Wenn nur jemand den Preßlufthammer abstellen würde, dachte Christine dumpf. Und dieses Gejaule, wie von einer Kreissäge. Das ist doch keine Art am frühen Morgen. Und überhaupt, wieso ist der Lärm in meinem Kopf und nicht draußen? Mühsam öffnete sie die Augen. Das ist nicht mein Schlafzimmer, und das ist auch nicht mein Bett, dachte sie. Das sieht aus wie Georgs Büro und ich liege zugedeckt auf der verdammten Couch. Und ich habe außerdem einen Fußabtreter im Mund. Kann aber auch ein Putzlappen sein. Oder eine tote Maus. Himmel, ist mir schlecht.
Sie hustete.
Christine hob den Kopf und sah sich um. Tatsächlich, Georgs Büro, sieht auch noch genau so aus wie gestern, nur ohne Georg.
Was ist das Weiße da vorne?
Deine Bluse, Herzchen.
Nicht gut. Und das?
Dein BH.
Überhaupt nicht gut. Und das?
Dein Schlüpfer.
Scheiße.
Sie lupfte die Decke an und riskierte einen Blick. Komplett blankgezogen. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ihr wurde schwindelig und sie schloß für einen Augenblick die Augen.
Dann sagte sie laut und deutlich: “Du blöde Kuh”, machte die Augen wieder auf und setzte die Bestandsaufnahme fort. Nichts zu sehen von ihren Schuhen, ihrer Hose oder ihren Strümpfen. Sie war tatsächlich allein im Büro, nur die Schreibtischlampe brannte. Draußen war es noch dunkel, der Potsdamer Platz lag verlassen im orangenen Licht der Straßenlaternen.
Christine schob die Decke weg, rollte sich von der Couch und tappte mit einiger Mühe zum Schreibtisch. Im Licht der Lampe sah sie auf ihre Patek. Fast vier. Der Flieger nach München. Und sie mußte noch nach Hause und packen. Christine schaute an sich herunter und überdachte ihre Prioritäten. Vielleicht doch erst mal was für drunter.
Ihre Sachen in der Hand öffnete sie die Tür hinter dem Schreibtisch und machte Licht. Tatsächlich, ein Bad. Wenigstens etwas. Und da waren auch die Schuhe und ihre Hose, weiß der Geier, wie die hier reingekommen waren. Christine rumorte einige Minuten in dem kleinen Raum herum und brachte sich wieder in einen einigermaßen vertretbaren Zustand. Ein Blick in den Spiegel bestätigte, was sie schon vermutet hatte.
Ein hoffnungsloser Fall, Kindchen, schminken kannst du dir sparen.
Christine kam aus dem Bad und schaute sich noch einmal im Büro um, doch ihre Strümpfe blieben verschwunden. Sie schaute über den Schreibtisch und suchte nach einer Nachricht von Georg, aber da war nichts. Kein “Ich besorge Frühstück”, kein “War nett, wir sehen uns”, nicht einmal ein “Bin in der Kantine, weiterfeiern”. War ja klar. Schwein.
Soll ich ihm etwas hinterlassen?
Klar, ich hätte da schon ein paar Ideen. Aber keine davon ist jugendfrei oder der Karriere förderlich.
Mit finsteren Gedanken in der Brust verließ Christine das Büro von Georg Tacke.
Die Schuhe in der Hand stahl sich Christine durch die verlassenen Korridore in ihre Etage hinunter und sammelte ihre restlichen Siebensachen ein. Jacke, Tasche, Schlüssel - alles da. Sie holte ihr Auto aus der Garage und fuhr durch die schlafende Stadt in ihre Wohnung.
*
Christine saß im Bademantel an ihrem Küchentisch und sah mit hängendem Kopf zu, wie die Brausetabletten sich auflösten. Sie hatte geduscht und gefrühstückt, aber das hatte nicht viel geholfen, so daß sie jetzt zu handfesteren Mitteln greifen mußte. Sie sah auf ihr Handy. “Keine Anrufe”. Schwein. In ihrer Hosentasche hatte sie eine aufgerissene Kondomhülle gefunden, so daß zumindest aus dieser Richtung keine unmittelbare Gefahr drohte. Immer vorausgesetzt, daß sie nur einmal...
Ihre Reisetasche stand schon gepackt und abfahrbereit an der Wohnungstür. Vor ihr auf dem Tisch lagen das Flugticket und ihre Brieftasche. Sie mußte sich nur noch anziehen und das Taxi bestellen, aber das ging im Augenblick über ihre Kräfte. Sie vermied es bewußt, weiter an die vergangene Nacht zu denken, dazu war später noch Zeit genug. Was war noch? Ach ja, die Tabletten. Beherzt trank sie das Glas in einem Zug aus und schüttelte sich. Das Zeug schmeckte dermaßen widerlich, das mußte einfach wirken. Schließlich drang ein leises Scharren aus Richtung Balkon durch die Watte in ihrem Kopf.
“Och, Stan, das paßt mir im Moment überhaupt nicht”, sagte Chrsitine schwach, ließ ihn dann aber doch herein.
Stan sah sie prüfend an, dann sprang er ganz gegen seine Gewohnheit auf ihren Schoß und machte es sich dort zufrieden schnurrend gemütlich.
“Das geht schon überhaupt nicht, ich muß gleich los.”
Christine gab ihm großzügige fünf Minuten, dann setzte sie das Tier behutsam wieder auf den Boden und ging, um sich reisefertig zu machen und das Taxi zu rufen. Zurück in der Küche hob sie den Kater auf die Spüle und sah ihm ernsthaft in die Augen.
“Also, Stan, ich bin jetzt ein paar Tage weg. Aber Dienstag bin ich wieder da, okay?”
Keine Reaktion.
“Komm schon, sprich zu mir.”
Nichts.
Sie hätte genau so gut die Wand anreden können.
Christine öffnete die Balkontür, deutete nach draußsen, sagte hoffnungsvoll, “Na schön, raus mit dir”, und weg war er. Sie sah ihm erstaunt nach. Dann schloß sie die Tür und schüttelte sachte den Kopf.
Katzen.
Sie ging noch einmal durch ihre Wohnung, knipste das Licht aus und stiefelte dann die Treppe hinunter, um auf das Taxi zu warten.
*
Christine blendete die endlose Rederei des Taxifahrers aus und sah aus dem Fenster. Berlin war ihr noch nie so häßlich vorgekommen wie an diesem Morgen. Muß wohl der Kater sein, dachte sie. Vorbei an ausgebrannten Autos, meterhohen Haufen von Müllsäcken und etwas, das aussah wie eine Skulptur aus geschmolzenen Altpapiercontainern, ging die Fahrt quer durch die heruntergekommene und verdreckte Stadt zum Flughafen. Als typischer Berliner schimpfte der Mann über einfach alles: den Verkehr, die Ampeln, die Baustellen, die anderen Autofahrer, den Bürgermeister, die Touristen, die Preise, das Wetter. Als er damit durch war, holte er kurz Luft und fing wieder von vorne an. Nachdem er sie am Flughafen abgesetzt hatte, zahlte Christine ihm genau, was auf der Uhr stand und versetzte ihn so in die Lage, sich künftig auch noch über geizige Fahrgäste und miese Trinkgelder auslassen zu können. Mit quietschenden Reifen raste er davon, nicht ohne ihr noch etwas Unflätiges zuzurufen.
Geh zum Teufel, dachte sie müde. Und nimm die ganze verdammte Stadt mit. Soll sich doch der Leibhaftige damit rumschlagen. Das wird ihn schon dazu bringen, da unten eine Eingangskontrolle einzuführen.
Christine hatte nur Handgepäck und ließ die vollgepackten Abfertigungsschalter links liegen. Sie checkte am Automaten ein und ging zum Flugsteig. An der Sicherheitsschleuse hatte sich bereits eine Schlange gebildet und Christine stellte sich hinten an. Eingeklemmt zwischen einer Familie mit zwei quengelnden Kleinkindern und einem Idioten, der ihr ständig mit dem Trolley in die Hacken fuhr, rückte sie langsam vor. Als sie an der Reihe war, zog sie ihre Schuhe aus, legte Tasche und Mantel auf das Band und ging durch den Metalldetektor. Das würdelose Abtasten durch das Sicherheitspersonal ließ die Prinzessin von Hohenthann schweigend über sich ergehen, in Strümpfen, die Beine leicht gespreizt und mit erhobenen Händen.
Als Kind war Christine leidenschaftlich gerne geflogen. Auf dem Sitz des Copiloten war sie mit dem Fürsten in der kleinen Cessna über der Burg gekreist, dann hatte Vater die Maschine aus der Kurve geholt, mit den Flügeln gewackelt, “für die Mama, falls sie uns von unten zuschaut”, die Cessna sanft aufgerichtet und ihr das Steuer überlassen. Himmel, wie hatte das Spaß gemacht. Und es war so einfach. Drücken, es geht runter, ziehen, es geht rauf, jedes Kind konnte das. Immer höher wollte Christine gehen, bis sie schließlich überzog und die Cessna erst einen wahnwitzigen Moment lang still in der Luft stand, wie festgenagelt am blauen Himmel und dann auf einmal abkippte. Christine schrie ein bißchen, dann griff der Vater lachend ein, gab Gas und drückte, bis die Maschine wieder Fahrt aufnahm. Danach hielt er ihr einen Vortrag über Strömungsabrisse. Zu einem Zeitpunkt hatte sie sogar erwogen, selbst einen Pilotenschein zu machen, doch Abitur und Studium waren ihr dazwischengekommen. Heute hätte sie die Bahn vorgezogen, aber Hohenthann war schlecht angebunden und die Fahrt hätte endlos gedauert.
Alles wird einem verdorben, dachte sie traurig, während sie im Terminal saß und in den Regen hinaussah.
Sie schaute auf den Plastikbecher mit lauwarmer, dünner Brühe, den sie gerade für einen Wucherpreis gekauft hatte.
Sogar der Kaffee.
Vorsichtig stellte sie den fast vollen Becher unter die Sitzbank. Sie blickte auf die Häufchen von Unrat, die den fadenscheinigen Teppichboden bedeckten wie kleine Maulwurfshügel. Das Terminal sah aus, als wäre es seit dem Fall der Mauer nicht sauber gemacht worden. Wahrscheinlich würde der Becher bei der nächsten Eiszeit noch da stehen.
Auch gut, können sich zukünftige Generationen damit herumschlagen.
Endlich wurde der Flug nach München aufgerufen und sie trottete mit den anderen Passagieren an Bord. Noch einmal vergingen endlose Minuten, bis die Maschine endlich an den Start rollte. Dann heulten die Triebwerke auf, die Bremsen wurden gelöst und das Flugzeug setzte sich widerwillig in Bewegung, langsam erst und dann immer schneller werdend. Christine starrte auf die Markierungen am Rand der Rollbahn, die am Kabinenfenster vorbeirasten und auf einmal nach unten wegfielen. Nur Sekunden später war die Hauptstadt schon so vollständig von Regen und Wolken verschluckt worden, als hätte sie nie existiert.
*
Eine gute Stunde später setzte der Flieger sachte in München auf und rollte zum Terminal. Christine hatte das Essen im Flugzeug ebenso überstanden wie die sagenhaft phantasielosen Versuche ihres Sitznachbarn, mit ihr anzubändeln. Während sie in der Luft gewesen war, hatte sich der Regen verzogen, und die Sonne strahlte mittlerweile vom bayerisch blauen Himmel.
Das Flugzeug näherte sich dem Gate, dann blieb die Maschine mit einem Ruck stehen und die Kabinenbeleuchtung ging aus. Für einen Augenblick war es still, dann fingen die Leute an, durcheinander zu rufen.
“Was ist denn los, warum geht es denn nicht weiter?”
Nach einer Weile ließ sich eine Stewardeß vernehmen, die technische Probleme mit der Gangway für die Verzögerung verantwortlich machte. Es würde aber bestimmt nicht lange dauern.
Während die Passagiere vor sich hinschmorten, heizte sich die Maschine langsam aber stetig in der hochstehenden Sonne auf. Geduldig saß Christine da und wartete darauf, daß sie das Flugzeug verlassen konnte. Mit Wucht kam die Erinnerung an die letzten Nacht zurück. Jetzt nicht, dachte sie und schloß die Augen. Jetzt nicht.
Ringsum machten die Leute ihrer Wut Luft.
“Verdammter Mist, wir wollen hier raus”, brüllte der grauhaarige Mann neben ihr mit überkippender Stimme. Noch vor einer halben Stunde hatte er sie mit seinen Abenteuern als Kriegsberichterstatter im Irak beeindrucken wollen. Er trug sogar eine von diesen idiotischen ärmellosen Westen mit zu vielen Taschen.
Du Schlappschwanz, dachte Christine, machst dir in die Hose wegen fünf Minuten. Was hast du die ganze Zeit in Bagdad gemacht, nach Mami gerufen?
Solchermaßen gestärkt bewahrte sie die Fassung, während der Lärmpegel in der Kabine weiter anstieg. “Eine von Hohenthann verliert niemals die Beherrschung, mein Kind”, pflegte ihre selige Großmutter zu sagen.
Hast ja recht, Oma, aber die letzten vierundzwanzig Stunden waren ein bißchen viel, alles in allem.
Schließlich wurden die Türen dann doch noch geöffnet und Licht strömte in die Maschine. Augenblicke später stand Christine auf dem nach Kerosin und Abgasen stinkenden Rollfeld und blinzelte benommen in die Sonne, während die übrigen Passagiere sich an ihr vorbeidrängten und zu den Bussen stürzten. Ohne Eile marschierte sie hinterher und ließ sich mit den anderen zum Terminal fahren.
Da Christine nur ihre Tasche hatte, blieb ihr wenigstens das Anstehen am Gepäckband erspart. Sie ging in die Ankunftshalle und von dort zum Mietwagenschalter, um den reservierten Wagen abzuholen. Nachdem sie sich durch das Straßengewirr am Flughafen gefädelt hatte, waren es nur noch ein paar Minuten bis zur Autobahn. Eine knappe Stunde später ragten die Zinnen des Wehrturms von Hohenthann vorwitzig aus dem Dunst. Sie fuhr durchs Dorf und folgte der gewundenen Straße am Ortsausgang hoch zur Burg. Dann war sie zu Hause.