Marcus sah kopfschüttelnd zu, wie die Fürstin zur Freude von Hunden und Hühnern mit einem Kavalierstart vom Hof brauste und sprach in Gedanken ein schnelles Gebet für die anderen Autofahrer.
Dann ging er zurück in sein Büro, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Doch seine Gedanken waren nicht bei der Sache.
Sie würde also da sein.
Marcus fiel ein Stein vom Herzen, wie hatte er sich auf diese Begegnung gefreut. Schon gut ein Jahr war es her, daß er Christine zuletzt gesehen hatte. Damals hatte sie von nichts anderem als ihrer Arbeit in Berlin geredet.
Er schloß für einen Moment die Augen. So wie die Hochzeit, so rückte nun auch das Zusammentreffen mit Christine immer näher, Woche um Woche, Tag um Tag, Stunde um Stunde. Er hätte es der Fürstin gegenüber nicht zugegeben, doch für ihn war das mehr, sehr viel mehr, als nur das Wiedersehen mit einer Jugendfreundin. Denn Marcus liebte Christine, liebte sie schon lange, seit den Ereignissen in der Rüstkammer von Burg Hohenthann vor beinahe zehn Jahren.
Sie hatten auf dem kleinen Platz hinter der Burg Tennis gespielt und waren in Christines Zimmer über dem Torhaus gegangen, um sich bei einer Limonade zu erfrischen. Marcus war einigermaßen erledigt. Die Fürstin war in jungen Jahren bayerische Meisterin gewesen, und Christine hatte die Vorhand ihrer Mutter geerbt und ihn ordentlich über den Court gejagt.
Sie fläzten sich auf Christines Bett, tranken ihre Limonade und redeten über die Schule. Schließlich kam die Unterhaltung zum Erliegen. Für eine Weile sprachen sie beide nicht, sondern hingen nur ihren Gedanken nach. Noch Jahre später würde sich Marcus an dieses Schweigen erinnern, die Ruhe, die er fühlt, den gelassenen Frieden dieses Nachmittags, Christines Brust, die sich hebt und senkt mit jedem Atemzug, während sie mit geschlossenen Augen daliegt.
Schließlich schaute sie ihn an und brach das Schweigen.
“Komm her, ich muß dir etwas zeigen.”
Christine sprang auf und ging zum Kamin hinüber.
“Sieh dir nur diesen Stein an”, tat sie geheimnisvoll und deutete auf einen Block am Sims. Der Kamin war aus weißen Ziegeln hochgemauert und ganz schlicht ausgeführt, ohne die geringsten Verzierungen. Nur die gußeiserne Rückwand, schwarz vom Rauch ungezählter Feuer, war mit Wappen und Wahlspruch der Hohenthanns versehen, so wie in allen anderen Kaminen der Burg.
Marcus trat näher heran und beäugte den Block, der nicht ein bißchen anders aussah als die anderen. Er nickte.
“In der Tat, ein außergewöhnlicher Stein. Ich kann sehen, warum du stolz auf ihn bist. Er hat so eine gewisse Ausstrahlung, nicht wahr? Und dann ist er auch noch weiß. Die anderen Steine kommen da nicht mit.”
“Blödmann.”
Christine nahm seine Hand und legte sie auf den Block. Der Stein fühlte sich an, wie so ein Stein sich eben anfühlt.
Er sah Christine fragend an.
“Fest drücken”, sagte sie.
Marcus drückte wie befohlen. Der Stein gab etwa einen Zentimeter nach, dann klickte es vernehmlich und ein leises Scharren von Metall auf Metall ertönte irgendwo in der Wand, gefolgt von einem Geräusch wie rasselnde Ketten. Mit einem leichten Knirschen schwenkte die Rückwand des Kamins zur Seite. Dahinter tat sich eine Öffnung auf, etwa einen Meter hoch und einen halben breit.
Marcus ging in die Knie und blickte ungläubig in die Dunkelheit. Ein kühler Schwall umströmte sein Gesicht. Er wartete einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit angepaßt haben. Mit Mühe konnte er dann einige abwärts führende Treppenstufen ausmachen, die sich im Nichts verliefen.
“Ein Geheimgang? Das ist ja toll. Ist der noch aus dem Mittelalter? Wo führt er hin?”
Christine legte den Finger auf den Mund. Sie nahm eine Kerze vom Sims, zündete sie an und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Öffnung. Marcus zögerte einen Augenblick, dann eilte er ihr nach. Christine war ihm schon einige Schritte voraus, die Kerzenflamme ein tanzender Lichtpunkt in vollkommener Schwärze.
Der Gang führte etwa zwanzig Stufen nach unten und machte dann eine scharfe Biegung nach rechts. Einige Schritte ging es geradeaus durch die feuchte und ein bißchen modrige Luft, dann wieder um die Ecke, diesmal nach links. Nach zwei weiteren Wendungen endete der abschüssige Gang an einer massiven Klappe aus eisenbeschlagenem Eichenholz, knapp über dem Boden angebracht und vielleicht einen Meter im Quadrat messend. Im Licht der Kerze konnte Marcus in regelmäßigen Abständen Halterungen an den Wänden ausmachen, die wohl für Fackeln gedacht waren. Die Wände selbst waren uneben und nur ganz grob bearbeitet. Er konnte deutlich die gezackten Spuren der Meißel sehen, mit denen die Arbeiter dem Fels zu Leibe gerückt waren.
Nach all den Richtungsänderungen hatte er vollständig die Orientierung verloren, aber seinem Gefühl nach mußten sie inzwischen im Untergeschoß der Burg angelangt sein.
“Wo sind wir denn hier?”
“Unter dem Wehrturm.”
“Ich hätte meinen Kompaß mitbringen sollen.”
“Der funktioniert hier unten sowieso nicht.”
“Ist das Granit?”
“Ja. Haben die alles mit der Hand gemacht. Kannst du dir das vorstellen? Es muß Jahre gedauert haben. Komm weiter.”
Christine zog die Klappe auf und arretierte sie weiter oben an der Wand mit einer Seilschlinge. Dann kroch sie durch den Zugang. Marcus folgte ihr und richtete sich auf. Der Raum war kreisrund, mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Schritten, wieder herausgeschlagen aus dem gewachsenen Fels. Hier jedoch waren die Wände sorgfältig geglättet und verputzt. Kisten und Kartons waren kreuz und quer gestapelt, auch ein paar alte Stühle standen herum. Marcus sah nach oben. Die Decke war bestimmt vier Meter hoch und seltsam geformt, etwa wie ein spitzer Hut, mit dem höchsten Punkt genau in der Mitte. Ganz oben war der Hut abgeflacht, so daß eine Scheibe von etwa einem halben Meter Durchmesser den Abschluß der Decke bildete.
“Das ist die alte Rüstkammer, benutzen wir heute nur noch für Gerümpel. Alles, was hier früher an Waffen gelagert war, hängt heute im Rittersaal an der Wand, jedenfalls die Sachen, die nicht total verrostet waren.”
“Die Decke sieht komisch aus.”
“Ganz oben war früher ein bewegliches Gitter, so konnte man die Waffen nach oben in den Turm bringen. Es gibt natürlich noch einen richtigen Eingang”, sagte Christine und deutete auf eine Tür, die der Klappe genau gegenüber lag. “Von da führt eine Treppe hoch bis vor die Kapelle. Elektrisches Licht haben wir auch, aber ich mag es so lieber. Und jetzt hör auf, Fragen zu stellen.”
Dann schwieg sie. Es war vollkommen still; kein Hauch, kein Laut drang von der Welt in den kleinen Raum hinein. Draußen könnten ganze Zeitalter blühen und vergehen, und sie würden es nicht bemerken.
Christine blickte ihn an. Die Kerze brannte ruhig und stetig und warf einen warmen Schein auf ihr Gesicht und ihr dunkles Haar. Sie ist wunderschön, dachte Marcus. Warum ist mir das vorher nie aufgefallen? Ich muß blind gewesen sein.
“Du mußt versprechen, daß du niemandem von dem Gang erzählst. Er bleibt unser Geheimnis.”
“Ist doch klar”, sagte Marcus.
“Schwöre es.”
“Hör mal, Christine...”
“Schwöre es!”
“Gut, ich schwöre, daß ich niemandem von dem Geheimgang erzähle, solange ich lebe.”
“Wir müssen den Schwur besiegeln”, sagte Christine ernsthaft und sah ihn erwartungsvoll an. “Das gehört dazu.”
Sie kam auf ihn zu, bis ihr Gesicht nur noch eine Handbreit von seinem entfernt war. Dann schloß sie die Augen und legte den Kopf etwas zurück. Marcus beugte sich vor und küßte sie sanft.
“Ich liebe dich”, sagte er dann und es war ganz leicht. Christine öffnete die Augen und lächelte.
“Schwöre es.”
“Erst du.”
Marcus schreckte auf und sah aus dem Fenster. Der gute Petrus hatte doch noch ein Einsehen gehabt. Heftiger Regen prasselte gegen die Scheibe. Der Vorplatz war wie leergefegt, Mensch und Tier hatten vor der Naturgewalt im Stall Schutz gesucht.
Nur dieser eine Kuß, dann der Schwur, mehr war damals nicht passiert, dachte er, aber so hatte es angefangen mit ihm und Christine in diesem endlosen Sommer. Es hatte andere Frauen in seinem Leben gegeben, im Studium und während des Praktikums in Amerika. Kurzlebige Affären, nie wäre er auch nur auf die Idee gekommen, eine dieser Frauen zu heiraten. Aber keine von ihnen war wie Christine gewesen. Sie war die Liebe seines Lebens und er würde sie nach Hause holen, hier nach Schönberg, als seine Frau.