Mathilde von Hohenthann hatte es sich in ihrem Lieblingsplatz am Kamin gemütlich gemacht.
Definitiv zu kalt für die Jahreszeit, dachte sie und fröstelte.
Draußen schien die Sonne, doch dicke Mauern und kleine Butzenscheiben schufen im Innern der Burg ein ganz eigenes Klima, das nicht immer mit dem Wetterbericht übereinstimmte.
Mathilde blickte unschlüssig auf den verlockenden Stapel von Holzscheiten neben dem Kamin.
Ich kann doch nicht im Juni einheizen. Wie sieht denn das aus. Wo ist meine Strickjacke?
Die Fürstin setzte die Lesebrille auf, eines der wenigen Zugeständnisse an ihr Alter, und überflog noch einmal die Gästeliste, die sich wie ein Verzeichnis des deutschen Hochadels las. Sogar der Herzog und die Herzogin von Broock zu Tellin, beide schon hochbetagt, hatten die Einladung bestätigt. Der Herzog war als kleiner Junge Kaiser Franz-Josef I. von Österreich-Ungarn und dessen Neffen, dem unglücklichen Thronfolger, noch persönlich begegnet. Für einen Augenblick blendete die Fürstin die bundesdeutsche Wirklichkeit aus und gab sich ganz ihrer Nostalgie hin.
Wie es wohl gewesen sein muß, all das selbst zu erleben, wovon wir nur im Geschichtsunterricht gehört haben. Kaiser, Könige und Diktatoren. Zwei Weltkriege, Inflation, Währungsreform, der eiserne Vorhang. Unglaublich.
Der Ursprung der Familie verlor sich im Dunkel der Vergangenheit, aber Mathilde hätte es nicht im mindesten gewundert, wenn die Broocks schon zur Zeit der Völkerwanderung fellbekleidet durch Deutschlands Wälder gezogen wären. Hohenthann war wahrhaftig alt, aber aus Sicht der äußerst langlebigen Mitglieder des Hauses Broock waren alle anderen nur hergelaufene Raubritter oder, schlimmer, neureiche Emporkömmlinge. Unmittelbar nach dem jämmerlichen Ende der Ostzone waren die Broocks auf ihr Stammhaus in Vorpommern zurückgekehrt und hatten vierzig Jahre Kommunismus in einem Wimpernschlag hinweggefegt.
Dann seufzte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Papier zu. Ganz unten auf der säuberlich getippten Liste stand, handschriftlich hinzugefügt: V. Aluma und Begleiter.
Das V. stand für Vanessa, wie Mathilde wußte. Vanessa Aluma war Hedys Jugendfreundin gewesen. Allerdings hieß sie damals noch nicht Vanessa, sondern Veronika, mit vollem Namen Veronika Achleitner, gebürtig aus dem kleinen Moosach an der Aller. Für eine erfolgreiche Filmkarriere hatte ihr Geburtsname wohl nicht international genug geklungen und so war sie auf Anraten ihres Agenten auf diesen Künstlernamen verfallen. Heute drehte sie ziemlich durchschnittliche Filme wie am Fließband und verdiente sehr gut damit.
Wer der namenlose Begleiter war, wußte Mathilde hingegen nicht. Sie griff zum Telefon und läutete ihre Tochter auf deren Zimmer an.
“Sag mal, Hedy, ich bin an der Gästeliste. Wer ist denn der Begleiter, von dem da die Rede ist?”
“Weiß ich auch nicht, Mutti. Die Vroni hat nichts weiter gesagt.”
“Kannst du sie nicht nochmal anrufen?”
“Geht nicht, sie ist in New York bei Dreharbeiten und kommt erst Samstag zurück.”
“Ist es denn ein Mann oder eine Frau? Weißt du wenigstens das?”
Hedy kicherte.
“Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß die Vroni mit einer Frau am Arm hier aufkreuzt. Da müßte sie sich schon sehr verändert haben.”
“Hmpf. Na, ich hoffe, der Mensch ist anständig erzogen und weiß sich zu benehmen.”
“Ach Mama, sei doch nicht immer so gravitätisch. Er wird sich schon nicht blamieren. Und falls er doch beim Bankett auf dem Tisch tanzt, wäre das immerhin mal eine Abwechslung. Tschüß.”
Mathilde legte den Hörer auf die Gabel. Gravitätisch. Sie, ausgerechnet sie. Und wenn einer auf dem Tisch tanzt, dann ist das keine Abwechslung, sondern ein Skandal.
“Vanessa Aluma”, sagte die Fürstin laut vor sich hin. “Idiotischer Name. So heißt doch kein Mensch. Und was soll ich auf die Tischkarte schreiben? ‘Der namenlose Begleiter’. Unmöglich, diese Leute, gravitätisch oder nicht.”
Nachdem sie sich derartig befriedigend aufgeregt hatte, verflog die gute Laune, als ihre Gedanken wieder auf das Waisenhaus kamen. Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Vater Sebastian gegeben hatte. Die Dinge aufzuschieben lag nicht in der Natur der Fürstin, und so streckte sie die Hand nach ihrem Adreßbuch aus.
“Wollen wir doch mal sehen.”
“Es tut mir wirklich leid, Durchlaucht, aber mir sind die Hände gebunden. Die Sanierung des Haushalts hat Vorrang”, sagte die näselnde Stimme am anderen Ende der Leitung. Es klang nicht so, als würde der Stimme überhaupt irgend etwas leid tun, außer aus dem Mittagsschlaf gerissen worden zu sein.
“Und man kann nichts machen?”
“Nein, die Rechtslage ist da eindeutig. Wenn wir eine Möglichkeit bekommen, das Defizit auszugleichen, dann müssen wir das nutzen, sonst könnte es zu einer Klage kommen. Der Gemeinderat hat da gar keinen Spielraum. Für die Betroffenen ist das natürlich bedauerlich, und ich versichere Ihnen, liebe gnädige Frau, daß mein vollstes Mitgefühl -”
“Ja, ich verstehe, vielen Dank. Auf Wiederhören, Herr Bürgermeister.”
Die Fürstin legte den Hörer zurück auf die Gabel und bedachte ihren Gesprächspartner mit wenig fürstlichen Gedanken. Was sollte man von einem Politiker schon erwarten, jedenfalls kein Verständnis. Mit derartigen Leuten hatte sie schon vorher zu tun gehabt, und es war nie ein besonderes Vergnügen gewesen.
“Rechtslage, so ein Gewäsch”, schnaubte Mathilde. “Und was ist mit den Kindern? Den kann ich doch nicht mit solchen Phrasen kommen.”
Immerhin sah sie jetzt etwas klarer. Nicht nur, daß der Träger des Waisenhauses pleite war, die Gemeinde war es auch und zwar gründlich. Der Verkauf des Grundstücks würde die Kassen des Städtchens auf Jahre hinaus sanieren. Der Bürgermeister war höflich, aber bestimmt gewesen: Sollte das Waisenhaus geschlossen werden, würde die Gemeinde das Gelände verkaufen. Man habe bereits einen Investor, der plane, ein Wellnesshotel zu errichten und zwar “mit allen Schikanen, vorwärts und rückwärts”, wie es der Bürgermeister in seiner gepflegten Art ausgedrückt hatte.
Mathilde ging hinüber ins Arbeitszimmer ihres Mannes und schilderte ihm die Lage.
“Wellnesshotel? Immer noch besser als ein Spielcasino”, sagte Gregor und blickte von seinen Papieren auf.
“Mag schon sein, aber unser Waisenhaus bleibt so oder so auf der Strecke. Und alles, damit so ein paar Faulenzer im Whirlpool oder in der Sauna sitzen können. Und Investor, wenn ich das schon höre. Spekulanten sind das, nichts weiter” erwiderte seine Frau erbost.
“Ja, da wirst du wohl recht haben. Wieviel Geld würde denn benötigt, um das Haus weiterzuführen?”
“Für’s erste fast eine halbe Million”, sagte die Fürstin niedergeschlagen.
“Du weißt, daß wir das im Moment nicht flüssig haben, Schatz. Die Aufträge für die Renovierung des Rittersaals sind schon vergeben, das kann ich jetzt nicht mehr rückgängig machen.”
Mathilde nickte.
“Wir haben es auch lange genug aufgeschoben”, sagte sie. “Der Gutachter hat ja kein Blatt vor den Mund genommen. Noch ein paar Jahre, und der Saal wäre hin gewesen.”
Der Rittersaal war ein gotisches Juwel aus dem Hochmittelalter, einzigartig in Bayern. Für die Restaurierung des Fächergewölbes und der Fresken mußten unter hohen Kosten internationale Spezialisten herangezogen werden. Zuschüsse hatten sie keine erhalten, denn so wie Städte und Gemeinden war auch der Freistaat praktisch bankrott nach Jahrzehnten der Verschwendung und der Mißwirtschaft. Lediglich der Bausachverständige war von der Landschaftsbehörde bezahlt worden, aber das war nur ein vergleichweise geringer Betrag gewesen. Das Haus Hohenthann hatte die beträchtlichen Kosten also mehr oder weniger alleine zu stemmen und würde es gerade so schaffen.
Immerhin haben wir danach wieder einige hundert Jahre Ruhe, dachte Mathilde. Erst unsere Urururenkel müssen sich dann wieder damit befassen.
Die von Hohenthanns dachten aus Gewohnheit langfristig und waren in den letzten siebenhundert Jahren über alle Kriege, Währungsreformen und Regierungswechsel hinweg gut damit gefahren.
“Du kennst mich, Gregor, so schnell gebe ich nicht auf. Das Geld treibe ich schon irgendwie auf. Ich werde nicht zulassen, daß die uns das kaputt machen”, sagte die Fürstin entschieden.
Sie ging zurück in ihr eigenes Arbeitszimmer und brütete eine Weile vor sich hin.
Eine halbe Million, dachte Mathilde und blickte hinunter auf den Innenhof, wo Friedrich Bürger einige seiner Leute strammstehen ließ. Die Fenster ließen keinen Ton durch, und trotz ihrer düsteren Stimmung mußte sie lächeln, als sie Bürger dabei zusah, wie er stumm mit den Armen fuchtelte.
Wen kennen wir, der mal eben eine halbe Million locker machen kann? Sozusagen aus der Portokasse.
Dann straffte sie sich, griff erneut zum Telefon und verabredete ein Treffen mit Prinz Marcus von Schönberg-Wüstfeld.