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“Vanessa, hierher sehen, bitte.”

“Zeig doch mal ein bißchen Bein, Schätzchen.”

“Lächeln, Vanessa, lächeln.”

Sieh an, die Vroni ist da, dachte Christine und ging langsam zum Haupttor. Verächtlich betrachtete sie die wogende Traube von Reportern um die Schauspielerin. Das Objekt ihrer Begierde verteilte Küßchen in alle Rechnungen und warf die blonde Mähne mal nach links, mal nach rechts. Die Photographen wimmelten durcheinander wie Maden auf einem faulenden Stück Fleisch, immer auf der Suche nach freiem Schußfeld. Unter dem Rattern der Kameras verzog die Schauspielerin ihr Gesicht zu einem einstudierten Lächeln und entblößte dabei reichlich Zahnfleisch und ein kalkweißes Gebiß, das offensichtlich falsch war. Am Rand des Tumults versuchte das Filmteam eines Privatsenders, durch das Tor in die Anlage zu schleichen, wurde aber von Bürgers Leuten sofort gestoppt und mit ein paar kräftigen Fußtritten davongejagt.  

Christine schüttelte sich vor Abscheu.

Wie die ersten Menschen. Da bin ich lieber unberühmt.

Einige Leute aus dem Dorf drückten sich durch die Meute der Reporter und hielten der Schauspielerin Bilder, Stifte und Teddybären entgegen.

“Bitte, bitte ein Autogramm, Frau Aluma. Ich heiße Günther.”

“Sie waren einfach toll in Die Trümmerfrau. Das war ganz große Kunst, hören Sie nicht auf die Kritiker. Meine Frau und ich, wir haben geweint.”

“Vanessa, ich darf Sie doch Vanessa nennen, glauben Sie, daß es nächstes Jahr endlich mit dem Oscar klappt?”

“Stimmt es, daß Sie in Bomben auf Berlin die Hauptrolle übernehmen werden? Würden Sie dafür tatsächlich vierzig Pfund zunehmen?”

“Laßt das Kind doch mal nach vorne.”

Etwas außerhalb des Trubels fiel Christine ein kleiner, unerhört fetter Mann in schlecht sitzendem Anzug auf. Der Dicke kaute auf einer erkalteten Zigarre herum und beobachtete das Treiben mit zynischem Grinsen. Von Zeit zu Zeit nahm er den Stumpen aus dem Mund und fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. Bis auf einen dünnen Haarkranz war der Mann kahl, in der Sommerhitze glitzerten Schweißtropfen auf seinem Schädel. Christine hielt ihn für den Agenten der Aluma.

Ob das der geheimnisvolle Begleiter ist, von dem Mama gesprochen hat? Sehr sympathischer Zeitgenosse, macht richtig was her. So kommt der uns aber nicht in die Kapelle, da müßten wir hinterher gleich noch einmal renovieren.

Der fette Mann wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß ab und watschelte zu einem schwarzen Kleinbus mit getönten Scheiben. Er zog die Seitentür auf und sprach mit jemandem im Inneren des Fahrzeugs.

Christine kniff die Augen zusammen.

Was kommt jetzt? Noch mehr Reporter? Der Papst? 

Der Dicke trat einen Schritt zurück und aus dem Wagen schob sich der kurzgeschorene Kopf von Georg Tacke gefolgt vom Rest ihres Chefs.

Himmel Herrgott nochmal, ich hab’s gewußt, fluchte Christine lautlos vor sich hin. Du wolltest das Waisenhaus kaputtmachen, du verdammter Scheißkerl.  

Ohne sich um die lautstarken Proteste zu scheren, pflügte Christine geradewegs durch die Menschenmenge und baute sich vor ihrem Chef auf. 

“Georg, dich hätte ich hier nicht erwartet.”

“Christine, wie schön, Sie zu sehen.”

Wie schön, Sie zu sehen - Was soll denn das heißen? Duzen wir uns nur, wenn wir besoffen sind oder auf deiner Couch liegen? Wie kommst du überhaupt an eine Einladung?”

“Na, wie schon, mit Geld. Wir finanzieren Vanessas nächsten Film, wollte sonst keiner machen. Warum bist du denn so aggressiv?”

“Aggressiv, ich doch nicht. Warum sollte ich denn aggressiv sein?”

Christine mußte sich einen Augenblick sammeln, dann legte sie los.

“Du Stück Mist. Noch nie in meinem Leben bin ich einem solchen Drecksack begegnet. Füllst mich ab, benutzt mich, läßt mich liegen und rufst dann nicht mal an. Machst du das immer so? Mit allen deinen Angestellten? Los, los, marsch zum Chef auf die Besetzungscouch, das ist gut für die Karriere. Hier ist noch was zu trinken, dann tut es nicht so weh. Und nein, deine Nummer brauche ich nicht, ich melde mich sowieso nicht, hinterher.”

“Nicht so laut, verdammt, mußt du jetzt unbedingt eine Szene machen? Hier ist doch alles voller Reporter.”

“Das ist mir scheißegal. Die sollen ruhig hören, was der große Georg Tacke für ein Schwein ist. Und die Sache mit dem Waisenhaus? Das ist doch wohl das Letzte, selbst für deine Verhältnisse. Machst deinen Profit auf Kosten der Kinder. Und dich nennen die Leute Finanzgenie. Zum Kotzen ist das.”

“Ach, sei doch nicht so naiv. So läuft das nun einmal, das weiß du ganz genau.”

“Hat aber diesmal nicht geklappt, was? Das tut mir aber leid.”

“Nein, hat es nicht. - Woher weißt du das überhaupt, hast du was damit zu tun?”

“Ich, woher denn? Ich habe das Projekt doch gar nicht zu Gesicht gekriegt.”

Wieso eigentlich nicht, dachte Christine.

“Das fällt doch in meinen Aufgabenbereich. Wer hat das überhaupt bearbeitet?”, fragte sie dann.

“Ich weiß wirklich nicht, was dich -”

“Komm mir nicht damit. Spuck’s schon aus. Ich komme doch sowieso dahinter.”

“Das hat Janine gemacht. Ich dachte mir schon, daß dir das nicht gefallen würde, also habe ich sie angewiesen, den Mund zu halten.”

Janine, schau an. Die würde sie sich gleich nächste Woche vornehmen.

“Na schön. - Um es kurz zu machen, Georg, ich will dich in unserer Burg nicht sehen. Du bist hier nicht erwünscht.”

“Das kannst du wohl kaum entscheiden. Außerdem habe ich eine Einladung, hier bitte.”

Tacke wedelte mit dem Kuvert vor Christines Gesicht herum.

“Na und, das ist doch bloß ein Stück Papier. Wir können dich auch wieder ausladen.”

“Das wird der Vanessa aber nicht gefallen.”

“Ach, das wird sowieso nicht auf ihrem Mist gewachsen sein, da steckt bestimmt ihr Agent dahinter. - Herr Bürger!”

“Ja, Fräulein Christine?”

“Herr Tacke hier wird an der Trauung nicht teilnehmen, in Ordnung?”

Friedrich Bürger musterte Georg Tacke kurz und schätzte dessen Kampfgewicht ab. Dann lächelte er breit.

“Ist recht, Fräulein Christine. Ich bin sicher, daß es keine Probleme geben wird.”

“Danke. - Siehst du, wie ich das entscheiden kann, Georg? War auch gar nicht schwer.”

“Für deine Karriere wird das nicht gut sein, Christine. Ich glaube nicht, daß du als Leiterin der Rechtsabteilung noch in Frage kommst.”

“Meine Karriere kannst du dir sonstwohin stecken und die Rechtsabteilung gleich dazu, ist bestimmt noch genug Platz. Und jetzt verschwinde hier.”


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Mit offenem Mund verfolgten Mathilde und Marcus aus der Entfernung die explosive Begegnung zwischen Christine und Georg. Die Fürstin bekam nicht ein Wort mit, aber das war auch nicht nötig. Voller Genugtuung beobachtete sie, wie Tacke schließlich mit roten Ohren und um etliche Zentimeter kürzer wieder zurück in den Bus kletterte.

Gott, war das schön, dachte sie. Meine Christine nimmt diesen Kerl auseinander, als wäre er aus Zwieback.

In diesem Moment war sie sehr stolz auf ihre Tochter.

Sie drehte sich zu Marcus um.

“Nicht schlecht, was?”, sagte sie und grinste ganz unfürstlich.

Marcus schaute sie an.

“Wer war denn das?”

“Christines Chef aus Berlin.”

“Ihr Chef? So geht man wohl kaum mit seinem Chef um.”

Mathilde sagte nichts, sondern hob nur leicht die Augenbrauen. 

Komm schon, Junge, ist doch nicht so schwierig.

Marcus sah sie forschend an und dachte einen Augenblick nach.

“War da was zwischen den beiden?”, fragte er dann.

“Vielleicht”, sagte Mathilde neutral und klopfte Marcus auf die Schulter. “Christine wird es Ihnen schon erzählen, wenn sie soweit ist.”

Sie sah ihm an, daß er zwei und zwei zusammenzählte und vier dabei herauskam. 

“Ich verstehe”, sagte er dann langsam und nickte.

“Gut, dann ist ja noch Hoffnung”, sagte Mathilde vergnügt und hakte sich bei Marcus unter.

“Kommen Sie, gehen wir zur Kapelle. Wird höchste Zeit, daß wir Hedy und Wilhelm endlich verheiraten.”