Carla

Die Alternative

Es ist noch früh. Und ziemlich kalt. Irgendwo kräht ein Hahn. Ich höre die Kirchenglocken läuten und blinzle in die Sonne, die langsam die Weinberge in Morgenlicht taucht. Martin schläft noch. Was gut ist. Denn ich bin gerade in einer Stimmung, in der ich gerne allein sein möchte. Mit mir und meinen Gedanken. Hier auf der Terrasse von Maries Haus in San Gimignano.

Genau zwei Jahre ist es her, dass ich mit Martin das letzte Mal hier war. Mein Wunsch, spätestens an meinem 40. Geburtstag als kleine Familie hierherzukommen, hat sich leider nicht erfüllt. Trotzdem bin ich dankbar. Dankbar dafür, dass ich wenigstens einmal kurz schwanger war. Einmal in meinem Leben dieses Glücksgefühl spüren durfte. Auch wenn es viel zu kurz war.

So ganz wollen wir beide die Hoffnung immer noch nicht aufgeben. Besonders mir fällt es schwer, loszulassen. Obwohl wir uns in der letzten Zeit immer häufiger bei dem Gedanken ertappen: Was wäre, wenn wir kein Kind mehr bekommen würden? Ich meine, es muss ja auch noch ein Leben nach dem Kinderwunsch geben. Das sicher ein bisschen anders wäre, als ich es mir vorgestellt habe, aber vielleicht sogar freier und unabhängiger. Denn ein Kind bedeutet ja auch Verpflichtungen.

Unsere Reise nach Indien hat vieles in mir bewegt. Dabei kamen Sehnsüchte und Träume zum Vorschein, die ich schon lange hatte, aber immer wieder von mir weggeschoben habe. Irgendwie war dafür einfach nie der richtige Zeitpunkt gewesen. Bis jetzt. Ich beschließe, endlich meine Träume zu leben. Zumindest die, die ich mir selbst verwirklichen kann. Zwei Monate durch Vietnam und Laos reisen? Wenn nicht jetzt, wann dann? Für ein paar Monate in New York arbeiten? Warum nicht? Oder lieber ein Leben auf dem Land? Ja! In Gedanken sehe ich mich schon den Pferdestall ausmisten, während unsere drei Hunde um mich herumspringen.

Es gibt Statistiken, die beweisen, dass Paare mit Kind nicht glücklicher sind als Paare ohne Kind. Ganz im Gegenteil: Paare ohne Kinder sollen sogar die bessere Glücksbilanz im Leben haben als Mamis und Papis. Denn die Sorgen und Belastungen, die man mit Kindern hat, scheinen die Glückserlebnisse durch Kinder zu neutralisieren.

Und ich bin glücklich mit Martin. Denn all unsere Erfahrungen der letzten zwei Jahre hatten auch etwas Gutes. Wir sind noch näher zusammengewachsen. Und wir wissen, dass wir uns lieben. Auch ohne Kind. Wir haben bereits ein ausgefülltes Leben.

Ein Baby wäre wie die Zuckerkirsche auf der Sahnetorte. Es würde unser Leben versüßen. Aber schmeckt eine Sahnetorte nicht auch ohne Zuckerkirsche?

Meine Erfahrungen mit unserem Babywunsch haben mich demütiger gemacht. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber früher hatte ich oft das Gefühl, dass mir im Leben vieles zufliegt. Ich war zwar eine Spätzünderin, aber auch ein Glückskind. Früher oder später bekam ich immer das, was ich wollte. Die letzten beiden Jahre haben mir gezeigt, dass ich vielleicht doch nicht alles bekomme, was ich mir wünsche. Dass ich aber auch schon vieles habe, wofür ich dankbar sein kann: einen liebevollen Mann, eine Freundin, die sich in Krisenzeiten bewährt hat, eine Mutter, die sich als offener erwiesen hat als erwartet, und einen Job, der mich ausfüllt. Ich meine, wer sagt, dass man das volle Programm im Leben haben muss?

Mir wird langsam kalt hier draußen. Ich wickle mich fester in meinen Pashmina, den ich mir aus Indien mitgebracht habe, und will gerade aufstehen, als ich eine Stimme höre.

»Ciao, Carla, come stai? Ich wusste gar nicht, dass ihr da seid.«

Antonio, der Nachbar, steht vor mir. Ein grauhaariger Italiener mit lieben Knopfaugen, der einen großen braunen Hund neben sich an der Leine führt. Marie und ich, wir waren früher oft bei ihm und seiner Frau Giulia. Vor allem dann, wenn gerade mal wieder einer seiner vielen Hunde Welpen bekommen hatte.

»Ciao, Antonio! Marie und ihre Eltern sind nicht da. Ich bin mit Martin hier, meinem Mann. Wie geht es Giulia?«

»Ah, alles gut, grazie. Wollt ihr uns nicht mal wieder besuchen kommen? Unsere Luna hat gerade Junge bekommen.« Er lacht mich an. Ob er sich noch daran erinnert? Sofort fühle ich mich wieder wie mit zwölf, als ich mit Marie stundenlang mit den Hundebabys spielte und wir sie heimlich im Koffer zurück nach Deutschland transportieren wollten. Was Maries Eltern leider immer vorher auffiel und zu riesigen Dramen führte.

Ich überlege kurz. Heute ist mein Geburtstag. Ich bin keine zwölf, sondern 40. Und es gibt hier auch niemanden mehr, der mir verbieten könnte, einen Hund mit nach Deutschland zu nehmen. Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, erwachsen zu sein.

Es ist Liebe auf den ersten Blick. Zwei große Augen schauen mich neugierig an. Sie heißt Stella und ist zwölf Wochen alt.

Als Giulia hört, dass ich Geburtstag habe, drückt sie mich wie eine italienische Mama an sich und hält mir Stella auf ihren großen Händen entgegen.

»Tanti auguri, Carla. Herzlichen Glückwunsch! Für dich, ein Geschenk.«

Und diesmal nehme ich das Hundebaby.

Manche Träume muss man sich rechtzeitig erfüllen. Das habe ich in den letzten beiden Jahren gelernt.