22. KAPITEL

Luciana brachte ihr Opfer diesmal nicht in die Erlöserkirche. Nachdem sie auf dem Flughafen von Venedig gelandet war, hatte sie ein Boot gechartert und war zur nahe gelegenen Insel Murano gefahren.

An den Ort, an den sie eigentlich nie wieder hatte zurückkehren wollen.

An den Ort, von dem sie wusste, dass sie ein für alle Mal die Opfergaben beenden konnte.

„Ich bringe dich an einen ganz besonderen Ort“, erzählte sie Jude, während das Boot sicher durchs Wasser glitt. „Wir werden eine fornace besichtigen, eine Glasbläserei. Du wirst die einzigartige Gelegenheit haben, die Glasbläserkunst von einer Seite kennenzulernen, wie es die Touristen sonst nicht erleben.“

Jude starrte weiterhin stumpf ins Leere. Er bekam weder von ihren Worten noch von der Umgebung etwas mit. Als sie sich der Insel näherten, verlangsamte sie die Geschwindigkeit und lenkte das Boot durch die Kanäle, bis sie das von ihr auserwählte Gebäude erreicht hatten. Sie legte an und vertäute das Boot. Dann führte sie ihr Opfer über die fondamenta zur fornace.

Wie die Glasgalerie in der Rio Terá dei Assassini gab es auch hier ein Ladengeschäft mit Verkaufsraum. Die Glasgegenstände standen im Dunkeln. Wie in der Galerie herrschte auch hier nachts vollkommene Stille.

„Ich habe diese Glasbläserei immer gehasst, genau wie die Galerie.“ Luciana erschauderte, als sie Jude durch den Laden führte. Sie ging mit ihm zu einer großen eisernen Doppeltür, die von einem bunten Mosaikrahmen eingefasst war. Ein bulliger Türhüter öffnete eine der beiden Türen einen kleinen Spalt, nachdem sie angeklopft hatte.

„Ja?“

„Ich muss mit dem Maestro sprechen“, verkündete die Dämonin. „Sag ihm, Luciana Rossetti ist hier.“

Kurz darauf erschien der Glasbläsermeister in der Tür. Ein rotgesichtiger Mann, der eine schwere Schürze mit roten Spritzern darauf trug. Er runzelte kurz die Stirn, verbeugte sich jedoch und sagte: „Baronessa, welche Überraschung, Sie hier zu sehen! Wir hätten nie erwartet, dass Sie uns mit Ihrem Besuch beehren würden.“

In Wirklichkeit meinte er: Wir hätten nie geglaubt, dass Sie sich dazu herablassen würden, jemals hierherzukommen.

Jeder Dämon in Venedig wusste, dass Luciana Rossetti die Hitze und den Lärm hasste, die in einer fornace herrschten. Und dass sie die Glasbläsereien mied wegen ihrer Verbindung zu der bewussten Glasgalerie und zu Carlotta. Aber auch, und das wusste nur Luciana, wegen der Morde, die hier stattfanden und die sie für wenig raffiniert hielt.

Das hier hatte nichts mit der Kunst des Glasbläserhandwerks zu tun.

Sondern nur mit der Arbeit des Maestro und seiner Türhüter.

Ich habe keine Wahl. Ich muss diese Aufgabe zu Ende bringen. Für Brandon.

„Ich habe einen ganz besonderen Gast bei mir.“ Luciana ignorierte das Stirnrunzeln des Maestros und dessen unverhohlene Botschaft. „Er verdient es, Venedig von einer Seite kennenzulernen, die er nur mit mir kennenlernen kann.“

„In diesem Fall treten Sie bitte ein“, forderte der Maestro sie auf.

„Dafür willst du sicher bei vollem Bewusstsein sein.“ Sie schnippte vor Judes Gesicht einmal mit den Fingern, und schon erwachte er aus seinem Trancezustand.

Er blinzelte ein paarmal und versuchte, seine Umgebung irgendwie einzuordnen. Der Maestro stand vor ihnen und grinste schon voller Vorfreude. In diesem Moment öffnete der Türhüter beide Eisentüren; sie quietschten laut, und eine Gluthitze erfasste sie. Jude wankte zurück, die Hitze warf ihn beinahe um.

Und das, was er vor sich sah.

Die Dämonin stieß ihn durch die geöffneten Türen in die Fabrik. Die erhöhte Metallplattform, auf der sie standen, bot einen Blick auf die Werkshalle. Hunderte von Türhütern hielten in ihrer Arbeit inne und sahen sie an. Die Geschäftigkeit an den Öfen kam einen Moment zum Stillstand, denn alle wollten wissen, wer gekommen war. Einige der Türhüter nickten Luciana zur Begrüßung zu.

Und dann wandten sich die Arbeiter so abrupt, wie sie sie unterbrochen hatten, wieder ihrer jeweiligen Tätigkeit zu.

Einige von ihnen bliesen Glas. Sie standen vor den Brenn-öfen mit ihren glühend heißen Flöten, mit Hand- und Lang-brennern. Aus den flüssigen Glasblasen formten sie filigrane Gebilde, Skulpturen, Vasen und Stielgläser.

Andere schmiedeten Waffen, verschiedene Arten von Schwertern und Messern. Sie erhitzten das Metall im Ofen und bearbeiteten es dann mit schweren Hämmern. Das Echo der Hammerschläge erklang im weiten Raum der Werkshalle.

Weitere Türhüter warfen Gegenstände in einen Ofen, um sie zu verbrennen. Ein blutiger Haufen aus zerschmetterten Gliedmaßen, von Mensch und Tier gleichermaßen, erhob sich in der Mitte der Werkshalle aus einer großen Blutlache. Es roch nach verbranntem Fleisch.

„In der Tradition der fornaci di Murano, den traditionellen Glasbläsereien, brennen die Öfen vierundzwanzig Stunden am Tag, an sieben Tagen in der Woche. Sie gehen nie aus“, erklärte der Maestro. „Die menschlichen Glasbläsermeister beginnen morgens um sechs mit ihrer Arbeit und beenden sie um sechzehn Uhr. Wir Dämonenkünstler arbeiten dagegen rund um die Uhr. Die Öfen werden für viele verschiedene Zwecke eingesetzt, wie Sie sehen.“

Jude riss die Augen auf. Voller Entsetzen betrachtete er die Szenerie.

„Normalerweise sind die Ofenöffnungen relativ klein, mit nur wenigen Zentimetern Durchmesser. Doch wie Sie feststellen werden, haben wir die Öfen für unsere Zecke modifiziert“, erklärte der Maestro.

Sie sind groß genug, dass ein Mensch durchpasst. Oder auch mehrere, wenn nötig.

Das war es, was der Maestro damit sagen wollte, dachte Luciana.

„Vieles von unserer Arbeit befindet sich noch in einem experimentellen Stadium“, fuhr der Mann fort. „Wir bereiten uns auf die Zukunft vor. Es gilt, noch etliches zu verbessern. Wenn wir einmal so weit sind, wird unsere bescheidene fornace einen wichtigen Beitrag leisten auf dem Weg zur Schaffung der Hölle auf Erden.“

Luciana beugte sich zu Jude. „Und weißt du, was? Du wirst ein Teil davon sein.“

Jude begann zu schreien. Keine gute Idee.

Hunderte Augenpaare wandten sich ihm zu. Bisher hatten die Dämonen wenig Interesse an den beiden Besuchern gezeigt. Doch ein schreiender, völlig verschreckter Mensch war etwas ganz anderes. Sehr viel spannender.

„Also dann, Jude. Es scheint, als hättest du die Aufmerksamkeit unserer Gastgeber auf dich gezogen. Warum gehst du nicht rüber und siehst dir alles genauer an?“

Sie versetzte ihm einen Stoß, und er stolperte die Stufen zur Werkhalle hinunter. Ein paar Dämonen liefen auf ihn zu und hoben ihn auf. Jude wehrte sich, trat um sich und schrie. Er wollte sich am Treppengeländer festhalten, doch die Dämonen zogen ihn weg und verschwanden mit ihm.

Gut, dachte sie. Er verdient es zu leiden, genau so, wie Brandon gelitten hat. Er verdient das Gegenstück zu seinen dreitausend Toden.

„Lasst ihn nicht zu schnell wieder gehen“, ermunterte sie die Türhüter. „Und seid kreativ, so wie bei euren Glaskunstwerken auch! Ich bin mir sicher, ihr könnt euren Einfallsreichtum auch an diesem Objekt ausleben!“

Jude hörte, was sie sagte, und fing noch lauter an zu schreien. Er flehte Gott um Hilfe an.

„Gott ist nicht gerade beliebt bei den Leuten hier, mio amico.“ Dann murmelte sie: „Dieser Volltrottel von Mensch ist alles, was du dieses Jahr von mir bekommst, diavolo.“

Da hörte sie das Geräusch der sich öffnenden Eisentüren und drehte sich überrascht um.

Corbin stand vor ihr, seine bernsteinfarbenen Augen glühten voller Befriedigung. Hinter ihm war Massimo. „Oh nein, cara mia.“ Der Erzdämon grinste sie an. „Dieser dürre kleine Mensch wird nicht als angemessenes Opfer durchgehen. Ich dachte, das hätte ich deutlich gemacht. Du hättest besser deine Pflicht getan, als du noch Gelegenheit dazu hattest, baronessa. Du hattest die Aufgabe, den Engel abzuliefern. Er wird nichts anderes akzeptieren.“

Natürlich. Es war ihr klar gewesen, dass Corbin auftauchen würde. Damit hatte sie schon gerechnet. Ihn konnte sie nicht abschütteln. Doch sie glaubte, dass die Rache für Brandons Tod jedes Leiden wert war.

Aber was war mit Massimo?

Ihr ehemaliger Leibdiener, dem sie stets vertraut hatte, stand nun mit wütender Miene hinter Corbin. Sein Verrat schmerzte sie sehr. Sie warf ihm einen anklagenden Blick zu.

„Ich werde dir Brandon niemals ausliefern, egal, womit du mir drohst. Egal, was du mir antun wirst. Lieber werde ich für alle Ewigkeit in der Hölle verrotten.“

„Du weißt, was dich erwartet. Wenn dir das bisher keine Angst gemacht hat, solltest du sie jetzt bekommen“, knurrte Corbin. „Ich hätte wissen müssen, dass du den Engel niemals ausliefern würdest. Weil du in ihn verliebt bist. Wie süß! Wir können ja alle zusammen hier auf deinen Liebsten warten, Schätzchen.“

„Er weiß nichts von diesem Ort.“ Luciana versuchte, sich krampfhaft zu erinnern, ob sie Murano ihm gegenüber jemals erwähnt hatte. Habe ich, oder habe ich nicht?

„Der Mann ist schlau. Er wird es sich denken können.“ Corbin packte sie an den Haaren und zog ihr Gesicht so weit zu sich herüber, dass ihre Wange an seiner lag. „Wir werden ja sehen.“

Brandon kam am Flughafen Marco Polo an und rannte sofort hinunter zu den wartenden Wassertaxis. Er war geschätzt vierzig Minuten später dran als Luciana. Das hieß, die Zeit rann ihm durch die Finger. Falls es nicht sowieso schon zu spät ist, dachte er. Er war gerade dabei, mit einem der Taxifahrer zu verhandeln, als Infusino und Arielle in einem Polizeiboot vorfuhren, in dem noch mehr Mitglieder der venezianischen Einheit der Kompanie saßen.

„Du hast wirklich keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast, Brandon“, sagte Arielle. „Komm mit uns!“

Mit einem vernichtenden Blick musterte er Arielle. „Du spinnst wohl, wenn du glaubst, dass ich mit dir komme. Du hast Luciana gefoltert.“

„Brandon, ich weiß, dass sie dir viel bedeutet. Aber sie ist eine Dämonin. Sie ist Teil einer Kraft, die uns alle auslöschen könnte. Nicht nur die Kompanie. Nicht nur die Engel. Sondern die gesamte Menschheit. Die Welt, wie wir sie heute kennen, könnte für immer verschwinden. Uns liegen Informationen darüber vor, dass die Dämonen sich hier in Venedig auf ein großes Ereignis vorbereiten. Wir müssen uns sofort um Luciana kümmern. Noch heute Abend.“

Brandon zögerte immer noch. Ihm ging nur eine Frage durch den Kopf: Wem bin ich verpflichtet? Arielle oder Luciana?

Keiner von beiden, war seine Antwort. Ich bin nur meiner Aufgabe verpflichtet, die Menschheit zu beschützen.

Er stieg in das Polizeiboot, denn er wollte verstehen, wovon Arielle da die ganze Zeit sprach. Und er durfte nicht zulassen, dass Luciana einen weiteren Menschen tötete – selbst wenn dieser Mensch ein Mörder war.

„Kommen Sie!“ Infusino nickte ihm freundlich zu. „Wir müssen schnell zur Erlöserkirche.“

„Sie ist nicht in der Erlöserkirche. Sie ist in Murano. In der Glasfabrik, die die Galerie ihrer Schwester bestückte.“ „Was? Woher willst du das wissen?“ Arielle sah ihn mit forschendem Blick an.

„Vertrau mir einfach!“

„Ich weiß, wo diese Glasbläserei ist“, meldete sich Infusino zu Wort und legte den Gang ein.

Während das Boot über die Wellen hüpfte, forderte Arielle beim Hauptquartier in Venedig Verstärkung an. „Warum hat Luciana dich nicht in die Glasbrennerei gebracht, wenn sie dich töten wollte?“

„Weil sie niemals wirklich vorhatte, mich zu töten“, antwortete Brandon. „Jeder ihrer diesbezüglichen Versuche scheiterte erbärmlich, denn sie brachte es nie übers Herz. Aber bei Jude wird das anders sein.“

Arielle sagte nichts mehr. Sie schürzte nur die Lippen und starrte hinaus auf die Lagune.

Als sie Murano erreicht hatten, legte Infusino an und scheuchte sie aus dem Boot.

„Wie können nicht vorne vor der Fabrik halten“, erklärte er. „Wir müssen subtiler vorgehen. Es gibt einen Hintereingang.“

Sie stiegen aus und folgten Infusino durch einen Durchgang, der sie zur Rückseite eines großen Backsteingebäudes führte. Zylinderförmige Kamine spuckten Rauch in den dunklen Abendhimmel. Aus dem Inneren waren Geräusche zu hören, die wie das Schmieden von Metall und laut loderndes Feuer klangen.

Infusino bedeutete den anderen, zu warten, während er mit Brandon zu einem der Fenster kroch.

Als sie ins Innere der Fabrik spähten, schoss Brandon sofort ein Gedanke in den Sinn.

Sie bereiten die Endzeit vor.

Folterinstrumente. Waffen. Öfen.

Berge von abgetrennten Gliedmaßen.

Um wie viele Leichen es sich handelte, konnte er unmöglich sagen. Das Fleisch war abgehäutet und blutig, eine Anhäufung von Gliedern, schaurig anzusehen. Ob die Reste von Mensch oder Tier stammten, war nicht zu erkennen.

Und Jude. Gefangen in einer Horrorszene, umringt von Dämonen, die ihm mit ihren glühend heißen Werkzeugen Hiebe und Stöße versetzten.

Einen Moment lang verspürte Brandon so etwas wie Genugtuung.

Endlich bekommt mein Mörder seine gerechte Strafe …

Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um diesen Gedanken aus seinem Hirn zu vertreiben.

Stattdessen zwang er sich, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen.

Wer bin ich? Was bin ich? Ein Schutzengel.

Egal, welche primitiven Gefühle ihn gerade für einen kurzen Augenblick übermannt hatten, als er den gequälten Jude sah – er wusste und war überzeugt davon, dass seine Rolle als Engel alles andere überstrahlte. Sein Schwur, die Menschheit zu beschützen, war wichtiger als jeder persönliche Rachegedanke, den er für eine erbärmliche Person wie Jude übrighatte.

Die beiden Engel gaben ihre Beobachtungsposition am Fenster auf und kehrten zum Rest der Gruppe zurück. Sie beschrieben ihnen, was sie gesehen hatten.

Infusino nickte nachdenklich. „Wir wussten, dass so etwas kommen würde.“

„Wir wussten, dass sich die Dämonen sammeln, aber wir wussten nicht, was sie vorhatten. Das ist erst der Anfang. Hier werden weitere Dämonen auftauchen. Und weitere Vorbereitungen treffen.“ Arielle schien in ihrem Element zu sein.

Und Brandon hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. Er fragte sich, ob er mit seinen Vermutungen über Arielle recht behal-ten sollte.

Ob sein Bauchgefühl stimmte. Ob sie wirklich böse war.

Oder ob sie einfach nur hingebungsvoll ihre Mission auf Erden befolgte und das tat, was für den Schutz der Menschheit und im Kampf gegen die Dämonen vonnöten war.

„Habt ihr deswegen das Exerzitienhaus gekauft?“

Sie nickte. „Ja, und du musst mir jetzt helfen. Wir von der Kompanie müssen einander vertrauen, wenn wir diesen Kampf gewinnen wollen. Ich weiß nicht, wie wir die Dämonen besiegen können – wir müssen uns etwas einfallen lassen. Hier bleiben können wir nicht. Wir müssen zuerst einen Plan machen und dann wiederkommen.“

Dann ist es zu spät, das wusste Brandon.

„Ihr könnt ja machen, was ihr für nötig haltet. Aber ich gehe da rein. Und zwar jetzt.“

„Warte!“ Arielle streckte die Hand nach ihm aus. „Du kannst dich nicht schutzlos einem Haufen Dämonen aussetzen. Sie werden dir alle Glieder ausreißen und dich bei lebendigem Leibe verbrennen, so wie diesen Menschen. Außerdem verdient es dieser Mann nicht, gerettet zu werden.“

„Wir können ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen“, argumentierte Brandon und sah Arielle scharf an. „Folter ist niemals gerechtfertigt.“

Damit drehte er sich um und konzentrierte sich auf das, was er gleich tun würde. Wahrscheinlich würde er dabei umkommen.

Jetzt packte Infusino ihn am Arm, um ihn zurückzuhalten.

Doch Brandon machte sich los und lief auf die Tür der Fab- rik zu – seinem sicheren Tod entgegen.

Eine einzelne Feder kam in Lucianas Blickfeld. In dem Moment, als sie sie durch die Fabrikhalle schweben sah, wurde sie ein wenig melancholisch. Corbin wird sich den Engel holen, das wusste sie. Und das war das Ende.

Wie kann er mich nur gefunden haben?

Wieder öffneten sich die schweren Eisentüren, und alle Türhüter wendeten sich um. Die Gegenwart des Engels zog die Blicke magisch an.

Brandon betrat die Fabrikhalle und die Plattform. Er sah himmlisch aus. Die Tätowierungen auf seinen muskulösen Armen glänzten in der Hitze. Er war umgeben von Licht, das jede Oberfläche erleuchtete. Selbst die Feuer in den Öfen bildeten im Vergleich zu ihm nur einen schwachen Kontrast. Als Luciana den Blick auf ihn richtete, sah sie, dass auch seine Augen glühten. Schillernd. Eindringlich. Stark.

Aber er war allein gekommen.

Da wusste sie, dass alles verloren war.

So stark er auch sein mochte, ein einzelner Engel hatte gegen eine Horde Dämonen nichts auszurichten. Hier konnte er nicht gewinnen. Nicht einmal fliehen konnte er. Doch Brandon selbst schien das nicht zu wissen. Er stand da mit seinen breiten Schultern und strahlte ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus – wie bei ihrer allerersten Begegnung mit ihm.

„Aufhören!“, rief der Schutzengel jetzt mit donnernder Stimme.

Augenblicklich setzte alle Geschäftigkeit in der Fabrik aus.

Ruhe kehrte ein. Nur das Feuer in den Öfen knisterte und loderte weiter.

Brandon ging die Metalltreppe hinunter, und jeder seiner Schritte hallte in dem großen Raum wider.

Die Dämonen standen immer noch wie gelähmt da und beobachteten ihn. Doch nur einen Moment später erlangten sie ihre Fassung wieder. Sie bildeten einen Kreis um ihn. Ihre Brenneisen glühten mit Höllenfeuer, während sie sich immer dichter um ihn scharten. Doch keiner von ihnen wagte es, ihn zu berühren.

Mit entschlossenen Schritten ging der Schutzengel auf Jude zu und löste seine Fesseln.

Dann warf er sich seinen Mörder über die Schulter. Und schritt würdevoll zurück zur Treppe.

Da trat Corbin ihm in den Weg. „Du glaubst wohl, du könntest hier hereinspazieren und mitnehmen, was uns gehört? Massimo, kümmere dich um den Eindringling!“

Der Erzdämon schnippte mit den Fingern. Fast lautlos trat Massimo vor.

Er hatte eine Spritze in der Hand. In seinen Augen brannte Rache.

Luciana erkannte diese Spritze. Sie selbst hatte sie Massimo übergeben mit den Worten: Ich vertraue sie dir an.

„Wenn das das Ende ist, dann soll es so sein. Ich bereue nichts. Ich werde nicht vor dem Bösen davonlaufen.“ Brandon stand stark und unbeugsam vor dem Erzdämon.

Doch Massimo machte keinerlei Anstalten, dem Engel die Spritze zu verabreichen.

Stattdessen riss er blitzschnell den Arm nach oben und stieß sie Corbin in den Hals. Mit einer sanften, geschmeidigen Bewegung injizierte er den Inhalt der Spritze in die Halsschlagader des Erzdämons.

Corbin sah ihn überrascht an. „Wieso?“

„Wegen meiner Mutter“, flüsterte Massimo.

„Luciana, diese Schlampe, ist nicht deine Mutter“, würgte Corbin hervor.

„Ich weiß. Ihr Name war Carlotta Rossetti.“

Corbin schluckte. Es war nur eine kleine Bewegung seines Adamsapfels. Plötzlich fasste er sich an den Hals und begann zu husten. Ein Schwall Blut landete auf dem Fußboden. Und dann begann sein Todeskampf. Grausige Laute drangen aus seiner Kehle. Es war der Klang des Todes, den Luciana so viele Male gehört hatte. Der Erzdämon fiel zu Boden. Zuckend lag er auf dem Betonfußboden, als er sein Leben aushauchte.

Alles erstarrte.

Die Türhüter sahen Corbin bei seinem Todeskampf zu, ungläubig, als erwarteten sie, er würde jederzeit wieder aufstehen.

Es funktioniert also, dachte Luciana. Mein Gift wirkt.

Und dann explodierte einer der Öfen. Ob durch göttliches Eingreifen oder durch Zufall, war nicht klar. Jedenfalls schoss eine riesige, heiße Flamme aus dem Ofen hervor und zerstörte die Fenster und den Fußboden in Reichweite.

Die Hitzewand brach über sie alle gleichzeitig herein: Dämonin, Engel, Mensch. Luciana, Brandon, Jude.

Doch es war nicht das Feuer, das die Kontrolle über das Ge-bäude übernahm.

Jetzt begann der Boden unter ihnen zu beben, und Spalten taten sich auf, aus denen Wassermassen emporschossen. Das Wasser stieg schneller, als Luciana es je im hochwassergeplagten Venedig erlebt hatte. Es überschwemmte binnen kürzester Zeit den Fußboden der Fabrik und umschloss mit rasender Geschwindigkeit erst die Knöchel, dann die Schienbeine der schockierten Dämonen.

Jetzt kam die Horde in Bewegung. Sie rannten in alle Richtungen durch das mittlerweile knietiefe Wasser davon, schoben und drängten sich dem nächsten Ausgang entgegen. Brandon schnappte sich Luciana und zerrte sie, den bewusstlosen Jude noch immer über der Schulter, mit sich zur Hintertür. Er rannte die fondamenta hinunter, weg von der brennenden fornace, und war so schnell, dass sie fast zu fliegen glaubte.

Hinter ihnen überspülten die Wassermassen nun die Öfen und löschten mit lautem Zischen die Flammen. Druck baute sich auf. Und gab nach. Das Dach explodierte, und plötzlich war die Luft voll von Glassplittern. Die Wände des Gebäudes erbebten, und das Backsteingebilde fiel in sich zusammen wie ungebrannter Ton.

Erst in fünfzehn Metern Entfernung traute sich Luciana, sich umzudrehen.

Wie ein Aasgeier nach einem Gemetzel tauchte in diesem Moment die schwarze Beerdigungsgondel des Satans auf dem Kanal auf. Und glitt auf einem Fluss aus Feuer in die Glasbläserei hinein. Der Fährmann des Todes streckte seinen verwelkten Arm aus seinem schwarzen Mantel und steuerte das Boot mitten in das kochende Inferno hinein. Wenige Augenblicke später kam das Boot an ihnen vorbei, und Luciana sah den toten Erzdämon darin liegen. Der Fährmann nickte ihr kurz zu, dann stieß er sein Ruder ins Wasser, und die Gondel glitt davon.

Luciana wäre beinahe auf dem Anleger zusammengebrochen.

Sie hatte festen Boden unter den Füßen, obwohl es sich nicht im Geringsten so anfühlte.

Aber noch war nicht alles erledigt.

Brandon setzte den erbarmungswürdigen Menschen ab. Jude stolperte im Zickzack davon. Wo wollte er hin? Luciana musste ihn aufhalten. Rasch hob sie ein Stück Rohr auf, das auf der Erde lag, und rannte ihm hinterher. Jude fiel hin und sah sie mit schreckgeweiteten Augen an, als sie ihm mit dem Rohr die Kehle zudrückte.

„Lass ihn. Ich habe ihm vergeben.“ Brandon hielt ihren Arm fest.

„Wieso interessiert es dich dann, was mit ihm geschieht?“ Luciana hielt das Rohr so fest umklammert, dass ihre Hand zu schmerzen begann. Sie versuchte, es dem Menschen in den Hals zu rammen, um endlich der Ungerechtigkeit und dem Leid ein Ende zu setzen, das Brandon erlitten hatte. „Er hat dich ermordet. Kapierst du das nicht?“

„Er ist ein Mensch. Es ist meine Aufgabe, ihn zu beschützen.“ „Wieso verteidigst du ihn? Menschen sind widerwärtig. Noch vor zweihundert Jahren haben sich die Menschen auf den Straßen gegenseitig gefoltert. Öffentliche Hinrichtungen waren ein Spektakel, das ihnen zur Unterhaltung diente. Abgeschlagene Köpfe wurden vor Stadttoren aufgespießt, auf Brücken, auf Marktplätzen. Du glaubst doch nicht im Ernst daran, dass dieser Mensch auch nur eine Sekunde zögern würde, wenn er deinen Kopf als Trophäe mitnehmen könnte!“

„Auch du und ich waren mal Menschen.“

„Aber wir sind keine mehr“, sagte Luciana leise. „Dieser Mann verdient es nicht, zu leben.“

„Auf Erden gibt es keine Gerechtigkeit für das, was er getan hat. Wir sind nicht hier, um über ihn zu richten. Wir kennen die wahren Gründe für das, was auf der Erde geschieht, nicht. Jetzt komm mit mir! Komm mit! Lass ihn gehen und komm mit mir!“

Brandon streckte die Hand aus.

Das Rohr begann in ihrer Hand zu zittern, aber sie drückte es immer noch auf Judes Kehle.

„Lass ihn“, bat der Engel sie noch einmal. „Er ist es nicht wert. Nicht wenn er das Einzige ist, was zwischen dir und mir steht. Jetzt komm mit mir! Wir können endlich zusammen sein.“

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während sie vor der völlig zerstörten Fabrik standen, aus der in Panik die Dämonen flohen und zu denen sich nun die Menschen gesellten, die von dem Chaos aus dem Schlaf gerissen worden waren.

Kaum wahrnehmbar nickte Luciana.

Seinen Worten konnte sie jedoch keinen Glauben schenken.

Denn sie wusste: Wir können niemals zusammen sein.

„Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was mit ihm geschieht.“ Brandon sah sie bittend an.

„Wenn du es so möchtest“, sagte sie schließlich.

Dann ließ sie das Rohr los, das laut klappernd zu Boden fiel und wegrollte.

Er legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie mit sich davon, während Jude durch die dunklen Straßen von Murano stolperte. Sie überließen ihn seinem Schicksal.

In dem Boot, das Luciana am Flughafen gechartert hatte, fuhren sie und Brandon zurück nach Venedig. Hand in Hand gingen sie durch die dunklen, stillen Straßen, während die Menschen sicher in ihren Betten lagen und schliefen.

Sie war so erleichtert, dass Corbin endgültig von der Bildfläche verschwunden war.

Noch hatte sie das alles nicht vollständig begriffen – aber das würde noch kommen.

Spätestens dann, wenn sie Brandon verlassen würde.

„Ich möchte dich nach Hause mitnehmen, meine Liebe. Nach Chicago. Um dort neu anzufangen.“

Sie lächelte bedauernd. Es gab kein anderes Zuhause für sie als ihre Casa Rossetti, die nun nicht mehr existierte. Sie kannte kein anderes Leben als das, was sie jahrhundertelang geführt hatte. Das schien er nicht zu begreifen. Früher oder später würde er es akzeptieren müssen.

Er hatte ja alle Ewigkeit Zeit, es zu verstehen.

Wie seltsam, dachte sie. Obwohl wir nicht zusammen sein können, verspüre ich einen inneren Frieden.

Er blieb in einem Hauseingang stehen, dessen altes Tor von Weinranken überwuchert war.

„Hierher kam ich in der Nacht, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben.“ Brandon schaute in den dunklen Garten, der hinter dem Tor verborgen war.

Rasch schlüpfte Luciana hinein und schlug das Tor hinter sich zu. Das alte Schloss schnappte mit einem Klackern zu, das beängstigend endgültig klang. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Brandon sie durch das Tor am Handgelenk gepackt.

Mit der anderen Hand rüttelte er am Torknauf und versuchte, ihn zu drehen. Doch der bewegte sich nicht. „Das ist Venedig. Hier ist alles alt. Er scheint sich verkantet zu haben.“

Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk fester. „Selbst wenn das Tor nicht mehr aufgeht, lasse ich dich nicht gehen. Dann müssen wir eben so lange warten, bis jemand es für uns öffnet.“

„Dann stehen wir womöglich für immer hier. Unfähig, irgendetwas zu tun, bis wir völlig erschöpft sind. Lass es uns doch lieber gleich so machen, dass du mich loslässt.“ Luciana sah ihn an.

Sein Griff verstärkte sich. „Ich werde dich niemals aufgeben. Uns niemals aufgeben.“

„Krieg das doch endlich in deinen Schädel hinein: Ich werde mich niemals ändern! Es gibt keinen gemeinsamen Ort für uns, nicht auf dieser Welt. Vielleicht irgendwann in ferner Zukunft. Aber nicht jetzt. Du musst mich gehen lassen. Das weißt du. Ich werde nicht zulassen, dass du alles aufgibst, was du dir erarbeitet hast und was du bist. Nicht für mich. Schließ die Augen!“

„Vergiss es“, knurrte er.

„Schließ sie einfach! Ich verspreche dir, ich werde nichts Dummes tun.“

Sie sandte ihm ein Bild von ihnen beiden in seine Gedanken.

Sie standen eng umschlungen unter einem Sternenhimmel. Der erste Mann und die erste Frau. Der letzte Mann und die letzte Frau. Zu zweit. Eins. Für immer.

„Lass mich gehen. Ich werde zu dir zurückkommen, das verspreche ich dir.“

Brandon öffnete die Augen.

Nur für einen kurzen Moment löste er seinen Griff. Und in diesem Moment war sie verschwunden.

Es dauerte keine Sekunde, bis Brandon über das Tor gestiegen war, um nach ihr zu suchen.

Doch er wusste nicht, wohin sie verschwunden war.

Hier in Venedig würde er sie niemals finden. Sie würde ihm immer wieder durch die Finger schlüpfen, so wie eben. Er würde nach ihr suchen, aber schon jetzt wusste er, dass es vergebens sein würde. So sinnlos, als wollte er eine Handvoll Mondlicht aus dem Kanal schöpfen.

Sie hatte im Garten etwas fallen lassen – einen silbrig glänzenden Gegenstand. Er hob ihn auf und wusste sofort, was es war. Er drehte den Gegenstand um und fuhr mit dem Daumen über das eingravierte Bild des Erzengels Michael, der den Drachen tötete.

„Wo warst du heute Nacht, als sich all das ereignete?“

Hinter ihm erklang Michaels Stimme. „Ich wusste, dass du es schaffen würdest, Brandon. Du brauchst keinen Babysitter.“

Doch als er sich umdrehte, war da kein Michael.

Brandon steckte die Uhr in die Tasche. Luciana hatte sie ab- sichtlich zurückgelassen.

Ob sie ihr Versprechen wirklich eines Tages wahr machen und zu ihm zurückkehren würde?

Da stand er nun, in einem leeren Garten, durch dessen verwilderten Bewuchs ein paar Glühwürmchen schwirrten, neben der Statue des heiligen Georg, die Hand mit dem Speer über den Kopf erhoben. Ein weiterer Krieger, gebannt in seinem Sieg über das Böse.