Martin
Der Lichtstrahl
Ich bin auf dem Rückweg von Salzburg, wo ich bei den Festspielen Interviews geführt habe. Doch wie ich in den Verkehrsnachrichten höre, ist die Autobahn wieder mal total überlastet. Spontan entscheide ich mich, die Landstraße zu nehmen. Auch wenn es letztlich vielleicht länger dauert. Die indische Gelassenheit steckt noch in mir.
Zudem kann ich nun alles etwas lockerer angehen. Denn vor vier Wochen, kurz nachdem wir aus Indien zurückgekommen waren, habe ich meinen Job gekündigt. Ja, in knapp zwei Monaten läuft mein Vertrag aus.
Ich werde künftig als freier Journalist arbeiten, werde unabhängiger sein, werde hoffentlich wieder mehr das tun können, was mir wirklich Spaß macht. Ein erster Versuch, zumindest einen Teil meiner Träume zu realisieren und wieder aufrechter gehen zu lernen. Ganz so, wie es mir Maharaj Nanak geraten hat.
Mein Leben hat in den vergangenen Jahren eine Eigendynamik entwickelt, der ich mich einfach gebeugt habe. Die Dinge kamen auf mich zu, ich ließ sie mehr oder weniger geschehen. Eher mehr. Viel zu selten habe ich selbst das Steuer übernommen. Ich lebte in der Gegenwart, lebte gut darin. Aber dachte selten an die Zukunft.
Auch beim Thema Kind bin ich leider wohl sehr spät aufgewacht. Carla war 33 Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Hätte nicht auch ich den Kinderwunsch von Anfang an intensiver im Blick haben sollen? Hätte die Initiative dafür nicht sogar von mir ausgehen müssen? Da doch ein Kind auch in meinem Lebensplan fest verankert war? Je unwahrscheinlicher das wird, desto mehr Vorwürfe mache ich mir.
Ich bin im Moment stark hin und her gerissen. Zum einen habe ich die Hoffnung immer noch nicht ganz aufgegeben, dass wir doch noch Eltern werden. Es gibt gute Tage. Wie gestern in Salzburg. Da war ich plötzlich so optimistisch, als ich eine Schwangere in Carlas Alter sah, dass ich spontan ein altes Tretauto aus Blech gekauft habe, das mir kurz zuvor in einem Schaufenster aufgefallen war. Und ich musste mich selbst bremsen, die Frau nicht einfach zu fragen, wie sie es denn geschafft hat, schwanger zu werden.
Es gibt aber auch die anderen Tage. An denen muss ich mich notgedrungen an den Gedanken gewöhnen, dass das Unaussprechliche eintreten könnte. Der Kampf gegen die biologische Uhr ist bald verloren. Für immer. Um dann nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, müssen Carla und ich rechtzeitig alternative Lebensmodelle entwickeln. Zumindest in Gedanken. Glücksvisionen ohne Kind. Das ist schwer, solange da noch ein Funken Hoffnung ist. Man hat immer das Gefühl, sein Kind, das vielleicht doch noch geboren werden könnte, zu verraten.
Wir haben nächtelang diskutiert, ob für uns eine Adoption infrage kommen würde. Auch da wäre eine Entscheidung überfällig, da wir die Obergrenze der Altersrichtwerte bald überschreiten. Bekannte von uns in Frankfurt haben vor zwei Jahren ein Mädchen aus der Ukraine adoptiert und sind die glücklichsten Eltern der Welt.
Schweren Herzens haben wir uns schließlich dagegen entschieden. Denn wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, ist unser beider Traum ein eigenes Kind. Das mag auf gewisse Weise egoistisch sein. Aber es ist wohl besser, sich das offen einzugestehen.
Gestern, bevor ich nach Salzburg fuhr, lag in unserem Postkasten eines dieser wunderbaren Kuverts mit Blümchendekor, wie sie meine Mutter benutzt. Sie schickte mir einen herausgeschnittenen Zeitschriftenartikel, in dem es um das Thema IVF geht.
»Vielleicht ist das für Euch interessant«, hat sie in ihrer eleganten Handschrift darunter geschrieben. Und überraschte mich damit total. Meine Mutter, sie ist wohl weitaus aufgeschlossener, als ich das geglaubt hätte. Und, da sie nie etwas heimlich tut, ist auch mein Vater eingeweiht. Ach, es tut gut, sich mit den Gedanken um den Kinderwunsch nicht alleine zu fühlen. Und es macht Mut, dass auch meine Mutter noch daran glaubt, dass es klappen könnte. Wenn auch mit etwas Nachhilfe für die Natur.
Die letzten beiden Jahre waren so prall gefüllt mit Erlebnissen und Emotionen. Mit Momenten der Hoffnung und mit Rückschlägen. Beinahe hätten Carla und ich uns in diesem Strudel der Gefühle verloren. Dass das nicht passierte, dass wir durch all die Schwierigkeiten noch enger aneinander geschmiedet wurden, dafür bin ich dankbar. Ja, sehr dankbar.
Ich komme gut voran auf der Nebenstraße. Nur der Nebel hängt noch im Tal, sodass ich manchmal langsamer fahren muss.
Mein Handy klingelt. Carla ist dran.
»Sitzt du schon im Auto?«, fragt sie.
»Ja, ich bin in ungefähr einer Stunde zurück.«
»Ist viel Verkehr, oder?«
»Die Autobahn ist dicht, ich bin auf die Landstraße ausgewichen.«
»Ach, das ist gut. Kannst du denn kurz mal irgendwo anhalten?«
»Ich kann auch beim Fahren telefonieren, kein Problem. Du bist auf die Freisprechanlage gelegt.«
»Trotzdem, tu mir den Gefallen und such dir einen Parkplatz.«
»Okay, man soll seiner Frau nie widersprechen.«
Carla mag es nicht, wenn ich beim Autofahren telefoniere. Sie ist der Meinung, dass sich Männer nur auf eine Sache konzentrieren können.
Rechts geht ein Feldweg ab. Ich bremse, biege ab und bleibe stehen.
»So, Befehl ausgeführt.«
»Ich wollte nur nicht, dass du vor Schreck in den Graben fährst.«
»Vor Schreck?«
»Na ja, es ist eher ein positiver Schreck.«
»Wie …«
»Ja. Indien hat uns Glück gebracht. Ich bin schwanger!«
»Du bist verrückt.«
»Ja, das bin ich«, sagt Carla, »vor Glück! Deshalb wollte ich es dir auch sofort sagen.«
»Ist es sicher?«
»So sicher es in der fünften Woche sein kann. Aber lass uns diesmal nicht zu früh freuen. Du weißt ja, dass besonders in den ersten drei Monaten noch viel passieren kann.«
»Ja, es kommt, wie es kommt.«
»Fahr vorsichtig. Ich brauche dich noch. Wir brauchen dich noch.«
Ich kann nicht glauben, was Carla da gerade gesagt hat. Meine Hände, die immer noch das Lenkrad umklammern, zittern. Und zum ersten Mal kämpft sich an diesem Tag ein Sonnenstrahl durch den Nebel. Ein Zeichen?
Ich sitze wie erstarrt. Minutenlang. In einer Mischung aus Euphorie und Angst, dass wir ein weiteres Mal enttäuscht werden könnten.
Carla hat recht. Man sollte seine Freude nicht zu weit in die Zukunft richten. Denn jedes positive Signal birgt gleichzeitig die Gefahr der brutalen Ernüchterung. Das haben wir in den letzten beiden Jahren schmerzlich lernen müssen.
Und dann fällt mein Blick auf das Kuvert meiner Mutter, das auf dem Beifahrersitz liegt. Es ragt noch ein Stück Papier daraus hervor, das ich bisher gar nicht gesehen hatte. Es ist das Blatt aus einem Abreißkalender. Vom zehnten August, meinem Geburtstag. Darauf steht ein Spruch von Ellen Johnson Sirleaf, der ersten Staatspräsidentin Afrikas.
»Wenn deine Träume dir keine Angst machen, dann sind sie nicht groß genug.«
Ja, mein Traum ist groß, sehr groß. Und er macht mir Angst. Aber er gibt mir auch immer wieder Hoffnung.