Martin
Die Wunderpille
Ob die Tablette denn überhaupt noch wirkt? Ist nicht längst schon das Haltbarkeitsdatum abgelaufen?
Ich versuche, einen Aufdruck zu finden. Vergeblich. Das Wunderding ist zwar original verpackt, oben transparentes Plastik, unten Alu. Aber Stefan hat es offensichtlich aus einer größeren Packung geschnitten. Es ist kein Datum zu sehen.
Ich rätsle, wann er mir die Viagra-Tablette geschenkt hat. War es an meinem letzten Geburtstag oder bereits das Jahr davor?
»Falls mal alle Stricke reißen«, hat er gesagt.
Bis jetzt ist in dieser Beziehung bei mir zum Glück noch kein Strick gerissen. Abgesehen von gelegentlichen Ausreißern nach unten in der Tagesform, bedingt vielleicht durch Stress. Oder sind es doch schon die ersten Alterserscheinungen, die manchmal auf die Lustkurve drücken? Wie auch immer, bis jetzt gab es für mich keine Notwendigkeit, das Geschenk zum Einsatz zu bringen. Andrerseits wäre es doch schade, wenn die babyblaue Pille weiter ganz unten in der Schreibtischschublade vor sich hingammelt und irgendwann mal gar keinen Nutzen mehr bringt. Vermutlich bin ich sowieso einer der letzten Männer Deutschlands, die Viagra und Co. noch nicht getestet haben.
Im Internet gibt es zu jedem Thema Diskussionsforen, in denen sich die Leute austoben. Auch Tausende Erfahrungsberichte über Viagra. Ich finde ein paar Einträge über das Ablaufdatum. Demnach ist die Wunderpille noch Jahre darüber hinaus haltbar. Und wirksam.
Vielleicht kein Zufall, dass mir Stefans Geschenk, das ich schon vergessen hatte, gerade heute wieder in die Hände fällt. Ist es ein Wink des Schicksals, dass ich damit meinem Liebesleben mit Carla einen zusätzlichen Kick geben soll?
Eigentlich dachte ich, dass die Reise auf die Malediven unsere Körperlichkeit wieder entkrampfen und intensivieren würde. Zudem hoffte ich, mein Gehirn dort von der zwanghaften und destruktiven Koppelung Sex = Babymache etwas freispülen zu können. Aber Carla bekam eine schlimme Blasenentzündung. Und schon der Gedanke an Sex tat ihr weh. Unsere Lockerungsübungen entfielen.
Aber auch danach schafften wir es bisher leider nicht, die Distanz zwischen uns abzubauen. Distanz, das Wort hört sich wohl zu dramatisch an. Denn die ersten Tage auf den Malediven waren wirklich traumhaft. Wir verstanden uns nach wie vor bestens, stritten selten. Wenn, dann ging es um Alltagskleinigkeiten. Die nötigen Reibereien eben, um eine Partnerschaft im Gleichgewicht zu halten.
Aber es scheint im Moment oft eine Art Plexiglasscheibe zwischen uns zu sein. Wir sehen uns, nehmen uns wahr, aber unsere Kommunikation erreicht den anderen nicht wirklich. Ich bin etwas ratlos, woran das liegen mag.
Carla wirft mir vor, dass ich die Planung, wie es mit der Erfüllung des Kinderwunsches weitergehen soll und welche unterstützenden Maßnahmen wir in Erwägung ziehen, ganz allein ihr überlasse. Und damit auch die Verantwortung. Sie hält meine etwas lässigere Art, an das Thema ranzugehen, für männliche Bequemlichkeit, gemischt mit Desinteresse. Aber das stimmt nicht! Wenn ich wüsste, dass man durchs Reden Kinder kriegen könnte, würde ich das 24 Stunden lang am Tag nonstop mit Carla tun. Sofort, gar keine Frage.
Es ist nicht so, dass ich keinen persönlichen Masterplan hätte. Im Gegenteil, ich habe einen radikalen Zweistufenplan:
1. Wir versuchen noch drei Monate lang, auf ganz natürlichem Weg ein Kind zu bekommen. Im Gegensatz zu Carla habe ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass das noch klappen könnte. Manche mögen es für Küchenpsychologie halten, aber es gibt Positivbeispiele von Paaren, die nach einem KiWu-Marathon genau dann erfolgreich waren, wenn sie innerlich losließen und den Überdruck rausnahmen. Gemäß dem Motto: Was du unbedingt willst, das kriegst du nicht. Ich möchte mit Carla das Nachwuchsthema wieder gelassener angehen. Einen Versuch ist das wert, finde ich.
2. Sollte das nicht funktionieren, überspringen wir alle Zwischenstufen und konzentrieren uns sofort auf In-vitro. Diese Art der künstlichen Nachhilfe wird von Carlas Krankenkasse nur noch unterstützt, bis sie 40 ist. Und die Erfolgschancen sind damit am höchsten. Denn auch wenn Doktor Faber damals die Fakten sehr unsensibel präsentiert hat: Wir dürfen uns da nichts vormachen. Die ersten Jahre unserer Partnerschaft haben wir, was den Kinderwunsch angeht, ziemlich fahrlässig vertrödelt. Warum auch immer. Im Alter von 35 Jahren war Carla immerhin noch halb so fruchtbar wie eine Frau mit 25 Jahren. Schon das ist kein Traumwert. Aber nun geht es Jahr für Jahr weiter exponenziell abwärts.
Mag sein, dass es wieder männliches Zweckdenken ist: Aber wenn ich schon die Möglichkeiten der modernen Medizin nutze, dann doch am besten gleich mit der chancenreichsten Methode. Warum also weiter Kompromisse wie Inseminationen machen?
Aber mit meinem Masterplan dringe ich nicht zu Carla durch. Sie hat wohl für sich längst schon eine eigene Entscheidung über Zukunftsmaßnahmen getroffen, über die sie aber wiederum nicht offen mit mir spricht. Ein Minenfeld. Denn Ansätze von Diskussionen darüber enden nicht selten in einem resignativen »Ich-bin-doch-eh-schon-zu-alt« von Carla. Sie wird erkennbar mutloser. Und mir gehen langsam die Argumente aus, mit denen ich sie wieder aufbauen könnte. Ganz abgesehen davon, dass solche »technischen« Gespräche nicht dazu beitragen, mehr Lockerheit in unsere Zukunftsplanung zu bringen.
»Amore«, sagt Carla in einer Mischung aus Erstaunen und Sorge. Ich liege schweißnass und erschöpft neben ihr. »Was ist heute los mit dir? Bist du zu den Leistungssportlern gewechselt? Ich dachte schon, du kriegst einen Herzinfarkt!«
Diese Sorge hatte ich auch, dabei bin ich einigermaßen trainiert. Als die Wunderpille 1998 auf den Markt kam, gab es Berichte in Boulevardzeitungen, dass einige betagte Herren durch Selbstüberschätzung den plötzlichen Liebestod gestorben seien. Ich hielt das für Unfug. Denn im Vergleich zu Sportarten wie Bodenturnen oder Kickboxen sind die Bewegungen beim »Liebemachen«, wie es die Franzosen elegant umschreiben, doch eher im Mikrobereich. Auch mit Viagra. Kann man dabei kollabieren?
Ja, man kann. Nun habe ich eine Ahnung davon. Die stark erweiterten Möglichkeiten beim V-Einsatz, was die Intensität und Länge der Aktivitäten betrifft, können wohl physisch wirklich in Grenzbereiche führen.
Carla kuschelt sich an mich. »Mein Löwe«, sagt sie.
Es könnte eine Szene aus einem Werbespot für Viagra sein. Endlich mal ein Produkt, das hält, was es verspricht. Selbst nach langer Lagerzeit.
»Die Tablette reicht locker für zwei Einsätze«, hatte mir Stefan damals erklärt. »Du kannst sie in der Mitte teilen.«
Da ich mir aber nicht sicher war, ob die Wirkung durch die lange Lagerung nicht schon eingeschränkt ist, wollte ich auf Nummer sicher gehen. Und schluckte das ganze Ding.
Was passierte? Überhaupt nichts. Und das fast eine Stunde lang. Doch dann setzte urplötzlich das Gefühl ein, dass meine Körpertemperatur steigt. Mir wurde heißer und heißer. So eine innere Hitze hatte ich zum letzten Mal auf den Malediven, als mich ein Skorpionfisch beinahe ins Jenseits beförderte. Im Gegensatz zu damals fühlte ich mich aber trotz des fieberartigen Zustands fantastisch und voller Energie.
Als ich Carla dann verführerisch ins Ohr flüsterte: »Lass uns ins Bett gehen, jetzt sofort«, klang meine Stimme so nasal wie nach einer Stunde Kraulen im Hallenbad. Wohl auch eine Nebenwirkung.
»Bist du erkältet?«, fragte Carla besorgt. Der Doktor in ihr kam sofort wieder zum Vorschein, und sie hielt mir die Hand an die Stirn, um meine Temperatur zu fühlen.
»Du fühlst dich auch ganz heiß an«, sagte sie besorgt.
»Mir geht’s gut, ich bin nur heiß auf dich«, sagte ich.
Und das stimmte mehr denn je.
Ich gucke an mir nach unten. Dort herrscht immer noch deutlich erkennbare Einsatzbereitschaft. Wann lässt das wieder nach? Nach Stunden? Nach Tagen?
»Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.« An diesen allseits bekannten Satz muss ich nun denken.
Mein Körper ist immer noch bis in die letzten Körperspitzen so gut durchblutet, als hätte ich zwei Stunden in der Sauna verbracht und mich dann im Schnee gewälzt.
Als ich Carla ins Bett lockte, war bei mir noch alles im Normalzustand. Doch bei ihrer ersten Berührung richtete sich etwas auf, das nicht wie sonst eher einem Zelt glich, das für eine Nacht errichtet ist. Nein, es baute sich ein Betonturm auf. Vom Gefühl her so solide, als sei er für die Ewigkeit gebaut.
Und diese Ewigkeit dauert jetzt bereits über zwei Stunden an. Hätte ich doch besser nur eine halbe Tablette nehmen sollen? Meine Befürchtung ist, dass Carla Verdacht schöpfen könnte, weil der Unterschied zum Normalbetrieb doch zu groß ist. Denn, das sei gestanden, ich habe sie nicht in mein Experiment eingeweiht. Ich dachte zwar länger darüber nach, ob es ein Vertrauensbruch ist, ihr nichts davon zu sagen. Aber letztlich entschied ich mich dafür, mich mit diesem ersten und zugleich auch letzten Test ihr gegenüber nicht zu outen. Sie würde es sicher nicht so toll finden, Testobjekt in einem Versuchsprogramm zu sein. Und auch grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man selbst mit seiner Ehefrau nicht jedes Detail seines Intimlebens und seiner Körperhygiene teilen muss. Mag sein, dass ich da etwas konservativ bin. Doch ich gehöre zu den Männern, die für bestimmte Aktivitäten das Bad exklusiv für sich beanspruchen.
Zudem könnte der Einsatz als V-Mann bei Carla einige Fragen mit hochexplosivem Zündstoff provozieren. Zum Beispiel: »Früher ging es doch auch ohne, brauchst du das jetzt etwa? Findest du mich etwa nicht mehr sexy?« Es lauert die Gefahr, dass Carla mein Experiment auf irgendwelche Defizite an ihrer Wirkung auf mich beziehen könnte.
Zudem wusste ich ja vor dem Viagra-Einsatz auch noch nicht, dass dieses winzige Tablettchen einen so verräterischen Bohrturm zur Folge hat.
»Alles okay bei dir?«, fragt Carla nochmals.
»Ja, doch, bestens«, sage ich. Mein Körper glüht immer noch wie ein Backofen. Und ich fürchte, meine Ohren sind rot wie Cocktailtomaten.
»War besonders schön heute«, sagt sie. »So intensiv.«
Ich merke, dass sie sich über unser Leidenschaftsrevival freut. Was mir ein megaschlechtes Gewissen verpasst. Der Test kann leicht nach hinten losgehen. Was passiert das nächste Mal, wenn ich wieder ohne Unterstützung aktiv bin – wird sie dann nicht enttäuscht sein?
Sechs Wochen sind seit meinem Viagra-Debüt vergangen. Carla ist mit Marie im Kino, ich dagegen stehe mit dem schärfsten Steakmesser zu Hause in unserer Küche. Auf dem Holzbrettchen vor mir versuche ich, Viagra-Tabletten in der Mitte zu teilen. Was gar nicht so einfach ist, denn es gibt leider keine Sollbruchstellen. Eine der Pillen ist komplett zerbröselt. Von einer anderen fiel die abgesäbelte Hälfte auf den Boden und verabschiedete sich auf Nimmerwiedersehen unter dem Kühlschrank. Und wenn man die Dinger nicht genau in der Mitte erwischt, hat man ein winziges und ein übergroßes Stück, was auch nicht ideal ist. Ich habe im Internet entdeckt, dass es inzwischen spezielle Viagra-Pillenschneider gibt. Das macht Sinn.
Eine schöne Geschenkidee, wenn mich meine Mutter mal wieder fragt: »Mein Sohn, was wünschst du dir denn zu Weihnachten?«
»Einen Viagra-Pillenschneider.«
Ich muss lachen. Von außen betrachtet, gebe ich wohl ein groteskes Bild ab. Denn die halben Tabletten verpacke ich nun einzeln in Alufolie und stecke sie zur Tarnung in eine leere Streichholzschachtel. Ich komme mir vor wie ein Kokaindealer bei der Heimarbeit, denn den übrig gebliebenen Viagra-Staub wische ich zu Häufchen, die ich dann mit dem Mund aufsauge. Nur nichts vergeuden von dem sündteuren Stoff.
Ich bin in die Falle geraten, die ich selbst aufgestellt habe. Denn ich muss gestehen, es ist bereits die zweite Packung, die ich soeben einsatzfertig gemacht habe. Bereits drei Tage nach meinem ersten Viagra-Test, besorgte ich mir eine Zwölfer-Packung. Was nicht ganz unkompliziert ist, denn man braucht dafür ein Rezept. Aber mein Urologe, der damals meinen Spermien eine gute Note attestiert hatte und zu dem ich wieder ging, stellte zum Glück keine unangenehmen Fragen.
Wenn ich mich selbst frage, warum ich zum Viagra-Süchtigen wurde, ertappe ich mich bei Ausreden, die ich gut von rauchenden Freunden kenne: »Glaub mir, ich könnte jederzeit damit aufhören. Ich bin nicht abhängig davon, wirklich! Ich tue es nur zum Genuss.«
Tatsache ist, dass der Genuss mit den Tablettchen länger anhält, er streckt sich in Richtung Open End. Man fühlt sich wie ein Artist auf dem Hochtrapez, unter dem ein sicheres Netz gespannt ist. Ein totaler Absturz? Unmöglich.
Es hört sich wohl an wie eine Werbung für die Pharmaindustrie, aber die blauen Winzlinge sorgen für goldene Zeiten. Die gelegentliche Unterstützung tut unserer Partnerschaft also letztlich gut. Der Startschuss für mehr Sinnlichkeit und mehr Leichtigkeit ist gefallen – auch dank Stefans Geschenk –, wir sind wieder viel aktiver, unabhängig von Temperaturkurven und Eisprungkalendern. Und auch der Humor macht nicht mehr vor der Schlafzimmerschwelle Halt.
»Wirklich ein einzigartiges Panorama«, sagt mein Vater.
Wir sitzen auf dem Gipfel des Hausbergs meiner Heimatstadt. Einmal im Jahr steige ich mit meinem Vater hier herauf auf über 2000 Meter. Früher war immer mein drei Jahre jüngerer Bruder Andreas mit dabei. Doch seit er nach Köln zog, hat er sich aus dieser Tradition ausgeklinkt, die wir seit der Kinderzeit pflegen.
Wie immer hat mein Vater, der für sein Alter erstaunlich fit ist, seinen großen Rucksack mit hochgeschleppt. Aus dem holt er nun eine karierte Picknickdecke, die sicher schon älter ist als ich. Er breitet sie auf dem Gras aus, legt in der Mitte ein Geschirrtuch darauf und packt eine deftige Brotzeit aus: einen halben Laib Bauernbrot, geräucherten Schinken, eine Kaminwurzn, Sennkäse, Speck, zwei hart gekochte Eier. Und natürlich hat er auch unser geliebtes Südtiroler BergnerBräu Weißbier mit nach oben transportiert. Wir wissen beide, dass ein Bier mit jedem Höhenmeter noch besser schmeckt.
»Haben wir gut ausgesucht, wirklich ein herrlicher Tag«, sagt mein Vater sichtlich glücklich.
Man kann mit meinem Vater Situationen genießen, ohne viel zu sagen. Das schätze ich sehr an ihm.
Die späte Nachmittagssonne ist selbst jetzt im Frühherbst noch so kräftig, dass wir im Hemd hier oben sitzen können. Die anderen Wanderer sind bereits alle wieder abgestiegen, wir haben den Gipfel ganz für uns. Auch das hat Tradition, dass wir die Tour entgegen den alpinen Gepflogenheiten so angehen, dass wir hier oben allein sind und später beim Abstieg das Tal gerade noch im letzten Licht erreichen.
»Und«, sagt er, »werd ich jetzt eigentlich noch Großvater?«
Seine Frage kommt völlig überraschend für mich. Bisher haben weder er noch meine Mutter das Thema jemals direkt angesprochen.
»Da musst du den Andreas fragen«, weiche ich aus.
»Ach, dein Bruder«, sagt mein Vater, »da kann ich ewig warten. Das erleb ich nimmermehr. Die Frau, die der Andreas möchte, die muss erst gebacken werden.«
Wir schauen zu, wie die frechen Dohlen bis auf wenige Zentimeter zu uns heranhüpfen, um Brotkrümel zu stibitzen.
»Aber du hast ja eine Frau. Die Carla, die geht nun auch schon auf die vierzig zu, nicht wahr?«
Er ist aber auch beharrlich heute! Wenn er sich mal in ein Thema verbissen hat, dann lässt er nicht mehr locker.
»Ja, nächstes Jahr ist’s so weit, da wird sie vierzig«, sage ich.
»Und?«, sagt mein Vater.
»Und was?«
»Klappt es denn nicht bei euch mit dem Nachwuchs?«
Mein Vater spricht die Dinge gerne direkt an.
»Bis jetzt leider nicht«, sage ich.
»Aber versuchen tut ihr es schon?«
»Klar. Carla möchte unbedingt noch Kinder. Na ja, zumindest eines.«
»Und du auch?«
»Schon.«
Mein Vater holt ein Monstrum von Fernglas aus seinem Rucksack. Das allein wiegt wohl schon drei Kilo. Er beobachtet damit ein Rudel Gämsen auf einem Plateau unter uns.
»Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, die lässt sich nicht reinreden, die setzt uns Grenzen. Das müssen wir respektieren.«
Eine ungewöhnlich lange Aussage meines Vaters. Zuerst denke ich, sie bezieht sich irgendwie auf die Gämsen. Erst nach ein paar Sekunden wir mir klar, dass er damit unseren Kinderwunsch meint.
In diesem Moment weiß ich, dass Carla und ich ihm besser nicht erzählen, was wir alles unternehmen, um der Natur kräftig auf die Sprünge zu helfen: Zyklusmonitoring, Hormone, Insemination. Nein, mein Vater würde es wohl nicht gut finden, dass wir ein bisschen am Rad des Schicksals drehen. Auch wenn er mir andererseits schon von Kindesbeinen an eingebläut hat, dass jedermann seines Glückes Schmied sei. Wie ich ihn kenne, würde er uns auf keinen Fall moralisch dafür verurteilen, dass wir wirklich alles Mögliche und zum Teil auch das Unmögliche tun, um doch noch späte Eltern zu werden. Sich über andere zu stellen, das entspricht nicht dem Charakter meines Vaters. Auch wenn er selbst ganz klare moralische Prinzipien hat und die auch konsequent lebt.
Ich glaube, letztlich hält sich mein Vater an die Philosophie von Franz Beckenbauer, den er gerne mag. Der soll mal gesagt haben: »Sehen Sie, der Herrgott freut sich über jeden neuen Erdenbürger.«
»Du glaubst also, es hat einen tieferen Sinn, wenn man kein Kind bekommt, obwohl man sich das sehr wünscht?«, frage ich ihn.
»Einen Sinn? Das weiß ich nicht. Aber ich hab auf jeden Fall gelernt, man kann im Leben nichts erzwingen«, sagt er. »Wenn man das akzeptiert, macht es vieles einfacher. Und ich kenne Leute, die sind auch ohne Kinder durchaus glücklich. Glücklicher als so manche Eltern.«
Mein Vater ist ja wirklich ungewöhnlich gesprächig heute.
»Aber ich täte mich schon narrisch freuen, wenn ich doch noch Großvater werde.« Er lacht und klopft mir auf die Schulter. »Das hast du jetzt davon, dass du deinen alten Vater begleitest. Jetzt gibt er dir noch kluge Tipps. Aber du weißt, jeder muss das tun, was er selbst für richtig hält.« Er greift in seinen Rucksack und zieht eine kleine Flasche hervor. »Aber bevor wir wieder runtersteigen, trinken wir noch ein Schnapserl«, sagt er. »Selber gebrannt, vom Höllriegl Toni.«
Die philosophische Lehrstunde ist also vorbei. Aber ich denke, während sich der starke Schnaps meine Speiseröhre abwärts brennt und ich auf die umliegenden Gipfel blicke, die von der untergehenden Sonne langsam in ein mildes Rot getaucht werden, noch länger an seine Worte. Man kann auch ohne Kinder glücklich werden? Gerade von ihm hätte ich diese Aussage nicht erwartet.
»Der Tisch ist schon gedeckt«, sagt Carla, als ich am nächsten Abend von Südtirol zurück nach München komme, »du kannst dich gleich setzen. Ich hab uns zur Feier des Tages Kürbissuppe gemacht, die magst du doch so gerne.«
Carla küsst mich temperamentvoll, irgendwie ist sie besonders gut drauf heute. Was ist los mit ihr? Vielleicht sollte ich öfter mal wegfahren, das tut ihr gut.
Dabei hat die Sache mit dem Tischdecken und Essenmachen bei uns eine lange und nicht ganz unproblematische Geschichte. Denn ich kann und mag nicht kochen. Ich bin zu ungeduldig dafür. Wenn ich essen will, dann möglichst schnell. Ich möchte nicht noch zwei Stunden lang rumbrutzeln müssen.
Einen festlich gedeckten Tisch mit Kerzen und Musik im Hintergrund finde ich zwar grundsätzlich schön. Aber im Gegensatz zu Carla nicht jeden Tag unbedingt lebensnotwendig. Wenn ich am Abend gelegentlich alleine esse, dann lege ich die Wurst samt der Tüte auf den Tisch, ebenso das Brot und bediene mich direkt daraus. Immerhin verwende ich einen Teller, aber der steht auf der Zeitung, die ich dabei lese. Männliches Multitasking.
Würde ich allein leben, dann wäre mein Speiseplan:
Montag: Fertigpizza.
Dienstag: Dosenravioli.
Mittwoch: Miracoli aus der Packung.
Donnerstag: Knorr Fix Asia Curry Pfanne.
Freitag: Fertigpizza.
Samstag: Essen gehen.
Sonntag: Fischstäbchen mit Pfanni-Kartoffelpüree.
In diesem Spektrum bewegen sich meine Kochkünste.
Regelmäßig bekommt Carla eine Krise, weil sie merkt, dass sie unsere Chefköchin ist. Was ihr ja auch Spaß macht. Aber auch Chefkellnerin und Chefspülerin, was ihr wohl weniger Spaß macht. Auf jeden Fall beschimpft sie mich dann als faulen, halb italienischen Macho und geht in den Hausfrauenstreik.
»Morgen kochst du mal«, nötigt sie mich dann.
Aber auch wenn ich mir richtig Mühe gebe und so fantasievolle Kreationen zaubere wie in der Pfanne gebratene Tiefkühltintenfischringe mit Uncle Ben’s Reis, abgeschmeckt mit Thymian und dem Olivenöl mit Orangenaroma, ein Mitbringsel von Freunden, das seit ein paar Jahren von Carla ignoriert bei uns in der Küche steht, kann ich sie nicht überzeugen.
Am nächsten Tag kocht wieder sie.
Arme Carla, es ist eben ein Fluch, wenn man etwas sehr viel besser kann als die anderen.
Carla hat also völlig freiwillig ein gutes Essen zubereitet und den Tisch romantisch gedeckt. Was für ein schöner Empfang. »Zur Feier des Tages«, hat sie gesagt. Was gibt es zu feiern, sie wird doch nicht etwa …? Wahnsinn, sie wird doch nicht schwanger sein?
Ich setze mich gespannt an meinen Platz. Und sehe sie. Auf dem großen Teller vor mir: eine Tablettenhälfte, die mir sehr bekannt vorkommt! Eine halbe Viagra-Tablette.
»Die Vorspeise kannst du schon mal allein zu dir nehmen«, sagt Carla mit Blick darauf.
Ich bin eine halbe Minute lang wirklich sprachlos. Das darf nicht sein. Wie peinlich! Sie hat mein Versteck entdeckt. Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, den seine Mama beim Lügen ertappt hat. Am liebsten würde ich im Boden versinken.
»Stöberst du seit Neuestem in meinen Sachen?«, sage ich schließlich. Gemäß dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.
»Du weißt doch, in einer Ehe gibt es kein Dein und Mein«, sagt Carla.
Immer noch ist sie überraschend fröhlich. Sind das die letzten Sonnenstrahlen vor dem Gewitter? Sie wird es doch nicht etwa witzig finden, dass ich Viagra nehme? Und das auch noch, ohne es ihr zu sagen.
»Brauchen wir das jetzt immer?«, fragt Carla.
Ich schöpfe Hoffnung. Wenn sie im Plural von uns beiden spricht, scheint doch nicht alles verloren zu sein.
»Tut mir leid, ich hätte dich einweihen sollen«, sage ich reumütig.
»Das wäre sicher nicht verkehrt gewesen«, sagt Carla immer noch milde. »Aber ich kann mir vorstellen, dass das für einen Mann sicher nicht einfach ist. Du hättest mich doch ins Vertrauen ziehen können, wenn du da Probleme hast.«
Carla reagiert völlig anders, als ich das erwartet hatte. Klar, sie kennt auch die Hintergründe nicht.
»Ich habe keine Probleme«, interveniere ich heftig.
»Du musst dich doch nicht dafür schämen, wenn es so ist«, sagt Carla. »Glaub mir, du bist nicht der Einzige. Als ich das letzte Mal in der Apotheke war, stand neben mir ein Mann in deinem Alter. Er ließ alle Damen völlig selbstlos vor und schob dann, als die Apotheke fast leer war, dezent sein Rezept über die Theke. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass der Apotheker ihm eine Schachtel Viagra zuschob. Der Mann guckte zur Seite, ob ich auch wirklich nichts mitbekomme. Es war ihm furchtbar unangenehm. Aber wieso denn? Ich bin wirklich die Letzte, die da was dagegen hat. Denn es ist im Prinzip auch nichts anderes, als ich im Moment einsetze, um endlich schwanger zu werden: Chemie.«
»Schön, dass du das so siehst. Aber ich brauche das wirklich nicht unbedingt.«
»Wirklich? Warum nimmst du es dann?«
Ja, warum? Warum fahren Männer gerne einen Ferrari, wo doch ein VW Polo auch überall hinkommt? Ich erzähle Carla die ganze Geschichte. Von dem Geschenk, von der Idee des Selbstversuchs, von der Versuchung, die Dinger öfter einzusetzen.
»Wieder mal eine typische Martin-Logik«, sagt Carla. »Du brauchst kein Viagra, aber du nimmst es. Sorry, aber das ist mir zu hoch.«
»Na ja, es gibt mir einen … so einen zusätzlichen Kick. Und der hat uns beiden in den letzten Wochen ja offensichtlich gut getan.«
»Du nimmst das Zeug also schon länger?«
»Seit einem Monat, ungefähr.«
»Mein Mann, das unbekannte Wesen.« Carla lächelt.
Und ich bin erleichtert. Es gibt kein Drama, das ist definitiv klar.
»Ein künstlicher Kick. Also ich brauche den nicht. Und auch bei dir wäre mir ein natürlicher Kick viel lieber«, sagt Carla.
Und dann kommt er doch. Der Satz, den ich befürchtet hatte.
»Errege ich dich denn nicht mehr genug?«
»Aber sicher, das weißt du doch.«
»Weiß ich das?«
»Wie hast du die Dinger denn überhaupt gefunden?«, starte ich einen Themenwechsel.
»Im Gegensatz zu dir zünde ich gelegentlich Kerzen an. Und als Marie und Michael gestern hier waren, gab es keine Streichhölzer mehr. Da hab ich in deinem Zimmer nachgesehen.«
»Marie und Michael … Die wissen das nun auch?«
»Klar, ich hab ihnen deine spezielle Streichholzschachtel natürlich gezeigt. Michael hat sich auch gleich zwei Viagra mitgenommen, das ist doch okay unter Freunden?« Carla sieht mein entsetztes Gesicht. »Hallo, das war nur ein Wiiitz«, sagt sie und lacht. »Glaubst du, ich möchte dich vor meinen Freunden bloßstellen? Das fällt doch letztlich auch auf mich zurück, dass du mich hintergehst.«
»Nett von dir«, sage ich.
»Ja, ich bin viel zu nett, das hast du gar nicht verdient. Aber das ist ein anderes Thema. Willst du denn damit weitermachen? Brauchst du weiterhin diesen Zusatzkick?«
Ich weiß, es gibt darauf jetzt nur eine richtige Antwort.
»Nein, ich brauch das ja nicht unbedingt«, sage ich.
»Dann lass es bitte sein. Ich möchte, dass die Leidenschaft meines Mannes echt ist. Und ich der Grund dafür, dass er in Stimmung kommt. Der exklusive Grund. Wenn das von deiner Seite aus überhaupt noch geht.«
»Es geht«, sage ich. Froh darüber, dass die Aktion für mich so glimpflich verlief.
»Dann ist es ja sicher okay für dich, dass ich die Streichholzschachtel konfisziert habe«, sagt sie. »Aber keine Sorge. Wenn du besonders brav bist, kriegst du ab und zu mal ein Tablettchen, bis die Schachtel leer ist. Wir wollen schließlich nicht, dass sie schlecht werden.«
Genau das war auch der eigentliche Grund für meinen folgenreichen Versuch. Aber das sage ich nicht. Stattdessen: »Wirklich vorzüglich, die Kürbissuppe.«