Wenn die Menschen wüssten, wie viele unsichtbare Elemente in der Welt am Werk sind, würden die meisten von ihnen vermutlich den Verstand verlierean.
Brandon schoss mit seinem selbst umgebauten Dodge Challenger durch die leeren Straßen der Innenstadt von Chicago. Die Musik tönte so laut aus der Beschallungsanlage, dass jeder Gitarrenriff ihm in die Knochen fuhr. Normalerweise erreichte er sein Ziel nach fünfzehn Minuten. Heute schaffte er es in zehn.
Um den Büroturm aus verspiegeltem Glas zu betreten, musste er seinen Zugangscode in das elektronische Sicherheitssystem eintippen, dann fuhr er mit dem Fahrstuhl in den siebenundvierzigsten Stock. Die stilvoll ausgestatteten Räumlichkeiten glichen denen einer Rechtsanwaltskanzlei oder einer Consulting-Firma.
Doch es war das Hauptquartier der Kompanie der Engel in Chicago.
Jetzt schloss Brandon die massive Glastür auf, öffnete sie und schaltete das Licht ein. Nacheinander trafen auch die anderen Schutzengel ein und nahmen an dem runden Konferenztisch Platz. Alle dreißig Engel waren anwesend. Brandon schaltete den Plasmabildschirm für die Videokonferenz mit Michael und Arielle ein, die mit ihren dreißig Engeln in Los Angeles saßen.
„Liebe Schutzengel, es ist zu einer sehr ernsthaften Entwicklung gekommen“, leitete Michael das Meeting ein.
In diesem Moment erschien das Bild des Erzengels auf ei-nem Drittel des Bildschirms. Seine leuchtenden Flügel standen nach hinten ab, glänzend und wunderschön. Doch sein Gesicht zerfurchten Sorgenfalten. Bei seinen Worten verstummten die versammelten Engel. Sie richteten ihre Augen auf ihn bezie-hungsweise den Monitor. Michael sprach weiter.
„Luciana Rossetti ist entkommen.“
Der Name sagte Brandon nichts. Ein weiteres Drittel des Monitors zeigte das Hauptquartier in Los Angeles, und auf dem Bildschirm sah er, dass Arielle kurz zuckte. Eine Spur von Ärger huschte über ihre für gewöhnlich vollkommen neutrale Miene. In der heruntergekommenen Rechtsberatungsstelle, die den Engeln in Los Angeles als Hauptquartier diente, saß sie stocksteif am Kopfende eines Konferenztisches. Ihr blondes Haar war wie immer perfekt frisiert.
Doch ganz klar – sie war zusammengezuckt, und Brandon war das nicht entgangen.
„Luciana ist keine Erzdämonin“, erklärte Michael leise. „Wie ihr alle wisst, steht diese Art von Dämonen nicht ganz oben auf unserer Prioritätenliste, da sie in der Hierarchie der Dämonen nicht an der Spitze rangieren. Doch Luciana Rossetti ist im Besitz eines äußerst gefährlichen Gifts. Eines Gifts, das jeden Einzelnen von uns ernstlich bedrohen könnte.“
Es folgte eine lange Pause. Die Engel schienen unter Schock zu stehen. Doch dann begannen plötzlich alle Engel auf einmal zu murmeln.
Arielle erhob das Wort. Sie lächelte, wie immer, ganz ruhig. „Bei allem gehörigen Respekt: Ich weiß nicht, wieso die Einheit in Chicago über diese Mission in Kenntnis gesetzt werden muss.“
Hinter ihr nickten dreißig Engel zustimmend und verstummten.
„In jeder Stadt der Welt gibt es eine Einheit von Schutzengeln, die zum Schutz dieser Stadt abgestellt ist. Das wissen wir alle. Doch Brandon verfolgt einen anderen Ansatz. Wir haben ihn kontaktiert, weil wir Erzengel denken, dass diese Mission von seinem speziellen Ansatz profitieren könnte“, erläuterte Michael.
Kein Händchenhalten. Kein Babysitten. Auch kein New-Age-Unsinn.
Das genaue Gegenteil von Arielle und ihrer Truppe.
„Die L. A.-Einheit ist durchaus in der Lage, diese Mission erfolgreich durchzuführen. Luciana Rossetti gelang es, vor meinen Augen zu fliehen.“ Arielle sprach in ihrem typischen, nervtötenden neutralen Tonfall, den Brandon in den drei Jahren seiner Ausbildung hatte ertragen müssen. „Unsere Einheit hat alles im Griff.“
„Wie lautet der Plan?“, erkundigte sich Brandon knapp. „Willst du eine Yoga-Stunde geben und hoffst, dass die Zielperson zufällig vorbeischaut? Oder holst du deine akustische Gitarre raus, singst ‚Kumbaya‘ und lässt einen Joint kreisen?“
Die Engel der Chicagoer Einheit kicherten.
„Schluss damit“, schaltete Michael sich ein. „Ich habe dich nicht an Bord geholt, damit ihr streitet.“
„Weiß Brandon überhaupt, wer Luciana Rossetti ist?“, fragte Arielle. „Er hat doch überhaupt keine Ahnung, von wem hier die Rede ist.“
„Deshalb werden wir ihn jetzt informieren.“
Auf der Videoleinwand erschien ein Farbfoto der Dämonin, recht unscharf und aus der Ferne aufgenommen. Wer auch immer das Bild gemacht hatte, er hatte die Zielperson in einem ungünstigen Augenblick erwischt. Oder sie hatte nur ungünstige Augenblicke.
Trotzdem war nicht zu übersehen, dass es sich um eine schöne Frau handelte. Auf dem Bild drehte sie gerade um, Strähnen ihres schwarzen Haars flatterten ihr ins Gesicht. Sie hatte volle Lippen und hohe Wangenknochen und könnte durchaus das Titelbild der Vogue zieren. Doch was Brandon wirklich für einen Moment sprachlos machte, waren ihre funkelnden grünen Augen, so lebendig und überbordend.
Er bekam eine Gänsehaut.
In beiden Konferenzzimmern wurde es still, während die Engel das Bild betrachteten. Hinter Brandon pfiff einer seiner männlichen Engel bewundernd.
„Das reicht.“ Brandon unterband das unangemessene Verhalten mit einer kurzen Handbewegung.
Michael schaltete wieder auf die Videokonferenz um.
„Luciana Rossetti“, erklärte er, „ist keine gewöhnliche Dämonin. Sie ist außergewöhnlich unabhängig und besonders intelligent. Doch sie ist mehr als das. Sie ist eine exzellente Giftmischerin und eine Mata Hari der Dämonenwelt. Vor ein paar Tagen konnte sie der Kompanie entkommen. Sie steht vor allem deshalb auf Platz eins der meistgesuchten Personen der Kompanie, weil sie ein Gift kreiert hat, mit dem sie einen anderen Dämon getötet hat.“
Wenn dieses Gift einen Dämonen töten kann …
… kann es einen Engel töten.
Alle Engel in Los Angeles und Chicago waren schlagartig still.
„Wir müssen Luciana finden und festsetzen, bevor sie das Gift ein weiteres Mal verwenden kann – bei einem von uns. Oder, was noch schlimmer wäre: Bevor sie weitere Portionen davon zusammenstellt und unter den Dämonen verteilt. Sie besitzt mit diesem Gift die Fähigkeit, eine Waffe von bisher ungekannter Wirkung einzusetzen, und dadurch sind die Dämonen uns vollkommen überlegen. Sollten sie uns angreifen, könnten wir uns von diesem Angriff eventuell nie mehr erholen.“
Keine Reaktion von beiden Seiten. Es herrschte absolute Ruhe – als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen, und die Welt wäre zum Stillstand gekommen. Jeder einzelne Engel dachte in diesem Moment dasselbe, da war Brandon sich sicher.
Sollte dieses Gift in die falschen Hände geraten, konnte dies das Ende der Engel bedeuten.
„Außerdem haben wir von konkreten Racheplänen des Erzdämons Corbin Ranulfson erfahren“, berichtete Michael weiter. „Viele von euch wissen vielleicht nicht, dass Corbin vor einiger Zeit von der Kompanie besiegt wurde und das Vorzeigehotel seines Imperiums verlor. Wenn Corbin zum Gegenschlag ausholt, geht es ihm nur um eins: totale Zerstörung. Er ist einer der mächtigsten Dämonen der Vereinigten Staaten. Wir glauben, dass er beim letzten Angriff zwar deutlich geschwächt wurde, aber nun versucht, etwas von seiner verlorenen Macht wiederzuerlangen. Noch vor drei Tagen wurde Corbin in der Hölle gesehen, aber mittlerweile geht das Gerücht um, er wäre an die Oberfläche zurückgekehrt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Corbin versuchen, Luciana aufzuspüren. Wegen des Gifts.“
„Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden?“, erkundigte sich Brandon.
„Sie ist seine Geliebte. Luciana ist unsere einzige Verbindung zu Corbin. Wir glauben, dass sie in ihre Heimatstadt Venedig zurückgekehrt ist. Wir müssen sie wieder nach Amerika bringen.“
„Und herausfinden, was sie mit dem Gift gemacht hat“, ergänzte Arielle. „Und wir müssen sämtliche Informationen aus ihr herauspressen, die sich in ihrem bösen Hirn befinden. Ich denke, sie wäre ein Fall für die Rückführung.“
Rückführung.
Auch dieses Wort ließ die Engel in den Konferenzräumen erstarren.
„Mit Rückführung bezeichnen wir in der Kompanie den Vorgang, ein fehlgeleitetes Individuum zu Gott zurückzuführen“, hatte Arielle Brandon erklärt, als er ein frischgebackener Engel war und seine Ausbildung bei ihr absolvierte. „Denn die Seele stirbt nie, und Energie wird weder geschaffen noch zerstört. Doch eine Rückführung bedeutet, dass eine Person nicht länger eine bestimmte Identität hat.“
Das hieß, Luciana Rossetti würde aufhören zu existieren.
Grundsätzlich war Brandon gegen die Rückführung. So wie Arielle normalerweise auch. Zu gerne wüsste er, warum sie in diesem Fall darüber nachdachte. Doch es war jetzt keine Zeit, sie danach zu fragen. Jetzt musste er die Dämonin fassen und zurück in die Vereinigten Staaten bringen.
„Michael, bitte schick mir ihre Akte per Secure-Mail zu. Ich werde mich selbst nach Venedig begeben. Auf dem Flug habe ich genug Zeit, mich zu briefen.“
„Wieso du?“, fragte Arielle bissig. „Weil ich die Sache erledigen kann.“
Keiner der versammelten sechzig Engel widersprach ihm. Er wollte nicht überheblich wirken, aber jetzt lief ihnen die Zeit davon, und in der Vergangenheit hatte er immer wieder festgestellt, dass es sich auszahlte, offen und ehrlich mit Arielle umzugehen.
Michael nickte.
Ihre Frustration konnte Arielle nicht verbergen. „Gut, dann mach du es auf deine Art. Du wirst natürlich mit meinem Team zusammenarbeiten. Wir haben Luciana zuletzt gesehen und …“
„Ich arbeite allein“, unterbrach Brandon sie.
Das wusste jeder Engel aus der Chicagoer Einheit.
„Als Supervisor sehe ich mich als Gruppenführer und Teamplayer“, erklärte er. „Ich sorge in meiner Einheit für ein Umfeld, das auf Vertrauen aufbaut. Mein System funktioniert so gut, dass meine Einheit vollkommen selbstständig funktioniert. Es kommt selten zu Unstimmigkeiten. Wir behandeln uns alle als ebenbürtige Partner, gleichwohl stehe ich jüngeren Engeln als Ratgeber zur Verfügung, wenn sie Hilfe brauchen. Mein Führungsstil ist nicht autoritär und detailorientiert.“ Er hielt inne, räusperte sich. „Aber draußen beim Einsatz sieht das anders aus.“
Wenn Brandon Clarkson auf einer Mission war, arbeitete er grundsätzlich allein.
Er war allein undercover unterwegs, nahm nie jemanden mit. Nach dem traumatischen Erlebnis seines menschlichen Todes wollte er keinen anderen Engel dem Risiko aussetzen, dem er sich selbst aussetzte. Denn er wollte nicht zulassen, dass ein anderer ein ähnliches Leid erfahren musste, wie er es damals erlitten hatte.
„Ich mache das allein“, wiederholte er.
Arielle blinzelte entschlossen und presste die Lippen so fest aufeinander, dass ihr Mund fast verschwand. Doch sie gab noch nicht auf. „Diese Angelegenheit ist überaus wichtig. Du brauchst ein Sicherungsteam. Oder nicht, Michael?“
Brandon verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie auf der Leinwand so intensiv an, als wären sie im selben Zimmer. „Arielle, wenn ich schon deine Fehler ausbügeln soll, überlass doch einfach mir, wie ich es mache.“
„Es gibt gewisse Regeln im Kampf Engel gegen Dämonen. Regeln, die man nicht …“
„… brechen darf?“, beendete Brandon den Satz für sie. „Wen interessiert’s? Regeln sind dazu gemacht, um gebrochen zu werden.“
„Aufhören!“, schaltete Michael sich ein. „Die Kompanie darf nicht geschwächt dastehen. Es ergibt wenig Sinn, wenn wir untereinander uneins sind.“
„Dann melde dich wenigstens bei Infusino, unserem Kontakt von der venezianischen Einheit. Er kann helfen.“ Arielle ließ einfach nicht locker.
„Ich brauche keine Hilfe. Wie gesagt: Ich werde die Sache alleine erledigen.“
In Arielles Augen loderte wilde Entschlossenheit, und er wusste, dass sie gleich stichhaltige Gründe anführen würde, um dagegenzuhalten. Er kannte Arielles langwierige Argumentationen von früher. Heute Nacht würde er sich das sicher nicht anhören.
Also brach er einfach die Verbindung mit der Videokonferenz ab, noch bevor sie anfangen konnte.
Der Bildschirm war jetzt schwarz. In den Lautsprecher rief er: „Tut mir leid, Arielle. Technische Probleme. Michael, ich melde mich, sobald ich wieder auf amerikanischem Boden bin.“
„Warte“, ertönte da eine Stimme, die Brandon unbekannt vorkam. „Ich bin Julian Ascher, das neueste Mitglied in der Einheit von L. A.“
In Chicago sahen sich die Schutzengel verwundert an. Julian Ascher, der ehemalige Erzdämon, war vor Kurzem nach beinahe zweihundertfünfzig Jahren als Dämon zur Kompanie der Engel konvertiert. Dazu gebracht hatte ihn eine von Arielles Schützlingen, ein frischgebackener weiblicher Engel, dessen Unschuld und Naivität in der Kompanie einzigartig waren. Nicht jeder war mit Arielles Entscheidungen im Fall Julian Ascher einverstanden gewesen, und ihre Vorgehensweise war innerhalb der Kompanie mehrfach diskutiert worden.
Sei nicht voreingenommen, ermahnte Brandon sich selbst. Es ist nicht deine Aufgabe, über diesen Mann zu richten. „Hör mir einen Moment zu“, bat Julian. „Ich bin alles andere als stolz darauf, aber ich war früher der Liebhaber von Luciana Rossetti. Ich kann dir gezielte Informationen über sie geben, die dir helfen können, sie aufzuspüren.“
„Dann schieß los.“
„Luciana hat einen Pakt mit dem Satan geschlossen, der besagt, dass sie nicht in die Hölle zurückkehren muss. Als Gegenleistung muss sie dem Fürst der Finsternis jedes Jahr ein Menschenopfer bringen. Morgen Abend um neunzehn Uhr wird sie in Venedig in der Kirche Il Redentore, der Erlöserkirche, sein, um sich dort ihr Opfer zu suchen. Dort wirst du sie finden. Aber sei vorsichtig. Luciana ist ausgesprochen gut darin, Männer zu benutzen, um zu bekommen, was sie will. Sie macht vor nichts halt.“
„Alles klar. Danke für den Hinweis.“
„Bring Luciana so schnell wie möglich zurück in die Staaten“, forderte Michael ihn auf. „Und scheu dich nicht, um Verstärkung zu bitten, falls nötig.“
„Viel Erfolg.“ Arielles Stimme klang genauso kühl wie damals, bei ihrer letzten Unterhaltung.
Brandon erinnerte sich sehr gut daran, wie kalt Arielle sein konnte. Doch im Moment hatte er weder Zeit noch Lust, sich über ihre Launen Gedanken zu machen.
Im Moment habe ich einen Auftrag zu erledigen.
Für Luciana war die Casa Rossetti wie ein Schatzkästlein.
Im piano nobile, dem meistgenutzten Stockwerk der Casa Rossetti mit seinen hohen Räumen, versammelte sich eiligst ihre Dienerschaft aus Türhütern, um die Dämonin willkommen zu heißen. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe klapperten auf dem Marmorboden, während sie einen Rundgang durch ihren Palazzo machte. Alle Oberflächen strahlten, die kostbaren Mosaikböden genauso wie die Kronleuchter aus Muranoglas. Die Wände waren mit seidigen Damastläufern und aufwendigen Wandmalereien verziert. Jeder Quadratzentimeter Fußboden, jeder vergoldete Tisch, jeder lackierte Kabinettschrank und jede Glaskristallvase, jeder einzelne Schnörkel war poliert und glänzte.
„Ihr habt eure Aufgabe gut gemacht in meiner Abwesenheit“, lobte Luciana die Dienerschaft, während sie den Blick über die üppige Einrichtung schweifen ließ.
Die Türhüter stellten sich in einer ordentlichen Reihe auf. Sie waren alle gleich gekleidet, in ihrer Arbeitsuniform: Jeans und enge schwarze T-Shirts. Die Männer waren groß, dunkelhaarig und hübsch anzusehen. Luciana nickte.
„Giancarlo, Antonio, Federico, Cesare, Salvatore, Massimo“, begrüßte sie jeden Einzelnen, als sie die Reihe abschritt. „Ich danke euch. Und jetzt zurück an die Arbeit – das gilt für euch wie für mich. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, denn ich muss mich auf die Jagd heute Nacht vorbereiten.“
Sie wandte sich zur Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte.
In diesem Moment ertönte aus dem hinteren Teil des Palazzo der gellende Schrei einer Frau und erschütterte die wohlige Stille, die im Haus geherrscht hatte. Der Schrei klang gequält, wie von einem Tier, das Schmerzen hat. Luciana blieb stehen. Als sie nach unten blickte, entdeckte sie auf dem Marmorboden hinter einem der Türhüter blutige Fußspuren. Sie führten zu einem grauen Kobold, etwa so groß wie ein kleiner Hund, der sich an die Wand kauerte. Er kicherte vor sich hin und hielt einen Frauenschuh in der Hand. Aus dem Schuh rann Blut und hinterließ eine feine dünne Spur auf dem glänzend sauberen Fußboden.
Keiner der Diener rührte sich.
Keiner wagte es auch nur zu blinzeln.
Sie verbargen etwas vor ihr. Oder besser gesagt: jemanden. Luciana behielt ihr Lächeln bei.
„Was auch immer – oder besser: Wen auch immer – ihr da habt“, sagte sie und deutete vage mit der Hand in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, „sorgt dafür, dass hier alles sauber ist. Und jetzt entschuldigt mich, ich habe zu tun. Komm, Massimo. Ich brauche dich, um mein Arbeitszimmer zu öffnen.“
Er folgte ihr pflichtbewusst, während sie die Treppe hinaufging. Der dicke rote Teppich auf dem weißen Marmor dämpfte ihre Schritte.
„Haben Sie die Angelegenheit mit Julian Ascher zu Ende bringen können, während Sie in Amerika waren, baronessa?“
Für einen kurzen Moment schloss Luciana die Augen. Mit den Fingerspitzen strich sie über das verzierte steinerne Trep-pengeländer. Die Treppe schien unter ihr zu schwanken, und die Welt schien umzukippen. Die Dämonin verkrampfte sich, ihr Kiefer wurde fest, und ihr war plötzlich so übel, dass sie sich hätte übergeben können.
„Nenn diesen Namen in meiner Anwesenheit nie wieder“, zischte sie ihrem Diener zu, unfähig, ihre Wut zu verbergen. „Selbstverständlich, baronessa. Es tut mir leid, ich …“
Sie riss sich so sehr zusammen, dass es wehtat, und presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie befürchtete, sie könnten abbrechen. Dann drehte sie sich zu Massimo um. „Wenn du es unbedingt wissen willst: Julian ist zu den Engeln übergelaufen.“
„Das heißt, er ist gestorben?“
„Nein. Er wurde“, sie machte eine kleine Pause, bevor sie verächtlich das Wort ausspuckte, „erlöst und ist der Kompanie der Engel beigetreten.“
Der Türhüter sagte nichts mehr. Er wusste, dass er besser keine weiteren Fragen mehr stellte.
Luciana wandte sich wieder um und schritt die Treppe hinauf. Sie versuchte, nicht an Julian zu denken. Was ihr nicht gelang.
„Möchten Sie sich vielleicht etwas hinlegen, baronessa? Vielleicht sollten Sie noch ein wenig schlafen.“
Doch sie hatte noch einiges zu erledigen, bevor der Abend kam. Sie berührte das kleine Fläschchen, das an einer Kette um ihren Hals hing.
„Das Böse schläft nie, Massimo.“
In ganz Venedig war man mit den Vorbereitungen für das Fest befasst.
Auch Luciana musste Vorkehrungen treffen. Für ihre Opfergabe. Für ihren persönlichen Gottesdienst.
Und dieser Gott war nicht der Erlöser.
Im dritten Stock der Casa Rossetti folgte Luciana einem langen Flur bis zu einem kleinen Zimmer am Ende des Ganges.
Obwohl dieses Zimmer so klein war, war es eines ihrer Lieb-lingszimmer.
Die Fenster eröffneten den Blick auf den Canal Grande, und ab dem späten Vormittag schien die Sonne herein. Unten auf dem Kanal glitten die Gondeln und Vaporetti entlang, die Transportschiffe und Fischerboote. Niemand ahnte, was im Inneren des Palazzo vor sich ging. Was seit Jahrhunderten dort vor sich ging.
Die hohe Kunst des Giftmischens.
„Du hast alles in dem Zustand belassen wie aufgetragen?“, erkundigte sich Luciana, während Massimo die Tür ihres Labors öffnete.
„Ja, baronessa.“
„Vielen Dank, Massimo. Du kannst dich jetzt zurückziehen.“ „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, baronessa, würde ich Ihnen gern zur Hand gehen.“
Anscheinend wollte er auf sie aufpassen, doch nach ihren Erlebnissen in Amerika musste sie jetzt allein sein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Um nachzudenken. „Alles in Ordnung. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche.“
Mit einer Handbewegung scheuchte sie ihn davon.
Er zögerte, verbeugte sich dann aber und ging.
Ja, die Türhüter hatten ihre Sache auch hier gut gemacht. Sie sah sich in dem ordentlich aufgeräumten, kleinen Raum um. Getrocknete Blüten und Pflanzen, Belladonna- und Narzissenzwiebeln hingen von der Decke. Ein Glaskolben und ein Gasbrenner, den sie zum Destillieren benutzte, standen auf einer Seite ihres Arbeitstisches. Auf der anderen befand sich eine sorgfältig geordnete und beschriftete Sammlung von Flaschen und Flakons. Auf den Etiketten waren Namen wie Skorpion, Tarantel, Schwarze Witwe zu lesen.
„Buongiorno, bambini“, rief sie und beugte sich über ein Terrarium, in dem sich zwei Grüne Mambas tummelten. Zwei Paar grüne Knopfaugen fixierten sie, zwei gespaltene Zungen schossen wie zum Gruß hervor.
Neben anderen Giften war auch das Gift der Mambas in der kleinen Phiole enthalten, die Luciana um den Hals trug. Es waren viele Monate mit Herumexperimentieren vergangen, bis sie die richtige Mischung gefunden hatte. Darin waren einige der seltensten Gifte enthalten – stark genug, um einen Dämon zu töten. Das erste Opfer war ein Dämon von niederem Rang gewesen, der als Page in Corbin Ranulfsons Hotel in Las Vegas gearbeitet hatte. Er war schnell gestorben.
Würde man den Inhalt der Phiole einem menschlichen Wesen verabreichen, könnte man von einem „Overkill“ sprechen. Jetzt nahm Luciana die Kette ab und steckte die Phiole in die leere Kappe eines goldenen Lippenstiftröhrchens, das sie in ihre Tasche gleiten ließ.
Dieses Gift musste für einen anderen Einsatz aufbewahrt werden.
Für einen Einsatz, der sie am Ende für alles belohnen würde. Für all ihre harte Arbeit und das erlittene Leid. Für die Erniedrigung und den Schmerz. Für all die Risiken, die sie auf sich genommen hatte. Für das schier endlose Warten.
Ihre alten und neuen Feinde würden im Tod schreiend ihren Namen rufen.
Ihr Name würde in ihrer Erinnerung widerhallen, wenn sie für immer in den Tiefen der Hölle brannten.
„Bald“, flüsterte sie den Schlangen zu, „aber nicht heute Nacht.“
Luciana rühmte sich damit, für jeden Anlass das passende Gift parat zu haben, natürlich selbst zusammengemischt. Mit Gift konnte man Ergebnisse erzielen, die mit keiner anderen Mordmethode denkbar waren. Gift war das Erbe von Italiens Herrschergeschlechtern, wie den Borgias oder den Medici, und die Giftmischerei war eine hohe Kunst. Zu wertvoll, um unbeachtet zu bleiben.
Ihr Blick glitt über die verschiedenen Flaschen und Phiolen.
Arsen. Das Lieblingsgift der Borgias. Zu langsam in der Wir- kung. Heute Nacht musste es schneller gehen.
Schierling. Das Gift, das Sokrates getötet hatte.
Strychnin. Eindeutig zu melodramatisch. Verursachte un- nötig viele Zuckungen und Krämpfe. Manchmal genoss sie das, aber heute Abend sollte es etwas Einfacheres sein.
Luciana hielt eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit ge-gen das Licht.
Perfetto. Das perfekte Gift für jede Gelegenheit. Sauber, effektiv und unglaublich schnell wirksam. Klassisch und zeitlos. Das Chanel unter den Giften.
Sie füllte eine kleine Menge Strychnin in eine zweite Phiole ab. Genau wie Parfum, dachte sie, als sie das kleine Glasgefäß an der Goldkette um ihren Hals befestigte. Ein kleines bisschen für eine große Wirkung.
Als die Boeing 747 abhob, als sich diese vielen Hundert Tonnen Metall samt Passagieren und Fracht in die Lüfte erhob, sah Brandon zu, wie die Lichter von Chicago unter ihm immer kleiner wurden und schließlich verschwanden.
Jeder Flug ist eine Sache des Vertrauens, dachte er.
Auch ein Vogel musste Vertrauen haben, wenn er fliegen wollte. Vertraute sich der Luft an und baute darauf, dass seine Flügel ihn tragen würden. Nicht anders verhielt es sich mit einem Flugzeug, das über die Startbahn donnerte, um schließlich abzuheben. Und auch jede Mission erforderte dieses blinde Vertrauen.
Vertrau darauf, dass die göttliche Kraft dich leiten und dich dorthin führen wird, wohin du gehen musst.
Diesem Prinzip gemäß hatte er sein Leben lang gearbeitet.
Und jetzt saß er auf seinem Platz in dem großen Flugzeug, das unter ihm erzitterte, und Angst stieg in ihm auf. Angst davor, einzuschlafen. Er mochte es nicht, vor anderen Leuten zu schlafen, wenn ihn sein unvermeidlicher Albtraum ungeschützt vor neugierigen Blicken heimsuchen würde.
Als die Maschine die Reiseflughöhe erreicht hatte, studierte er Lucianas Akte auf seinem Laptop und ging die verschiedenen Dokumente durch, die mit ihrem Fall zu tun hatten.
Er betrachtete die unscharfen Fotos und ertappte sich plötzlich dabei, wie fasziniert er von ihrer weißen Haut und ihren grünen Augen war. Ihr schönes Gesicht fesselte ihn, trotz der missmutigen Miene, die sie offensichtlich immer zu haben schien.
„Schönheit kann trügerisch sein.“ Das war eine der ersten Lektionen, die Brandon als Engel von Arielle gelernt hatte. Obwohl sie sich dauernd über ihn ärgerte und er ihren Führungsstil nicht guthieß, wusste Arielle sehr genau, was sie tat. „Setz Schönheit niemals mit dem Guten gleich, auch wenn sie dir engelhaft vorkommt. Auch Dämonen können sich der Schönheit bedienen. Sie imitieren das Göttliche gern. Auch Dämonen fühlen sich von Schönheit angezogen. Und sie lieben es, sie zu zerstören.“ Das waren ihre Worte gewesen.
Luciana Rossetti war eine außergewöhnliche Schönheit. Und offensichtlich gefiel es ihr, außerordentliche Schönheit zu zerstören.
Wie er ihrer Akte entnahm, war ihr menschliches Leben bemerkenswert traurig gewesen, gekennzeichnet von Betrug und familiären Tragödien. Doch trotz ihrer tragischen Geschichte konnte er nichts als Abscheu für diese Frau empfinden. Gut, sie hatte es nicht leicht gehabt. Doch die Entscheidungen, die sie getroffen hatte, waren alle schlecht gewesen. Er las ihre Biografie, und je mehr er über sie erfuhr, desto mehr widerten ihn die Details ihrer grausigen Taten an. Vor allem ihre Opfergaben glichen Gräueltaten. Schließlich überflog er einen Artikel in ihrer Akte, der sich mit der Geschichte des Erlöserfestes befasste.
Zwischen 1575 und 1577 kam es in Venedig zu einem verheerenden Ausbruch der Pest, und über ein Drittel der Bevölkerung kam dabei um. Die Chiesa del Santissimo Redentore, die Kirche des Heiligsten Erlösers, wurde von den Bewohnern als Dank für die Befreiung von der tödlichen Krankheit gestiftet.
Am dritten Wochenende im Juli begehen die Venezianer seitdem das Erlöserfest und feiern das Ende der verheerenden Pestepidemie. Für kurze Zeit wird dann die Insel Giudecca, auf der sich die Kirche befindet, durch eine Floßbrücke mit Venedig verbunden.
Und jedes Jahr, so hatte Julian Ascher es ihm gesagt, suchte sich Luciana ihr Opfer während dieses Festes aus.
Julian hatte von einem Pakt mit dem Satan berichtet und dass Luciana ihm deshalb jährlich eine Opfergabe brachte.
War das der Grund für ihr erbärmliches Morden?
Brandon suchte vergeblich in der Akte nach einer Antwort.
Auch er selbst hatte in seinem Leben schwierige Entschei- dungen treffen müssen. Doch es war ihm immer wichtig gewe-sen, zugunsten der Menschen zu entscheiden. Er hatte sich stets vom Altruismus leiten lassen. War auf Vergebung bedacht. Al-les andere lag außerhalb seines Verständnisbereichs. „Im Grunde genommen sind die Dämonen genau wie wir“, hatte Arielle während seiner Ausbildung behauptet. „Sie sind leidenschaftliche Wesen, die einen großen Fehler gemacht haben – denn sie erkennen nicht, dass sie in Wirklichkeit göttlicher Natur sind. Unsere Aufgabe ist es, ihnen das beizubringen. Und sie zurück ins Licht zu führen.“
Doch nicht alle von ihnen wollten ein Leben im Licht. Nicht alle von ihnen waren bereit dazu. Wenn er sich die Bilder von Luciana ansah, war Brandon sich ziemlich sicher, dass die Dämonin sehr zufrieden war mit dem, was sie war und wie sie lebte. Sie akzeptierte das Leben in der Finsternis und genoss alle Vorzüge und Privilegien, die sie sich erarbeitet hatte.
Für einen kurzen Moment fielen ihm die Augen zu.
Und sofort war er mittendrin in seinem altbekannten Albtraum.
Der altbekannte Vollmond erhellte den Himmel. Die altbekannte kühle Abendbrise.
Der altbekannte Geruch nach Urin und verrottendem Müll, die altbekannte dunkle Gasse.
Und doch, als er um die Ecke bog und die Gasse betreten wollte, war das nicht der Ort, an dem er gestorben war. Nein, er betrat einen leeren Platz, auf dem sich rein gar nichts befand, nur eine leere Theaterbühne in einer minimalistischen Aufführung. Keine Requisiten, nur der schlichte schwarze Fußboden.
Auf diesem schwarzen Platz erschien wie aus dem Nichts plötzlich die Dämonin.
Ihre Gestalt formte sich aus einer Art Nebel und wurde zu einer konkreten Figur, die auf Brandon eine hypnotische Wirkung ausübte. Ein hochgewachsener, schlanker Körper materialisierte sich, mit üppigen weiblichen Kurven und einer Haut so weiß und perfekt, dass er am liebsten die Hand ausgestreckt und die makellose Kontur ihrer Wange berührt hätte.
Aus dem unscharfen Foto aus der Akte wurde ein Abbild aus Fleisch und Blut, so lebendig, dass er an dessen Realität nicht zweifelte. Sofort vergaß er, dass er sie eben noch widerwärtig gefunden hatte. Wenn er sie ansah, gab es nur noch eine Empfindung, die durch sein Gehirn und seinen Körper rauschte: Verlangen.
Gütiger Gott.
„Du bist nicht real.“ Brandon streckte die Hand nach ihr aus. Seine Finger, gewöhnt an Motorteile aus Metall und Gummi vom Werkeln am Wochenende, bekamen ihr seidiges Kleid zu fassen. Er wollte ihre porzellanartige Haut, ihr feines Gesicht streicheln. Doch er konnte sie nicht erreichen. „Du kannst nicht real sein.“
So exotisch. So schön. Und, wie auf den Fotos, so unglaublich unglücklich.
„Du hast keine Vorstellung, was du da gerade tust“, sagte sie mit sirenenhafter Stimme, honigsüß und mit einem mediterranen Sprachrhythmus. Ihre stark artikulierten Vokale faszinierten ihn, auch wenn die Botschaft klar war. „Wenn du weißt, was dir guttut, dann machst du auf der Stelle kehrt.“
Sie verschwand.
Brandon, der plötzlich wieder allein auf dem Platz stand, wusste weder, wo er war, noch, wohin er gehen sollte. Intuitiv war ihm klar, dass er, ginge er weiter, wieder die unvermeidliche Traumlandschaft seines Todes als Mensch betreten würde. Doch er hatte keine andere Wahl. Es gab keinen anderen Weg. Also schritt er voran und spürte, wie sein Körper sich an einen anderen Ort begab, den Ort mit den Backsteinmauern, an dem es nach der altbekannten Mischung aus Urin und Abfall stank. Er bog um die Ecke. In die altbekannte Gasse.
Die erste Kugel explodierte in seiner Wirbelsäule. Die zweite in seinem Hinterkopf.
Dann erwachte er, wie immer. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er war überwältigt von der Trauer über seinen eigenen Tod.
Doch etwas an diesem Traum beunruhigte ihn mehr als sonst.
Denn es war nicht derselbe Traum wie sonst gewesen.
Diesen leeren schwarzen Platz hatte er noch nie gesehen. Und auch noch nie war eine Frau in seinen Träumen aufge-taucht.
„Ein heißes Tuch für Sie, Sir?“ Die Stimme der Flugbegleiterin brachte ihn endgültig in die Realität zurück. Er nahm das Tuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er sich befand.
Nicht in einer schmutzigen Gasse in Detroit.
Sondern in einem Flugzeug, über dem Atlantik, auf dem Weg nach Italien.
Um eine Dämonin zu fangen.
Um eine Frau zu finden, die er noch nie gesehen hatte, die aber schon jetzt in seinen Träumen auftauchte.
Luciana sah von ihrem Arbeitstisch auf, aus ihrem Tagtraum gerissen. Sie versuchte, sich an den Mann zu erinnern, der ihr gerade in ihrem Traum begegnet war, aber sein Bild verschwand zu schnell, als dass sie es festhalten konnte.
Ein Poltern in der Luft, irgendeine atmosphärische Störung, ließ sie erschaudern.
Auf dem Tisch lag plötzlich eine Vogelfeder, gleich neben ihrer Hand.
Luciana nahm sie und betrachtete die Feder.
Sie war dunkelgrau an der Spitze und wurde zum Schaft hin immer heller. Ganz unten zeigte sie ein schmutziges Weiß. Es war eine ganz normale Taubenfeder, wie man sie überall in der Stadt finden konnte. Seit die Stadt effektive Maßnahmen gegen die fliegenden Ratten unternahm, hatte sich ihre Zahl zwar deutlich dezimiert. Trotzdem gab es immer noch zu viele.
Woher diese Feder kam, war Luciana allerdings ein Rätsel.
Das Fenster war geschlossen und ihr Arbeitszimmer von in- nen verriegelt – wie immer.
Wie seltsam, dachte sie. Aber egal.
Angeekelt warf sie die Feder in den Abfalleimer. Konnte es möglich sein, dass ein Zusammenhang zwischen der Feder und dem Mann in ihrem Tagtraum bestand?
Aber es war gleichgültig. In wie viele Träume von wie vielen Männern war sie in der Vergangenheit eingedrungen? Sie wusste es selbst nicht zu sagen. Sie war Expertin darin, die Begierden von Männern zu manipulieren. Ein Mann mehr war genauso leicht zu entsorgen wie alle anderen vor ihm.
Sie ging nach unten auf der Suche nach ihrem obersten Türhüter.
„Mach das Boot fertig“, trug sie ihm auf. „Zeit, die Jagd zu beginnen.“
Der Auftrag wurde sogleich ausgeführt, und kurz darauf konnte die kurze Fahrt beginnen. Das Boot glitt über den Canal Grande und zum Bacino di San Marco, der Wasserfläche vor dem Markusplatz. Die frische adriatische Brise zersauste Lucianas Haar, und sie schloss die Augen. Sie musste wieder an die Feder denken.
„Wir sind angekommen.“ Massimo deutete auf eine Anlegestelle in der Nähe der Erlöserkirche.
Sie trat auf die fondamenta neben dem Kanal und betrachtete die beeindruckende Marmorfassade der Kirche, die sich vor ihr erhob. Menschen strömten durch die großen, geöffneten Türen ins Innere. In der Kirche würden sich Hunderte von Gläubigen zur Eröffnung der Feierlichkeiten versammeln.
Sie sah der Menge zu und wünschte, sie könnte sie alle töten. Sie einfach entsorgen, so wie die Stadt es mit den Tauben machte. Doch stattdessen würde sie sich nur mit einem von ihnen begnügen müssen, einem einzigen Opfer. Das sollte kein Problem sein. Diese idiotischen Menschen schienen nie zu vermuten, was ihnen bevorstand.
„Warte hier auf mich“, instruierte sie Massimo. „Es wird nicht lange dauern.“