Carla

Die Spritze

»Das Ejakulat Ihres Mannes zeigt trotz der unglücklichen Umstände noch eine hohe Beweglichkeit. Die Voraussetzungen sind also nicht schlecht.«

Frau Doktor Steinberger hatte mir, bevor ich mich auf den Behandlungsstuhl legte, Mut gemacht. Nun drückt sie vor meinen Augen Martins Sperma über eine Spritze in einen dünnen Schlauch, den sie langsam in meinen Unterleib einführt. Oh Gott, ich kann nur hoffen, es sind auch wirklich Martins Spermien, die da gerade in meinen Körper strömen. Ich meine, man hat schon die merkwürdigsten Geschichten gehört. Woher weiß ich eigentlich, dass sie nicht aus Versehen den falschen Becher gegriffen hat? Panik macht sich in mir breit.

Als könnte Frau Doktor Steinberger meine Gedanken lesen, sagt sie: »Wir haben hier sehr strenge Sicherheitsmaßnahmen, die garantieren, dass die Samen nicht vertauscht werden. Vor der Insemination werden nochmals alle Daten und Beschriftungen ausführlich verglichen, sodass keine Verwechslungen entstehen können.«

Beruhigt beobachte ich sie dabei, wie sie den Schlauch langsam wieder aus mir herauszieht.

»Das war’s schon. Jetzt bleiben Sie bitte noch eine Viertelstunde so liegen, dann können Sie sich wieder anziehen. Und haben Sie heute Abend gerne noch einmal Geschlechtsverkehr mit Ihrem Mann. Das kann auf keinen Fall schaden.«

Ich muss grinsen. Drei Einsätze an einem Tag. Ich weiß nicht, ob ich das Martin in seinem Alter noch zumuten soll. Frau Doktor Steinberger lächelt mir aufmunternd zu und lässt mich allein. Das ging ja wirklich schnell. Und hat zum Glück gar nicht wehgetan. Während ich wie ein gestrandeter Käfer mit den Beinen in der Luft, in leichter Schräglage auf dem Arztstuhl liege, male ich mir aus, wie schön es wäre, wenn es endlich einmal klappen würde.

Wie unser Kind wohl sein würde? So temperamentvoll wie Martin oder eher ausgeglichen wie ich? Hätte es seine dunklen Haare und meine grünen Augen? In Gedanken sehe ich unser Kind schon vor mir.

»So, Frau Moretti. Jetzt lasse ich Sie mal wieder runter.«

Frau Schmidt, die Sprechstundenhilfe, drückt auf den Hebel am Stuhl und bringt mich wieder in die Waagerechte. Und damit zurück in die Realität.

»Und? Wie war’s?«, fragt Marie am Telefon, kaum dass ich wieder an meinem Schreibtisch im Büro sitze.

»Schon komisch, Sex mit einem Schlauch zu haben«, berichte ich ihr. »Und heute Abend sollen wir eigentlich auch noch einmal miteinander schlafen. Dann könnte ich mir später wenigstens einreden, dass unser Kind in einer leidenschaftlichen Sommernacht in unserem Bett entstanden ist statt am Mittag in einer sterilen Arztpraxis.«

»Du bist eben eine unverbesserliche Romantikerin«, sagt Marie. »Ich möchte nicht wissen, wie viele Kinder aus unserem Bekanntenkreis durch künstliche Befruchtung gezeugt worden sind, und wir wissen es gar nicht. Ist doch letztlich auch egal. Und eine Insemination ist noch halbwegs natürlich. Da wird Martins Spermien nur der richtige Weg gezeigt. Du weißt doch, die Männer kann man nichts alleine machen lassen.«

Ach, meine liebe Freundin. Süß von ihr, dass sie versucht, mich aufzuheitern. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich Maries Trost in der nächsten Zeit dringend brauchen würde. Denn nicht nur die erste Insemination sollte erfolglos bleiben, sondern auch zwei weitere Versuche in den folgenden Monaten.

Frustrierend, denn die Hoffnung, dass es klappen könnte, war bei jedem dieser Versuche um ein Vielfaches höher als ohne assistierte Befruchtung. Und dementsprechend größer war dann auch die Enttäuschung, wieder nicht schwanger zu sein. Trotzdem versuchten wir es noch zweimal. Schließlich hatte ich gelesen, dass viele Frauen erst beim dritten Mal Erfolg haben.

Doch nach drei Monaten war mir dann auch die Romantik egal. Wir entschieden uns für den nächsten Schritt: eine Insemination mit hormoneller Unterstützung.

»Und dann nehmen Sie den Pen, drücken den desinfizierten Bereich Ihres Bauches mit zwei Fingern zusammen und stechen die gesamte Nadel gerade in die Haut«, erklärt mir der Apotheker. Ich merke, wie schon bei der Vorstellung daran mein Kreislauf nervös aufzuckt. Schon als Kind konnte ich keine Spritzen sehen. Ich war zwölf Jahre alt, als mir eine ungeschickte Sprechstundenhilfe beim Blutabnehmen zweimal in den Arm stach, weil sie meine Vene nicht fand. Beim dritten Mal kippte ich um. Seitdem kann mir nur noch im Liegen Blut abgenommen werden. Und selbst dann wird mir noch schwindelig. Wie um alles in der Welt soll ich mir da selbst eine Hormonspritze in den Bauch jagen? Und das sechs Tage lang hintereinander. Krankenschwestern machen dafür eine lange Ausbildung. Ich soll das selbst tun.

Konzentriert höre ich dem Apotheker zu: »Sie legen die Patrone in den Stift ein, setzen die Nadel auf und stellen die Dosis ein … Keine Angst, Sie schaffen das schon. Das ist im Prinzip ganz leicht.«

Sehr witzig. Wann hat er sich schon mal eine Hormonspritze gesetzt? Er ist schließlich ein Mann.

Ich packe Pen, Nadeln, Alkoholtupfer und Hormonpatronen in meine Handtasche und verlasse die Apotheke mit 500 Euro weniger im Portemonnaie.

Am Abend lese ich Martin aus der Broschüre vor, die mir Frau Doktor Steinberger mitgegeben hat:

»Die Stimulation der Eierstöcke zielt darauf ab, gleich mehrere Eizellen zur Reifung zu bringen. Dadurch erhöht sich die Chance auf eine erfolgreiche Schwangerschaft. Die hormonelle Stimulation beginnt meistens am dritten Zyklustag. Dafür wird jeden Tag zur selben Zeit eine bestimmte Menge Fruchtbarkeitshormone gespritzt. Ist der Follikel groß genug, wird der Eisprung mit einem weiteren Hormon ausgelöst und die Befruchtung erfolgt mithilfe der Insemination.«

»Und jetzt musst du dir wirklich jeden Tag dieses Ding da in den Bauch rammen?«, fragt Martin. Er hält den Pen in der Hand und schaut mich mit ungläubigem Blick an. »Sieht aus wie der Kugelschreiber, den ich letztens auf der Messe von einem Autozubehörzulieferer aus dem Odenwald als Werbegeschenk bekommen habe«, stellt er fest.

»Na super. Du hast wirklich die seltene Gabe, deine Frau während dieser schwierigen Zeit zu motivieren«, sage ich. »Es gibt Männer, die spritzen ihrer Frau eigenhändig jeden Abend die Hormone.«

Martin verzieht das Gesicht. »Du weißt, ich unterstütze dich wirklich, wo ich kann. Aber ich bringe es nicht übers Herz, dir wehzutun. Kann das denn nicht ein Profi machen, jemand in der Praxis deiner Ärztin?«

»Genau. Ich fahre jeden Tag einmal quer durch die ganze Stadt zu Frau Doktor Steinberger, weil ich ja eh den ganzen Tag nichts zu tun habe. Und was machen wir, wenn wir kommendes Wochenende zu meiner Mutter nach Hamburg fahren? Nehmen Frau Doktor Steinberger mit?«

»Da hätte ich nichts dagegen«, sagt Martin und zwinkert mir zu. »Du kannst ja sagen, wir machen eine Spritztour.«

»Witzbold«, sage ich.

Ich weiß, es ist Martins Art, alles mit Humor zu nehmen. Und oft tut mir das ja gut. Aber im Moment würde ich mir von ihm mehr Ernsthaftigkeit, Verständnis und Einfühlungsvermögen wünschen. Ich habe das Gefühl, der Großteil der Belastungen liegt auf meinen Schultern, während sein Beitrag sich darin erschöpft, blöde Kommentare zu machen.

Nach dem Essen schauen wir eine DVD. Ich merke, wie ich dabei mit meinen Gedanken abschweife und immer wieder an die Spritze denken muss. Um 23 Uhr ziehe ich mich ins Schlafzimmer zurück. Martin soll nicht dabei sein. Seine Anwesenheit würde mich nur noch nervöser machen, als ich es eh schon bin. Ich packe den Pen, die Hormonpatronen und die Nadel aus, breite alles vor mir aus und lese noch einmal genau die Informationen. Meine Hand zittert, als ich die Patrone einlege, die Kappe mit der Nadel daranschraube und durch Drehen am Ende des Pens meine Tagesdosis einstelle.

Wie damals als Elfjährige im Hallenbad, beim ersten und einzigen Sprung vom Fünfmeterturm, mache ich mir selbst Mut. »Okay, Carla, das haben schon Millionen von anderen Frauen vor dir geschafft. In ein paar Sekunden ist alles vorbei, und dann belohnst du dich mit einer Riesenportion Häagen-Dazs-Eis. Strawberry Cream, deine Lieblingssorte.«

Mit einem alkoholgetränkten Tupfer desinfiziere ich die Gegend unterhalb des Bauchnabels.

»Lassen Sie den Alkohol auf Ihrer Haut mindestens eine Minute lang verdunsten, bevor Sie das Arzneimittel injizieren«, steht in der Gebrauchsanleitung.

Eine Minute. Ich hatte keine Ahnung, wie lang eine Minute sein kann. Vorsichtig entferne ich die beiden Schutzkappen von der Nadel und atme tief durch. Da ist sie. Die Nadel. Herrje, ist die lang. Und die soll jetzt komplett in meinen Bauch? Ich halte den Pen mit der Nadel nach oben und klopfe mit dem Finger gegen die eingelegte Patrone, um Luftblasen aufsteigen zu lassen. Dann drücke ich den Injektionsknopf. Ein paar Tropfen treten aus.

Auf einmal komme ich mir sehr professionell vor. Die Situation erinnert mich an die Doktorspiele meiner Kindheit. »Schwester, Tupfer bitte!« Wobei ich immer die Ärztin spielte, während meine jüngere Freundin Marie die Krankenschwester war.

Ich drücke die Haut um meinen Nabel etwas zusammen und hole tief Luft. Ich zähle jetzt bis drei, dann steche ich zu.

»Carla, alles okay bei dir?«

Martins Stimme reißt mich aus meiner Konzentration.

Mist, jetzt hatte ich’s fast geschafft. Männer haben auch wirklich ein Talent, sich im falschen Moment in Erinnerung zu bringen.

»Ja ja, alles gut«, rufe ich missmutig.

Und merke, wie ich langsam selbst ungeduldig mit mir werde. »Carla, jetzt stell dich nicht so an und hau das Ding rein.« Meine innere Stimme hat kein Erbarmen mit mir. Mit entschlossenem Schwung, steche ich mir die Nadel in den Bauch und drehe dabei am Injektionsknopf. Sie ist drin. Der Anblick eines Kulis in meinem Bauch lässt zwar kurzfristig meinen Blutdruck in den Keller fallen, aber ich hab’s geschafft. Und ich spüre … nichts!

Vorsichtig ziehe ich den Pen wieder heraus und zwei kleine Blutstropfen laufen langsam den Bauch entlang. Hilfe! Davon stand nichts in der Gebrauchsanleitung. Fest presse ich den Alkoholtupfer gegen meinen Bauch, so wie ich das von alten Schwarz-Weiß-Western kenne, wenn der Bankräuber vom Sheriff mit einem Bauchschuss getroffen wurde.

Nach ein paar Minuten nehme ich den Tupfer vorsichtig wieder weg und untersuche die Stelle. Aber außer einem kleinen roten Punkt ist nichts zu sehen.

»Du darfst mich ab jetzt Schwester Carla nennen«, sage ich zu Martin, als ich wieder im Wohnzimmer bin.

»Meine Heldin. Du bekommst die Tapferkeitsmedaille. Das hätte ich nie gekonnt«, sagt er und nimmt mich in den Arm. »Ich glaube, ich habe bei dem Ganzen den besseren Part erwischt, oder?«

»Darum hat die Natur das Kinderkriegen auch den Frauen überlassen. Wir sind einfach härter im Nehmen als ihr. Und deshalb habe ich mir nun auch eine extragroße Portion Häagen Dazs verdient.«

Während der nächsten sechs Tage spritze ich mir jeden Abend Hormone. Man kann zusehen, wie mein Bauch immer dicker wird. Und ich komme mir vor, als hätte ich zu viel von Tante Rosas leckerem Frankfurter Kranz gegessen. Dazu kommt eine Sammlung von blauen und grünen Flecken. Anscheinend habe ich die besondere Gabe, immer zielgenau kleine Blutgefäße zu treffen, die sich dann rundum verfärben. Kein schöner Anblick. Und ich fühle mich unwohl. Was dazu führt, dass unser Sexleben total auf Eis liegt.

Dafür bin ich umso anhänglicher. Martins Nähe ist mir in diesen Tagen ganz besonders wichtig. Ich habe das Gefühl, für ihn ist es schwierig, mit der Situation umzugehen. Ein bisschen mehr Mitgefühl würde ich mir trotzdem wünschen. Manchmal frage ich mich, wie es umgekehrt wäre. Würde sich Martin auch jeden Abend Hormone spritzen, wenn das die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnte, ein Kind zu bekommen? Würde er all die Arzttermine, den damit verbundenen Zeitaufwand und die psychische Belastung auf sich nehmen, damit sich unser Wunsch nach einem Baby endlich erfüllt?

Ich bin mir da ehrlich gesagt nicht sicher. Martin sind diese ganzen Behandlungen ziemlich suspekt. Und er erkundigt sich nie nach Details. Wenn er bei Wer wird Millionär gefragt werden würde: »Spritzt sich Ihre Frau jeden Abend selbst

a) in den Po

b) ins linke Ohrläppchen

c) in den Zeigefinger

oder

d) in den Bauch,

dann bräuchte er wahrscheinlich mich als Telefonjoker. Er hat nie danach gefragt, wie und wo ich mir die Spritze setze. Trotzdem erstaunt er mich dann doch manchmal. Wie gestern. Da brachte er mir Trüffelpralinen von Dallmayr mit, von denen ein Stück sicher mindestens 10 000 Kalorien hat und meinen Bauch noch weiter wachsen lässt.

»Dann hast du etwas, worauf du dich jeden Abend nach der Spritze freuen kannst, falls mal das Eis ausgeht«, sagte er und schaute mich mit seinen süßen Mecki-Knopfaugen an.

Für solche Aktionen liebe ich ihn dann wieder.

»Nehmt die Badesachen mit, dann fahren wir mal an den Timmendorfer Strand«, hatte meine Mutter am Telefon gesagt. Es ist Freitagnachmittag, und wir sind auf dem Weg nach Hamburg. Dort lebt meine Mutter seit der Scheidung von ihrem zweiten Mann vor zehn Jahren.

»Wir haben hier momentan 30 Grad. Ich kann nachts schon gar nicht mehr schlafen, so heiß ist es hier«, hatte sie angekündigt.

Wenn meine Mutter von 30 Grad spricht, dann liegt die Temperatur bei allerhöchstens 20. Erfahrungen einer Tochter, die ihre Mutter seit nun fast 40 Jahren kennt. Trotzdem haben wir unsere Badesachen eingepackt. Für mich anstelle des Bikinis einen Badeanzug. Denn den Fragen und Vorwürfen meiner Mutter zu meinem leicht gewölbten und blau verfärbten Bauch will ich mich erst gar nicht aussetzen.

In Gedanken höre ich sie schon sagen: »Also, Carla, als ich in deinem Alter war, hatte ich noch nicht so einen Bauch … oder hast du mir etwas zu sagen?« Zwinker, zwinker. Denn meine Mutter wünscht sich schon seit Jahren ein Enkelkind. Und da ich ihre einzige Tochter bin, lastet der gesamte Druck auf mir.

Wir kommen nur langsam voran, die Autobahn ist völlig überlastet. Scheinbar wollen nicht nur wir in den Norden. Zudem sind wir wieder mal viel zu spät aus München weggekommen. Meine Mutter hat bereits zweimal angerufen, wann wir denn endlich ankommen.

Da mein kurzsichtiger Mann auch noch seine Brille vergessen hat, muss ich die gesamte Strecke fahren. Manchmal habe ich Martin im Verdacht, dass er seine Brille, die er am Steuer unbedingt braucht, auf langen Fahrten mit Absicht vergisst. Männer neigen ja zur Bequemlichkeit. So kann er in Ruhe neben mir den Sportteil der Zeitung lesen oder mir kluge Tipps geben, wann ich zu bremsen habe, dass ich an der Baustelle nicht so weit rechts fahren oder mehr Abstand zum Vordermann halten soll. Auf dem Beifahrersitz verwandelt er sich leider in einen Oberlehrer.

Kurz nach Hannover halten wir an einer Autobahnraststätte. Es ist 23 Uhr und damit Zeit für Krankenschwester Carlas pünktlichen Einsatz. Eigentlich wollten wir längst bei meiner Mutter sein, aber wir brauchen sicher noch eine weitere Stunde. Und die Spritze muss pünktlich gesetzt werden.

»Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, dass du dir hier im Auto vor allen Leuten die Spritze geben willst!«, meckert Martin.

»Was soll ich deiner Meinung nach denn sonst machen? Mir die Spritze auf der schmutzigen Autobahntoilette setzen?«

Ich bin gereizt. Es ist heiß. Wider Erwarten hatte meine Mutter diesmal doch recht gehabt mit den 30 Grad. Ich spiele seine Chauffeuse. Und statt dafür dankbar zu sein, motzt er mich auch noch an, weil ich mir pünktlich eine Spritze setzen muss, damit er Vater wird.

Wir suchen uns einen dunklen, möglichst abgelegenen Parkplatz am Rand der Raststätte. Während Martin aussteigt, hole ich Pen, Nadeln und Tupfer aus meiner Tasche, klappe das Handschuhfach aus und bereite darauf alles wie auf einem OP-Tisch aus. Mittlerweile bin ich schon so geübt, dass jeder Handgriff sitzt. Ich könnte mir auch völlig blind eine Spritze verpassen.

Plötzlich höre ich laute Stimmen und Hundegebell. Schnell ziehe ich die Nadel auf, überprüfe die Dosis am Ende des Pens und setze mir die Spritze.

Helles Licht blendet mich.

»Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür!«, sagt draußen jemand und leuchtet mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Erst nach einigen Sekunden, als die Blendung wieder nachlässt, kann ich erkennen, dass es tatsächlich ein Polizist ist.

»Es ist nicht das, wonach es aussieht«, sage ich.

»Wonach sieht es denn aus?«, antwortet der Polizist, der einen großen, nervösen Schäferhund neben sich an der Leine hält.

»Kurz gesagt, wir versuchen ein Kind zu bekommen, und ich muss mir jeden Abend Hormone spritzen. Hier, sehen Sie, mit diesem Stift.«

Ich zeige ihm den Pen, und er schaut mich ebenso verständnislos an wie der Schäferhund.

»Das ist ein Kuli. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie sich mit einem Kuli Hormone spritzen?«

»Doch.«

Ich ziehe die Kappe ab und zeige ihm die Nadel. Dann reiche ich ihm den Pen.

Martin blickt den Polizisten wütend an.

»Das habe ich Ihnen doch schon alles erklärt«, sagt er.

Unschlüssig steht der Polizist mit meinem Pen in der Hand vor uns. Der Schäferhund schnuppert kurz mit seiner Schnauze daran und wendet sich dann desinteressiert ab. Anscheinend ein Zeichen für den Polizisten, uns zu glauben.

»Wissen Sie, hier auf dem Parkplatz treffen sich immer wieder Drogendealer und Junkies. Erst gestern haben wir wieder welche erwischt. Suchen Sie sich das nächste Mal besser ein anderes Plätzchen für Ihre Spritzenaktion.«

Er wendet sich ab und geht.

Es ist nach Mitternacht, als wir in Hamburg ankommen.

»Bin ich froh, dass ihr endlich da seid!«, sagt meine Mutter und umarmt uns sichtlich erleichtert. »Ich hätte schon beinahe bei der Polizei angerufen.«

Martin zwinkert mir zu, und wir können uns kaum ein Lachen vergreifen.

»Tut mir leid, Mami. Es war wahnsinnig viel Verkehr.«

Ich bin todmüde von der Fahrt, meine 62-jährige Mutter dagegen ist topfit. Ein paar Minuten kann ich mich noch wach halten, um mit ihr die wichtigsten Neuigkeiten auszutauschen. Dann falle ich ins Bett und sofort in einen tiefen Schlaf.

»Ihr verschlaft einen Traumtag!« Mit Schwung öffnet meine Mutter den Vorhang, und die Sonnenstrahlen treffen mich mit voller Wucht. Es hat mich schon als Jugendliche geärgert, dass meine Mutter am Morgen ungefragt ins Zimmer kam, um mich zu wecken. Aber sie ließ sich nie davon abhalten. Und tut es bis heute. Ohne auch nur im Geringsten auf ihren Schwiegersohn, den Morgenmuffel neben mir, Rücksicht zu nehmen.

»Raus aus den Federn, wir fahren an die See! Und abends lade ich euch ins Reethus ein.«

Ich weiß, wenn meine Mutter Pläne hat, ist Widerstand zwecklos. Aber in diesem Fall bin ich einverstanden. Das Reethus ist ihr Lieblingslokal, und ich mag es auch sehr gerne.

Nach einem herzhaften Frühstück mit Rührei und Krabben, dem sich Martin wie immer verweigert, fahren wir gegen Mittag Richtung Timmendorfer Strand. Die Straßen sind schon Kilometer vor dem Strand zugeparkt, sodass wir nur weit entfernt eine Abstellmöglichkeit fürs Auto finden.

»Nehmt alle eure Sachen mit«, befiehlt meine Mutter. »Auch was Warmes für den Abend. Wir gehen vom Strand aus direkt ins Reethus. Ich habe keine Lust, zwischendurch nochmals eine Wanderung hierher zu machen.«

Meine Mutter besitzt die einzigartige Gabe, die Zeit zurückzudrehen. Ich fühle mich wieder wie eine Zehnjährige. Warum mutiert man eigentlich in Sekundenschnelle von einem eigenständigen Erwachsenen in ein folgsames Kind im Vorschulalter, wenn man mit seinen Eltern zusammen ist? Ob das ein Leben lang so bleibt? Ich befürchte es.

Wir nehmen unsere Badetasche aus dem Kofferraum, und mein Blick fällt auf die kleine Minikühltasche, die mir der Apotheker geschenkt hat.

»Lagern Sie die Hormone zwischen zwei und acht Grad im Kühlschrank«, sagte er. »Und wenn Sie unterwegs sind, transportieren Sie am besten alles in dieser Tasche.«

Was bin ich froh, dass ich die jetzt dabeihabe.

»Du hast ja ein süßes Kühltäschchen.« Meine Mutter schaut interessiert auf die kleine blaue Tasche an meinem Arm.

»Hat man so was jetzt in München? Praktisch. Habt ihr euch ein bisschen Proviant mitgenommen?«

Ich spüre, wie ich rot werde. Hoffentlich glaubt meine Mutter, das kommt von der Hitze.

»Na ja«, sage ich. »Immer gut, ein paar kühle Getränke dabeizuhaben.«

Das darf nicht wahr sein! Nun lüge ich sogar schon meine Mutter an! So weit treibt mich also der Kinderwunsch. Aber ich möchte ihr nichts von Hormonen und der Insemination sagen. Ich glaube, sie würde es nicht wirklich gut finden. Ich möchte ihr weiterhin die Illusion geben, dass bei mir alles ganz natürlich läuft.

Wir suchen uns einen Strandkorb. Martin geht sofort schwimmen, während ich es mir mit meiner Mutter gemütlich mache. Kaum ist er verschwunden, ergreift meine Mutter die Gelegenheit, ein Mutter-Tochter-Gespräch zu beginnen.

»Wie geht’s dir denn, mein Kind?«, fragt sie interessiert und liebevoll.

»Ach, eigentlich alles super«, sage ich. »Ich habe momentan ziemlich viel in der Agentur zu tun. Und Martin ist auch oft unterwegs. Aber ansonsten läuft alles gut.«

»Ach, dann seht ihr euch gar nicht so oft?« Meine Mutter sieht mich mit fragendem Blick an.

»Doch, schon. Aber wir sind eben beide ziemlich viel beschäftigt.«

Seit ihrer Scheidung ist meine Mutter stets besorgt, dass mir das auch einmal passieren könnte. Deshalb möchte sie in Sachen Beziehung immer alles ganz genau wissen.

»Übrigens ist Sigrid gerade Oma geworden«, sagt meine Mutter. »Sie sagt, das wäre das Schönste, was ihr je passiert ist. Viktor heißt der Kleine.«

Okay, daher weht also der Wind. Der eindeutige Versuch meiner Mutter, mir mal wieder unmissverständlich deutlich zu machen, dass sie auch gerne ein Enkelkind hätte.

»Wie schön für Sigrid«, sage ich. Sigrid ist die beste Freundin meiner Mutter.

»Puuh, ist das heiß heute. Gibst du mir mal was zu trinken aus deiner Kühltasche?«

Sie sieht mich über den Rand ihrer Sonnenbrille an, und auf einmal habe ich das Bedürfnis, ihr alles zu erzählen.

»Mami, da ist etwas, was ich dir sagen muss.«

Meine Mutter blickt mich erschrocken an.

»Nein, nichts Schlimmes. Aber in der Kühltasche ist kein kühles Getränk, sondern meine Hormonspritze.«

Meine Mutter schaut irritiert. »Warum brauchst du Hormone? Bist du etwa schon in den Wechseljahren?«

Na super. Ich schlucke. Selbst meine Mutter ist der Meinung, dass meine Eierstöcke bereits frühpensioniert sind.

»Nein, Mami. Martin und ich versuchen ein Baby zu bekommen. Und weil es bisher nicht geklappt hat, haben wir uns jetzt für eine Insemination mit hormoneller Unterstützung entschlossen.«

»Eine was?«

Meine Mutter ist sichtlich überfordert.

»Ich nehme Hormone, um mehr Eizellen zu produzieren und damit die Chance zu erhöhen, schwanger zu werden.«

»Ach ja, ich glaube, darüber habe ich schon mal was gelesen. Die Tochter von Erika hat auch so was gemacht und dann Zwillinge bekommen. Finde ich eine prima Idee. Die Medizin ist heutzutage so fortgeschritten. Das muss man doch ausnutzen. Und warum hast du die Hormone am Strand dabei?«

Ich bin erstaunt. Diese positive Reaktion hätte ich von meiner Mutter nicht erwartet. Ich hole den Pen aus der Kühltasche und erkläre ihr, wie alles funktioniert. Sie hört interessierter zu, als das Martin je getan hat.

»Unglaublich«, sagt sie. »Zu unseren Zeiten gab es so etwas ja leider noch nicht. Aber trotzdem würde ich dir empfehlen, die Hormone nicht zu lange zu nehmen. Wer weiß, welche Nebenwirkungen die haben.«

Typisch meine Mutter. Aber sie hat recht. Seitdem ich die Hormone spritze, bin ich oft viel emotionaler, launischer und gereizter als früher. Stimmungsschwankungen von null auf hundert inklusive. Manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder. Es gibt Tage, da könnte ich den ganzen Tag nur heulen und gehe wegen jeder Kleinigkeit sofort an die Decke. Ein falsches Wort von Martin, und ich stelle unsere ganze Beziehung infrage. Und trotzdem. Das alles ist es mir wert, wenn es zum ersehnten Ziel führt.

»Weiß Martin davon?«, fragt sie.

Ich muss lachen. »Klar, er ist doch mein Mann.«

»Und das funktioniert auch wirklich?«, sagt sie mit der Hoffnung, nun doch ganz bald Großmutter zu werden.

»Ich hoffe es, Mami«, sage ich. »Ich hoffe es sehr.«