Sonnenaufgang über dem Canal Grande
Brandon erwachte in den frühen Morgenstunden und trat ans Fenster. Die Wasserfläche davor funkelte im blassen Morgenlicht. Irgendwo da draußen war Luciana und schmiedete Pläne.
Der erste Ort, an dem er nach ihr suchen würde, war der Ort, an den sie sich letzte Nacht geflüchtet hatte.
Rio Terá dei Assassini.
Später am Morgen brannte die Sonne heiß auf die Stadt herunter und sorgte für eine stickige Hitze. Bei Tageslicht sah die kleine Straße so unschuldig und charmant aus wie jede andere Gasse in Venedig. An der Ecke war ein Buchladen, es gab mehrere Souvenirgeschäfte und Restaurants mit bunten Markisen. Und Touristen flanierten durch die Straße.
Die Glasgalerie war nicht schwer zu finden. Ein paar Leute standen davor und betrachteten die Schaufensterauslage.
Brandon öffnete die Tür und betrat den Laden.
Man sah nichts mehr von dem Kampf, der letzte Nacht hier stattgefunden hatte.
Die Regale waren wieder aufgefüllt, alle Stücke standen ordentlich nebeneinander aufgereiht da.
Kein Tröpfchen Blut war mehr zu sehen, keine noch so kleine Glasscherbe, die von den Ereignissen zeugte.
Eine tadellos gekleidete Verkäuferin kam auf ihn zu. „Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?“, fragte sie auf Englisch.
Hat eigentlich jeder Dämon in Venedig grüne Augen? fragte Brandon sich.
„Ich bin auf der Suche nach einer Frau. Ihr Name ist Luciana Rossetti.“
Die Frau verzog keine Miene, doch ein Zucken in ihren Augen verriet Brandon, dass ihr der Name etwas sagte. Sie wahrte jedoch die Fassung. „Es tut mir leid, Sir. Eine Person dieses Namens ist mir nicht bekannt. Darf ich Ihnen vielleicht einen mundgeblasenen Weindekanter zeigen? In Venedig gibt es viele Glasbläserwerkstätten, aber unsere nimmt eine einzigartige Stellung ein. Die Stücke werden alle in liebevoller Handarbeit auf der Nachbarinsel Murano hergestellt. Aus Brandschutzgründen wurden alle Glasöfen von Venedig einst auf diese Insel verlagert und …“
Er unterbrach ihr Verkaufsgequatsche mit einer kurzen Handbewegung und sagte leise, damit niemand anderes es hören konnte: „Ich habe keine Zeit für Geschichtsunterricht. Ich suche Luciana Rossetti. Machen Sie mir nicht vor, dass Sie nicht wüssten, wer sie ist.“
„Bitte sehen Sie hier“, sagte die Frau. Ihre Augen funkelten dämonisch, dann zischte sie: „In Venedig haben wir eine Abmachung, eure und unsere Art. Wir stören das Gleichgewicht nicht.“
„Dann sagen Sie mir, wo Luciana ist.“
„Ich habe die Schlampe seit Jahren nicht gesehen“, presste sie voller Verachtung hervor. „Sie hat sich nicht dazu herabgelassen, diese Galerie zu betreten.“
Sie log, das spürte Brandon. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
„Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mich hier kurz umsehe.“
Die Frau packte ihn am Arm. „Was bilden Sie sich eigentlich ein? Glauben Sie, Sie könnten hier so mir nichts, dir nichts hereinspazieren und in meinem Geschäft herumschnüffeln?“
Es war ein Leichtes, sich von ihr loszumachen. „Ich kann alles.“
Zuerst durchsuchte er die Regale im Hinterzimmer auf Spuren. Nichts. Nicht der kleinste Hinweis. Einen Moment stand er im Dunkeln und dachte nach.
Da bemerkte er, wie sich im hinteren Teil der Galerie lautlos eine Tür öffnete. Ein schmaler Lichtstrahl war alles, was zu sehen war. Dann wurde die Tür wieder geschlossen.
Brandon sah die Frau an. „Was ist da hinten?“
„Nichts.“ Sie warf einen Blick zu den Kunden im Laden, die sich die Glasartikel betrachteten. „Sir, Sie stören meine Kundschaft. Bitte gehen Sie.“
Die Menschen sahen flüsternd zu ihm herüber.
„Das Geschäft muss leider wegen eines Notfalls sofort geschlossen werden. Wenn Sie etwas kaufen möchten, kommen Sie bitte später wieder.“ Brandon öffnete die Tür und drehte das Schild um auf chiuso – geschlossen und wartete, bis die Menschen das Geschäft verlassen hatten. „So. Niemand mehr da, den wir stören können.“
Er ging zum hinteren Teil der Galerie und öffnete die Tür.
„Warten Sie!“, rief die Frau. „Da können Sie nicht hochgehen!“
Die Worte der Verkäuferin interessierten ihn nicht im Geringsten. Er warf einen Blick auf die dunkle Treppe, die nach oben führte. „Oh doch, das kann ich.“
Schon machte er sich auf den Weg nach oben.
Am oberen Treppenabsatz gelangte er auf einen großen Flur, der wie ein Partyraum gestaltet war. Anscheinend sollte hier gleich etwas gefeiert werden. Der Raum war mit Samtsofas und dicken Vorhängen dekoriert. Eine geschwungene Treppe führte hinauf in ein weiteres Stockwerk, mit einer langen Reihe von geschlossenen Türen unter geschnitzten Balustraden. An den hohen Decken hingen edle Kronleuchter.
Eine der Türen öffnete sich, und ein Mädchen schaute heraus. „È lui un cliente, Carlotta?“
„Nein, er ist kein Kunde. Nicht um diese Uhrzeit.“ Keuchend lief die Verkäuferin hinter Brandon die Treppe hinauf.
Der Lärm sorgte dafür, dass weitere Türen geöffnet wurden. Auf der oberen Galerie zeigten sich nun mehrere halb bekleidete Mädchen und schauten neugierig über die geschnitzte Brüstung. Sie drängten sich zusammen und starrten ihn an. Wie in Trance flüsterten sie alle gleichzeitig ein einziges Wort: „Angelo.“
Die Augen der Mädchen leuchteten hell im gedämpften Licht des Bordellflurs.
Denn nichts anderes ist das hier, stellte Brandon fest.
Eines der Mädchen kam auf ihn zu und spielte an ihrem Dekolleté. „Ich habe auch ein Tattoo. Möchtest du es sehen?“
Sie öffnete ihr Korsett und präsentierte ihm freizügig ihre Brüste. Brandon schob sie zur Seite, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Wo ist Luciana Rossetti? Wer von Ihnen hat sie gesehen?“ „La lucciola?“, krähte ein Mädchen.
Alle lachten. Der Klang der Sirenen, der Sex und Erfüllung verhieß. Ihre fast nackten Brüste, in Korsetts gezwängt und hochgeschnürt, um alle ihre Vorteile hervorzuheben, wackelten dazu.
„Luciana ist nicht hier.“ Carlotta, die Verkäuferin, die anscheinend auch die Besitzerin des Bordells war, antwortete ihm. „Was heißt das?“, erwiderte er schroff. „La lucciola.“
Als sie ihn italienisch sprechen hörten, bogen sich die Mädchen vor Lachen. Einige von ihnen mussten sich am Geländer festhalten, so sehr lachten sie.
Carlotta lachte ebenfalls. „Das ist ihr Spitzname hier. Er bedeutet ‚Glühwürmchen‘. Wenn Sie vorhaben, Sie zu fangen, besorgen Sie sich am besten ein Schmetterlingsnetz.“ Sie wedelte verführerisch mit ihrem Seidenschal vor seinem Gesicht herum. Doch Brandon schlug unsanft ihre Hand weg. „Mein Lieber, Sie könnten etwas Nachhilfe darin gebrauchen, wie man eine Frau behandelt. Vielleicht werden Sie lockerer, wenn Sie ein bisschen hierbleiben.“
„Es reicht!“, schrie Brandon.
Der Fußboden bebte unter ihnen. Die mit Damast bespannten Wände und das antike Mobiliar wankten. Die Kronleuchter begannen gefährlich zu wackeln und drohten herunterzufallen. Schon klirrten sie laut.
„Glaubt ihr, die göttliche Macht könnte dieses Irrenhaus nicht dem Erdboden gleichmachen?“ Er wusste zwar, wie unwahrscheinlich das war. Aber von diesen Dämoninnen wusste das keine. „Ich will jetzt wissen, wo sie ist!“
Es war mucksmäuschenstill geworden.
Starr vor Schreck standen die Mädchen da.
Das Klirren der Kronleuchter war das Einzige, was zu hören war, bis auch dieses Geräusch verstummte.
Carlottas Unterlippe zitterte.
„La baronessa würde niemals ihre Reputation besudeln, indem sie sich in diesem Haus aufhält. Sie hat sich seit Jahren nicht blicken lassen.“
„Aber sie war mal …“
„Ja. Die Schlampe hat einmal hier gearbeitet. Sie war früher noch viel mehr eine Hure, als sie es heute ist.“
Das ist ja mal eine interessante Information, von der nichts in ihrer Akte stand, dachte Brandon sofort. Und es überraschte ihn nicht. Und trotzdem empfand er so etwas wie Mitleid mit ihr. Bisher war es für ihn undenkbar gewesen, für eine Dämonin jemals ein solches Gefühl zu hegen. Doch Luciana war eine Frau mit wohlgehüteten Geheimnissen. Und das faszinierte ihn – trotz aller Gefährlichkeit, die damit verbunden war.
Wie ist sie wohl hier gelandet? Ob sie aus eigenem Willen hier gearbeitet hat? Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, doch im Moment war nur eine wirklich relevant. „Wo ist sie?“
„In den tiefsten Tiefen der Hölle, wenn es nach mir geht.“ Carlottas Worte klangen verächtlich.
„Ich gebe Ihnen noch eine Chance, meine Frage zu beantworten. Wo ist Luciana?“
Sie grinste.
Da packte er ihren Hals und drückte zu.
Es gibt Regeln, die das Miteinander von Engeln und Dämonen regeln. Arielles Worte klangen in seinen Ohren wider, während er die Dämonin ansah. Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen.
Einen Dämon ohne Grund zu töten war eine dieser Regeln.
Es war ihm zwar nicht erlaubt, sie zu töten, aber er konnte die Bordellbesitzerin so nah an den Rand des Todes befördern, wie sein Gewissen es zuließ. Er drückte noch etwas fester zu.
Menschenleben stehen auf dem Spiel, rief er sich in Erinne-rung. Wenn ich Luciana nicht finde, wer weiß, wie viele Men-schen sterben werden.
Carlotta begann zu würgen und versuchte, seine Hand zu packen, um sich aus seinem eisernen Griff zu befreien.
Keines der Mädchen eilte ihr zu Hilfe. Sie standen da wie er-starrt und trauten sich nicht einzugreifen.
Schließlich ließ Brandon von Carlotta ab, die eilig von ihm wegstolperte.
„Sagen Sie mir, wo ich Luciana finde.“
„Ich wusste gar nicht, dass Engel so brutal sind. Seid ihr denn nicht die Botschafter des Friedens?“ Carlotta rieb sich den Hals.
„Sofort!“
„Lucianas Haus kann keiner finden.“ „Wieso nicht?“
Schweigen. Niemand rührte sich.
Carlotta schluckte, und das Geräusch schien aus allen Ecken widerzuhallen. „Weil es komplett aus der menschlichen Erinnerung gelöscht wurde.“
„Wie geht das denn?“, fragte Brandon nun etwas sanfter.
„Luciana stammt aus einem noblen Adelsgeschlecht hier in Venedig. Die Familie Rossetti war früher einmal sehr bekannt und wurde hochgeschätzt wie alle Familien, die im Libro d’Oro, dem Goldenen Buch des venezianischen Adels, erwähnt waren. Luciana war die letzte Überlebende aus ihrer Familie. Als sie starb und zur Dämonin wurde, schloss sie einen Pakt mit Satan, um ihr Haus zu beschützen. Er löschte mit eigener Hand den Namen ihrer Familie aus den Archiven der Stadt. Ihr Palazzo war fortan vor dem Blick gewöhnlicher Sterblicher verborgen.“
„Und wie finde ich ihn?“
„Er befindet sich direkt am Canal Grande, wird aber von dunklen Mächten beschützt. Jeder Mensch, der sich an das Haus zu erinnern versucht, kann sich kein einziges Detail merken. Manche spüren die dämonischen Vibrationen, aber sie sind zu schwach, um zu begreifen, was in diesem Haus wirklich vor sich geht. Wir Dämonen kennen den Palazzo dagegen gut.“
„Also bringen Sie mich hin. Sofort!“
Sie sah ihn an und streckte die Hand aus. „Wenn ich Sie dorthin bringen soll, müssen Sie mir eine Entschädigung zahlen.“ „Wie viel?“
Sie nannte eine unfassbar hohe Summe. Brandon stimmte zu. „Ich sorge dafür, dass Sie das Geld bekommen. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“
„Molto bene“, sagte sie, endlich zufrieden. „Ich weiß, ihr Engel seid zu selbstgerecht, um ein Versprechen zu brechen. Ich werde Ihnen den Palazzo zeigen. Sie werden nicht vergessen, wo er ist. Aber wir müssen warten, bis es dunkel ist, damit uns ihre Türhüter nicht sehen. Doch ich warne Sie. Auch wenn es Ihnen gelingen sollte, sie zu finden, werden Sie Luciana Rossetti niemals besiegen. Sie ist eine miese, taktierende Schlampe und wird einen Weg finden, um Sie zu töten – oder bei dem Versuch selbst umkommen. Seit Jahrhunderten gelingt es ihr, zu überleben. Wenn Sie denken, jetzt haben sie Luciana gleich überwältigt, denken Sie noch mal. Und bitten Sie Ihren Gott um ein Wunder.“
Als Brandon das Haus betrachtete, zu dem Carlotta ihn geführt hatte, musste er ihr im Stillen recht geben.
Ich brauche ein Wunder.
Der vordere Zugang des Hauses war nur über den Kanal erreichbar, also fuhr Carlotta ihn selbst in einem kleinen Motorboot hin. Als sie langsam an der Fassade des Palazzo vorbeifuhren, verzog Carlotta ihren Mund zu einem schmalen Strich und verbarg ihr Gesicht unter ihrer Kapuze.
„Sie wird mich umbringen, wenn Sie herausfindet, dass ich Sie hergebracht habe.“
Der Palazzo war hell erleuchtet. Die Lichter wurden von der Wasserfläche reflektiert.
Hinter den großen, beeindruckenden Fenstern war keine Spur von Luciana zu sehen.
Doch die Luft vor der Casa Rossetti schimmerte in einem seltsamen, dunklen Glanz, wie Brandon es nie zuvor irgendwo gesehen hatte. Der Palazzo selbst war in hervorragendem Zustand. Die mit Steinmetzarbeiten verzierten Fensterbögen waren in Gold und Lapislazuliblau dezent bemalt. Selbst bei Dunkelheit hob sich die ursprüngliche Fassade dieses Schmuckstücks gegen die verfallenden Nachbarhäuser ab, an denen der Zahn der Zeit und die Elemente ungeschützt nagten.
Als sie näher kamen, bemerkte Brandon, dass der Eingang mit steinernen Dämonenfiguren gesäumt war, die ihre Flügel entspannt ausgebreitet hatten. Ein halbes Dutzend Kobolde, eine kleine Rotte, lungerte in der Ecke des Landungsstegs vor dem Eingang herum, wie Wasserratten, die unter dem Palast lebten. Die Kreaturen zischten das vorübergleitende Boot an, wobei ihre Augen in der Dunkelheit rot glühten.
Über dem Kanal erklang der ferne Gesang einer Frauenstimme.
„Haben Sie das gehört?“ Brandon starrte in die Dunkelheit.
Sie lauschten gemeinsam. Carlotta sah ihn mit zusammenge-kniffenen Augen an.
„Sie sind wohl kurz davor, den Verstand zu verlieren, Engel. Übrigens hält Luciana sich Vipern als Haustiere“, zischte die Bordellbesitzerin ihm zu. „Selbst wenn es Ihnen gelingt, an den Schlangen vorbeizukommen und Luciana zu schnappen, werden Sie sie nie wirklich zu fassen kriegen. Sie wird eher Sie zerstören, bevor es Ihnen gelingt, sie zu zerstören.“
Unweit des Palazzo setzte Carlotta ihn ab und verschwand in der Nacht. Als Nächstes musste Brandon sich einen Platz suchen, von wo aus er Luciana beobachten konnte.
Der Engel wanderte durch die Gässchen rund um die Paläste, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Casa Rossetti befanden. Irgendwo hier musste er seinen Beobachtungsposten aufschlagen. In einem verlassenen Palazzo mit verrammelten Fenstern gleich gegenüber von ihrem Haus, auf der anderen Seite des Kanals, wurde er fündig.
Er stieß die Tür auf und trat ein. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
Die Bewegung von sich verkriechendem Ungeziefer und Uringestank. Hohe Wände und ein schmaler Raum.
Träume ich? dachte er irritiert. Nein.
Das ist nicht Detroit.
Das ist Venedig.
Und es ist keine Gasse.
Sondern das Erdgeschoss eines einst prächtigen Nobelhauses. Es bestand aus einem einzigen, langen Zimmer, das sich über die ganze Länge des Palastes erstreckte, und war vollkommen leer. Keine Möbel. Das unbewegliche Inventar stammte aus einem späteren Jahrhundert, aus welchem, konnte er nicht sagen. Die Fenster, die nach hinten gingen, sahen sehr alt aus und bestanden aus verstaubten, fast undurchsichtigen Glasscheiben, die wie Flaschenböden in dem großen Rahmen zusammengesetzt waren.
Er stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich ein großer Raum, der einst als Ballsaal oder festliches Esszimmer gedient haben mochte. Das Mondlicht schien durch die großen Fenster herein. Die Fresken an den Wänden, Bilder aus längst vergangenen Zeiten, waren abgeblättert und kaum noch zu erkennen. Die verzierten Türrahmen und Decken waren teilweise eingestürzt, der Putz abgebröckelt und abgeplatzt.
Brandon fand einen Platz am Fenster, an dem er von draußen nicht gesehen werden konnte. Von hier aus hatte er einen perfekten Blick auf die Casa Rossetti auf der anderen Straßenseite, ihrem im Gegensatz zu diesem so herrlich gepflegten Palast. Er hatte nicht nur die Eingangstür unmittelbar vor Augen, die sich zum Kanal hin öffnete, sondern auch den Seiteneingang.
Er machte es sich bequem und begann mit der Beobachtung.
Luciana saß in ihrem Labor über den Tisch gebeugt. Die Schnittwunden auf ihrem Rücken waren inzwischen fast verheilt, aber ihr Daumen pulsierte noch. Sie hatte den Knochen fest fixiert, sodass sie in ein, zwei Tagen nichts mehr davon spüren würde. Doch im Moment war das Ganze alles andere als angenehm. Aber es nützte nichts – sie hatte viel zu tun.
Massimo schaute ihr über die Schulter und sah aufmerksam zu. Er sog jedes Wort auf, das sie sagte.
„Gewöhnliches Gift kann einen unsterblichen Körper nur zeitweise schädigen. Töten kann man einen Engel oder einen Dämon damit nicht, wie du weißt. Doch das Gift, das ich kreiert habe, hat sich an einem niederen Dämon als wirksam erwiesen“, führte sie aus. „Ein Page, der für Corbin Ranulfson in Las Vegas gearbeitet hat.“
„Wo liegt also das Problem?“, erkundigte sich Massimo.
„Corbin hat die letzte Dosis meiner Mischung gestohlen. Ich muss also eine neue Portion herstellen. Und dafür brauche ich deine Hilfe.“
Sie nahm eine der Vipern, packte sie mit der behandschuhten Hand fachmännisch hinter dem Kiefer und hielt sie über ein Gefäß, mit dem man Schlangengift auffangen konnte. Die Schlange biss auf den plastikummantelten Glastrichter, und ihr Gift spritzte in das Glas.
„Dabei muss sehr feinfühlig vorgegangen werden, Massimo. Das Tier darf während der Prozedur nicht verletzt oder sonst wie traumatisiert werden“, erklärte sie. „Ein guter Handwerker pflegt immer sein Material.“
„Wieso brauchen wir diese Zutat denn, wo wir doch die Essenz des Todes von dem Mädchen haben?“
„Wir müssen ein Gift kreieren, das nicht nur den Geist, sondern auch den Körper eines Wesens tötet. Als Grundlage können wir jedes beliebige Gift verwenden, aber ich kombiniere immer gern mehrere Komponenten. Schlangengift, Zyanid und Botulinum sind zum Beispiel eine schöne Kombination. Und dazu geben wir dann die Essenz des Todes aus dem menschlichen Blut.“
Sie legte die Viper zurück ins Terrarium, nahm eine andere Schlange heraus und gab sie dem Türhüter. „Versuch du es mal!“ Sie nickte lobend, denn Massimo machte seine Sache gut. „Genau so. Sehr gut. Es wurde auch Zeit, dass du diese Techniken lernst. Es muss jemanden geben, der die Tradition am Leben erhält.“
Für den Fall, dass man mich gefangen nimmt, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Gift mag als eine altmodische Methode erscheinen, um ein Leben zu beenden. Aber Gift steht gleichbedeutend für Macht. Es gibt Dämonen, die ein Menschenleben auslöschen können, indem sie bloß mit den Fingern schnippen. Doch wir niederen Dämonen müssen andere Wege finden, unsere Macht zu vergrößern. Ein Gift herstellen zu können, das auch Unsterbliche töten kann, verschafft uns einen großen Vorteil. Doch wir brauchen mehr davon. Mit großen Mengen an Gift können wir eine Mordwaffe erschaffen, die sehr schwer – wenn nicht unmöglich – nachzuweisen ist. Denn es gibt gewisse Regeln im Miteinander von Engeln und Dämonen.“
„Regeln, die man nicht brechen darf“, wiederholte Massimo gelangweilt. Diesen Satz hatte er schon tausendmal gehört.
„Aber die man beugen kann. Engel und Dämonen dürfen einander nicht töten – das ist die oberste und wichtigste Regel. Das weiß jeder. Wird diese Regel gebrochen, entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Himmel und Hölle, und auf der Erde wird der totale Krieg ausbrechen. Die Menschen werden darin gefangen sein. Doch wenn die Engel nicht beweisen können, wer hinter den Morden steckt, gibt es niemanden, den man verantwortlich oder als den Schuldigen ausmachen kann. Mithilfe von Gift können wir uns um die Regeln herumschummeln. Wir werden mit der oberen Hierarchie der Dämonen handeln können, da wir ein Gut besitzen werden, das jedes unsterbliche Wesen in seiner Existenz bedrohen kann. Jedes lebende Wesen.“
„Ja, baronessa.“
„Wenn es uns gelingt, die Hierarchie der Dämonen zu kontrollieren, gehört uns die Welt. Dann müssen wir uns keine Sorgen mehr darüber machen, wenn wir Engel töten. Dann wird uns niemand mehr wehtun können.“
Das war das Ziel. Sich selbst und ihre Türhüter vor Schmerz zu bewahren.
Das Fenster war geschlossen, und obwohl es draußen unerträglich heiß war, war es in der Casa Rossetti angenehm kühl. Das Geheimnis lautete: Klimaanlage.
Luciana sah von ihrer Arbeit auf und rieb mit dem Handrücken ihre Stirn.
Federn.
Taubenfedern. Nicht nur eine, sondern mehrere. Sie lagen auf ihrem Arbeitstisch. Luciana machte eine Handbewegung und fegte sie vom Tisch. Sie schwebten auf den Fußboden.
„Hast du heute Morgen das Fenster geöffnet, Massimo?“ „Nein, baronessa.“
Ihm fielen nun auch die Federn auf, und er runzelte verwundert die Stirn. „Wo kommen die denn her?“
Der Engel beobachtete sie.
Von wo genau, konnte sie nicht sagen. Und wie er sie gefunden hatte, wusste sie auch nicht.
Doch er war ganz in der Nähe.
Sie stand auf und ging zum Fenster, sah hinüber auf die andere Seite des Kanals. In der Dunkelheit sah der Canal Grande aus wie immer, wie jede Nacht in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren. Gut, inzwischen gab es Motorboote, und insgesamt hatten sich die Dinge verändert. Die alten Venezianer starben aus, und Touristen überschwemmten die Stadt. Doch die Gebäude waren immer noch die alten, sie hatten die Jahrhunderte überdauert und moderten inzwischen dem Verfall entgegen.
In einem dieser Häuser saß der Engel und beobachtete sie. Vermutlich da drüben rechts.
„Komm mal her, Massimo. Bilde ich mir das nur ein“, sagte sie und zeigte auf einen verlassenen Palazzo gegenüber, „oder bewegt sich da etwas in diesem Haus?“
Seit fünfzig Jahren war der Palast verrammelt, seinem Schicksal überlassen. Er verrottete langsam, denn die Besitzer hatten nicht genügend Geld, ihn instand zu halten.
Massimo gab keine Antwort. Aber Brandon war da drin. Das spürte sie.
In der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, war zwischen ihnen eine seltsame Verbindung entstanden. Eine Verbindung, über die Luciana alles andere als begeistert war und die sie auch nicht tolerieren würde.
Sie musste eine Möglichkeit finden, diese merkwürdige Vertrautheit zu zerstören.
„Massimo, zieh deine Handschuhe aus und geh sofort nach unten. Überprüfe, ob alle Türen sicher verschlossen sind und auch die Tore draußen. Alarmiere die anderen Türhüter! Wir stehen unter Beobachtung.“
„Aber es handelt sich nur um einen einzelnen Mann, nicht wahr, baronessa?“
„Um einen einzelnen Engel“, korrigierte sie ihn. „Einen sehr gefährlichen.“
Luciana setzte sich und sah hinaus auf das Licht, das über dem Kanal schimmerte. Ein einsamer Gondoliere ruderte durch die Nacht und sang vom Mond und von verlorener Liebe.
Auf der anderen Seite des Kanals saß Brandon am Fenster und lauschte dem melancholischen Gesang des Gondoliere.
Er war müde, und trotzdem fürchtete er sich vor dem Schlaf, denn er wusste, was ihn erwartete. Meinen menschlichen Tod noch einmal durchleben oder in meinen Träumen von Luciana verführt werden.
Brandon hatte nicht einmal die Wahl. Aber selbst wenn, könnte er nicht sagen, was von beidem schlimmer war. Er lag auf dem harten Fußboden in dem verlassenen Gebäude und wartete, dass sich einer der beiden Träume einstellte.
Komm, Schlaf! Kommt, Träume! Komm, Dunkelheit!
Er schloss die Augen.
Sowie er ein Frauenlachen hörte, riss er die Augen wieder auf. Das Lachen war leise und samtweich und erinnerte ihn unwillkürlich an feinen Chianti und edelste Schokolade.
Er befand sich nicht länger auf dem harten Fußboden in dem verlassenen Palast.
Jetzt stand er am Eingang zu einer dunklen Gasse.
Er sah etwas flattern, ein rosafarbenes Stück Seide. Und folgte dem Flattern.
In der Hosentasche suchte er nach seiner Uhr und fand sie. Beruhigend.
Ich träume.
Als er aufsah, las er die schwarzen Buchstaben auf dem verwitternden Stein: Rio Terá dei Assassini. Er wusste nicht, was er hier zu suchen hatte. Er wusste nur, dass er dem Flattern folgen musste.
Durch die Tür der Glasgalerie. In den hinteren Teil des Ladens und dann die Treppe hoch.
Der große Raum war leer. Die Kronleuchter brannten und erhellten die Nacht.
Eine Frau mit dunklen Haaren, die ihr in Locken auf den Rücken fielen, stand abgewandt vor Brandon. Blasse, perfekte Haut, unversehrt, nicht entstellt von Narben oder Kratzern. Kein Blut, kein Glas.
Sie streckte die Hand nach hinten aus, ohne sich umzudrehen, und bedeutete ihm, ihr hinterherzugehen.
Sie betraten ein prächtiges Zimmer, das mit Samtmobiliar ausgestattet war. Hinter sich hörte er die Tür ins Schloss fallen.
Während er vorsichtshalber nach seiner Waffe griff, war sie verschwunden. Sein Schulterholster leer. Egal. Sie war nicht die Art Feind, die man mit einem Schuss niederstreckte.
Luciana wandte sich um. Sie strahlte. Mit einer einzigen Bewegung entledigte sie sich ihres rosafarbenen Kleides. Es sank zu Boden zu ihren Füßen. Sie trug jetzt nur noch einen schwarzen Spitzen-BH und einen Strapsgürtel mit passenden Strümpfen, doch das wenige, was sie darunter trug, schien ihm nicht so interessant zu sein wie das, was noch verborgen war.
Ihr Körper. Ihre unverschämt langen Beine, schlank und kräftig. Die ästhetische, feine Wölbung ihres Bauchs. Ihre festen, vollen Brüste mit den dunklen Brustwarzen, die durch den Stoff ihres BHs im schwach beleuchteten Raum gerade noch zu erahnen waren.
Dekadent. Sündig. Und so … so richtig.
Aber es war vor allem ihr Gesicht, das ihm fast den Atem raubte. Ihre vollen Lippen, die, wie er sich unwillkürlich vorstellen musste, an seinem Schwanz saugten. Ihre grünen Augen, ihr glänzendes Haar, das perfekt saß.
„Du hast in meiner Vergangenheit herumgeschnüffelt“, sagte sie. „Und du hast den Weg hierher gefunden.“ „Es war meine einzige Spur.“ Seine Worte klangen barsch, denn er wollte nicht, dass es sich wie eine Entschuldigung anhörte.
„Es ist dein Traum. Deine Fantasie. Du wolltest mich so sehen, oder nicht?“ Luciana spielte mit einem silbernen Bändchen an ihrem Strapsgürtel. „Warst du nicht auf der Suche genau danach? Das ist es doch, auf was du stoßen wolltest.“
„Ich bin nicht wegen deines Körpers hier. Ich bin hier nur aus einem einzigen Grund: um dich der Kompanie zu übergeben.“ „Du bleibst also dabei. Allerdings wird dir das nicht gelingen. Nicht hier, in deinen Träumen. Ich führe dich in Versuchung, oder? Und es gibt nur eine Möglichkeit, wie du mir entkommen kannst. Oder, um es mit Oscar Wilde zu sagen: Man kann allem widerstehen außer der Versuchung.“ Sie lachte. „Außerdem ist alles bloß ein Traum. Mehr nicht.“
Wirklich? Er griff nach der Uhr in seiner Tasche und berührte sie wieder, da er sich noch einmal dessen versichern wollte, was er bereits wusste.
Ich träume.
„La lucciola. Sie haben mir erzählt, das war dein Spitzname.“
Wieder lachte sie. „Ich sollte dich ohrfeigen, weil du mich so nennst. Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Es bedeu-tet ‚Glühwürmchen‘, so nennen die Italiener eine gewöhnliche Prostituierte. Denn sie leuchten in der Nacht wie diese klei-nen Insekten.“
„Sie haben mir gesagt …“ Er schluckte. „Carlotta hat mir gesagt …“
„Du hast also Carlotta getroffen. Und du glaubst, was diese alte Hure dir erzählt?“
„Ihr Engel seid so leichtgläubig! Und so geil. Ihr alle! Wann hattest du zum letzten Mal Sex? Echten Sex, meine ich.“ Sie fuhr sich mit einem Finger über die Brust – und hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Seine Angespanntheit war Luciana nicht entgangen. Sie zog ihn in Richtung Bett. „Komm mit mir!“
„Dein Körper ist heilig. Du solltest ihn auch entsprechend behandeln. Und ich bin keiner deiner Kunden.“ „Mein Körper ist schon seit zweihundertfünfzig Jahren nicht mehr heilig. Er mag zwar so aussehen, dennoch ist es kein menschlicher Körper.“
„Trotzdem ist er ein Teil des göttlichen Ganzen.“ Natürlich war Sex nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Doch Sex ganz ohne eine spirituelle Verbindung, selbst eine, die nur für den Augenblick galt …
Selbst im Traum war ihm klar, dass er sich nicht darauf einlassen durfte.
„Es ist nur ein Traum. Mehr nicht. Wenn du eine spirituelle Verbindung brauchst, gebe ich dir eine. Lass mich dir ein paar Worte Italienisch beibringen. Um meine Sprache sprechen zu können, musst du deinen Mund ganz weich machen. Pass auf!“ Er konnte den Blick ohnehin nicht von ihren Lippen abwenden, von ihrem anzüglichen Lippenlecken. „Ti amo. Das bedeutet: Ich liebe dich. Möchtest du das hören?“
„Das hat mit meiner Vorstellung von Liebe nichts zu tun. Du kennst mich nicht einmal.“
Doch sein Körper war anderer Meinung. Brandon bekam eine Erektion.
„Dich kenne ich vielleicht nicht. Aber das da.“ Luciana deutete auf die Ausbeulung in seiner Hose. „Und das sieht aus wie bei jedem Mann auf diesem Planeten, ob Engel oder nicht.“
In seinem Kopf drehte sich alles. Er war verwirrt, hatte keine Ahnung mehr, was erlaubt war und was nicht. Was er tun und nicht tun durfte.
„Was möchtest du wirklich? Hab keine Angst vor deinen Fantasien. Es ist nur ein Traum.“
Verführerisch drapierte sie sich auf einer Chaiselongue mit burgunderfarbenem Samtbezug und spreizte die Schenkel. Nestelte an ihrem BH herum, sodass ihre Brustwarzen aus der Spitzenwäsche herausrutschten. Sie griff nach seiner Hand und führte sie zu einer dieser runden, prallen Brüste. Unter seiner Berührung wurden ihre Nippel hart. Er begann, sie zu streicheln. „Gut so. Lass dich von deiner Begierde leiten. Sie war zu lange aufgestaut. Das weiß ich.“
Da lag sie nicht falsch.
Er war nicht länger fähig, ihr zu widerstehen, und ließ sich vor ihr auf dem weichen Teppich auf die Knie nieder. Er beugte sich zwischen ihre gespreizten Beine und strich über ihre alabasterfarbenen Schenkel. Und atmete ihren Duft ein, moschusartig und geheimnisvoll. Verlockend. Er begann, die Innenseite ihrer Schenkel zu küssen, und hörte sie stöhnen. Während er ihre Haut erforschte, fuhr sie mit den Fingerspitzen sanft über die Bartstoppeln in seinem Gesicht.
Dann spürte er ihre Hände auf seinem muskulösen Rücken. „Il mio angelo“, flüsterte sie. Ihre Finger glitten über sein Engels-Tattoo, zeichneten die dunklen grauen Linien nach, das Muster der Flügel, unterdessen verwöhnte er sie durch ihren Seidenslip. Sie wand sich und streichelte ihn gleichzeitig. Sanft und dennoch fordernd drückte er ihre Schenkel weiter auseinander.
Dann leckte er sie aufreizend, und sie ließ es zu. Sie war so weich.
Die Dämonin hatte etwas so Zärtliches und Zartes, wie er es noch bei keiner anderen Frau erlebt hatte.
Plötzlich verkrampfte sie sich.
„Entspann dich. Hör auf zu denken. Fühl einfach.“
Doch Luciana setzte sich auf. „Du hattest recht. Wir dürfen das nicht tun. Wir sollten aufhören.“
Das ist nicht Teil meiner Fantasie, beschwerte sich sein Gehirn.
Er hob den Kopf und bemerkte ihren verwirrten Blick. „Was ist denn auf einmal, principessa?“
Aber er erhielt keine Antwort. Luciana stand auf und betrachtete ihn, der immer noch vor ihr kniete. Ihre grünen Augen brannten. „Du musst gehen.“
Hau ab! befahl ihm sein Verstand. Oder sie wird dich töten. Verwundert erhob er sich und wandte sich zum Gehen. Langsam öffnete er die Tür und trat hinaus.
Instinktiv erwartete er, zum dreitausendsten Mal die Szene seines Albtraums zu betreten. Der altbekannte Geruch von Urin und Abfall, die Gasse. Der furchtbare Schmerz, als die Schüsse seinen Rücken, seinen Hals trafen.
Aber nichts davon geschah.
Stattdessen kehrte er mit einem Schlag in die Realität zurück, in die Dunkelheit des Palastes. Sein Herz klopfte so heftig, dass es in seiner Brust zu explodieren drohte. Hier auf diesem harten Fußboden, in diesem Raum mit seinem speziellen Geruch, er selbst schweißgebadet – alles das war intensiver und realer als die Gefühle, die er gerade in seiner Traumwelt erlebt hatte.
Und er war in seinem Traum nicht gestorben.
Nur um sich zu vergewissern, griff er in seine Hosentasche. Keine Uhr.
Nicht Detroit. Nicht Chicago.
Venedig.
Kein Bordell, sondern der schmutzige Fußboden eines verlassenen Palazzo.
In der Dunkelheit lauschte er dem Quietschen und Knarren des alten Gebäudes, einem leisen Klopfen, das aus einem der hinteren Räume zu ihm drang. Tropfendes Wasser. Jeder einzelne Tropfen brachte ihn weiter in die Wirklichkeit zurück. Er lag da und fragte sich, ob das alte Gebäude der Last der Jahrhunderte noch lange standhalten konnte. Vielleicht würde es ganz plötzlich über ihm zusammenstürzen und ihn unter seinem Schutt und seiner ungeschriebenen Geschichte begraben.
Er verharrte und wartete darauf, dass sich in dieser unglaublichen Mission, die man ihm je aufgetragen hatte, irgendeine Veränderung ergab.
War er wach, oder schlief er? Er wusste es nicht.
Realität und Traumwelt waren nicht mehr auseinanderzuhalten. Beide waren unergründlich.
Auf der anderen Seite des Kanals lag die Dämonin auf seidigen Laken in ihrem Bett.
Sie betrachtete das sich stetig verändernde Lichtmuster an der Zimmerdecke und konnte es nicht fassen, dass der Engel sie beinahe dazu gebracht hatte, sich gehen zu lassen.
Dabei bin ich doch diejenige, die ihn verführen will, dachte sie. Ich bin diejenige, die alles unter Kontrolle hat.
Und trotzdem hatte er in seinem Traum plötzlich die Füh-rung übernommen und es geschafft, dass sie sich für einen Mo-ment völlig vergaß.
Sie erhob sich und lief rastlos durchs Zimmer. Ging ans Fenster und schaute hinaus. Auf die andere Seite, wo er war.
Nie zuvor war ihr so etwas passiert. Noch nie hatte sie die Selbstbeherrschung verloren.
Und noch dazu war alles so real gewesen.
Dieser Traum war überhaupt nicht gut. Es gab Dinge, an die sie sich lieber nicht erinnern wollte, Dinge, die sie schon vor vielen Jahrhunderten in ihrem Gedächtnis in der Hoffnung begraben hatte, dass sie nie wieder auftauchen würden.
Luciana. La lucciola.
An diese Sachen hatte sie sehr lange nicht mehr gedacht.
Und dann war da seine Schönheit gewesen, seine Nähe. Sie legte sich einen Finger auf die Lippen und stellte sich vor, seinen Mund, seinen Atem wieder zu spüren.
Nachdem sie sich wieder ins Bett gelegt hatte, weinte sie bittere Tränen, die feuchte Flecken auf ihrer Seidenbettwäsche hinterließen. Flecken, die ihr verhießen, dass sie sich in der wirklichen Welt befand.
Er war immer noch hier, in Venedig, nur einen Steinwurf entfernt, auf der anderen Seite des Kanals.
Aber genauso gut könnte er in einem anderen Jahrhundert oder in einem anderen Universum leben. Denn Lucianas Welt war, auch wenn sie auf der Erde umherstreifte, immer zu einem gewissen Teil in der Hölle versunken. Sie schloss die Augen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hoffentlich gelang es ihr, im Schlaf Erholung zu finden von der schmerzlichen Realität ihrer Existenz.
In den vergangenen Wochen hatte Corbin Ranulfson die schlimmsten Demütigungen erlitten.
Auf der Erde hatte er sein brandneues Hotel an diesen Verräter, den vom Dämonen zum Engel konvertierten Julian Ascher, verloren.
Und in der Hölle hatte man ihn degradiert und ihm die Fähigkeit zur Entmaterialisierung genommen.
Allerdings war er fest entschlossen, der Dämonenwelt zu beweisen, dass mit ihm immer noch zu rechnen war.
Mit einer beeindruckenden Jacht war er nach Italien gereist, die nun in der Lagune von Venedig ankerte. Er setzte sich da-mit über ein von Menschen gemachtes Verbot hinweg, welches das Ankern in diesem Bereich untersagte. Von hier aus hatte er das Kommen und Gehen in der Lagunenstadt einfach am bes-ten im Blick.
Er befahl Carlotta zu sich. Beim Betreten seiner Privatkabine knickste die Kurtisane höflich. Luciana sollte mal Unterricht bei ihr nehmen, dachte er angenehm überrascht.
„Was kann ich für Euch tun, Eure Lordschaft?“
Corbin packte sie vorn an ihrem elegant geschnittenen Anzug. „Sehr hübsch. Aber die Formalitäten können wir uns sparen. Wieso kooperiert eine gewöhnliche Hure wie du mit der Kompanie der Engel? Wieso meintest du, dem Engel Lucianas Aufenthaltsort verraten zu müssen?“
„Ich wollte ihn loswerden. Mein Geschäft muss laufen. Ich habe eine Verantwortung für meine Mädchen.“ „Und da hast du angenommen, das wäre eine schlaue Idee?“ Er umfasste ihren Hals.
„Ja, Corbin. Dieser Meinung war ich.“
„Du hast etwas an dir, das mich an Luciana erinnert.“
„Die Männer denken immer, alle italienischen Frauen wären gleich. Wir gelten entweder als Sexsymbol oder werden überhaupt nicht wahrgenommen. In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich daran nicht viel geändert.“
Seine Umklammerung verstärkte sich, und Corbin presste sie gegen die Wand. „Du bist ein schwacher Abklatsch von Luciana, doch zur Not tust du’s auch. Kurtisane. Cortigiana. Puttana. Wie sagt man so schön? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.“
Sie verzog den Mund, wagte jedoch nicht, ihm etwas zu entgegnen.
„In Wahrheit steckt in jeder Frau eine Hure.“ Corbin sagte das nicht nur aus Überzeugung, er wollte auch ihre Reaktion sehen.
Doch Carlotta war ein Profi und setzte nur ein einfältiges Lächeln auf.
Unverwandt griff er in ihren Ausschnitt, sodass die Knöpfe ihrer Bluse aufsprangen. Packte ihre drallen Brüste und drückte Carlotta auf den Schreibtisch.
Rasch öffnete er seine Hose, riss auch ihre herunter und drang in sie ein. Stieß erbarmungslos zu, bis er kam. Dabei waren seine Gedanken die ganze Zeit bei Luciana und daran, wie wütend sie ihn gemacht hatte.
Als er fertig war, machte sich Carlotta von ihm los und richtete ihre Kleidung. Auch bei ihr hatte er gespürt, was er bei den meisten Frauen bemerkte, die er vögelte: eine Art Leere und kaum verhohlene Angst. Carlotta wusste genau, wozu er in der Lage war.
„Wie lange hat Luciana für dich gearbeitet?“, wollte er jetzt wissen, während er seinen Reißverschluss hochzog. „Solange es nötig war. Sie musste ihre Schulden bei Satan begleichen. Nachdem dies geschehen war, hat sie uns sofort verlassen. Es ist über zweihundert Jahre her, dass sie in meinen Diensten stand, und genauso lange habe ich sie nicht mehr gesehen.“
„Ist das wahr? Ich glaube dir kein Wort. Du bist eine doppelzüngige Lügnerin, eine miese Schlampe, genau wie sie.“
„Das nehme ich als Kompliment“, erwiderte Carlotta voller Geringschätzung.
Es war ärgerlich, wie diese Prostituierte sich benahm. Er würde sie später bestrafen.
Früher hätte kein Dämon gewagt, ihm zu widersprechen. Doch seit seiner letzten Begegnung mit der Kompanie der Engel war seine Position erheblich geschwächt, und das spürten auch die ihm untergeordneten Dämonen. Früher hätte sich Corbin einer solchen Situation relativ einfach entzogen. Die Entmaterialisierung hatte es ihm ermöglicht, sich durch die verschiedenen Dimensionen zu bewegen, so wie ein Mensch durch eine Tür spazierte.
Mit der Entmaterialisierung war ihm auch sein Rang in der Riege der Erzdämonen genommen worden. Viele Hundert Jahre hatte er daran gearbeitet, auf dieser obersten Stufe anzukommen – und jetzt war es auf einen Schlag damit vorbei.
Dieser Umstand machte ihn unsäglich wütend.
Fast wäre er nicht mehr aus der Hölle herausgekommen. Nur durch einen Deal mit dem Fürst der Finsternis hatte er sich freikaufen können: Er hatte ihm versprochen, Luciana zu finden und sie zurückzubringen. Und diese Aufgabe würde er nur allzu gern erledigen.
Oh ja, ich werde Luciana zurück in die Hölle befördern und dafür von Satan reich belohnt werden. Dann werde ich wieder als mächtigster aller Dämonen auf der Erde unter den Menschen weilen.
Er würde sich zurück an die Spitze hangeln.
Ganz egal, wen er zerstören musste, um dorthin zu gelangen.