7. KAPITEL

Sehr früh am Morgen, noch bevor die Sonne aufging, schlich sich Luciana aus dem Palazzo.

Ihr Ziel war die Glasgalerie. Sie musste sich Informationen besorgen.

Wie schade, dass alles schon wieder an seinem Platz stand! Keine Scherbe. Keine Unordnung. Die Glasobjekte standen perfekt aufgereiht da, jungfräulich, glitzernd und still. Kunstvoll. Geschmackvoll. Wieder vollkommen intakt. Dabei hatte es ihr eine solche Befriedigung verschafft, die Galerie zu zertrümmern. All die schönen, feinen Glasgebilde kaputt zu schlagen, hatte etwas Befreiendes gehabt.

Im rückwärtigen Raum öffnete sie die Tür und stieg die Treppe hinauf.

„Mutter von Luzifer, wie ich diesen Ort verabscheue“, murmelte sie zu sich selbst.

Vor langer Zeit, als sie noch ein Mädchen gewesen war, war diese ganze Fassade nicht nötig gewesen. Damals waren Bordelle legal und Venedig die Stadt der Kurtisanen, gerühmt in ganz Europa für die Schönheit seiner Huren. Die Zahl der Prostituierten hatte die Zahl der Adelsdamen bei Weitem übertroffen, und sie waren auf den Straßen gegenwärtiger als die sorgsam behüteten Töchter aus gutem Hause.

Als eine solche Tochter aus gutem Hause wäre Luciana normalerweise nie hier gelandet.

Doch als frischgebackene Dämonin, die sich mühsam ihren Weg hinaus aus der Hölle erarbeitet hatte, war ihr keine andere Wahl geblieben.

Sie hatte ihre Schulden Satan gegenüber nur begleichen können, weil sie sich hier verdingt hatte.

Nie mehr hatte sie daran denken wollen, dass Carlotta ihre Schwester war. So viel hatte sie miteinander verbunden in ihrem früheren Leben, und Luciana hatte ihrer Schwester wirklich helfen wollen, aber sie war zu spät gekommen damals. Carlotta hatte ihr das nie verziehen, und in ihrem Leben als Dämonin hatte sie sich so sehr verändert. Wie Carlotta es hier so lange aushielt, wusste sie nicht. Offensichtlich hielt sie sich für eine Art Veronica Franco, ein Exemplar der aussterbenden Gattung cortigiana onesta, „ehrliche Kurtisane“, die mit ihrem geistreichen, gebildeten Witz und ihrem politischen Einfluss einst Venedig regierten. Selbst der französische König hatte höchstpersönlich eine Nacht zwischen Veronica Francos Schenkeln verbracht.

Doch für Luciana war das Bordell die Hölle auf Erden gewesen.

Ganz egal, wie arm oder reich ein Kunde war – für sie blieb er immer nur ein Kunde.

Ein Mann, der dafür bezahlte, mit ihr zu schlafen.

Da packte ein fleischiger, betrunkener Mann sie am Arm und zerrte sie in ein Zimmer. „Komm doch rein, Süße. Wir machen hier gerade Party.“

Party, dachte Luciana, ist ein schwacher Ausdruck für das, was sich da wirklich abspielt.

Für sie sah das ganz nach einer ausgewachsenen Orgie aus.

Und das ging wohl schon eine Weile so, wie Luciana auf den ersten Blick erkennen konnte. Frauen und Männer tollten umher, in unterschiedlichen Zuständen von Trunkenheit, Bekleidung und Kopulation. Sie schob sich durch die Leiber, durch das Meer aus nacktem Fleisch, auf der Suche nach Carlotta.

Sie musste herausfinden, was die Bordellbesitzerin über Brandon wusste und was sie ihm verraten hatte.

Carlotta trug ein tief ausgeschnittenes, blutrotes Kleid und betrachtete das Spektakel von einer Galerie aus. Sie lächelte und entblößte dabei ihre weißen, haiartigen Zähne, die noch spitzer geworden zu sein schienen seit ihrer letzten Begegnung.

„La lucciola!“

„La tenutaria!“ Luciana erwiderte die Begrüßung mit dem italienischen Wort für „meine Dame“.

„Ich hasse dieses Wort. Ich habe dir gesagt, du sollst mich nie so nennen.“

„Danke gleichfalls.“

Alle Dämonen in Hörweite lachten, denn alle verstanden, worauf Luciana sich bezog. Luciana beachtete sie nicht, sondern erklomm die Treppe. Dabei sah sie die Kurtisane an. „Ich muss augenblicklich mit dir sprechen.“

Doch Carlotta lächelte nur. „Woher wusstest du denn, dass wir eine Party feiern, la lucciola? Wir haben so viel Spaß! Mach doch mit! Du hast in dem Geschäft ja nie dein volles Potenzial ausgeschöpft. Du hättest so viel besser sein können.“

„Ich mache so etwas nicht mehr“, presste Luciana hervor. „Schon lange nicht mehr.“

Um dem Lärm zu entgehen, zogen sich die Frauen in Carlottas Büro zurück, wo sich jedoch gerade ein Paar auf dem Schreibtisch vergnügte. Carlotta scheuchte sie weg und setzte sich in einen Sessel, während die beiden ihre Sachen zusammensammelten und rasch das Zimmer verließen.

„Also, wieso bist du hier? Wolltest du nur mal sehen, wie es mir geht? Oder willst du mich niedermachen, weil ich diesem großen starken Engel den Weg zu deinem Haus gezeigt habe? Ich hoffe, er hat gefunden, wonach er suchte.“

„Wie viel hat er dir gegeben?“

Carlotta lächelte und klimperte mit den Wimpern. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Wie viel hat der Engel dir bezahlt, damit du mich verrätst?“

Die Kurtisane seufzte. „Es war eine geringfügige Summe im Spiel. Aber ich hätte es ihm auch so gesagt, weißt du. Du bist ein solches Miststück. Du kommst nur zu mir, wenn du dich beschweren willst. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wieso du ihn überhaupt hierhergebracht hast. Du hast uns damit alle in Gefahr gebracht, während dein eigener Haushalt schön in Sicherheit blieb.“

„Das hast du ja nun geändert, nicht wahr? Dir habe ich es zu verdanken, dass die Casa Rossetti nicht länger sicher ist. Vergiss nicht, was für dich auf dem Spiel steht, wenn mein Haus infiltriert wird“, drohte Luciana ihr. „Oder muss ich dich daran erinnern, was sich dort alles zugetragen hat?“

„Nein. Aber wieso musstest du mit ihm ausgerechnet hierherkommen?“

„Mich hierherzuflüchten war das Einzige, was mir einfiel, als der Engel hinter mir her war. Ich hatte vorgehabt, ihn zu verführen, und hier wäre der ideale Ort dafür gewesen.“

Es war tatsächlich der ideale Ort gewesen. In seinem Traum. Aber das brauchte Carlotta nicht zu wissen.

„Ihn zu deinem Haus zu führen war die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden“, konterte Carlotta. „Das war eine echte Befriedigung für mich, obwohl ich wusste, dass du sofort hier aufkreuzen und herumschnüffeln würdest.“

Luciana lagen eine Million Beleidigungen auf der Zunge. Doch sie schluckte sie herunter, denn es hatte einfach keinen Wert, zu streiten.

„Und was willst du jetzt mit ihm machen? Es sollte nicht allzu schwierig sein, ihn zu verführen, falls du das immer noch vorhast. Betritt seine Gedankenwelt – das sollte dir nicht allzu schwerfallen. Du treibst dich doch sicher immer noch in den Träumen von Männern herum?“

„Von Zeit zu Zeit kann das vorkommen.“ Luciana lächelte herablassend.

„Wie machst du das?“

„Ich kann es nicht erklären. Wie kann man sehen? Fühlen? Schmecken? Berühren? Hören? Die Träume anderer Personen sind für mich wie eine Sinneswahrnehmung. Ich spüre dieselben Dinge wie in der wachen Welt. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich weiß nur, dass es geht“, erklärte Luciana. „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich allerdings vom Unterbewusstsein dieses Mannes fernhalten. In der Tat habe ich vor, ihn überhaupt zu entsorgen.“

„Wenn du ihn nicht willst, bring ihn hierher zurück. Hier gibt es eine Menge Mädchen, die ihm voll Freude zur Verfügung stehen würden. Ich selbst nicht ausgenommen.“

„Ach ja. Ich hatte vergessen, wie sehr du magst, was anderen Frauen gehört.“ Luciana richtete den Blick ganz offensichtlich auf die feinen Smaragdohrringe, die Carlotta trug.

Die Ohrringe, die Carlotta ihr gestohlen hatte.

Die Smaragde, die Luciana von ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Dieses Paar Ohrringe war das Erste, was sie sich zurückholte, als sie als Dämonin nach Venedig zurückgekehrt war. Doch als sie dieses gottverdammte Bordell verlassen hatte, hatte es schnell gehen müssen. Ich bin ihr damals entkommen, dachte die Dämonin. Meine Ohrringe nicht. Sie schmückten seitdem Carlottas Ohrläppchen, und la tenutaria weigerte sich standhaft, sie zurückzugeben.

Carlotta deutete ihren Blick richtig. „Diese Ohrringe gehören mir, und zwar schon lange. Ich habe auch zur Familie gehört, vergiss das nicht. Du hast sie hiergelassen, als du weggegangen bist. Wenn sie dir so viel wert sind, hättest du vorsichtiger damit umgehen müssen.“

„Du bist wirklich unglaublich.“ Luciana starrte sie wütend an. „Du findest sicher alleine raus“, erwiderte die Bordellbesitzerin mit einem Kopfnicken in Richtung Ausgang.

Als Luciana die Tür öffnete, entdeckte sie Corbin unten im Flur, der zwei von Carlottas Mädchen im Arm hatte. Sie zögerte und drehte sich dann noch einmal um, um Carlotta zu warnen. „Sei lieber vorsichtig! Corbin ist gefährlicher, als du es dir in deinen wildesten Träumen vorstellen kannst.“

„Ich kann auf deine Ratschläge verzichten. Und ich kann auf mich selbst aufpassen.“

Luciana erschauderte bei dem Gedanken daran, wie gefährlich der Erzdämon war. Aber wenn Carlotta nicht auf sie hören wollte …

Als sie durchs Treppenhaus nach unten ging, packte Corbin sie plötzlich am Arm. „Wohin so schnell, meine Schöne?“ „Ich habe etwas zu erledigen, Corbin. Und du hast damit nichts zu tun.“

„Alles, was wichtig ist, hat mit mir zu tun, cara. Daran solltest du dich besser gewöhnen.“

Sie schüttelte ihn ab und eilte die Treppe hinunter.

Das Haus der Kompanie war keine Luxusherberge, aber dort hatte Brandon zumindest ein bisschen Komfort genossen. In diesem abrissreifen Gebäude gab es dagegen nichts, vor allem keine Klimaanlage.

Nicht einmal einen Ventilator.

Und somit keine Linderung der Hitze und Schwüle des Sommers.

Er war klitschnass geschwitzt.

Am Palazzo der Dämonin auf der anderen Seite des Kanals waren die Rollläden geschlossen. Das Haus lag still und verlassen da wie eine Grabkammer. Und doch konnte er sie inmitten dieser Totenstille atmen spüren. Denken spüren. Er ahnte, dass auf den polierten Tischen in diesem Haus Pläne geschmiedet wurden. Sie saß mit Türhütern zusammen und dachte sich etwas aus.

Stundenlang beobachtete er den Palazzo. Doch auf der anderen Seite des Kanals tat sich rein gar nichts. Nicht die leiseste Bewegung. Nicht das kleinste Geräusch.

Nichts.

Schlaf nicht ein, ermahnte er sich. Denk an etwas anderes.

In dieser Stadt ohne Autos stellte sich Brandon vor, jetzt im Auto zu sitzen. Er spürte, wie das Brummen der Beschleuni-gung in seinen Knochen dröhnte. In seiner Vorstellung grif-fen seine Hände nun nach dem gewohnten Lenkrad, und sein Fuß drückte ein imaginäres Gaspedal fest durch, ohne dass etwas geschah.

Er schloss die Augen und wollte weiter in seiner Fantasie schwelgen.

Doch schon im selben Moment spürte er, wie er der materiellen Welt entschwand.

Es war der Moment, in dem er die Beschränkungen des menschlichen Körpers hinter sich ließ und dennoch darin gefangen war. Er raste mit hundertsechzig Kilometern pro Stunde dahin, aber in absoluter Stille. Ganz allein raste er über eine verlassene Landstraße, in vollkommener Verbindung mit dem Göttlichen.

Er schaltete in einen höheren Gang.

Und spürte, wie eine Hand sachte seinen Oberschenkel drückte.

Er sah hinüber zum Beifahrersitz, und da saß Luciana. Ihre grünen Augen funkelten. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen.

Schlagartig erwachte er. Zurückkatapultiert in seine reale Si-tuation.

Er war in einer Stadt, in der es keine Autos gab.

Sondern nur Wasser und endlose, verschlungene Sträßchen und Gassen.

Und eine Dämonin, die mich vollkommen wahnsinnig macht.

Brandon stand auf und begann, rastlos herumzulaufen. Er wollte das Gefühl von ihrer Hand auf seinem Oberschenkel abschütteln. Luciana war ein echtes Rätsel, ein Widerspruch der Elemente, kombiniert in einer trügerischen Hülle. Ihr Gesicht konnte im Bruchteil einer Sekunde sämtliche Nuancen widerspiegeln, von komplett unschuldig zu welterfahren und abgeklärt. Für ihn war sie verletzlich und gefährlich zugleich.

Von einer Frau, die so viele Menschen getötet hatte, hätte er niemals diesen atemberaubenden Charme erwartet. Sie hatte eine starke Persönlichkeit, ja. Aber sie hatte auch etwas von einem Chamäleon an sich. Sie konnte alles werden, was ein Mann sich wünschte. Sie war sein Wachtraum.

Zum hundertsten Mal seit seiner Ankunft in Venedig musste er sich zwingen, sich daran zu erinnern, was sie wirklich war.

Kein Wachtraum, sondern ein lebendiger Albtraum.

Als Luciana nach Hause kam, ging sie sofort in ihr Labor und arbeitete konzentriert weiter an der neuen Rezeptur. Am späten Nachmittag hörte sie wieder den entfernten Gesang dieser Frau, diesmal aus dem Erdgeschoss ihres Hauses.

Tosca, wenn ich mich nicht irre, dachte sie irritiert.

Die Türhüter waren in einem eigenen Bereich im zweiten Stock des Hauses untergebracht, der schon immer als Personaltrakt gedient hatte. Nur der oberste Türhüter Massimo war in einem eigenen Apartment im Untergeschoss untergebracht. Früher, als die Familie Rossetti noch im Seidenhandel tätig war, hatten sich dort die Lagerräume befunden.

Luciana hielt sich nie in den Unterkünften der Bediensteten auf, sondern ließ die Türhüter frei schalten und walten. Massimo sorgte schon dafür, dass keiner aus der Reihe tanzte und dass das Haus in Ordnung gehalten wurde. Arbeiten, die normalerweise Frauen erledigten, wie kochen, putzen und waschen und das Silber polieren, übernahmen in Lucianas Haushalt Männer, überraschenderweise ohne darüber zu murren.

Nur um eines hatte Luciana gebeten: Die Türhüter sollten sich bei der Ausübung ihrer Fleischeslüste diskret verhalten.

Selbst nach dem Debakel mit Violetta … Nun, das hatte sie tatsächlich schleifen lassen. Sie hatte die Türhüter nach dem Vorfall nicht diszipliniert, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte.

Es war unmöglich, sich bei diesem Gesang zu konzentrieren, und so stand Luciana auf, um die Quelle des Gesangs in ihrem Haus ausfindig zu machen.

Sie presste ihr Ohr an die schwere Holztür von Massimos Zimmer und lauschte dem leisen Klang des Gesangs.

Plötzlich öffnete der Mann die Tür.

Und hinter ihm schwebte Violetta, nicht greifbar und durchsichtig, nur ein körperloser Geist, der Luciana mit großen, außerweltlichen Augen anstarrte. Es war klar, wieso die junge Frau als Geist in die Casa Rossetti zurückgekehrt war, darüber musste Luciana nicht lange nachdenken.

„Was soll denn das, sie hier in deinen Räumlichkeiten zu verstecken?“

Massimo schob Violetta hinter sich und stellte sich zwischen die beiden Frauen. „Tun Sie ihr bitte nichts.“

„Was soll ich ihr denn jetzt noch tun? Sie ist doch schon tot. Und Satan will ihre Seele offensichtlich nicht als Opfer annehmen.“

„Ich suchte nach einer Möglichkeit, ihr zu helfen“, gestand Massimo. „Wäre das Opfer wie geplant angenommen worden, wäre ihre Seele jetzt in der Hölle gefangen. Doch da Satan sie nicht angenommen hat, konnte sie zumindest als Geist auf die Erde zurückkehren. Sie verdient unsere Hilfe.“

„Mit Mitleid ist niemandem gedient, Massimo“, sagte Luciana kopfschüttelnd. „Wirklich, du hättest sofort zu mir kommen sollen, als du bemerkt hast, dass sie noch hier ist. Es gibt Dinge, die sich nicht verbergen lassen. Nun, Violetta … Was hast du dazu zu sagen? Du scheinst mir nicht mehr ganz so tapfer zu sein, jetzt, wo du weißt, wie es ist, tot zu sein.“

„Ich dachte, ich könnte all das beenden und diesen Ort verlassen“, presste das Mädchen hervor. „Als ich starb, sah ich ein Licht. Ich versuchte, es zu erreichen, aber ich konnte nicht. Werde ich jetzt zum Dämon?“

„Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Du kannst dir sicher ausmalen, dass nicht jeder Mensch, der stirbt, zum Engel- oder zum Dämon-Dasein auserkoren ist. So etwas gilt nur bei außergewöhnlichen Umständen.“

Umstände, die dieses Kind sich nicht auch nur annähernd vorstellen, geschweige denn ertragen könnte.

Um das zu wissen, musste Luciana das Mädchen nur ansehen. Sie hatte es schon gewusst, als sie sie opferte. Violetta war zu zerbrechlich. Und viel zu gut.

„Du musst weiterziehen. Lass einfach los. Nichts hält dich hier.“

„Ich gehe nirgendwohin. Noch nicht, jedenfalls.“ Violetta schien ihren Mut langsam zurückzugewinnen. „Wenn du noch einen Körper hättest, würde ich dich jetzt schütteln, damit du Vernunft annimmst.“ Luciana konnte kaum glauben, was hier gerade passierte. So etwas war ihr noch nie untergekommen. Von all den Opfern, die sie in den Gemäuern der Casa Rossetti getötet hatte, war nicht eine einzige Seele jemals wieder zurückgekehrt oder geblieben. Jede einzelne war in der Begräbnisgondel Satans fortgebracht worden, nachdem Luciana sie vor der Erlöserkirche abgeliefert hatte. Hätte dieser Brandon mir meine Jagd nicht versaut, wäre alles in bester Ordnung, dachte sie verbittert.

„Deine Eigensinnigkeit ist löblich, aber sie wird dich nicht weiterbringen. Finde das Licht und geh hinein.“ Luciana machte eine scheuchende Handbewegung. Etwas sanfter, fast zärtlich fügte sie hinzu: „Das würde ich jedenfalls tun, wenn ich es könnte.“

„Wieso können Sie es nicht?“

„Warum wohl nicht?“, fuhr Luciana sie an. „Benutz deinen Kopf! Ich habe Menschen getötet. Viele Menschen. Dämonen wie ich können nicht einfach gehen, wenn sie Lust darauf haben. Aber du kannst es. Du solltest gehen.“

„Ich bin noch nicht bereit“, widersprach Violetta ihr. „Ich habe hier noch Dinge zu erledigen.“

Luciana warf die Hände in die Luft. „Natürlich! Was für Dinge denn, um Himmels willen? Hier hält dich nichts außer deinem dummen Eigensinn und deiner Angst!“

„Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihr zu helfen! Vielleicht, indem wir uns von ihr verabschieden“, schlug Massimo vor.

„Nein. Wir sind ihr nichts schuldig. Und außerdem haben wir jetzt keine Zeit, uns mit ihr zu befassen. Wir müssen uns um wichtigere Angelegenheiten kümmern. Falls es dir entgangen ist: Dieser Engel lungert immer noch da draußen herum und beobachtet uns.“

Violetta verschwand. Ihr Bild löste sich in Dunst auf, als sie durch die Holztür entglitt. Massimos Blick folgte ihr, und Luciana entging nicht das Zucken in seinen Mundwinkeln. Sein Mund war schon halb geöffnet, wie um nach Violetta zu rufen.

„Du.“ Sie zeigte mit dem Finger auf den Türhüter. „Wage es nicht, sie zurückzurufen. Wage es nicht, überhaupt noch einmal an sie zu denken. Du musst deinen Verstand zusammenhalten. Liebe existiert nicht im Reich der Dämonen.“

„Ja, baronessa.“

„Vergiss das Mädchen! Lass sie gehen! Wir müssen uns um diesen Engel kümmern.“

Sie spähte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in Massimos Zimmer und fragte sich, ob sie von hier aus einen besseren Blick auf Brandons Versteck hatte. Doch draußen war nichts zu sehen. Der Palast auf der anderen Seite lag verlassen da. Nichts regte sich.

„Ich muss hier raus.“ Luciana zog die Vorhänge mit einem Ruck zu. „Hier drin gefangen zu sein treibt uns alle in den Wahnsinn. Wir müssen den Engeln zeigen, dass wir uns nicht einsperren lassen wie Tiere.“

Von der anderen Seite des Kanals konnte sie Brandons rohe Energie spüren. Sie nahm das Zucken seiner starken Muskeln wahr, wie er sich ruhelos herumwälzte. Auch er wollte raus, sich bewegen, etwas tun. Sie einfangen.

Sie wusste, dass man bei einem Mann wie ihm eine Verführung nicht erzwingen konnte.

Ein Jäger musste jagen.

Also würde sie ihm etwas zum Jagen bieten. Jemanden zum Jagen.

„Brandon ist ein Mann der Tat – so viel wissen wir. Wenn ich das Haus verlasse, wird er mir unweigerlich folgen. Ich muss es einfach wagen. Ich darf nicht vergessen, wer ich bin“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Massimo. „Ich muss auf die Jagd gehen. Und dabei werde ich unser Täubchen aus seinem Versteck locken.“

„Nehmen Sie damit nicht ein unnötiges Risiko auf sich, baronessa?“

Sie lächelte. „Überhaupt nicht. Denn meine Aktion dient einem doppelten Zweck. Du kennst doch den italienischen Ausdruck prendere due piccioni con una fava – zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und genau das, mein lieber Massimo, habe ich vor.“

Eine schöne Redewendung. So brutal.

Und sie beschrieb genau das, was sie vorhatte.

Gerade war die Sonne über Venedig untergegangen und tauchte die Stadt in ein dämmriges Licht, da machte Brandon plötzlich auf der anderen Seite des Kanals eine Bewegung aus. Es war nicht viel mehr als das Tänzeln eines Schattens. Er beugte sich nach vorn und sah genauer hin. In der Tat: Es war die Dämonin, die gerade das Haus durch den Seiteneingang verlassen hatte, in einen dunklen Mantel mit Kapuze gehüllt. Sie sah sich vorsichtig um und verschwand eilig in einer Gasse hinter dem Haus.

Brandon sprang auf, verließ das Haus und rannte über die Brücke hinter ihr her.

Es gelang ihm rasch, sie aufzuspüren, und dann folgte er Luciana, als sie mit flatterndem Mantel durch die Straßen hastete. Irgendetwas an ihr ist anders, dachte Brandon. Sie wirkte zögerlich, so, als ob sie nicht genau wüsste, was sie wollte. Wieso hatte sie überhaupt ihre sichere Zuflucht verlassen?

Sie lief stockend, blieb immer wieder stehen. Dann sah er sie in einem Türeingang verschwinden.

Er folgte ihrem wehenden Mantel. Da drehte sie sich um.

Und es war nicht Luciana.

Er blickte in das Gesicht eines Mädchens, das bleicher war als der Tod.

„Wer bist du? Und wo ist sie?“ Brandon packte das Mädchen am Arm. „Wo ist Luciana?“

Doch der Mantel, den er gepackt hielt, war leer. Er hielt ihn auf einmal in der Hand, weil sich das Mädchen des Kleidungsstücks komplett entledigt hatte. Es sah ihn erstaunt an, in ihren geisterhaften Augen flackerte Angst.

„Wenn Sie von der baronessa sprechen, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Sie ist ausgegangen, aber ich weiß nicht, wohin.“

Seine Augen glitten prüfend über die geisterhafte Gestalt des Mädchens, und er fragte sich, was es in der Casa Rossetti ge-macht hatte.

„Was haben sie dir in ihrem Haus angetan?“

Sie schüttelte nur den Kopf. „Das spielt nun keine Rolle mehr. Jetzt zählt nur noch eins: dass ich zu Ende bringe, was ich begonnen habe. Dann werde ich das Licht finden.“

„Das stimmt. Du musst ins Licht gehen. Sie können dich nicht festhalten, weißt du. Wenn du nichts getan hast, wofür du die ewige Verdammnis verdient hättest, bist du nicht Eigentum des Satans“, erklärte Brandon ihr.

„Das weiß ich“, sagte sie stolz.

„Lass mich dir helfen! Sag mir, was ich für dich tun kann!“

Doch mit einem Mal wurde ihr Blick starr, und ein eisiger Schauer überlief Brandon. Dann öffnete sie den Mund, um et-was zu sagen, gerade so, als hätte sie soeben die Erleuchtung gefunden. Als wäre ihr etwas von größter Wichtigkeit bewusst geworden.

Und dann verschwand sie wie ein Lufthauch.

Ich hoffe, du findest, wonach du suchst, was auch immer es sein mag, schoss Brandon lächelnd durch den Kopf.

Es gab nun einmal so viele ruhelos wandernde Seelen in den Straßen von Venedig.

Er kehrte um und beschloss, sich ebenfalls um etwas zu kümmern, das er noch zu Ende zu bringen hatte.

Während Luciana sich zurechtmachte, um den Palazzo zu verlassen, sah sie aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie das fliehende Mädchen aus dem Seiteneingang schlüpfte. Und wie ihm kurz darauf Brandon folgte.

Ich muss die Taube nicht einmal selbst aufscheuchen, frohlockte sie. Das Mädchen hat das für mich erledigt.

Lächelnd verließ Luciana den Palazzo durch den Vorderein-gang, stieg in ihr Boot und fuhr auf dem Kanal bis zum Mar-kusplatz.

Auch nach zweieinhalb Jahrhunderten als Venezianerin wurde sie nicht müde, sich an der Schönheit dieses Platzes zu erfreuen. Er war immer noch so wunderschön wie damals, als sie noch ein junges Mädchen war.

Ah! Es tat gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Wieder auf der Jagd.

Sie vertäute das Boot an einer Anlegestelle und machte sich auf den Weg dahin, wo sich das Leben abspielte.

An diesem lauen Sommerabend war auf dem Markusplatz jeder Tisch besetzt, jedes Café voll bis auf den letzten Platz. Mehrere kleine Orchester unterhielten die Menge mit klassi-schen Melodien. Die Verkäufer waren in ihrem Element und versuchten, den Touristen alle möglichen venezianischen Sou-venirs anzudrehen.

Auf dem Markusplatz ein Opfer zu finden ist wirklich kinderleicht, stelle Luciana wieder einmal fest.

Sie bestellte sich einen Cinzano und ließ sich in einem Café nieder, um die Menge zu beobachten.

Gleich gegenüber saß an einem der Tische ein angetrunkener Mann, der in diesem Moment den Blick auf sie richtete.

Touristen, dachte Luciana angeekelt, sind schlimmer als die Tauben, die wir hier so aufwendig abschlachten. Ich sollte also heute Abend meine Pflicht tun und Venedig von einer dieser Plagen befreien.

Sie lächelte den Mann verführerisch an und wartete, dass er zu ihr herüberkam. Wie immer musste sie sich nicht in Geduld üben.

In den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren hatte sie wirklich jeden Anmachspruch schon einmal gehört. „Hai da fare per I prossimi 100 anni?“ Hast du die nächsten hundert Jahre schon was vor?

„Fa caldo qui, o è perchè ci sei tu?“ Ist es hier wirklich so heiß, oder bist nur du das?

„Tu sei il mio sogno proibito.“ Du bist mein verbotener Traum.

Und das, was sie aus dem Mund dieses Mannes zu hören be-kam, war genauso schlecht, wie zu erwarten war.

„War Ihr Vater ein Dieb?“, sprach er sie auf Englisch an.

„Ja. Er hat die Sterne vom Himmel gestohlen und sie in meine Augen gelegt“, antwortete sie und verdrehte dabei die Augen gen eben diesen Himmel.

„Aber Sie sind auch eine Diebin, bellissima. Sie haben mir meinen Spruch geklaut.“

„Wir Venezianer sind im tiefsten Inneren alle Diebe.“ Sie beugte sich nach vorn und eröffnete dem Mann so einen Blick auf ihr tief ausgeschnittenes Dekolleté. Sie sah ihn mit großen Augen an und fügte mit honigsüßer Stimme hinzu: „Die Hälfte unserer Kunstschätze haben wir während verschiedener Religionskriege irgendwo geplündert. Die Fassade unserer berühmten Basilica di San Marco ist ein miscuglio … eine Mischung aus von fremden Tempeln gestohlenen Säulen. Die Altäre in ihrem Inneren sind mit Edelsteinen geschmückt, die aus anderen Städten und Kirchen entwendet wurden. Selbst die berühmte Quadriga, das antike bronzene Vierergespann, stammt ursprünglich aus Konstantinopel und wurde als Kriegsbeute nach Venedig gebracht. , selbst der Heilige Markus wurde gestohlen, seine angeblichen Gebeine im neunten Jahrhundert von venezianischen Kaufleuten aus Ägypten entwendet.“

Die Touristen liebten diese Geschichten. So wie sie es liebten, echte Venezianer kennenzulernen.

Und wie alle anderen glaubte auch dieser Mann ihre Story. Er zog sich einen Stuhl heran. „Darf ich?“

„Nur, wenn Sie Ärger kriegen wollen“, sagte sie und streichelte sich verführerisch mit einem Finger über den Saum ihres Ausschnitts, gleich oberhalb ihrer perfekten Brüste.

Der Mann lachte; gleichzeitig fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. „Im Gegenteil. Ich wähne mich schon jetzt im Himmel.“

„Nicht ganz. Aber die Reise in die andere Richtung könnte ich leicht arrangieren.“

Wieder lachte er. Natürlich hielt er es für einen Witz.

Tja, dachte sie lächelnd. Hinterher kann er nicht sagen, ich hätte ihn nicht gewarnt.

Er winkte den Kellner heran und bestellte zwei Cinzano. Als die Getränke kamen, dachte sie kurz, wie einfach es sein würde, ihn zu vergiften – es bedurfte nur einer flinken Handbewegung. Ein winziger Tropfen Gift, den sie blitzschnell in seinen Drink gab, ohne dass dieser stumpfe Mensch es überhaupt bemerken würde.

Unter dem Tisch hatte er seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Am liebsten hätte sie ihn getreten. Oder ihn gleich hier, auf dem Platz, vergiftet. Doch dieses Risiko durfte sie nicht eingehen. Nicht jetzt.

Stattdessen zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Venedig ist so viel mehr als das Klischeebild, das Touristen von unserer Stadt haben. Sie kommen wegen unserer vielen Feste hierher, kaufen sich eine Karnevalsmaske und trinken Prosecco, betrachten sich die Kirchen und Palazzi. Und wer sich für ganz besonders weltmännisch hält, trinkt in Harry’s Bar einen Bellini. Und dabei lernen sie nie das Venedig der Einheimischen kennen. Den Teil der Stadt, den kaum ein Tourist je zu sehen bekommt.“

Das war nicht einmal gelogen.

Noch bevor die Nacht vorbei war, würde dieser Mann eine Tour auf den Grund des Kanals machen.

Und wie viele Touristen kamen da schon hin?

„Nehmen Sie eine der gemächlichen Routen“, sagte sie jetzt zu dem Gondoliere, der mehrere Routen herunterrasselte, die in der Nähe ihres Zuhauses vorbeiführten. „Hören Sie doch mal, dieses Lied.“ Luciana lehnte sich über den Rand des Bootes. „Die Gondoliere singen barcarole, traditionelle Volkslieder. Sie singen aber vor allem auch die populären Lieder aus dem Süden wie ‚O sole mio‘. Dieses Lied hört man in den Kanälen so oft, dabei stammt es nicht einmal aus Venedig. Doch ab und zu findet man einen Gondoliere, der sich noch auf die alten venezianischen Weisen versteht. Ist das nicht schön?“

Doch der Mann, der sich nur allzu gerne auf eine Gondelfahrt mit ihr eingelassen hatte, hörte ihr nicht zu. Er hatte angefangen, sie zu befummeln, und betatschte sie plump. Es widerte sie an.

Bald, dachte sie bei sich. Bald wird das vorbei sein und er unter Wasser.

Und dann kam ihr ein verstörender Gedanke in den Sinn.

Auf einmal wünschte sie sich, es wären Brandons Hände, die ihren Körper erkundeten.

Es wären Brandons muskulöse, tätowierte Arme, die sie festhielten. Seine hübsch geformten Lippen, die ihren Mund zärtlich berührten – und nicht die dieses verblödeten Touristen.

Und als sie ihre Augen öffnete, war er da.

Er stand auf dem Dach eines alten Palazzo, hoch über ihnen, und blickte auf Luciana herab. Seine mondbeschienene Silhouette hob sich deutlich vor dem klaren Nachthimmel an. Es bestand kein Zweifel, weswegen er gekommen war.

Luciana seufzte laut auf.

„Was ist?“

„Nichts.“ Ohne dass dieser Trottel von Tourist etwas merkte, blickte sie verstohlen nach oben.

Der Engel spazierte so lässig über das Dach wie ein Mensch beim Einkaufen über die Mercerie, die Shoppingmeile Venedigs.

Keiner der beiden Menschen, weder der Tourist noch der Gondoliere, schenkten dem Engel Aufmerksamkeit.

Das Boot war nahe ans Ufer gekommen, und plötzlich, wie aus dem Nichts, stand Brandon neben ihnen und riss den Mann von Luciana fort. Er packte ihn am Hemd und sah ihm tief in die Augen. „Steigen Sie sofort aus der Gondel. Vergessen Sie, dass Sie diese Frau getroffen haben. Ihr kleines Abenteuer ist vorbei. Sie werden sich an nichts erinnern. Sollten Sie jemals versuchen wollen, sich an den heutigen Abend zu erinnern, wird Ihnen nur einfallen, wie sie sich in den Gassen von Vene-dig verlaufen haben.“

Der Mann erstarrte, als der Engel leise auf ihn einredete.

„Und jetzt gehen Sie!“ Brandon stieß ihn beinahe aus der Gondel.

Das Boot begann im ruhigen Wasser gefährlich zu schwanken.

Luciana befürchtete einen Moment lang, sie alle würden im schmutzigen Wasser des Kanals landen. Der Tourist kletterte hastig aus dem Boot auf die fondamenta und rannte davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Dem erfahrenen Gondoliere gelang es, sein Boot wieder zu stabilisieren. Er warf den beiden Passagieren einen fragenden Blick zu und hatte bereits den Mund geöffnet, um sich zu beschweren. Doch Brandon war schneller.

„Es ist nichts passiert.“ Der Engel sah dem Sterblichen tief in die Augen. „Bitte rudern Sie weiter und kümmern Sie sich nicht um uns.“

Nach einem Zögern wurden die Augen des Gondoliere leer, als die Suggestion des Engels wirkte. Schließlich gehorchte er, und sie glitten weiter mit dem Boot über den Kanal. „Sie schon wieder“, zischte die Dämonin Brandon zu. Sie runzelte die Stirn und lehnte sich verärgert in die Samtkissen der Gondel zurück. Plötzlich war ihr kalt. Das Adrenalin, das während ihrer Jagd in ihren Adern getobt hatte, hatte sich wieder gesenkt. „Sie ruinieren mir sämtliche Vergnügen.“ „Tue ich das? Dabei sind Sie es doch, die in meine Träume eindringt.“

„Sie sind ja vollkommen verrückt. Ich bin kein Albträume verursachender nachtaktiver Dämon. Wieso sollte ich mich so kleinmachen und Männer nur in ihren Träumen verführen, wenn ich bestens dazu geeignet bin, dies auch in ihrem wachen Zustand zu schaffen?“

„Was hatten Sie dann in meinem Traum zu suchen? Wie konnten Sie ihn steuern?“

Luciana runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Sie wissen ganz genau, wovon ich rede!“

„Was Sie träumen, ist ihre Angelegenheit.“ Sie stieß einen erschöpften Seufzer aus. „Wenn Sie mich in einem Ihrer Träume gesehen haben, dann, weil Sie mich begehren. Ihr Unterbewusstsein geht offensichtlich mit Ihnen durch. Aber wir können gerne da weitermachen, wo Sie uns das letzte Mal unterbrochen haben …“

Sie ließ eine Hand über seinen Schenkel wandern. Und spürte die Anspannung in seinem Körper. Doch er machte keinerlei Anstalten, sie zu berühren.

„Es sind auch Ihre Träume. Ich sehe Details, die ich vorher nicht gesehen habe.“

„Vielleicht bilden Sie sich einfach ein, wie es in meiner Welt aussehen könnte.“

Jetzt packte er sie am Handgelenk. Sie wich nach hinten aus, entzog sich ihm. Dann lehnte sie sich über den Rand der Gondel und ließ die Finger ins kühle Wasser baumeln. Sie musste Zeit gewinnen.

„Meinen Sie, ich lasse mich noch einmal von Ihnen schnappen, Sie Barbar? Denken Sie doch mal nach! Ich würde Ihnen nur wieder entkommen, so wie beim ersten Mal.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern, damit der Gondoliere sie nicht hören konnte. „Außerdem habe ich seit unserer letzten Begegnung eine kleine Versicherungspolice abgeschlossen. Wenn ich nicht zu einer bestimmten Zeit nach Hause zurückkehre, haben meine Türhüter den Auftrag, eine große Menge eines bestimmten Gifts innerhalb der Dämonenhierarchie zu verteilen. Mit möglicherweise verheerenden Folgen.“

Sie lächelte, blieb dabei aber ganz ruhig.

Das war der Trick beim Bluffen. Man musste seine eigene Lüge selbst glauben.

Zum Teil stimmte es ja sogar, überlegte Luciana. Falls sie nicht zurückkehren sollte, würde Massimo wahrscheinlich genau das tun. Er hat alle nötigen Kenntnisse, um die Kunst des Giftmischens selbst auszuüben. Auch wenn er noch nicht wirklich bereit dazu ist.

„Sie bluffen“, sagte der Engel. „Wenn Sie eine solche Menge Gift besäßen, hätten Sie es schon längst benutzt.“ „Ach ja? Riskieren Sie es! Gehen Sie das Risiko ein! Wenn Sie mir nicht glauben, probieren Sie es einfach aus! Legen Sie mir die Handschellen an! Bringen Sie mich fort!“

„Sie würden es nicht wagen, dieses Gift einzusetzen. Sie wissen, dass die Spielregeln zwischen Engeln und Dämonen nicht verletzt werden dürfen.“

„Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden. Oder zumindest, um sie zu umgehen. Also, fordern Sie mich heraus!“ „Was schlagen Sie vor?“

„Denken Sie doch mal darüber nach, die Seiten zu wechseln.“ Luciana schob ihre Hand auf seinem Oberschenkel weiter nach oben. „Ich spüre, dass da etwas in Ihnen ist, das anders ist als bei den anderen. Etwas Dunkles.“

Sie sah ihn an. Ihr entging nicht, wie er gegen seine Lust ankämpfte, las die Qual in seinen regengrauen Augen, bemerkte den angespannten Kiefer, obwohl er versuchte, nach außen weiter cool und abgeklärt zu wirken.

„Wie kann man Sie dazu bringen, zu kooperieren?“ „Wieso sollte ich kooperieren?“

„Weil Sie die Macht haben, das Richtige zu tun.“

„Erzählen Sie mir nichts davon, was richtig ist. Sie haben keine Vorstellung, was ich ertragen musste, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Sie glauben, Venedig ist schön und eine heilige Stadt. Sie kennen das wahre Venedig nicht.“ Sie spuckte die Worte verächtlich aus. „Merken Sie das nicht? Diese Stadt versinkt in Elend und Tod. Keine zweihundert Meter von hier wurden Gefangene gefoltert. Es gibt ein ganzes Museum voll mit Waffen und Folterinstrumenten. Ich kann Sie gerne einmal in die Gefängniszellen unter dem Dogenpalast führen. Eine Reise in die Hölle, ohne Venedig zu verlassen.“

„Nein danke“, erwiderte er und zwang sie, den Blick abzuwenden.

„Wenn Sie genau hinsehen, entdecken Sie die Unterwelt mitten in der Stadt. Eingemeißelt in die Architektur. Wasserspeier und Kobolde, die in Ecken kauern, auf Vorsprüngen hocken, sich in den Schatten unter den Dachtraufen verbergen. Es gibt sogar einen satanischen Löwenkopf aus Stein, der einen Palazzo in der Calle Diedo ziert. Und auf der Fassade des Ospedale Civile, des städtischen Krankenhauses, prangt eine Wandmalerei aus dem sechzehnten Jahrhundert, die einen Mörder darstellt, der ein menschliches Herz in der Hand hält. Er selbst hat es seiner Mutter herausgerissen.“

„Wer Hass sucht, wird ihn finden.“

„Sie sollten niemals die Anwesenheit des Bösen unterschätzen. Das Böse existiert. Hier. Es ist real. Wenn Sie mir nicht glauben, kann ich es Ihnen zeigen. Die Venezianer glaubten einst, in der Lagune würde ein Drache leben, der nur durch die Ruder der Gondoliere beschwichtigt werden konnte. Glauben Sie, dieser Mythos gründet sich eher auf abergläubische Ängste, oder glauben Sie, dass etwas Wahres daran ist?“

Beim nächsten Ruderschlag des Gondoliere begann sich das Wasser um das Boot herum zu kräuseln. Das Gewässer wurde aufgewirbelt, und etwas kam an Oberfläche.

Es war der lange, echsenähnliche Rücken eines Wesens, das aussah wie eine riesige Schlange.

Brandon blinzelte. Er wollte seinen Augen nicht trauen.

Er griff nach der Pistole in seinem Holster, doch beides war nicht da.

Seit zehn Jahren war beides nicht da.

Was immer das ist, ein Traum ist es nicht, schoss es ihm durch den Kopf.

Da stieg der Drache auf, riesenhaft und wütend. Wasser rann von seinem Leib, als er sich aus dem Kanal und über die Gondel erhob. Sein massiger Körper, so groß wie der eines Nashorns und dennoch so geschmeidig wie der einer Anakonda, schwebte über ihnen. Das Wesen hatte die gleichen grün funkelnden Augen wie Luciana und starrte Brandon zornig an.

Obwohl sein Herz wie wild hämmerte und er nur einen Wunsch hatte: vor diesem Wesen aus der Unterwelt zu fliehen.

Brandon musste nicht überlegen, was er zu tun hatte. Nicht den Drachen, sondern die Dämonin sah er an und sagte dann vollkommen gefasst: „Schicken Sie ihn zurück! Aus welchen Tiefen der Hölle Sie das Vieh hervorgezaubert haben mögen -schicken Sie es dorthin zurück!“

„Wieso sollte ich?“

Der Engel wandte den Blick nicht von ihr ab. „Weil es nicht in diese Welt gehört.“

Drei Meter über ihnen öffnete das Monster sein Maul und stieß einen Feuerstrahl aus, der die Luft neben Brandons Kopf in Flammen setzte. Der Gondoliere krümmte sich vor Angst. Aber Brandon wich nicht zurück. Er konnte nicht zurückweichen. Mit seinen grauen Augen schaute er immer noch ganz ruhig Luciana an. Eine ganze Weile lang.

„Sie können mich hier und jetzt zerstören, wenn Sie wollen. Allerdings wissen Sie, dass Sie damit einen Krieg entfachen werden, den Sie nicht mehr beenden könnten.“

Es entging ihm nicht, dass sie frustriert den Mund verzog.

Noch einmal stieß der Drache Feuer aus, dann verschwand er wieder in den Tiefen des Kanals.

Der Gondoliere kauerte zitternd im hinteren Teil des Bootes. „Bitte fahren Sie weiter.“ Brandon half dem Mann auf die Füße. „Das war nur eine Illusion. Ein Schreckgespinst der Nacht.“

Einen Moment lang überlegte er und wollte die Erklärung nicht so recht akzeptieren.

„Wer würde Ihnen schon Glauben schenken, dass Sie einen echten Drachen gesehen haben? Es war nur ein Trick meiner Freundin hier. Sie ist Illusionistin“, erklärte Brandon.

Nun begann auch Luciana, auf den Mann einzureden – auf Italienisch.

Unsicher lächelte der Gondoliere, doch dann stellte er sich wieder an seinen Platz und ruderte weiter.

„Sind Sie jetzt zufrieden?“, fragte Luciana und lehnte sich in die Kissen. „Ich hätte der Kreatur befehlen sollen, Sie in die Vergessenheit zu befördern, wo Sie hingehören. Warum bestehen Sie nur darauf, mir jeden Spaß verderben zu müssen?“

„Weil das mein Job ist. Es ist meine Bestimmung, zu glauben, dass alles und jeder auf dieser Welt, wenn die Wahl besteht, sich für das Gute entscheiden würde. Sogar Sie. Sie können von mir aus jeden Trick aus dem Ärmel zaubern, den Sie auf Lager haben, doch nichts von alledem wird mir Angst einjagen.“

„Ich vermag es vielleicht nicht, Ihnen Angst einzujagen. Aber trotzdem lauert etwas Dunkles in Ihnen. Das ist der Punkt, an dem Sie verwundbar sind. Davor sollten Sie sich fürchten.“

Sein Herz begann zu rasen. Vor dieser Wahrheit hatte er tatsächlich mehr Angst als vor der mythischen Kreatur, die sich gerade aus den Gewässern dieser trügerischen Stadt emporgehoben hatte.

Luciana beugte sich zu ihm. „Ich kann mich um diese Dunkelheit kümmern. Ich kann Ihnen geben, was Sie haben wollen.“

Du kannst mir nicht geben, was ich haben will. Das kann niemand, dachte Brandon wehmütig.

„Junge Liebende.“ Der Gondoliere hatte inzwischen seinen Schock überwunden und deutete das Flüstern seiner Passagiere als Intimität. „Venedig ist eine Stadt für Liebende. Sehen Sie, da vorne ist die Seufzerbrücke. Hier heißt es, wenn sich ein Liebespaar unter dieser Brücke küsst, wird ihre Liebe ewig halten.“

Die Dämonin legte ihre Hand auf Brandons Schulter. Ihre Berührung war so zart wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Diese Zartheit überraschte Brandon.

Wie kann eine Frau, die gerade erst einen wütenden Drachen aus der Lagune von Venedig heraufbeschworen hat, so sanft sein?

Mit der anderen Hand deutete sie nun auf die Brücke, die sich über ihnen spannte, sodass Brandon einen Moment von Luciana abgelenkt war. Als er sich ihr wieder zuwandte, erhellte ein Streifen Mondlicht ihr Gesicht, bevor sie kurz darauf im Schatten unter der Brücke verschwanden. Ohne nachzudenken, rückte er näher an sie heran. Behutsam drehte er ihren Kopf zu sich.

Du bist hier auf einer Mission, dröhnte sein Verstand. Du musst alle deine sieben Sinne beisammenhalten.

Küss sie, forderte sein Bauchgefühl. Und das tat er.

Es war nicht mehr als eine leichte Berührung ihrer Lippen, ein flüchtiger Kontakt, so sanft wie ihre schmetterlingshafte Berührung. Und dennoch durchfuhr ihn ein Schock, sowie Haut auf Haut traf. Ein Schock, der ihn bis ins Innerste erschütterte. Es fühlte sich an, als wäre er in eine andere Welt hinübergedriftet, die so ätherisch und vergänglich war wie ein Traum.

Brandon spürte, wie ihre Lippen sich öffneten, spürte, wie sie Luft holten. Spürte ihren Mund bebend auf seinem, um dort vollkommen reglos zu verharren. Nach einer Weile, die ihm endlos erschien, entfuhr ihr ein sachtes, kaum merkliches Seufzen.

Bin ich wach oder träume ich? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Der Schmetterlingseffekt fiel ihm ein: Geringfügige Änderungen können langfristig zu einer völlig anderen Entwicklung führen, das war die Kernaussage dieser Theorie. Die schiere Anwesenheit eines kleinen Insekts konnte ganze Wetterlagen verändern. Konnte zur Entstehung oder zur Nicht-Entstehung eines Hurrikans führen.

Wie verhält sich das wohl mit Glühwürmchen?

In ihm selbst brandete jedenfalls, ausgelöst durch diesen sachten Kuss, ein Hurrikan der Begierde auf. Ihre zarte Berührung hatte einen Funken in ihm entfacht, der nun loderte und zischte und sich in einem Flächenbrand Bahn brechen wollte. Er versuchte, seine Lust, diese unangemessene Leidenschaft, mit all seiner Disziplin zu bekämpfen.

Doch tief in ihm drin sagte eine leise Stimme zu ihm: Vielleicht könnte dieser Kuss alles verändern …

Nein, sein Verstand übernahm sofort wieder die Kontrolle, und er schüttelte diese Vorstellung ab. Der Gedanke war so lächerlich, dass er fast lachen musste.

Und dann wurde er ins Hier und Jetzt zurückgeholt durch Lucianas Hand, die von seiner Schulter herabfiel, als wäre die Dämonin in einen plötzlichen Schockzustand verfallen.

„Wieso haben Sie das getan?“

Ihr Gesicht war kreidebleich, noch viel bleicher als sonst. Verwirrt, geradezu verschüchtert, blinzelte sie ihn an.

Sie sah nicht nur aus, als hätte sie einen Geist gesehen, sondern als wäre sie selbst ein Geist. Eine Erscheinung, die darum rang, ihre irdische Form zu bewahren, und trotzdem im Begriff war, sie zu verlassen. Aber Luciana konnte sich nicht entmaterialisieren, das wusste Brandon. Sie war – so wie auch er – an einen menschlichen Körper gebunden.

Anstatt ihr zu antworten, küsste er sie noch einmal. Sein Verstand verlor die Oberhand. Jetzt ließ er sich von seinen Gefühlen leiten.