1


“Erledigt!”

Müde, aber glücklich schraubte Mathilde, Fürstin von Hohenthann, die Kappe auf ihren grün-goldenen Füllhalter, einem Geschenk des letzten Zaren an ihre Großmutter anläßlich des 300-jährigen Thronjubiläums der Romanows im Jahre 1913. Vor ihr auf dem Schreibtisch lagen säuberlich gestapelt beinahe fünfzig Tischkarten. Die Karten waren mit dem Wappen derer von Hohenthann versehen, dazu dem Motto des Hauses in Prägeschrift: “Valete” - Lebt wohl! Auf jede Karte hatte Mathilde in ihrer wunderbar geschwungenen Handschrift Namen und Titel des betreffenden Gastes geschrieben. 

“Ich frage mich ernsthaft, wie oft ich heute schon Exzellenz, Durchlaucht oder Kgl. Hoheit zu Papier gebracht habe”, sagte Mathilde. “Ich hätte mitzählen sollen. Furchtbar.” 

“Von hier aus sieht es eher so aus, als hättest du es genossen, mein Schatz.”

Ihr Mann strich ihr über das Haar. Obwohl schon weit über fünfzig, hatte Fürst Gregor noch immer die tadellose Haltung und schlanke Gestalt des ehemaligen Offiziers. Zum Erstaunen seines Münchner Schneiders war die Konfektionsgröße des Fürsten über die Jahre auf den Zoll unverändert geblieben. Das dichte, stahlgraue Haar stets militärisch kurz geschnitten, trug der Fürst als einzigen Schmuck einen schweren Siegelring, ein Erbstück seines Vaters, der heldenhaft, in aussichtsloser Lage, vor El Alamein gefallen war. 

“Sonntag abend ist alles überstanden. Hedy wird unter der Haube sein, das Bankett ist glatt über die Bühne gegangen und wir haben Hohenthann wieder für uns.”

Gänzlich unmilitärisch betrachtete er mit zärtlichem Stolz seine Frau, die er im nun dreißigsten Jahr ihrer glücklichen Ehe noch immer über alles liebte. Die Sonne zauberte Reflexe in ihre kastanienbraunen Locken, in die sich schon die eine oder andere graue Strähne verirrt hatte. Auch Mathilde mochte die Fünfzig wohl schon überschritten haben, doch nur wer genau hinsah, würde die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln bemerken. Tennisturniere bestritt die Fürstin heute nicht mehr, dennoch hatten zur nicht geringen Freude des Fürsten auch ihrer Figur die Jahre nichts anhaben können.

“Ach Gregor, du hast ja recht. Wollen wir hoffen, daß Hedy mit Wilhelm glücklich wird.”

Gregor lächelte nur. Weder Mathilde noch er selbst hatten daran auch nur den geringsten Zweifel, sonst hätten sie der Verbindung nicht umgehend ihren Segen gegeben. Prinzessin Hedwig von Hohenthann und Wilhelm, Erbprinz von Schönberg-Wüstfeld, kannten sich seit Jahren und liebten einander innig. Daß Wilhelm nach Abschluß seines Studiums bei Gregor und Mathilde um die Hand ihrer ältesten Tochter anhalten würde, war allgemein erwartet worden. Zur Trauung der beiden wurden beinahe einhundert Besucher erwartet, am nachfolgenden Bankett würden dann noch etwa fünfzig Gäste teilnehmen. Die Verbindung der beiden Fürstengeschlechter war der Höhepunkt der Saison.

Mathilde sah ihren Mann an und mußte ebenfalls lächeln.

“Ja, um Hedy mache ich mir keine Sorgen”, sagte sie, als könnte sie Gregors Gedanken lesen. “Aber Christine...” - Die Fürstin legte ihren Füllhalter ab und blickte auf eine Photographie, die in einem schlichten, silbernen Bilderrahmen neben ihrer Schreibtischgarnitur stand. Sie sprach den Satz nicht zu Ende und verstummte. 

Gregor wußte, was seine Frau bedrückte. Seit ihr Nesthäkchen in Berlin wohnte und arbeitete, hörten sie nur noch selten von ihr. Nur gelegentlich telefonierten Mutter und Tochter noch miteinander und dann sprach Christine meistens von ihrer Karriere bei Tacke Investments. Es hatte Mathilde einige Überzeugungsarbeit gekostet, ihre Tochter für mehrere Tage von der Arbeit loszueisen.

“Sie ist eben eine moderne junge Frau geworden, die aus ihrem Leben etwas machen möchte, Schatz. Deshalb haben wir sie ja schließlich auch auf die Universität geschickt.”

“Es ist mehr als das, Gregor. Ich habe dir doch von Christines Chef erzählt, der mir letztes Jahr in Berlin vorgestellt wurde.”

“Ja, ich erinnere mich. Du warst nicht beeindruckt...”

“Das ist eine Untertreibung. Ich habe selten einen so vulgären Menschen getroffen! Keine Manieren, kein Stil, nur Protz. Und wie er Christine angesehen hat! Wie ein Stück Fleisch. Wenn ich daran denke, daß unsere Christine den ganzen Tag mit solchen Leuten Umgang hat. Nein, das möchte ich mir nicht vorstellen. Wer weiß, was da aus meinem Kind wird! Und dann ihre Wohnung... du hättest das Haus sehen sollen. Grausig.”

Mathilde war sichtlich erregt. Gregor nahm seine Frau in die Arme und versuchte, sie zu beruhigen.

“Warten wir es doch erst einmal ab. Sie kommt ja schon am Donnerstag und du könntest die Gelegenheit zu einem schönen Mutter-Tochter Gespräch nutzen.”

Mathilde nickte. Der Gedanke war ihr auch schon gekommen. Sie streckte die Hand nach dem Bilderrahmen aus und strich sachte über das Photo.

“Hast du nicht noch eine Besprechung mit Herrn Bürger?” sagte der Fürst, um seine Frau aus ihren trüben Gedanken zu reißen.

“Ach ja, um zehn.”

Die Fürstin blickte auf die reichverzierte Standuhr aus englischer Eiche, die prompt mit sattem Ton zur vollen Stunde schlug. Fast gleichzeitig wurde energisch an die Tür geklopft. Gregor und Mathilde sahen sich an - auf Friedrich Bürger war Verlaß.

“Herein.”

Schwungvoll betrat Friedrich Bürger, Verwalter von Burg Hohenthann, das Arbeitszimmer der Fürstin, nahm seine Mütze ab und wünschte den Anwesenden einen guten Morgen. Seit über vierzig Jahren war Bürger bei der Familie, er hatte sich vom Stallburschen hochgedient. Mit Anfang sechzig führte er nun als gute Seele von Hohenthann die Aufsicht über bald drei Dutzend Angestellte vom Weinkeller bis zum Heuboden. In den letzten Wochen war Bürger rund um die Uhr mit den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeierlichkeiten beschäftigt gewesen. Daß er schon seit fünf Uhr morgens auf den Beinen war, sah man ihm nicht an. Er selbst hätte davon auch kein Aufhebens gemacht, das hätte ihm schon sein Pflichtgefühl verboten. Der Fürst und die Fürstin hatten vollstes Vertrauen in Friedrich Bürger und ließen ihm praktisch freie Hand.

“Ja, lieber Bürger, wie weit sind wir denn?”, wollte die Fürstin wissen.

“Durchlaucht, die Gästezimmer sind soweit hergerichtet, ebenso wie die Außenanlagen. Im Augenblick kümmern sich die Floristen noch um die Blumengestecke in der Hofkapelle, aber das sollte nicht mehr allzulange dauern.”

Die Fürstin nickte. Die Hofkapelle würde sie sich in jedem Fall noch einmal vornehmen und selbst letzte Hand anlegen, das verstand sich von selbst. Die Mutter der Braut sah die Arrangements doch immer mit anderen Augen als ein Außenstehender. 

“Der Champagner für den Empfang nach der Trauung ist bereits geliefert worden, die Canapés kommen Sonntag früh. Es wäre dann noch die Speisenfolge für das Diner am Samstagabend zu besprechen”, fuhr Bürger fort. 

“Der Koch hält den Rehbock, den uns Förster Meinhard geschenkt hat, für groß genug. Er wird wohl auch inzwischen gut abgehangen sein. An die Filets will er Preiselbeeren und Wacholder geben. Als Vorspeise Lady Curzon, als Dessert Pfirsich Melba. Dazu den 85er Saint Julien, davon haben wir noch eine halbe Kiste.”

Mathilde blickte ihren Mann fragend an. Gregor war der Weinkenner in der Familie. Der Fürst nickte zufrieden. Ein schöner Bordeaux war genau das richtige. Sechs Flaschen waren mehr als genug. Vielleicht würde sogar noch eine übrigbleiben.

“Ja, sehr schön. Als Digestif dann Cognac und Madeira, für die Damen Sherry. Ist das kleine Kabinett vorbereitet?”

“Steht schon alles bereit, gnädige Frau, auch das Meißen. Ich lasse dann für acht Personen decken?”

 Die Fürstin überlegte kurz: Hedy, Christine, Gregor und sie selbst für Hohenthann, Wilhelm und dessen Eltern für Schönberg. Blieb noch Wilhelms jüngerer Bruder Marcus, der bis gestern geschäftlich unterwegs gewesen war und noch nicht zugesagt hatte. Mathilde war froh, daß die beiden Familien im kleinen Kreis vor der Hochzeit noch einmal zusammenkamen. Große Banketts waren immer so unpersönlich.

“Lassen Sie für acht Personen auflegen, Herr Bürger. Ich bin sicher, Marcus wird auch mitkommen.”

“Ist recht, gnädige Frau.” 

Bürger sah in sein Notizbuch.

“Ach ja, da wären noch die Anfragen der, äh, Herrschaften von der Presse. Scheinbar wollen diese Leute während der Trauung photographieren. Wie sollen wir das handhaben?”

“Ausgeschlossen”, sagte die Fürstin entschieden. “Dieses Volk kommt uns nicht in die Burg. Draußen können sie photographieren, was sie wollen, das kann ich keinem verbieten; aber in der Anlage auf keinen Fall. Bitte achten Sie darauf.”

Bürger nickte.

“Ich werde mich darum kümmern. Zur Not stellen wir eben eine Absperrung auf.” 

“Wäre das dann soweit alles, Herr Bürger?”

“Von meiner Seite ja. Pater Sebastian läßt fragen, ob Sie ihn einen Augenblick empfangen wollen. Er scheint mir recht aufgeregt.”

“Natürlich, schicken Sie ihn gleich herein.”

Friedrich Bürger verabschiedete sich und gab an der Tür dem Hauskaplan der Hohenthanns die Klinke in die Hand. Der rundliche Pater war sichtlich erhitzt und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Die Fürstin bot ihm erst einmal einen Stuhl an, auf dem der Geistliche unter gemurmelten Dankesworten Platz nahm.

“Nun, Pater, so kenne ich Sie gar nicht”, sagte die Fürstin. “Sie sind doch sonst die Ruhe selbst. Atmen Sie erst einmal richtig durch. Handelt es sich um die Trauung?”

Pater Sebastian war wahrhaftig nicht mehr der Jüngste, doch die Trauung von Hedy und Wilhelm selbst vorzunehmen, war ihm Herzenssache.

“Nein, nein, Durchlaucht, es geht um unser Waisenhaus!”

“Das Waisenhaus?”

Die Fürstin war seit Jahren Patronin des Waisenhauses der Gemeinde. Von allen karitativen Verpflichtungen war ihr diese doch immer die liebste gewesen. Sie widmete der Einrichtung, in der Hedy ihr Praktikum als Erzieherin gemacht hatte, einen großen Teil ihrer Zeit. 

“Der Träger ist in der Insolvenz, Durchlaucht”, sagte Sebastian. “Die Mittel reicht nur noch für ein paar Wochen. Wenn wir kein Geld auftreiben, wird die Gemeinde das Haus verkaufen und unsere Kinder auf andere Heime verteilen.” 

“Verkaufen? Wer würde denn ein altes Waisenhaus kaufen? Wie würde man das denn nutzen?” fragte Mathilde ratlos.

“Es geht gar nicht um das Gebäude, sondern um das Grundstück!” antwortete der Pater. “Eure Durchlaucht wissen doch, wie herrlich es gelegen ist, direkt oberhalb des Sees mit Blick auf die Mönchszinne. Irgendein Spekulant wird das Haus kaufen, abreißen und dann Gott weiß was dorthin stellen.” An dieser Stelle bekreuzigte sich der Pater hastig.

Das sind wirklich schlechte Nachrichten, dachte Mathilde. Und ausgerechnet jetzt, wo sie alle soviel um die Ohren hatten. Vor einigen Jahren hatte schon einmal jemand versucht, das Grundstück zu kaufen, erinnerte sie sich. Diese Leute hatten allen Ernstes vor gehabt, dort ein Spielcasino zu betreiben. Um die Pläne zu stoppen, hatten Fürst und Fürstin von Hohenthann zur maßlosen Überraschung ihrer Töchter zum ersten und bisher einzigen Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen. Nicht auszudenken, wenn es diesmal tatsächlich dazu kommen sollte.

“Keine Sorge, Pater”, sagte Mathilde und blickte ihren Mann an. “Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen.” Gregor nickte bestätigend.

“Ach, ich wußte doch, auf Euer Durchlaucht ist Verlaß”, antwortete Sebastian erleichtert und eilte davon, um sich wieder der Predigt für die Trauungszeremonie zu widmen.

“Das hat uns noch gefehlt”, sagte Gregor leise, der wußte, wie wichtig das Waisenhaus seiner Frau war. Doch Mathilde hatte nicht vor, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Sie war fest entschlossen, die Einrichtung zu retten.