruck-Training kein ganzes Hundeleben, sondern nur einige Tage bis Wochen. Danach sind allenfalls gelegentliche Nachkorrekturen nötig – solange man folgende Regel einhält: Der Hundehalter hält seinen Hund sowie die Umgebung unter ständiger Beobachtung und ist in Gedanken permanent »einen Schritt« voraus. Der Hund spürt das, unterlässt seine Unarten, respektiert den Halter als Ranghöheren – und lebt dadurch viel ausgeglichener und entspannter. Hund entspannt, Halter entspannt, Teufelskreis durchbrochen.

Bei manchen Problemfällen kommt es vor, dass ich mit einem besonderen Hilfsmittel arbeite. Es hat nach innen gerichtete Metallstifte und ist in Deutschland in fast jedem Tiergeschäft zu haben: das Schüttel-Ruck-Halsband, auch Stachelhalsband genannt.

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Ein Schüttel-Ruck-Halsband

Die Krallen im Halsband imitieren die Zähne des Ranghöheren im Rudel, ein durch die Leine ausgelöster »Biss« kommt somit deutlich stärker beim Hund an als beim normalen Halsband. Dabei darf die Leine nicht auf Zug sein. Der Hund darf die Krallen nur für die Sekunde spüren, in der der Halter den Leinenimpuls auslöst – danach muss die Leine sofort wieder locker durchhängen. Ich bin mir sicher, dass der Erfinder dieses Halsbandes nicht im Sinn hatte, Hunde damit zu quälen – im Gegenteil. Dennoch plädiere ich dafür, dass Schüttel-Ruck-Halsbänder nicht mehr frei verkauft werden dürfen. Denn in den Händen eines unerfahrenen, ungeduldigen oder wütenden Hundehalters wird es schnell zum Folterinstrument – auch wenn es nicht, wie viele Menschen aufgrund des Namens glauben, über richtige, spitze Stacheln verfügt. Klar, mit dem neuen Schüttel-Ruck-Halsband hört der Hund wie von Zauberhand auf zu ziehen. Doch was ist der Preis für diesen vermeintlichen Erfolg? Es mag nicht allen Anwendern bewusst sein, aber die tägliche Verwendung eines Stachelhalsbandes hat in etwa den gleichen Effekt wie die tägliche Einnahme von Kopfschmerztabletten. Irgendwann wirken sie nicht mehr – auch nicht in der Maximaldosis –, denn mit der Zeit stumpft der Körper ab. Irgendwann spürt der Hund die Stacheln nicht mehr – besonders dann, wenn die Leine (fälschlicherweise!) oft unter Spannung steht. Doch bis es so weit kommt, erleidet der betroffene Hund physische und psychische Schäden – umso mehr, wenn Größe und Stärke des Stachelhalsbands falsch ausgewählt wurden. All das passiert aus Unwissen oder Naivität – häufig aber auch, weil Hundebesitzer schlichtweg zu faul sind, um mit ihrem Hund zu trainieren. Keine Anstrengung, keine Mühe, keine Konzentration – einfach das »Zauberhalsband« aus Metallgliedern umlegen, und der Hund funktioniert.

Auch wenn meine Trainerkollegen und ich Hundehalter, die unbedacht zu einem Schüttel-Ruck-Halsband gegriffen haben, in den meisten Fällen bremsen und davon abhalten, es weiterzubenutzen, laufen auf Deutschlands Wiesen und Wegen immer noch Tag für Tag Hunde mit solchen Halsbändern durch die Gegend, weil ihre Besitzer entweder keinen fachkompetenten Rat eingeholt zu haben oder meinen, es besser zu wissen. Grausames Verhalten, arme Hunde.

Ist der Einsatz des Schüttel-Ruck-Halsbands tabu? Nein, es gibt Hunde, die durch das ständige Ziehen an der Leine so abgestumpft sind, dass nichts anderes mehr hilft. In den Händen eines trainierten Menschen verwandelt sich das Folterinstrument dann jedoch in ein hochsensibles Trainingsgerät. Dieses Training sollte allerdings nur unter fachlicher Anleitung erfolgen. Wie gesagt: Die Halsung mit nach innen gerichteten, stumpfen Metallstacheln bewirkt, dass sich der durch Leinenruck simulierte »Biss« um ein Vielfaches verstärkt. Das kann bei Problemhunden, die extrem stark und/oder extrem aggressiv sind, unter Umständen der einzige Weg sein, um sie zu trainieren und wieder »hinzubekommen«.

Manch einen Problemhund hat das Schüttel-Ruck-Halsband schon vor dem Einschläfern bewahrt. Doch auch für solche Hunde darf es kein Dauerzustand sein. Nach erfolgreichem Training sollten sie wieder am herkömmlichen Halsband durchs Leben laufen. Ich persönlich setze bei schwierigen und körperlich starken Problemhunden zusätzlich zum Stachelhalsband ein zweites, »normales« Halsband ein. Beide Halsbänder hake ich in eine verstellbare Leine mit zwei Karabinerhaken ein. So habe ich die Möglichkeit, die Korrektur optimal und auf die Situation abgestimmt zu dosieren. Bei kleineren »Bissen« reicht das normale Halsband, muss ich stärker auf den Problemhund einwirken, »beiße« ich mit dem Schüttel-Ruck-Halsband.

Mit Disziplin und Konsequenz Orientierung geben

Sie erinnern sich an Yorkshireterrier Jerry und die »Zu schnell auf Du und Du«-Falle, in die seine Besitzer getappt sind? Nun, dann wird Sie sicher interessieren, wie King Jerry – mithilfe des Leinenrucks – entthront worden ist.

Herrchen und Frauchen haben Jerry durch mangelnde Konsequenz auf die Chef-Position gehoben, die für jeden Hund mit permanentem Stress verbunden ist. 24 Stunden täglich »Türsteher« und »Security« – wer kann da schon entspannt und ausgeglichen sein? Für den Hundehalter hingegen bedeutet es deutlich weniger Anspannung, die einmal erlangte Rolle als Rudelführer im Alltag zu verteidigen. Auch dann, wenn er von Natur aus nicht unbedingt eine Führungspersönlichkeit ist. Jeder Mensch kann lernen, seinen Hund zu führen und ihm Orientierung zu geben.

Als ich bei Jerrys Familie zur ersten Trainingsstunde klingele, höre ich – erwartungsgemäß – heftiges Bellen. Die Wohnungstür öffnet sich einen kleinen Spalt und der kleine Jerry versucht, sich zähnefletschend durch den Türspalt zu zwängen. Er trägt weder Halsband noch Leine. Nach meiner freundlichen, aber bestimmten Aufforderung, den Hund an die Leine zu nehmen und ihn mir zu übergeben, erwidert die Kundin: »Nein, nein, kommen Sie erst mal rein, aber vorher muss Jerry an Ihnen schnuppern, bleiben Sie ganz still stehen, dann tut er Ihnen nichts.« Der tut nix – diesem Versprechen haben nicht nur Hundetrainer schon oft fälschlicherweise vertraut. Ich überzeuge Jerrys Besitzerin, dass ich nur helfen kann, wenn die Familie nach meinen Regeln arbeitet. Und die besagen: Das Training mit Hunden, die ein starkes Territorialverhalten zeigen, beginnt mit der Übernahme des – angeleinten! – Hundes vor der Tür. Danach folgt ein gemeinsamer Gang in das zu verteidigende Gelände, in diesem Fall die Wohnung der Familie. Dabei ist es wichtig, dass der Kontakt zu den Besitzern erst einmal »abgebrochen« wird, damit sie den Hund nicht mehr unbewusst bestärken. Hätte ich mich vom Alpharüden Jerry ausgiebig im Hausflur beschnuppern lassen und mir so die »Erlaubnis« geholt, die Wohnung betreten zu dürfen, hätte ich mich ihm damit unterworfen – eine denkbar schlechte Ausgangslage für ein erfolgreiches Training.

Die Familie ist überrascht. »Die Leine? Drinnen?« Eine ebenso typische wie verständliche Reaktion. Ich erkläre, dass ein angeleinter Hund in vielerlei Hinsicht besser kontrollier- und erziehbar ist als ein frei laufender. Das gilt auch für die Wohnung, schließlich halten sich die meisten Hundehalter dort einen Großteil des Tages auf. »Muss Jerry jetzt in der Wohnung für immer angeleint werden?« Nein, die Anleinpflicht gilt nur, solange sich Jerry als Chef aufspielt. Im Lauf der Trainingsphase wird er Schritt für Schritt wieder von der Leinenpflicht entbunden – und läuft schließlich im Optimalfall an einer »unsichtbaren« Leine. Natürlich müssen Herrchen und Frauchen diszipliniert die neuen Regeln einhalten, die sie von mir lernen – sonst ist alles umsonst. Hundeerziehung ist auch Haltererziehung.

Ich lege Jerry eine kurze Leine an, die er leicht hinter sich herziehen kann. Für ein solches Indoor-Training sind je nach Größe des Hundes Leinen mit einer Länge von einem bis eineinhalb Metern zu empfehlen. Noch besser ist ein dünner Strick aus dem Baumarkt ohne Schlaufe, damit der Hund nicht an Möbelstücken oder anderen Gegenständen hängen bleibt, kein Gewicht hinter sich herschleppen muss und so die Leine fast gar nicht wahrnimmt. Durch die Leine bin ich in der Lage, Jerry jederzeit zu korrigieren – so wie es auch ein ranghöherer Artgenosse machen würde. Ohne Leine hätte ich als Zweibeiner so meine Schwierigkeiten, dem Hund hinterherzukommen. Dann bestünde die Gefahr, dass er die Korrekturversuche als Nachlauf-Spiel auffasst.

Jerry hat meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen. Nun begibt er sich wieder Richtung »Feldherren-Position«: aufs Sofa. Sofort schnappe ich mir die Leine und bremse ihn mit einem kurzen Leinensignal. Jerry ist ein richtiges Powerpaket und beweist »souverän«, dass Yorkshireterrier ursprünglich gezüchtet wurden, um Ratten und Mäuse zu jagen. Natürlich ist das Leinensignal bei einem kleinen, zierlichen 3-Kilo-Rowdy viel schwächer als bei einem 30-Kilo-Schäferhund. Bei Jerry reicht schon ein zartes Zupfen, um ihn zu erschrecken. Ausgebremst – so etwas hat er noch nicht erlebt. Er hält sich zwar zunächst vom Sofa fern, doch ein paar Minuten später versucht er es erneut – und wird wieder mit einem leichten Leinenruck an der Thronbesteigung gehindert. »Ach du Schreck« – dieser zweite Moment scheint bereits die gewünschte Verknüpfung gebracht zu haben: aufs Sofa springen = das tut mir nicht gut, also lasse ich es.

Nach dem gleichen Muster widme ich mich Jerrys Türsteher-Allüren – allerdings bin ich diesmal nicht selbst der Besucher. Die Familie bestellt eine Nachbarin. Es klingelt. Für Jerry normalerweise ein Signal, um sofort knurrend und bellend zur Wohnungstür zu laufen und die Besucher noch im Hausflur zu beschnüffeln, sprich, sie einem »Sicherheitscheck« zu unterziehen, bevor sie in die Wohnung dürfen. Aus Hundesicht ist Jerrys bisheriges Verhalten vollkommen stimmig: Er hält sich für den Rudelführer der Familie – und handelt auch so. Würden die Besucher auf allen vieren in die Wohnung krabbeln, würde Jerry ihnen sicher auf den Rücken springen – wie bei den Bremer Stadtmusikanten. Wir haben es hier mit einem Hund zu tun, der zwar sehr klein ist, aber dafür alle Anzeichen von Dominanz- und Territorialverhalten zeigt: gespitzte Ohren, hoch aufgerichteter Schwanz, fixierender Blick.

Für den dominanten Jerry läuft der Alltag nun ab sofort anders: Schon beim Durchstarten Richtung Tür erhält er einen kurzen Leinenimpuls. Ein Ruck ist gar nicht nötig, lediglich ein kurzes Dagegenhalten und Umleiten. Die Besucherin betritt die Wohnung. Ein paar Sekunden herrscht Ruhe. Dann fällt Jerry wieder in das alte, auf seiner »Festplatte« gespeicherte Muster zurück: Wenn schon nicht vor der Tür, dann will er die Besucherin nun zumindest in der Wohnung anspringen – ein Reizschub, den ich unmittelbar mit einem weiteren Zupfen an der Leine beantworte. Jerrys letzter »Versuch« – er bellt die Nachbarin an – erfordert noch einmal ein kurzes Zupfen. Dann gibt er auf. Er hat auch hier wie gewünscht verknüpft: Besucher anspringen oder anbellen = das tut mir nicht gut, also lasse ich es. Schließlich erlaube ich Jerry die »Geruchskontrolle«: Solange er einen Besucher nicht anspringt oder anbellt, darf er ihn beschnüffeln.

Die Familie bekommt Hausaufgaben: Sie müssen mein Verhalten aus der ersten Trainingsstunde kopieren, um das unerwünschte Verhalten auf Jerrys »Festplatte« zu überschreiben. Auf diese Weise bleibt King Jerry permanent entthront, auch wenn »Alpha-Lenzen« nicht vor Ort ist. Konsequenz ist in diesem Zusammenhang extrem wichtig! Schafft es Jerry nur einmal, wie gewohnt aufs Sofa zu hüpfen oder seine Türsteher-Ambitionen auszuleben, hat er schon ein Erfolgserlebnis und wird in seinem alten Verhalten bestätigt. In der Folge lösen sich die neu gelernten Verknüpfungen wieder auf, und das Vorhaben, Jerry von der Rudelführer-Position zu vertreiben, scheitert.

Hund.epsIrrtum Nr. 15:

»Jeder Hund, der Menschen anspringt, ist dominant.«

Falsch! Diese Aussage trifft sicherlich auf den größeren Teil der »Anspringer« zu, aber bei Weitem nicht auf jeden. Hunde, die eher unterwürfig sind, springen Besucher oder Menschen, die vom Halter begrüßt werden, genau aus dem entgegengesetzten Grund an, nämlich weil sie ihnen als Beschwichtigungszeichen das Gesicht (die »Lefzen«) lecken wollen – und das ist für einen Hund bei stehenden Menschen nun mal nur springend zu bewerkstelligen. Man erkennt solche Hunde meistens an der entsprechenden Körpersprache: eingezogener Schwanz, ausweichender Blick, geduckte Haltung.

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Das Lefzenlecken als Beschwichtigungsgeste

Jerrys Familie ist voll bei der Sache und erledigt die Hausaufgaben mit Bravour. Eine Woche später, bei meinem nächsten Trainingsbesuch, hat sich der ehemalige »Sicherheitschef« schon in die neue Rangordnung eingefügt – zumindest innerhalb der Wohnung. Herrchen fällt der Leinenruck allerdings deutlich leichter als Frauchen. Wir machen einige Trockenübungen mit durchhängender und gestraffter Leine. Ich halte das eine Ende, Frauchen das andere. Damit sie noch besser versteht, wie der Leinenruck funktioniert und wie sehr eine permanent straffe Leine den Hund unter Dauerspannung setzt. Bei durchhängender Leine kommt ein Ruck aus dem Handgelenk unmittelbar beim Hund an. Es geht nicht um Kraft, man muss nur ein bisschen üben, um das Handgelenk richtig einzusetzen.

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Der Dackel ordnet sich bereitwillig unter

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Der helle Hund in der Mitte ist der Rudelboss, seine Körpersprache ist stark und selbstbewusst. Die beiden anderen Hunde zeigen durch angelegte Ohren und beschwichtigendes Lecken Unterwerfungsgesten

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Durch eine Drohgebärde verteidigt der schwarze Hund seinen höheren Rang. Der Dackel unterwirft sich sofort und weiß, dass er zu keinem Zeitpunkt in Gefahr ist

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Es kommt nicht auf die Größe an: Der Mops ist der Boss und zeigt das durch dominantes Auftreten, der schwarze Hund zeigt mit gesenktem Kopf, herunterhängendem Schwanz und angelegten Ohren Unterwerfungsgesten

Nun sind wir bereit, das in der Wohnung Gelernte auch draußen umzusetzen. Bisher sah Jerrys Verhalten beim Gassigehen so aus: Er zog permanent, und wenn er auf der anderen Straßenseite einen Hund oder auf dem Bordstein eine Taube erspähte, sprang er regelrecht in die straffe Leine. Die Reaktion der Halter: laute, aber erfolglose Kommandos wie »Nein!« und »Aus!«, die beim adrenalin-gekickten Jerry nicht ankamen, sowie permanenter Gegenzug an der Leine, der Jerry noch mehr aufputschte. Ein Teufelskreis, den es nun zu durchbrechen gilt. Durch das konsequente Training zu Hause hat das Ziehen draußen bereits nachgelassen. Doch wie wird Jerry bei der Begegnung mit anderen Hunden und »Beutetieren« wie Amseln oder Tauben reagieren? O-Ton Herrchen: »Da läuft Jerry immer noch Amok.«

Wir suchen die Konfliktsituationen. Eine Gruppe Tauben pickt ein paar Brotkrumen am Wegesrand. Ideal, wir nähern uns. Herrchen führt Jerry an der Leine. Sobald die Tauben in Reichweite sind, macht King Jerry wie erwartet Anstalten, mit voller Wucht in die Leine zu springen. Sein Herrchen leitet Jerrys Sprungenergie mit einem leichten Handgelenkimpuls um. Jerry erschreckt sich, seine Aufmerksamkeit ist von den Tauben abgelenkt – und auf seinen Halter gerichtet, der mittlerweile gelernt hat, wann sein Leinenruck kommen muss. Nämlich exakt bevor Jerry in Aktion tritt und springt. Käme der Leinenruck nur eine Sekunde später, wäre es bereits zu spät, um effektiv auf Jerry einzuwirken. Hat ihn der Adrenalinkick »Ich will die Tauben« erst gepackt und ist die Leine straff, nimmt er nichts anderes mehr wahr.

Um den entscheidenden Korrektur-Moment nicht zu verpassen, müssen Sie als Halter Ihren Hund und seine Umgebung sehr genau beobachten. Im Idealfall haben Sie alle Reize, auf die Ihr Hund reagieren könnte, schon vor ihm wahrgenommen. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, Sie treffen abends einen alten Bekannten aus der Schulzeit. Eigentlich ein netter Mensch – aber leider auch ein stadtbekannter Schläger, zumindest früher. Man könnte auch sagen: ein schlecht sozialisierter menschlicher Alpharüde. Immer noch? Sie sind auf der Hut, beobachten Ihren Bekannten, die Menschen um ihn herum und wie er auf sie reagiert. Schon in der ersten Kneipe merken Sie, dass sich seit damals nicht viel geändert hat. Ihr Bekannter checkt sofort die Lage und sucht sich zielsicher den Typen, der am gefährlichsten aussieht, als Gegner aus. Genau in diesem Moment haben Sie Ihre letzte Chance, mit einer »Korrektur« auf ihn einzuwirken: »Lass das! Das bringt doch nichts!« Ihr Bekannter wird innehalten und Ihnen höchstwahrscheinlich recht geben. Befindet er sich bereits in einer Konfliktsituation und liefert sich mit dem anderen »Alpharüden« ein Wortgefecht, ist es zu spät. Dann hat er innerlich schon zum Schlag ausgeholt, sodass Sie ihn in seinem Adrenalinkick kaum noch bremsen können. Auch nicht, wenn Sie ihm durch gutes Zureden und durch Wegziehen einen verspäteten »Leinenruck« verpassen. Wenn Sie Pech haben, bekommen Sie im Getümmel sogar selbst einen Schlag ab und gehen mit einem blauen Auge nach Hause. Die Botschaft lautet: Alles ist eine Frage des Timings – Sie müssen schneller sein als Ihr Hund! Ein souveräner Rudelführer »scannt« beim Gassigehen permanent seine Umgebung. Er sieht den vierbeinigen Rivalen auf der anderen Straßenseite oder die Taube am Wegesrand vor seinem Hund – gleichzeitig »liest« er dessen Körpersprache. Diese umfassende und vorausschauende Sicht ist übrigens gar nicht so schwer zu erlernen, wie es sich zunächst anhört – Übung macht den Meister (mit voller Konzentration – also Handy ausschalten!).

Die gerade beschriebenen Erziehungsmuster funktionieren natürlich genauso bei größeren Hunden – richtiges Timing, optimale Dosierung und konsequente Umsetzung vorausgesetzt. Nicht jede Trainingsmethode passt zu jedem Hund. Es gibt genügend Exemplare, die sich im Alltag unproblematisch verhalten und bei denen gar keine Situationen auftreten, die einen Leinenruck erfordern – das gilt vor allem für Blümchenhunderassen wie Labrador und Golden Retriever.

Wer seinen Hund ausschließlich durch Leckerchen-Bestechung und positive Verstärkung erziehen möchte, soll das gerne machen. Das kann klappen, muss aber nicht. Wenn Sie jedoch einen Problemhund haben bzw. einen Hund durch falsche Erziehung zum Problemhund gemacht haben, kann ein vom Experten angeleitetes Leinenruck-Training die einzige Möglichkeit sein, Ihren Hund wieder »hinzubekommen« – insbesondere wenn er ein Dauerzieher ist, der oft von sich aus in die Leine springt.

Jerrys Familie hat ihren kleinen König bis heute im Griff – sie haben ihm auch sein dreistes Bellen mit der Aufforderung »Gib sofort das Essen her« erfolgreich abtrainiert. (Frage: Würden Sie Ihren Kindern erlauben, ausdauernd und mit lauter Stimme »HUNGER!« zu schreien, während Sie kochen?) Leider arbeiten nicht alle Halter so konsequent mit ihrem Hund. Auch wenn der Trainer erfolgreich vormacht, wie es geht – es braucht Disziplin und Konsequenz seitens der Halter, damit der Hund sein Verhalten dauerhaft verändert.