12. KAPITEL

Massimo lenkte das Boot hinaus auf die dunkle Lagune, in die sumpfigen Gewässer nahe der Insel Sant’Ariano. Die verwunschene kleine Insel war seit Jahrhunderten verlassen, seit dem sechzehnten Jahrhundert schon, seit die Stadtväter Venedigs beschlossen hatten, die Insel als ossario, als Beinhaus, zu benutzen.

Als Lagerstätte für die Gebeine der toten Venezianer.

Luciana war zum ersten Mal noch als Mensch hier gewesen, als junge Frau hier gewesen, und zwar auf der Suche nach Schlangen, von der es auf der Insel wimmeln sollte. Schlangen waren unverzichtbar für die Giftrezepturen, die sie in alten Apothekerbüchern gefunden hatte. Doch statt der Schlangen hatte sie hier etwas anderes gefunden.

Jemand anderen, um genau zu sein. Jemanden, der ihr geholfen hatte, die Kunst des Giftmischens zu erlernen – weit über das Maß hinaus, wie sie es selbst sich hätte beibringen können.

„Warte hier auf mich“, sagte sie zu Massimo, als sie aus dem Boot stieg und die Blumen mitnahm. „Diese Angelegenheit muss ich alleine erledigen.“

Ein seltsamer Nebel driftete über die Lagune, sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit, mitten im Hochsommer. Lucianas Schuhe knirschten auf dem erdigen Untergrund. Sie dachte ungern daran, was sich unter ihren Schuhsohlen befand. Noch bis vor etwa hundert Jahren hatte man die Leichen einfach hier abgeladen, als Haufen von Knochen. Dann hatte die Stadt Venedig beschlossen, die Haufen abtragen zu lassen, und dadurch waren die Knochensplitter jetzt überall auf der Insel verteilt. Dann hatte man eine Mauer rund um die Insel errichtet, sodass sie von außen nicht einsehbar war.

Als sie über den unebenen Boden lief, konnte Luciana die energetischen Spuren Tausender Menschen spüren, die gelebt hatten und gestorben waren und deren Gebeine nun zerbröckelt herumlagen. Etwas von ihnen war übrig geblieben. Etwas, das nicht einmal geisterhaft war. Nur ihre bloße Essenz war noch da, eine feine Art Erinnerung, die in der Luft hing.

Die Dämonin lief weiter, bis sie zu einem kleinen, verfallenen Gebäude kam. Das Dach war schon lange verschwunden, stattdessen bildeten jetzt tief hängende Äste eine Art natürliches Dach, durch dessen Lücken das Mondlicht schien. Spinnen hatten sich hier eingenistet, deren Netze an Lucianas Fingern und Haaren kleben blieben.

Widerlich, dachte sie, als sie sich dem kleinen Haus näherte. Was für eine absurde Idee, sich hier niederzulassen!

„Zitella?“

Vielleicht gab es die alte Schrulle gar nicht mehr. Schließlich war es – im wahrsten Sinne des Wortes – Ewigkeiten her, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war und die Hilfe der alten Frau in Anspruch genommen hatte. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr hier.

Doch zwischen den verrottenden Mauern entdeckte sie ihre Mentorin.

Die Meister-Alchemistin. Die Meister-Giftmischerin.

Sie saß in einem Sessel, wie damals vor über zweihundert Jahren schon. Ihr weißes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gebunden, und auch ihre schwarze Witwenkleidung war dieselbe wie damals, formlos hing sie an ihrem gebrechlichen Körper herunter. Hinfällig. Sie zeigte mit ihren knochigen Fingern, die im Mondlicht besonders dürr und spirrelig wirkten, auf Luciana und bedeutete ihr, näher zu kommen.

Zitellas Alter konnte man unmöglich schätzen. Selbst vor über zweihundert Jahren hatte die Alte schon so hinfällig auf sie gewirkt. Vor langer Zeit, als Luciana sie als junge Frau um Hilfe gebeten hatte, um sich aus einer schrecklichen Situation befreien zu können.

Damals hatte Zitella menschliche Knochen zu feinem Mehl zermahlen, das sie zum Raffinieren von Zucker verkaufte. Was sie jetzt machte, wusste Luciana nicht. Als was sie jetzt existierte, war ihr ebenfalls ein Rätsel. Ob Dämon oder Geist oder irgendetwas dazwischen – lebendig war Zitella jedenfalls nicht. Die Alte hörte auf zu summen und sah auf. „Luciana Rossetti? Bist du das, Kind?“

Luciana trat vor.

„Komm näher, mein Kind. Wie lange ist das her? Jahrhunderte …“

Luciana legte Zitella die Rosen auf den Schoß.

Die Alte hob sie hoch, schnupperte kurz an ihnen und warf sie dann hinter sich in die Dunkelheit. „Versuch nicht, mich mit derart geringfügigen Geschenken zu bestechen.“

„Ich habe noch etwas für Euch, Zitella“, beeilte sich Luciana zu sagen. „Noch ein anderes Geschenk.“

Sie legte der alten Frau die Phiole in die Hand.

Zitella umschloss sie mit ihren knochigen Fingern. Im fahlen Licht hielt sie die Phiole hoch, entkorkte sie und roch daran. Dann sagte sie: „Ja, das ist schon besser. Das Blut einer Unschuldigen, die Essenz einer Frischverstorbenen. Ja, ich bin erfreut. Wogegen möchtest du das eintauschen?“

„Was immer Ihr mir geben möchtet, Ma’am.“ Luciana wusste, dass es besser war, keine Forderungen zu stellen.

Vorsichtig stöpselte Zitella die Phiole wieder zu und steckte sie in eine Falte ihres schwarzen Kleides. Dann fischte sie aus den Tiefen ihrer Gewänder etwas hervor und reichte Luciana ein kleines Fläschchen aus braunem Glas, mit einem unauffällig wirkenden Pulver darin. Luciana hatte sich nicht bei der Alten angemeldet, und doch wusste sie, was die Dämonin benötigte. Sie war offensichtlich besser über Lucianas Leben informiert, als der Dämonin recht war. „Das ist es, wonach du suchst. Die gemahlenen Knochen der bösartigsten Wesen, die jemals durch die Straßen von Venedig wandelten. Die Knochen von Mördern und Vergewaltigern, von Kinderhändlern und Seelenhändlern, zu feinem Pulver zermahlen. Bereite einen Grundstock aus Gift zu, aus Schierling und Zyanid. Dann gib das Blut der Unschuldigen dazu und zuletzt dieses Pulver. Damit wirst du erreichen, wonach du suchst – die Formel, die Körper und Seele töten kann.“

Luciana nahm das Fläschchen entgegen und bedankte sich – aus Gewohnheit – mit einem Knicks. „Danke, Zitella.“

„Mach alles genau so, wie ich es dir vor so vielen Jahren beigebracht habe. Dann wirst du jeden Dämon auf der Erde töten können.“

Und wenn ich damit einen Dämon töten kann, dann sicher auch einen Engel, hoffte Luciana.

„Ich werde Euch ewig dankbar sein für alles, was Ihr mir beigebracht habt, damals wie heute.“ Die Dämonin neigte noch einmal ehrerbietig den Kopf, dann drehte sie sich um, um zu gehen.

Doch die Alte hielt sie fest, hielt mit überraschend festem Griff ihr Handgelenk umklammert. Das fühlte sich so seltsam an, dass Luciana zusammenzuckte. Die Haut der Alten war selbst schon so hart wie Knochen.

Zitella zog sie so dicht an sich heran, dass sie einander in die Augen sehen mussten. „Warte noch! Ich habe eine Frage an dich. Wer ist der Mann, der zu dir gekommen ist? Dein Liebhaber?“

„Ich habe keinen Liebhaber, Zitella. Nicht anders als sonst. Ihr fantasiert ja.“ Luciana versuchte, sich loszumachen.

„Lüg mich nicht an, Luciana Rossetti! Jemand ist in dein Leben getreten.“

„Mag sein, dass es einen Mann gibt. Aber diese Tatsache bleibt ohne Folgen. Die Beziehung ist zum Scheitern verurteilt. Wir sind zu unterschiedlich.“

„Lass dich nicht auf Engel ein! Ja, ich weiß es. Ich kann ihn an dir riechen. Er hat in dich hineingesehen.“ Die Alte bohrte ihr einen Finger in die linke Seite der Brust. „Er kennt dein Herz. Er weißt, dass du eins besitzt.“

Und dann fing sie an zu lachen. Ihr lautes Keckern störte sogar die Äste, die das Dach über ihrem Haus bildeten. Sie wichen zurück, sodass eine Lücke entstand, durch die das Mondlicht hereinströmte und Zitellas runzliges altes Gesicht erhellte.

„Geh jetzt! Was du mit dieser Substanz tun wirst, liegt außerhalb meiner Kontrolle. Doch sei achtsam, wenn du sie benutzt. Und vergiss eins nicht: Manchmal ist das, was wir am meisten fürchten, das, was wir am meisten brauchen.“

Verrückte alte Schrulle, dachte Luciana, als sie durch die Dunkelheit zurück zu ihrem Boot stolperte. Etwas hatte sich in ihren Haaren verfangen, wahrscheinlich ein ekliges, klebriges Spinnennetz aus Zitellas Hütte oder vielleicht ein kleiner Zweig, der vom Dach heruntergefallen war. Luciana zog es heraus.

Aber es war eine Feder.

„Bring mir einen der Kobolde“, wies die Dämonin Massimo Stunden später an. Es war bereits kurz vor Sonnenaufgang.

Sie setzte gerade die letzte Essenz an, die sie nach Zitellas Vorgaben destilliert hatte. Endlich hatte die Mixtur eine ge-wisse Struktur. Sie portionierte eine kleine Menge des neuen Gifts und zog sie mit zitternden Fingern auf eine Spritze.

Dann injizierte sie es dem Kobold.

Massimo ließ die Kreatur los und setzte sie auf den Boden, wo sie wie irre herumzuscharren begann.

„Vielleicht passiert gar nichts“, murmelte Luciana. „Zitella ist steinalt und mittlerweile offensichtlich ziemlich verrückt. Vielleicht hat sie mir nur ein Fläschchen Staub gegeben.“

Doch mit einem Mal begann der Kobold zu husten, und ein Schwall roten Blutes ergoss sich aus seinem Mund und hinterließ eine fürchterliche Schweinerei auf dem Fußboden. Die Kreatur kippte zur Seite, während sich um seinen Mund ein roter Schaum bildete.

„Vielleicht ist die Alte doch nicht so verrückt.“

„Das sieht in der Tat vielversprechend aus.“ Massimo beobachtete den Vorgang hoch konzentriert. „Noch keines Ihrer Gifte hat je so schnell und so heftig gewirkt.“

„Aber hat dieses Gift auch die Kraft, einen so starken Engel zu töten wie den, der uns beobachtet? Das können wir wohl nur durch Ausprobieren herausfinden. Es gibt keine Garantien. Ich würde es gern erst noch an jemand anderem ausprobieren, bevor ich es an dem Engel anwende.“

„Wie sollen wir das machen?“

„Vielleicht kann Carlotta uns behilflich sein. Sie weiß immer, wo man Türhüter findet, die billig zu haben sind. Wir sollten ihr einen Besuch abstatten.“

„Und was ist mit der Kompanie? Besteht nicht das Risiko, dass man uns schnappt?“

„Dieses Risiko müssen wir eingehen, Massimo. Wir werden uns bewaffnen.“

Sie drückte ihm eine Giftspritze in die Hand, die sie mit einer Plastikkappe verschloss. „Sei bitte sehr vorsichtig! Versprich mir, dass du mit dem Gift keinen Missbrauch treiben wirst! Es ist vermutlich das gefährlichste Gift, mit dem wir je zu tun hatten. Es könnte alles verändern.“

Die Party in Carlottas Bordell näherte sich langsam dem Ende – nach fünf vollen Tagen wilder Ausschweifungen.

In Carlottas Privaträumen feierte sie gerade mit Corbin ihre eigene kleine Privatparty. Auf dem Fußboden verstreut lagen Wäsche und High Heels der Frauen, die Corbin in den letzten Tagen flachgelegt hatte, sowie leere Magnumflaschen Champagner und ein halb voller Teller mit Kaviar und Foie gras.

„Ich hatte eine geile Zeit mit euch“, sagte Corbin. „Aber jetzt muss ich mich leider verabschieden.“

„Wo ist mein Geld?“ Carlotta streckte die Hand aus. „Du hast gesagt, du würdest alles bezahlen.“

„Habe ich das?“ Corbin durchdrang sie förmlich mit seinen bernsteinfarbenen Augen. „Niemand mag gierige Nutten.“

„Und niemand mag abgehalfterte Dämonen“, schleuderte sie ihm entgegen.

„Ich habe schon Leute für geringfügigere Beleidigungen getötet.“

In ihm stieg Wut auf. Er griff in seine Hosentasche, in der er die Phiole mit Lucianas Gift bei sich trug. Dann öffnete er eine neue Flasche Champagner und schenkte Carlotta und sich selbst ein Glas ein.

In ihres kippte er rasch das Gift.

Cincin, Schätzchen“, sagte er und hob das Glas. „Ich möchte jetzt nicht.“

„Komm, verdirb mir nicht die Laune! Ein letztes Glas auf unsere sehr vergnügliche Party!“

Und sie trank.

Dann stellte sie das Glas auf dem Tisch ab und drehte sich um. Corbin beobachtete sie genau, sah, wie sie sich plötzlich an den Hals griff. Sie wirbelte herum, starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. „Was zum Teufel hast du da reingemischt?“

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten, sondern setzte sich in einen Sessel und trank genüsslich sein Glas leer.

Carlotta fiel auf den dicken, gemusterten Teppich, und ihre Gliedmaßen fingen spastisch an zu zucken.

Irgendwann wurde sie ruhig. Corbin stand auf und begutachtete die Überreste der Party.

Zwischen all dem Unrat lag Carlottas Leiche. Mit Gift ließ sich so sauber töten. Zu sauber. Und dann machte er sich an die Arbeit.

Nachdem er ihren Körper zerstückelt hatte, war auf dem Teppich ein großer, dunkler Blutfleck. Er öffnete die Tür und rief ein paar seiner Türhüter zu sich.

„Was ist mit ihr passiert?“, fragte einer von ihnen, als er ihre Überreste auf dem Teppich liegen sah.

Corbin hatte neue Türhüter engagiert; seine alte Crew hatte ihn in Las Vegas im Stich gelassen. Doch offensichtlich hatten noch nicht alle gelernt, den Mund zu halten. Aber das kam schon noch. Zur Not musste Corbin es ihnen auf die harte Tour beibringen.

„Nichts, was du wissen müsstest“, sagte der Erzdämon und goss sich ein weiteres Glas Champagner ein.

Er hatte das Gefühl, sich selbst zuprosten zu müssen. Es war sein erster Mord seit seiner spektakulären Niederlage gegen Julian Ascher, und er genoss diesen Triumph sehr. Selbst wenn Carlotta nur eine zweitrangige Dämonin gewesen war, verschaffte ihm ihr Tod ein wiedererstarktes Machtgefühl.

„Wenn ich Lust habe zu töten, töte ich“, erklärte er nur. „Ich brauche keinen besonderen Grund.“

Er wünschte, dasselbe könnte er auch behaupten, wenn es um Engel ging.

Doch wenn er einen Engel tötete, würde das ernste Konsequenzen nach sich ziehen – und nicht einmal er war bereit, dieses Risiko einzugehen.

Die beiden Türhüter betrachteten grimmig Carlottas Leiche, während Corbin an seinem Champagner schlürfte. Er konnte es ihnen ansehen – sie erinnerten sich wohl gerade an die Gastfreundlichkeit der Bordellbesitzerin, und ganz sicher waren sie der Meinung, dass Carlotta diese Behandlung nicht verdient hatte.

Doch das war Corbin egal.

„Entsorgt die Leiche“, befahl er ihnen. „Oder besser gesagt: Helft mir, sie alle zu entsorgen!“

„Was? Gibt es noch mehr?“

„Noch nicht. Aber wenn wir hier fertig sind.“