Carla

Die Schwangerschaft

»Wie alt ist er denn, der Kleine?« Eine ältere Dame bleibt stehen und lächelt ganz verzückt in den Kinderwagen.

»Das ist eine Sie«, sage ich. »Sechs Monate ist sie jetzt alt.«

Und schiebe stolz die Decke etwas zur Seite, sodass die Dame Paula ausführlicher bewundern kann.

»Was für ein süßes Kind! Und so schöne große Augen! Ganz die Mama.«

Ich schlucke. Ja, ganz die Mama, denke ich und sage nichts. Schön wär’s. Zu schön ist das Gefühl, für einen kurzen, winzigen Moment Mama zu sein. Denn Paula ist nicht mein Kind, sondern Maries.

Ich verabschiede mich und gehe weiter. Schiebe den Kinderwagen an diesem sonnigen Samstagmorgen durch den Englischen Garten und stelle mir vor, wie es wäre, wenn unser Kind darin liegen würde. Mein Yogalehrer erzählte mir mal, dass der schnellste Weg zur Wunscherfüllung der ist, so zu tun, als hätte sich der Wunsch bereits erfüllt. Wenn man sich immer wieder eine bestimmte Situation bildlich vorstellt, realisiert sie sich irgendwann. Die Kraft der Gedanken. Verstärkt wird das Ganze durch Worte, die man immer wiederholt. Wie ein Mantra. Ach, wenn das so einfach wäre.

Leise fange ich an, vor mich hinzumurmeln: »Ich habe ein Baby. Ich habe ein Baby.«

Paula lächelt, als fände sie das auch ein tolles Spiel.

Marie ist beim Friseur. Sie rief mich heute Morgen mit einer Stimme an, an der ich sofort erkannte, dass es sich um einen Notfall handeln muss.

»Carla, Schatz, ich brauch dich. Meine Babysitterin ist ausgefallen. Seit Monaten haben meine Haare keine Farbe mehr gesehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich aussehe. Wie eine Kanalratte. Da dachte Michael immer, er sei mit einer Blondine zusammen. Und jetzt stellt er fest, dass seine Freundin ein Fake mit maulwurfbraunen Haaren ist. Was meinst du? Könntest du Paula mal für drei Stunden übernehmen?«

»Klar, kein Problem.«

Ich liebe Paula. Ich meine, das Kind der besten Freundin ist immer was ganz Besonderes. Schon als ich Paula das erste Mal sah, hatte ich sofort dieses Verbundenheitsgefühl. Und während der ersten Monate war ich neben Michael der einzige Mensch, dem Marie ihr Kind anvertraute. Paula am Samstag im Kinderwagen für ein paar Stunden durch den Park zu schieben, ist auch für mich mal eine willkommene Abwechslung zu unserem üblichen Stadtbummel.

Wir sind bei Marie und Michael zum Essen eingeladen. Seit Paula auf der Welt ist, treffen wir uns jetzt immer häufiger bei ihnen statt in Restaurants. Dadurch sparen sie sich einen Babysitter, und auch wir profitieren davon: Michael kocht nämlich besser als so mancher Profi.

»Mein Jamie Oliver«, sagt Marie zu ihm. Denn Michael kocht nicht nur so kreativ wie der Engländer, er sieht ihm auch noch extrem ähnlich.

Marie öffnet uns die Tür mit einer schlafenden Paula auf dem Arm.

»Ich bring sie nur schnell ins Bett. Bin gleich bei euch. Michael ist in der Küche.«

Was auch der Duft von gebratenem Fisch und Kräutern verrät.

Maries loftartige Maisonettewohnung liegt mitten in der Stadt. Das Wohnzimmer mit dem offenen Kamin ist nach oben hin offen und zeigt die alten, weiß gestrichenen Holzbalken. Die großen Fenster reichen bis zum Boden und geben einen Blick über die Dächer Münchens frei. Eine Wohnung, in die man sofort einziehen möchte.

Wir setzen uns an den langen Holztisch, an dem mühelos eine zwölfköpfige Familie Platz hätte. Michael kommt aus der Küche, ein Küchenhandtuch um die Taille gebunden. Seine dunkelblonden Haare stehen wild vom Kopf ab.

»Hallo, wie schön, euch zu sehen«, begrüßt er uns.

Marie und ich, wir haben das große Glück, dass sich auch unsere Männer gut verstehen. Was ja nicht selbstverständlich ist. Ich meine, nur weil wir beste Freundinnen sind, müssen es ja nicht auch unsere Männer sein. Doch Martin und Michael teilen die gleichen Interessen – Wein trinken und Ski fahren. Und das ist bei Männern schon mal eine gute Basis für eine Freundschaft.

Es gibt Thunfischsteaks mit frischem Koriander und Basilikum. Dazu einen Vernaccia-Weißwein aus San Gimignano. Martin ist begeistert. Und so gesprächig wie lange nicht mehr. Normalerweise entspricht Martins Kommunikationsdrang dem eines Alm-Öhis. Dort, wo er herkommt, wird nicht viel Aufhebens um Worte gemacht. Man bespricht das Notwendigste. Alles andere ist unnützes Gerede. Im Laufe der Jahre habe ich mich daran gewöhnt, mit einem großen Schweiger zusammenzuleben. Lieber einer, der wenig redet, aber dafür zu seinen Worten steht, als einer, der viel redet und dann nicht hält, was er verspricht. Auf Martin kann ich mich verlassen. Und das ist es, worauf es für mich in einer Partnerschaft ankommt.

»Erzählt mal, wie ist denn das Leben mit Kind so«, möchte Martin wissen. »Verändert sich viel?«

»Wir haben so ein Glück«, sagt Marie. »Paula ist total unkompliziert und hat von Anfang an durchgeschlafen.«

Marie sieht wirklich blendend aus. Keine dunklen Augenringe als Indiz für zu wenig Schlaf. Und sie ist bereits wieder so schlank wie vor der Geburt. Neu ist, dass sie mehr Weiblichkeit ausstrahlt, was ihr extrem gut steht.

Und sie ist glücklich, das sieht man ihr an. Ich freue mich so für sie. Nach all den Jahren mit unglücklichen Beziehungen, mit falschen Männern, scheint sie endlich angekommen zu sein.

»Na ja, sind die Eltern entspannt, ist es auch das Kind«, sagt Martin.

Und hört sich dabei an wie ein erfahrener Familienvater von drei Kindern.

»Michael ist so stolz«, schwärmt Marie. »Seitdem Paula auf der Welt ist, holt er sogar morgens freiwillig Brötchen. Mit ihr zusammen! Und das wahrscheinlich nur, um sich von verzückten Frauen bewundern zu lassen.«

Michael grinst. »Ja, Kinder und Hunde, damit kommst du sofort ins Gespräch.«

»Und er kann es kaum abwarten, Paula das Skifahren beizubringen«, erzählt Marie.

»Leider wird das aber noch mindestens zwei Jahre dauern«, sagt Michael.

Nach Zitronensorbet und Espresso ziehen sich Martin und Michael auf die Terrasse zurück, um Zigarillos zu rauchen. Ich gehe kurz ins Bad.

»Sag mal, Carla. Hast du schon wieder eine Blasenentzündung oder warum rennst du andauernd aufs Klo?« Marie sieht mich fragend an.

»Zählst du jetzt mit, wie oft ich aufs Klo gehe? Ich habe wahrscheinlich einfach zu viel Wasser getrunken.«

»Carla, Schatz, verstehst du denn nicht? Du rennst wie eine Bekloppte aufs Klo, hast ein Dekolleté wie Pamela Anderson und erzählst mir seit Tagen, wie müde du ständig bist. So fing das Ganze bei mir damals auch an. Du bist schwanger!«

»Ich? Schwanger? Schön wär’s! Das wüsste ich aber.«

»So, und was ist dann mit deinem Busen passiert? Hast du auf den Malediven eine Brust-OP machen lassen und mir nichts davon erzählt?«

Okay, mein Busen ist wirklich in den letzten Tagen etwas größer geworden und spannt auch ziemlich. Aber das habe ich auf die Hormone geschoben. Mein armer Körper musste in der letzten Zeit ja einiges mitmachen. Schließlich habe ich monatelang Progesteron genommen, dazu noch die Spritzen während der Insemination. Eine einzige Hormonachterbahnfahrt. Kein Wunder, dass da das eine oder andere Körperteil vielleicht etwas überreagiert. Aber deswegen ist man doch nicht gleich schwanger.

Schnell gehe ich in Gedanken die letzten Wochen durch. Ehrlich gesagt, habe ich den Überblick über meinen Zyklus etwas verloren. Durch die Hormone hat sich alles verschoben. Und seitdem Martin und ich beschlossen haben, das Kinderthema erst mal für ein paar Monate auf Eis zu legen, habe ich mit der ganzen Eisprungrechnerei aufgehört. Mein Plan ist, das Ganze jetzt noch drei Monate weiter auf natürlichem Weg zu probieren und uns danach vielleicht mit dem Thema IVF zu beschäftigen. An diesen Gedanken versuche ich mich langsam zu gewöhnen und habe mir sogar schon Infomaterial besorgt. Ich denke, Martin hat für uns den gleichen Plan. Auch wenn wir uns darüber in den letzten Wochen nicht so detailliert unterhalten haben. Ich will das Babythema ganz bewusst mal etwas ruhen lassen.

»Warte, ich glaub, ich habe da noch einen alten Schwangerschaftstest«, sagt Marie.

Sie springt auf und geht ins Badezimmer.

»Hier, dann weißt du’s sofort. Und ruf mich ja gleich danach an!«

Marie reicht mir eine rosa Packung, die ich schnell in meine Handtasche stecke. Gerade noch rechtzeitig, bevor unsere Männer wieder zurückkommen.

Wir setzen uns wieder an den Tisch. Michael greift nach der Weinflasche, um unsere Gläser nachzufüllen.

»Nein, Carla hat genug«, sagt Marie in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubt. Sie schiebt mein Glas weg von mir.

Martin und Michael gucken erstaunt.

»Na, wie ich Martin kenne«, sagt Marie, »hat er doch bestimmt wieder seine Brille vergessen, und Carla muss fahren, oder?«

Sie gießt mir Wasser ein und zwinkert mir zu.

»Carla, bist du schon da?« Martin wirft seine Jacke auf den Stuhl im Flur. »Stell dir vor, was mir heute passiert ist. Da komme ich in die Redaktion und dann …«

Er bricht mitten im Satz ab und schaut mich an.

»Was ist denn mit dir los? Du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd!« Martin gibt mir einen Kuss. »Habt ihr endlich den Auftrag für die große Mercedes-Kampagne bekommen?«

Ich schüttle den Kopf. Und hole hinter meinem Rücken den Schwangerschaftstest hervor. Ohne ein Wort zu sagen, halte ich Martin den Test vor die Nase.

»Was ist das?«, fragt er.

Ich sage nichts, sondern schaue ihn nur weiter mit großen Augen an. Wobei ich merke, dass ich mir ein Grinsen nicht mehr lange verkneifen kann. Schließlich scheint auch bei ihm endlich der Groschen gefallen zu sein.

»Nein«, sagt er.

»Doch.«

»Das gibt’s doch nicht!«

Martin umarmt mich und hebt mich dabei hoch wie ein kleines Mädchen. Als er mich wieder absetzt, sehe ich, dass er Tränen in den Augen hat.

»Und du bist ganz sicher?«

Er scheint die gute Nachricht genau so wenig glauben zu können wie ich.

»Ich habe heute drei Schwangerschaftstests gemacht. Und alle waren positiv. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle drei danebenliegen, oder?«

Martin lässt sich aufs Sofa fallen, ballt die Faust und jubelt, als hätte sein geliebter FC Bayern gerade die Champions League gewonnen.

»Ja! Ja! Ja! Ich hab doch gewusst, dass es irgendwann mal klappt.«

»Na, das hast du aber gut verborgen. Ehrlich gesagt, habe ich in letzter Zeit nicht mehr damit gerechnet. Ich meine, das gibt’s doch nicht! Da versuchen wir seit über einem Jahr mit allen Mitteln ein Kind zu bekommen – und dann klappt es – einfach so.«

Ich lege meinen Kopf auf seine Brust, und er streichelt mir übers Haar. Was für ein einzigartiger Moment. Ich bin glücklich. So glücklich wie noch nie in meinem Leben. Es ist schon merkwürdig. Da malt man sich immer wieder aus, wie es wäre, endlich schwanger zu sein und seinem Mann die gute Nachricht zu überbringen. Und dann kommt alles anders.

Ich meine, wie oft habe ich mir immer wieder diese Situation vorgestellt: Ich bin schwanger und schenke Martin ein großes Glas Essiggurken mit einer Schleife. Oder kleine Babyschühchen. Oder ich verpacke den Schwangerschaftstest als Geschenk. Und dann? Dann werde ich selbst so von der Situation überrollt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Ich will es einfach nur hinausschreien in die Welt. ICH BIN SCHWANGER!

Am nächsten Morgen vereinbare ich sofort einen Termin bei Frau Doktor Steinberger. Zwei Stunden später bin ich in ihrer Praxis.

»Sie hatten recht, Frau Moretti. Sie sind schwanger. In der fünften Woche. Glückwunsch!« Sie lächelt mich an.

»Ja, ich erlebe das immer öfter. Kaum ist der Druck weg, werden viele Frauen schwanger. Ich verschreibe Ihnen jetzt Folsäure, Jod, Magnesium und wieder Progesteron, das Sie bitte weiterhin zweimal täglich nehmen. Und ernähren Sie sich eiweißhaltig. Viel Joghurt und Hüttenkäse.«

Ich bin also wirklich schwanger. Ich kann es immer noch nicht so ganz glauben. Aber das Ultraschallbild in meiner Hand ist der Beweis. Auch wenn man darauf bisher nicht mehr als nur einen kleinen schwarzen Punkt erkennen kann. Vorsichtig stecke ich das Bild in meine Handtasche. Das erste Foto unseres Babys.

»Und? Wie fühlst du dich?«, fragt mich Marie.

Natürlich hatte ich sie sofort angerufen, nachdem ich den Schwangerschaftstest gemacht hatte. Sie war die Erste, die es erfuhr. Schließlich war sie ja auch diejenige gewesen, die vor allen anderen erkannte, dass ich schwanger war. Sogar vor mir selbst.

Seitdem telefonieren wir stündlich. Mit Marie habe ich die beste »Mami-Ratgeberin« aller Zeiten an meiner Seite. Keine Frage, auf die sie nicht eine Antwort hat.

»Ich hab so ein komisches Ziehen im Bauch. Wie Muskelkater. Und könnte den ganzen Tag nur schlafen. Abgesehen davon geht’s mir super.«

»Das sind die Mutterbänder«, beruhigt sie mich. »Die dehnen sich aus und ziehen am Anfang ein bisschen, um Platz zu schaffen bei dir im Bauch. Mach dir eine Wärmflasche, aber nicht zu heiß. Das hilft.«

Ich muss lachen. Wer hätte gedacht, dass meine zwei Jahre jüngere Freundin, die immer wie eine kleine Schwester für mich war, mir jemals Tipps für die Schwangerschaft geben würde? Eigentlich war doch immer ich diejenige von uns gewesen, die kluge Ratschläge gab.

Die nächsten Abende und Wochenenden verbringe ich viel auf dem Sofa. Lesend und Tee trinkend. Dazu gibt es Schokoladenkekse. Endlich muss ich kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn ich mir statt drei nun sechs genehmige. Schließlich esse ich für zwei.

Im Internet melde ich mich bei einem Schwangerschafts-Newsletter an, der mich jede Woche darüber informiert, wie sich unser Baby entwickelt und mein Körper sich verändert. Der hat sich glücklicherweise vorerst nur für die positiven Schwangerschaftsmerkmale entschieden. Mein Busen wächst weiter und spannt so extrem, dass ich das Gefühl habe, mein BH platzt jede Sekunde. Selbst Martin ist von seiner neuen Miss Wonderbra sichtlich beeindruckt.

Übelkeit und Heißhungerattacken auf Käsebrot mit Nutella? Fehlanzeige. Nur Pickel habe ich. Meine Haut sieht aus wie Tante Rosas Streuselkuchen. Ansonsten fühle ich mich blendend.

Gestern habe ich mich bereits dabei ertappt, wie ich Kindernamen notiert habe. Charlotte, wie meine Großmutter? Oder lieber Louisa? Und wenn’s ein Junge wird: Julian, Paul oder Max? Ich kann mich nicht entscheiden. Aber ich habe ja auch noch Zeit. Acht Monate, um genau zu sein. Und Martin wird sicher auch noch den einen oder anderen Vorschlag beisteuern.

Ich bin jetzt in der siebten Schwangerschaftswoche, und unser Baby hat jetzt ungefähr die Größe einer Walderdbeere. Auf dem Ultraschallbild sieht es wie eine kleine Kaulquappe aus. Eine süße Kaulquappe mit überdimensionalem Kopf und kleinem Schwanz am Rücken. Ein evolutionäres Überbleibsel, das sich aber wieder zurückbildet, wie mir Frau Doktor Steinberger versicherte.

Was für ein Wunder. Da wächst so ein kleiner Mensch in deinem Bauch, wird immer größer, und nur 40 Wochen später hältst du dein eigenes Kind im Arm.

Schon als kleines Mädchen habe ich mir Kinder gewünscht. Was sicher auch daran lag, dass ich meinen Vater früh verloren habe. Ich war zehn Jahre alt, als er an einem Herzinfarkt starb. Seit diesem Tag träumte ich davon, endlich wieder eine komplette Familie zu sein. So eine, wie wir es früher einmal waren. Mit Vater, Mutter, Kind. Dieser Sehnsucht nach familiärem Zusammenhalt und Liebe bin ich mein Leben lang hinterhergelaufen. Dass ich dann doch so lange warten musste, bis sich mein Traum endlich erfüllte, hatte ich mir damals zwar nicht vorgestellt. Aber ich war ja schon immer mit allem etwas später dran im Leben. Und lieber spät ein Baby als überhaupt nicht.

Wenn ich es mir so überlege, finde ich, dass der Zeitpunkt für Martin und mich nicht besser hätte sein können. Gut, ein paar Jahre früher wäre ein Kind auch schön gewesen. Aber ich habe Martin ja auch erst spät in meinem Leben kennengelernt.

Ehrlich gesagt, waren wir beide an einem Punkt angelangt, an dem unser Leben etwas stagniert. So, als hätte jemand die Pausetaste am DVD-Player gedrückt und danach vergessen, wieder auf Play zu drücken. Ich meine, es ist nicht so, dass wir zu zweit nicht glücklich sind. Im Gegenteil. Wir haben tolle Freunde, lieb gewonnene Rituale. Wie unseren Stadtbummel jeden Samstag und unser gemütliches Sonntagsfrühstück. Aber meine Güte, wie lange will man eigentlich in seinem Leben noch durch die Stadt tigern und Dinge konsumieren, die man eigentlich nicht braucht? Gibt es nichts Wichtigeres im Leben? Wir sind, sagen wir mal, etwas erstarrt in unserer Routine. Zwar haben wir viel von der Welt gesehen. Aber ist es nicht tausendmal schöner, die Welt durch Kinderaugen neu zu entdecken? Durch die Augen unseres Kindes. Und alles, vor allen Dingen sich selbst, nicht ganz so wichtig zu nehmen.

Das Baby macht unser Glück komplett, und ich kann es kaum abwarten, bis es endlich da ist. Endlich hat sich mein größter Wunsch erfüllt. Und das sogar noch vor meinem 40. Geburtstag, wie ich es mir gewünscht habe. Auch wenn unser Baby bis dahin noch in meinem Bauch sein wird. Na ja, typisch für mich: Wie immer eben alles auf den letzten Drücker.

Es ist Freitagabend. Martin und ich kochen. Ein weiteres Ritual. Der Freitagabend gehört uns. Denn wir sind während der Woche beide beruflich viel unterwegs. Mit Kunden essen, Meetings, die sich bis weit in den Abend hineinziehen. Aber der Freitagabend gehört uns, er ist der Einstand ins gemeinsame Wochenende.

Und meistens auch wieder der Tag, an dem wir Sex haben. Entspannten Sex. Keinen Sex nach Plan, weil ich wieder mal kurz vorm Eisprung stehe, sondern Juchhu-wir-haben-Wochenende-und-Spaß-daran-Sex. Seitdem der Druck weg ist und ich schwanger bin, hat sich auch unsere Beziehung verändert. Die Leichtigkeit, die ich so lange vermisste, ist wieder zurückgekehrt. Ein schönes Gefühl.

Mitten in der Nacht wache ich auf. Mit unerträglichen Schmerzen im Unterleib. Aber noch schlimmer ist die Angst, dass mit unserem Baby etwas nicht stimmt. Ich höre Martin neben mir ruhig atmen. Er schläft tief und fest.

Aua, das tut richtig weh. Ich kann nicht mehr schlafen. Leise stehe ich auf, gehe in die Küche und mache Wasser für eine Wärmflasche heiß. Dabei rede ich mir immer wieder gut zu. Nein: uns! Denn ich habe das merkwürdige Gefühl, dass mit dem kleinen Wesen in meinem Bauch gerade irgendetwas nicht stimmt und es meine Unterstützung braucht.

Ich lege mich mit der Wärmflasche auf dem Bauch aufs Sofa und versuche mir einzureden, dass alles gut ist. Wie hatte Marie gesagt? Die Mutterbänder dehnen sich und schaffen Platz im Unterleib. Schmerzen sind da ganz normal.

Leise gehe ich zurück ins Schlafzimmer und schlüpfe unter die warme Bettdecke zu Martin. Ganz eng kuschle ich mich an ihn und merke, wie mein Atem langsam wieder ruhiger wird und ich mich entspanne.

»Bleib bei uns, kleine Erdbeere«, flüstere ich mehrmals, bevor ich wieder einschlafe.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich immer noch Schmerzen. Nicht mehr ganz so schlimm wie in der Nacht, aber schlimm genug, um mir weiterhin Sorgen zu machen. Nach dem Frühstück lege ich mich wieder mit der Wärmflasche aufs Sofa.

Martin versucht, mich zu beruhigen. »Das kommt bestimmt von der Umstellung. Dein Körper muss sich ja erst mal an alles gewöhnen.«

Er ist süß, macht mir einen Tee und nimmt meine Hand. »Mach dir nicht so viele Sorgen, Carla. Was sagt denn Marie dazu?«

»Sie ist in der Schweiz. Bei ihren Eltern. Ich hab schon versucht, sie zu erreichen, aber ihr Handy ist aus.«

»Und Frau Doktor Steinberger?«

»Heute ist Samstag. Da ist ihre Praxis zu.«

»Ach so, stimmt. Hatte ich vergessen.«

Stille. Eine Weile sagen wir nichts, halten uns nur weiter an den Händen. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Sind es dieselben? Ich traue mich nicht, sie auszusprechen. »Und wenn ich mal kurz in die Klinik hier um die Ecke fahre? Ich meine, dann bin ich vielleicht etwas beruhigter.« Die Vorstellung, bis Montag zu warten und bis dahin nicht zu wissen, was los ist, ist für mich unerträglich.

»Ja, ist sicher besser. Ich fahre dich«, sagt Martin.

Schweigend sitzen wir im Auto. Ich habe Angst, große Angst. Das sage ich aber Martin nicht. Denn ich habe das Gefühl, durch Worte die schlimme Vorahnung, die ich habe, zu bekräftigen. Und das will ich nicht. Ich will diesen negativen Gedanken nicht in meinem Kopf haben.

Wir fragen uns bis zur gynäkologischen Abteilung durch, melden mich an und setzen uns ins Wartezimmer.

»Frau Moretti?«

Ich folge der Sprechstundenhilfe durch einen langen Gang. Martin bleibt im Wartezimmer sitzen.

»Guten Morgen.«

Eine zierliche Frau schüttelt mir die Hand. »Ich habe gehört, Sie sind schwanger und haben starke Schmerzen?«

Ich nicke.

»In der wievielten Woche sind Sie?«

»In der achten«, antworte ich.

Ich lege mich auf den Behandlungsstuhl, und die Ärztin untersucht mich mit Ultraschall.

Ich merke schon an der Art, wie sie immer wieder konzentriert auf den Monitor starrt und dabei mit dem Ultraschallgerät hin und her fährt, dass etwas nicht stimmt.

»Wann waren Sie das letzte Mal bei Ihrer behandelnden Ärztin, Frau Doktor Steinberger, richtig?«

»Vor einer Woche«, antworte ich.

»Es tut mir leid, aber das sieht nicht gut aus.«

Ich habe es geahnt. Genau vor diesem Satz hatte ich Angst.

»Der Embryo bewegt sich nicht, und ich kann keine Herztöne hören.«

Sie sieht auf den Monitor. »Für die achte Schwangerschaftswoche ist der Embryo viel zu klein.«

Sie schaut mich ernst an. »Da kann ich Ihnen leider gar keine Hoffnung mehr machen. Wir nehmen jetzt noch eine Blutprobe, und dann würde ich Sie bitten, bei meiner Sprechstundenhilfe einen Termin für Montag zu vereinbaren. Zur Ausschabung.«

Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, mich anzuziehen und den langen Gang hinunter zu Martin zu gehen.

Als er mich sieht, springt er auf und kommt mir entgegen. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt er mich in den Arm. Ich bin wie versteinert.

»Ich habe es verloren. Es ist nicht weiter gewachsen.«

»Meine Carla.« Er hält mich ganz fest.

»Und das ist wirklich ganz sicher?«

Ich nicke.

»Vielleicht solltest du am Montag nochmals zu Frau Dr. Steinberger gehen. Ich meine, die können sich doch auch irren, oder?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, Martin, die haben sich nicht geirrt. Ich weiß es. Ich hatte schon letzte Nacht so ein komisches Gefühl.«

»Und jetzt?« Er schaut mich fragend an.

»Am Montag werde ich operiert.«

»Warum, Martin? Warum?«

Ich sitze auf dem Boden in unserem Wohnzimmer und umklammere fest die Wärmflasche, die immer noch lauwarm ist. Tränen laufen mir übers Gesicht.

»Ich weiß es nicht, Amore. Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, sagt mein Vater immer.«

Martin setzt sich neben mich auf den Boden und reicht mir ein Taschentuch.

»Wahrscheinlich hat irgendetwas nicht gestimmt, hat sich nicht richtig entwickelt. Und dein Körper hat dann eine Entscheidung getroffen. Vielleicht ist es in diesem Fall ja besser so.« Er nimmt mich in den Arm. »Schau mal, das Wichtigste ist doch, dass es überhaupt geklappt hat. Du kannst schwanger werden. Und wenn es einmal funktioniert hat, dann funktioniert es auch ein zweites Mal.«

»Und wenn es kein zweites Mal gibt, Martin?«

Ich sehe ihn ernst an. »Weißt du eigentlich, was das für ein Wunder war, dass ich überhaupt schwanger geworden bin? Du hast doch gehört, was Doktor Faber gesagt hat. Die Wahrscheinlichkeit, mit Ende 30 noch schwanger zu werden, ist wie ein Bingo-Spiel. Und so ein Glück hat man nur einmal im Leben.«

Mir laufen wieder die Tränen übers Gesicht. Ich verstehe, dass Martin mich trösten will. Für ihn ist es ja auch schlimm. Er hatte sich genauso auf unser Baby gefreut wie ich. Aber trotzdem ist es für mich etwas anderes. Ich meine, er ist ein Mann. Und ein Mann kennt einfach nicht dieses Gefühl, wie es ist, wenn da gerade ein kleines Leben in dir entsteht. Obwohl ich ja noch gar nichts spürte, hatte ich bereits eine Verbindung zu dem kleinen Untermieter in mir aufgebaut. Auch wenn er gerade erst anfing, sich gemütlich bei mir einzurichten. Und viel zu früh schon wieder ausgezogen ist.

Für den Rest des Tages lege ich mich ins Bett. Ich will allein sein mit meiner Traurigkeit. Nur meinem Tagebuch vertraue ich meine Gedanken an. Und komme mir dabei wieder vor wie mit zehn Jahren, als ich meinen Vater verlor und mir seitenweise meine Trauer von der Seele schrieb.

Am Abend ruft mich Marie an, und ich erzähle ihr alles.

»Ach, Carla, es tut mir so leid. Ich komme sofort.«

»Musst du nicht. Es tut schon gut, einfach nur mit dir zu reden.«

»Michaels Schwester hat mir erzählt, dass jede dritte Frau schon mal eine Fehlgeburt hatte. Sie selbst sogar zwei, die letzte erst in der 18. Woche. Und jetzt hat sie ein süßes Baby.«

»Wirklich? Jede dritte Frau? Das wusste ich nicht. Aber es ist ja auch nicht unbedingt etwas, worüber man spricht. Weißt du, das Schlimme daran ist, dass ich die ganze Zeit darüber nachdenke, ob es an mir lag, dass ich unser Baby verloren habe. Vielleicht hätte ich an Martins Geburtstag keinen Champagner trinken sollen oder hätte mich mehr schonen müssen. Ich hatte in der letzten Zeit so wahnsinnig viel zu tun in der Agentur.«

»Carla, Schatz, das ist wieder mal typisch für dich. Du meinst doch nicht im Ernst, dass dieser Fingerhut an Champagner oder das bisschen Stress der Grund dafür waren, dass du dein Kind verloren hast! Früher haben die Frauen bis zur Geburt auf dem Feld gearbeitet und bekamen trotzdem gesunde Kinder.«

»Hm, meinst du?«

Und zum ersten Mal fühle ich mich wie ihre kleine Schwester.

»Ich denke, euer Baby hat sich aus irgendwelchen Gründen nicht weiterentwickelt und wäre wahrscheinlich gar nicht lebensfähig gewesen. Du wirst sehen, du wirst bestimmt ganz schnell wieder schwanger.«

Am nächsten Morgen ist der Himmel grau, und es regnet. Das Wetter hat sich meiner Stimmung angepasst. Ich frage mich, wie um alles in der Welt ich es bis morgen früh aushalten soll, unser totes Baby in mir zu tragen. Der Gedanke ist für mich unerträglich. Auch wenn ich weiß, dass es sich dabei ja eigentlich nur um ein kleines Zellhäufchen handelt. Für mich war es bereits Leben.

Der Tag will und will einfach nicht vergehen. Martin zieht sich zurück und putzt stundenlang Schuhe. Seine Art, mit dem Schmerz umzugehen.

In der Nacht schlafe ich schlecht. Ich träume wild und schwitze wahnsinnig. Martin fährt mich am nächsten Morgen ins Krankenhaus. Er wollte sich freinehmen und bei mir bleiben. Aber ich möchte allein sein.

Martin ist so hilflos. Ich merke, wie sehr er mir helfen möchte, aber nicht so richtig weiß, wie er das tun soll. Wie soll er auch, ich weiß es ja selbst nicht.

Vor der Operation werde ich nochmals ausführlich untersucht. Aber die Ergebnisse sind die gleichen. Der Embryo hatte sich vorerst normal entwickelt, ist dann aber abgestorben.

Ich wache aus der Narkose auf, und das Erste was ich höre, ist Babygeschrei. Habe ich vielleicht doch nur alles geträumt? War es ein Albtraum?

Nein, es ist leider Realität. Genauso wie das Babygeschrei. Das darf doch nicht wahr sein. Hätte man mich nicht auf eine andere Station legen können? Ich meine, ist es nicht schon schlimm genug, eine Fehlgeburt zu haben, muss ich dann auch noch mit Babygeschrei konfrontiert werden?

Ich fühle mich miserabel. Mein Unterleib tut weh, mein rechter Arm hängt an einem Tropf. Und ich bin allein. Jetzt wäre ich doch froh, wenn Martin bei mir wäre.

Die Tür geht auf, und der Arzt kommt herein.

»So, Frau Moretti. Alles ist gut bei Ihnen verlaufen. Eventuell haben Sie die nächsten Tage noch leichte Blutungen, aber die gehen schnell vorbei. Ich würde Ihnen raten, zwei Monate zu warten, bevor Sie wieder versuchen, schwanger zu werden.«

Gut verlaufen. Wie das klingt. Gar nichts ist gut verlaufen für mich.

Als mich Martin kurze Zeit später abholt, treffen wir auf dem Gang die Krankenschwester.

»Auf Wiedersehen, Frau Moretti«, sagt sie. »Und das nächste Mal möchten wir Sie hier erst wieder zur Geburt Ihres Babys sehen.

Es ist das erste Mal seit zwei Tagen, dass ich wieder lächle.