Brandon drückte das Gaspedal durch und raste über den Pacific Coast Highway zurück zum Exerzitienhaus. Die Stereoanlage hatte er voll aufgedreht, und der Wagen bebte im hämmernden Rhythmus der kreischenden Gitarrenriffs aus dem Heavy-Metal-Sender, den er eingestellt hatte und der seine Trommelfelle und die Scheiben zum Bersten zu bringen drohte.
Doch keine Musik war laut genug, um seine Erinnerungen zu vertreiben.
Unterhaltungsfetzen mit Jude wirbelten durch seinen Kopf.
Er war wütend. Nein, nicht bloß wütend.
Er kochte vor Wut.
Wenige Stunden bevor er zum Dienst aufgebrochen war, damals, hatte er eine Auseinandersetzung mit Jude gehabt.
„Wir müssen da heute Nacht hingehen“, hatte Brandon gesagt.
„Kumpel, wir haben dienstfrei.“
„Wir haben einen Job zu erledigen.“ Brandon hatte ihn eindringlich angesehen. „Ich habe da so eine Vorahnung.“
„Na gut. Wie du willst“, hatte Jude wütend erwidert. „Ich dachte, du wärst schon einen Schritt weiter, als mit den Jungs Poker zu spielen. Ich hatte zwar etwas anderes geplant für heute Abend, aber wenn du wirklich hingehen willst – bitte.“
Natürlich waren sie hingegangen. Und Brandon hatte nie mehr die Chance bekommen, sich mit Jude auszusprechen. Er war nie dazu gekommen, ihm zu sagen, wie sehr er ihre Freund-schaft schätzte. Wie sehr er ihn vermisste. Ihn liebte.
Er hatte immer bedauert, dass er ihm das nie gesagt hatte.
Jude Everett, der Held.
Der seinen Mörder gefasst und festgenommen hatte.
Soll ich ihm immer noch dankbar sein? Was waren denn deine Pläne an diesem Abend, Jude? Wolltest du eine Nummer mit ihr schieben? Bist du immer noch ein Held, wenn du die ganze Zeit mit der Frau deines toten Partners geschlafen hast?
Judes grinsendes Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf.
Brandon drückte das Gaspedal bis zum Anschlag. Der Wagen schoss nach vorne.
Der Geschwindigkeitsrausch intensivierte seine Wut. Gab seinem Frust Nahrung. Die nächste Kurve kam ein bisschen zu schnell und war ein bisschen zu scharf. Er verlor die Kontrolle über den Wagen, versuchte noch zu bremsen, doch die Räder drehten durch, und der Wagen drehte sich einmal um sich selbst … zweimal … Immer wieder. Die Palmen, die trockene Landschaft und das Meer verschwammen zu einem einzigen sich drehenden Farbtupfer. Der vordere Stoßfänger – oder war es der hintere? – krachte gegen die Leitplanke, und der Wagen schleuderte quer über die Straße.
Dann blieb er stehen.
Das Radio plärrte immer noch, laut und brutal.
Brandon schaltete es aus und saß plötzlich in einer vollkommenen Stille da.
Glücklicherweise hatte er nicht die Leitplanke durchbrochen und war im Meer gelandet.
Und glücklicherweise waren keine anderen Fahrzeuge unterwegs gewesen.
Niemand, den er hätte verletzen können, während er sich mit seinen eigenen Horrorszenarien beschäftigte.
Er betrachtete die Tätowierungen auf seinen Armen, die vie-len Designs und Bilder, die ineinander übergingen. An nichts davon wollte er jetzt denken. Weder daran noch an seine Schutzbefohlenen noch an einen der Engel noch an den Flügel aus Tinte, der seinen Rücken zierte. Er wünschte, er könnte he-raus aus seiner Haut – im wahrsten Sinne des Wortes. Und al-les hinter sich lassen.
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Denn wenn du es nicht hinkriegst, deinen Kram auf die Reihe zu kriegen, wird das die Kompanie für dich erledigen. Arielle an vorderster Stelle.
Ob er zurück nach Chicago ging oder in L. A. blieb, spielte überhaupt keine Rolle. Er musste vor allem selbst in Angriff nehmen, was er Luciana geraten hatte – zu vergeben.
Doch wie er das machen sollte, wusste er nicht. Irgendwo musste er anfangen.
Er drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Dann machte er sich auf den Weg zum Exerzitienhaus.
Sobald er durch das Tor auf das Gelände fuhr, kam Arielle aus dem Haus, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen-gepresst. Das frühe Morgenlicht ließ ihr perfekt frisiertes Haar golden schimmern, als sie die große Beule im hinteren Stoßfän-ger begutachtete. Missbilligend schüttelte sie den Kopf. „Als ich dir den Wagen geliehen habe, dachte ich, du würdest verantwortungsvoll damit umgehen.“
„Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick für eine Standpauke.“
„Komm mit in mein neues Büro, und wir reden wie zwei vernünftige Personen darüber“, schlug sie vor und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du Probleme hast, kann ich dir vielleicht helfen.“
Das möchte ich ernsthaft bezweifeln, dachte er. Aber er war viel zu müde, um ihr Widerstand zu leisten
„Es tut mir leid, aber langsam scheint deine Erschöpfung überhandzunehmen, Brandon. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn du nach Chicago zurückkehrst. Sosehr ich deine Anwesenheit hier schätze, bin ich mir sicher, dass deine Einheit dich nötiger braucht.“
Er hörte nicht mehr zu, als sie weitere Punkte aufzählte, weswegen sie sich um ihn sorgte. Ein beginnender Kopfschmerz machte sich bemerkbar.
„Ich muss erst den Kopf freibekommen, bevor ich eine Entscheidung treffe.“ Brandon musste sich erst mal im Klaren darüber sein, wie es weitergehen sollte.
Dann stand er auf. Arielle beugte sich über ihren Schreibtisch und wandte sich ihrem schier endlosen Papierkram zu.
Als Brandon gerade ihr Büro verlassen wollte, entdeckte er etwas in ihrem Mülleimer.
Ein kleines Glasfläschchen. Schlicht. Harmlos.
Leer.
Und doch sah es genau so aus wie eins von den Phiolen, die Luciana immer benutzte.
Ob sie okay ist? fragte sich Brandon plötzlich beunruhigt.
Wenn ja, werde ich sofort von hier verschwinden und sie mitnehmen, sagte er sich. Nur wie?
Ohne ein Wort zu Arielle zu sagen, verließ er ihr Büro und ging mit forschem Schritt zum Überwachungsraum. Die Monitore dort zeigten Luciana, wie sie in ihrer Zelle auf dem Bett lag. Sehr ruhig lag sie da. Und dann bemerkte er das Blut.
Ist sie tot?
Doch da begannen sich ihre Fingerspitzen zu bewegen, und sie wischte sich das Blut vom Mund.
Sie lebt noch. Sie hat den Anschlag von Arielle überlebt, was auch immer es war.
Der Schutzengel, der gerade Wachdienst hatte, drehte sich zu ihm um. „Kann ich helfen?“
Doch Brandon lächelte nur und sah den Mann an. „Ich wollte nur mal nach der Gefangenen sehen.“ Er hoffte, dass es so beiläufig klang, wie es klingen sollte. „Ziemlich beeindruckende Anlage übrigens.“
Als er den Überwachungsraum verließ, begegnete er Julian. Brandon versuchte, rasch vorbeizugehen, denn er war voll auf Lucianas Rettung konzentriert. Doch Julian hielt ihn am Arm fest.
„Wohin so eilig?“
Brandon zerrte ihn in eine Ecke. „Ich habe jetzt keine Zeit, es Ihnen zu erklären. Ich glaube aber, dass Arielle kurz davor ist durchzudrehen. Ich habe in ihrem Büro eine wichtige Entdeckung gemacht. Im Moment kann ich Ihnen noch nicht sagen, worum es sich handelt. Aber von Mann zu Mann nur so viel: Luciana ist in Gefahr.“
Julian wirkte nicht sonderlich überrascht. „Arielle ist mein Supervisor. Rein technisch gesehen ist sie sogar mein Schutzengel.“
„Sie haben sie über zweihundert Jahre lang ignoriert. Da kommt es auf eine weitere halbe Stunde auch nicht an. Ich schwöre es, länger wird es nicht dauern. Helfen Sie mir! Um Lucianas willen. Sie braucht unsere Hilfe. Und zwar sofort.“
Julian zögerte und runzelte die Stirn. „In Ordnung. Aber Arielle wird mich kreuzigen, wenn sie es jemals herausfindet.“ „Das wird sie nicht. Sie haben dieses Zentrum finanziert. Denken Sie jetzt nach: Wie kann ich Luciana hier herausschaffen?“
„Wie Sie selbst gesehen haben, hat Arielle die Anlage mit einem Energiefeld umgeben, das wie ein riesiger Zaun wirkt. Wenn Sie versuchen, mit Luciana diese Mauer zu durchbrechen, wird ihr der Kopf explodieren.“
„Gibt es keinen anderen Weg nach draußen?“
„Auf jeden Fall nicht durch den Zaun. Theoretisch kann man ihn aber überwinden. Aus der Luft. Mein Helikopter steht draußen auf dem Landeplatz. Holen Sie Luciana, ich werde Arielle ablenken, solange es geht.“
„Ich bin noch nie einen Hubschrauber geflogen.“ Brandon wiegte den Kopf unschlüssig hin und her.
„Das ist ja keine große Sache. Sie müssen einfach nur über den Zaun kommen und so weit weg, dass Sie genügend Zeit haben zu fliehen. Lassen Sie den Hubschrauber einfach stehen und suchen Sie sich ein Auto.“
Dann ratterte Julian eine Reihe von Anweisungen herunter, wie man den Hubschrauber zu fliegen hatte, und Brandon versuchte, sich alle Details gut zu merken.
„Sie müssen den roten Startknopf auf der linken Seite drücken, den Hauptschalter für die Bordelektronik einschalten, das Treibstoffventil öffnen und dann die Maschine starten.“
Brandon blinzelte und versuchte, sich alles einzuprägen.
„Denken Sie dran, wenn Sie zu viel Gas geben, bekommt der Hubschrauber zu viel Schub …“
„Und was passiert dann?“, fragte Brandon.
Julian grinste und klopfte ihm auf die Schulter. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Das ist das Schöne am Unsterblichsein.“
Wie auch immer, dachte Brandon skeptisch. Wollen wir hoffen, dass es funktioniert.
Luciana lag immer noch auf ihrem Bett. Ihr war schwindelig. Wieder erklang der elektronische Öffnungscode. Wer ist es denn diesmal, dachte sie müde.
Da stürmte Brandon herein und riss sie am Arm hoch. „Komm mit. Ich bringe dich von hier weg.“
„Wohin bringst du mich?“ Luciana rührte sich nicht.
„Es ist jetzt keine Zeit für Fragen“, blaffte er sie an. „Wir müssen uns beeilen. Du hast die Wahl. Entweder du kommst mit mir, oder du bleibst hier bei Arielle. Vertrau mir einfach!“
In ihrem Inneren spürte Luciana so etwas wie Hoffnung aufkeimen, und so reckte sie sich ihm entgegen.
Brandon legte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie mit Kabelbinder.
Die kleine Flamme der Hoffnung war kurz davor, schon wieder zu erlöschen. Sie wehrte sich, versuchte, sich ihm zu entwinden. „Nicht schon wieder!“
„Ich habe es dir gesagt“, warnte er sie. „Du musst mir vertrauen.“
Dann führte er sie auf den Gang, wo sie mehreren Schutzengeln begegneten, die ihren üblichen Aufgaben nachgingen. Er marschierte erhobenen Hauptes an ihnen vorbei und machte keine Anstalten, etwas verbergen zu wollen. Erst am Ende des Ganges, vor einer mehrfach verriegelten Tür, hielt ihn einer der Schutzengel an.
„Wohin bringen Sie die Gefangene? Haben Sie die Erlaubnis, sie zu verlegen?“
„Arielle bat darum, sie zu sehen. Im Hauptbüro.“
Der Engel nickte und öffnete die Tür. Ein Summton erklang. „Du bist verrückt“, murmelte Luciana. „Sie wird uns bei lebendigem Leib häuten, wenn sie uns erwischt.“
„Sei still und geh weiter!“
Engel und Dämonin gingen durch das Treppenhaus nach unten und zum Hinterausgang hinaus.
Jetzt erkannte Luciana sein Ziel: Der Helikopter stand abflugbereit auf dem dafür vorgesehenen Landeplatz. Er öffnete die Tür, schob sie hinein und gurtete sie auf dem Beifahrersitz fest. Dann nahm er selbst auf dem Pilotensitz Platz, wobei er vor sich hin murmelte und verschiedene Schalter betätigte. Auf erschütternd zufällige Art und Weise.
„Bist du so ein Ding schon mal geflogen?“, erkundigte sie sich nervös.
„Nein, aber was kann schon Schlimmes passieren?“
Dann schob Brandon einen Regler nach vorn und schaltete das Fluggerät ein.
Der Rotor begann sich zu drehen, und der Lärm verhinderte jede weitere Konversation.
In diesem Moment kam Arielle aus dem Hauptgebäude gerannt, wild mit beiden Armen gestikulierend. Brandon konnte sie damit jedoch nicht aufhalten. Er bewegte den Steuerknüppel, und der Hubschrauber hob mit einer seltsamen, ruckelnden Kreisbewegung ab. Arielle rannte geduckt zurück zum Gebäude.
Einen Moment lang glaubte Luciana, sie würden abstürzen.
Brandons Gesicht war schweißnass, als er versuchte, den Hubschrauber mithilfe des Steuerknüppels zu stabilisieren. Er starrte konzentriert auf die Anzeige und legte diverse Schalter um in seinen hilflosen Versuchen, das komplexe Fluggerät zu steuern. In seiner Miene stand schiere Entschlossenheit. Wieso er glaubte, Luciana sei die ganze Mühe und dieses immense Risiko wert, wusste sie nicht.
Endlich gelang es ihm, den Hubschrauber in die Luft zu bekommen und davonzufliegen.
Unten stand immer noch Arielle und sah ihnen nach, eine Hand zum Schutz vor der hellen Morgensonne vor die Augen haltend. Ihr sonst so ordentlich frisiertes Haar war vollkommen durcheinander.
„Sollen sie doch verschwinden.“ Arielle wandte sich vollkommen ruhig zu den Schutzengeln, die sich um sie herum versammelt hatten und dem Hubschrauber hinterherschauten. „Wir brauchen uns nicht die Mühe zu machen, sie zu verfolgen. Ich weiß, wohin sie gehen werden.“
„Pazzo“, murmelte Luciana, die wie erstarrt auf ihrem Sitz hockte. „Du bist ja vollkommen verrückt.“
Bei Brandons Landeversuch auf einem entfernten Feld brach eine der Helikopterkufen ab, und sie kippten mit dem Fluggerät um.
Den beiden Insassen passierte jedoch nichts.
Mitten in die nun folgende Stille hinein platzte Brandons Lachen. Vermutlich hat er einen Schock, dachte Luciana erschrocken.
Ihre Hände waren immer noch auf den Rücken gefesselt. „Lass mich hier raus! Sofort!“
Er gehorchte und murmelte etwas davon, dass er einen Wagen besorgen müsste. Die Dämonin sprang aus dem beschädigten Hubschrauber, und im selben Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Tief ein- und ausatmen, dann würde sie sich rasch wieder erholen. Als es ihr besser ging, marschierte sie in Richtung Highway davon.
„Bleib du hier! Um einen Wagen kümmere ich mich.“
„Warte, Luciana! Wir können nicht einfach …“
Brandon rief ihr noch etwas hinterher, doch sie ignorierte ihn.
Kurze Zeit später kam sie mit einem schwarzen BMW Roadster zurück.
„Steig ein! Frag nicht, wie ich an den Wagen gekommen bin! Niemand kam zu Schaden. Ich will keine weitere Diskussion nicht nachdem du uns fast zurück ins Jenseits befördert hättest. Und diesmal fahre ich.“
Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich auf den Beifahrersitz, und sie fuhr los, in Richtung Norden. Weg von L. A., wo es von Arielles Leuten wimmelte. Mit Sicherheit war schon jetzt jeder Schutzengel in der Stadt alarmiert.
„Wenn Arielle uns schnappt, wird das schlimmer als der Tod. Nur, dass du Bescheid weißt.“ Luciana umklammerte fest das Lenkrad. „Wahrscheinlich wird sie in ihrem neuen Meditationsteich Waterboarding mit mir ausprobieren. Und dir wird sie die Haut abziehen und sie als Warnung für alle anderen am Fahnenmast des Zentrums flattern lassen.“
„Also sollten wir zusehen, dass sie uns nicht schnappt.“
Alle dreißig Sekunden drehte er sich um und guckte durch das Rückfenster, um zu überprüfen, ob sie verfolgt wurden. „Hör auf damit“, sagte sie. „Du machst mich nervös.“
„Ich bin noch nie in meinem Leben vor etwas davongerannt. Außerdem bin ich es gewohnt, selbst zu fahren. Du musst mich ablenken. Erzähl mir den Rest deiner Geschichte! Wie bist du zur Dämonin geworden?“
„Wir sind hier nicht auf einer Landpartie, wo wir Snacks und unsere intimsten Geheimnisse miteinander teilen. Wieso willst du das überhaupt wissen? Das ist doch alles Vergangenheit.“
„Weil es zu dir gehört. Es ist ein Teil von dir.“
Sie seufzte und sah nun selbst in den Rückspiegel. Sie wurden nicht verfolgt. Auch nicht aus der Luft. Und die Straße vor ihnen war leer.
Warum sollte sie ihm also nicht die ganze Wahrheit erzählen. „Na gut. Wo war ich stehen geblieben?“
„Julian und Harcourt brachten sich während eines Duells um. Was geschah danach? Ich möchte wissen, wie du gestorben bist. Wie du zu dem wurdest, was du bist.“
Sie hörte, wie er sich eine bequemere Sitzposition suchte.
„Ach, das.“ Luciana atmete tief ein. „Mal sehen … Ich beerdigte meinen Ehemann an seinem Geburtsort in England, dann kehrte ich zurück nach Venedig. Ich hatte erwartet, dort meine Eltern und Carlotta vorzufinden, aber ich kam zu spät.
Als ich in der Casa Rossetti eintraf, öffnete mir ein Fremder die Tür. Meine Eltern lebten dort nicht mehr. Sie hatten den Palazzo verkaufen müssen, weil sie kein Geld mehr hatten. Schließlich machte ich sie im Armenviertel von Campo San Barnaba ausfindig, wo sie in bitterer Not in einem kleinen Zimmer über einer Schenke wohnten.
Sie erzählten mir, dass Carlotta bei der Geburt ihres Kindes gestorben sei, kurz vor meiner Rückkehr. Auch ihr Kind hatte nicht überlebt, wie mir meine Eltern berichteten. Der pädophile Alte war immer noch so wohlhabend wie früher, hatte sich aber geweigert, meine Eltern zu unterstützen, als sie in Not gerieten.
Recht bald nach meiner Rückkehr nach Venedig starb er. Doch nicht auf natürliche Weise.
Er war mein erstes Opfer. Um Carlotta zu rächen, erlernte ich die Kunst des Giftmischens. Ich begann mit kleinen Experimenten mit dem, was ich mir aus Büchern angelesen hatte. Auf der Insel Sant’Ariano fand ich dann eine alte Frau, die mir mehr beibrachte, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Ihre Methoden waren grausig. Doch nachdem ich zehn Jahre lang die Schläge meines Ehemannes ausgehalten hatte und wusste, wie sehr meine Schwester gelitten hatte, nachdem sie und ich so viele Jahre nur noch Gegenstände waren, die von einem schrecklichen Schicksalsschlag zum nächsten getrieben wurden … Nun …
Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass eine Frau allein eine solche Macht haben könnte.
Nach meiner Rache an dem Alten überkam mich eine gewisse Befriedigung. Doch das reichte mir nicht. Endlich wusste ich, dass es auch Gerechtigkeit gab auf der Welt. Die nichts zu tun hatte mit Gott. Im darauffolgenden Jahr verfeinerte ich meine Kenntnisse und suchte mir weitere Opfer, an denen ich ausprobierte, wie ich meine Macht ausbauen könnte.
Schließlich kam der Tag des Jüngsten Gerichts. Doch nicht in Form von Gott, sondern in Form von Harcourt.
Er erschien mir und gab mir die Schuld an seinem Tod. Aus Rache erwürgte er mich und zerrte mich mit sich in die Tie-fen der Hölle. Ich tat, was ich tun musste, um dort zu über-leben. Ich nahm ein zweites Mal Rache an meinem Ehemann und schloss einen Pakt mit den Geschöpfen der Hölle, auf dass sie ihn für alle Zeiten in den tiefsten Tiefen der Hölle behalten würden. Um dies zu erreichen, griff ich auf jeden zurück, mit dem ich einen Handel abschließen konnte. Schließlich konnte ich als Dämonin die Hölle wieder verlassen.
Das Bordell über der Glasgalerie war der erste Ort, an den man mich schickte. Als ich dort eintraf, war es ein riesiger Schock für mich, dass meine Schwester Carlotta bereits dort arbeitete.
Zu ihren eigenen Lebzeiten hatte sie sich an den Prostituierten gerächt, zu denen ihr Mann gegangen war. Sie beschuldigte die Frauen, sie mit der Krankheit angesteckt zu haben, die für den Tod ihrer ungeborenen Kinder verantwortlich war. Um sich an dem wahren Schuldigen, ihrem Ehemann, zu rächen, war meine Schwester jedoch zu feige. Zur Strafe wurde sie selbst als Prostituierte auf die Erde zurückgeschickt. Es war einfach grausam.
Ich wusste, dass ich von diesem Ort wegmusste. Und so schloss ich einen Pakt mit Satan persönlich.
Eine menschliche Seele pro Jahr, die ich ihm während des Erlöserfests zu liefern hatte. Genau an diesem Fest musste es sein, denn Satan war sehr wütend darüber, dass die Venezianer sich seiner Geliebten entledigt hatten. Also wollte er die Kirche entweihen, die sie zu Ehren ihres Erlösers Jesus Christus erbaut hatten. Mir kam ein Opfer pro Jahr nicht zu viel vor im Tausch gegen meine Freiheit.
Während ich mir noch mühsam meinen Weg durch die Riegen der Verdammten nach oben bahnte, hatte es Julian Ascher bereits zu einer prominenten Dämonenexistenz gebracht. Ab und zu kreuzten sich unsere Wege. Doch erst vor ein paar Jahren kam es mir in den Sinn, meinen ehemaligen Liebhaber zu vernichten. Also reiste ich nach Las Vegas und tat mich mit Corbin Ranulfson zusammen – vor allem aus einem Grund: um Julian zu vernichten. Doch leider scheiterte ich, noch dazu ziemlich erbärmlich. So traf ich auf die Kompanie der Engel und deine Freunde. Und der Rest“, erklärte sie, „ist Geschichte.“
Brandon schwieg. Er sah sie nur an und hörte weiter zu.
„Natürlich gäbe es noch viel mehr zu erzählen. Hinter jeder Geschichte verbirgt sich eine weitere Geschichte. Das ist alles so unendlich vielschichtig, es gibt so viele Geschichten wie Sterne am Himmel. Doch für heute, mio caro, soll es genug sein.“
„Eine Frage habe ich noch.“ Brandon wog die nächsten Worte gut ab. „Glaubst du, du könntest jemals gut sein?“
Jetzt schwieg Luciana.
Ihre Antwort berührte ihn zutiefst. „Ich möchte gut sein.“
Ob sie dazu in der Lage war, stand auf einem vollkommen anderen Blatt.
Sie fuhr weiter, bis es dunkel wurde. Sie waren die gesamte kalifornische Küste entlanggefahren und hatten mittlerweile Oregon erreicht. Irgendwann mitten in der Nacht ließ sie ihn ans Steuer, und ein paar Stunden später erreichten sie den Bundesstaat Washington. Sie fuhren weiter, bis es Tag wurde, bis keiner von ihnen mehr die Augen offen halten konnte. Als am Horizont die Sonne aufzugehen begann, waren sie schon fast an der kanadischen Grenze angelangt.
„Wir müssen anhalten und eine Pause machen. Wir können nicht einfach für immer weiterfahren.“ Luciana lallte mehr, als dass sie sprach.
Sie suchten sich ein günstiges Motel und bezahlten mit Bargeld, das Luciana unbemerkt einem Autofahrer an einer Tankstelle gestohlen hatte. Sie parkten den gestohlenen Wagen hinter ein paar Büschen um die Ecke. Dann gingen sie in ihr Zimmer und zogen als Erstes die Vorhänge zu.
„Ich denke, hier können wir uns ein paar Tage verstecken. Bis sich Arielle beruhigt hat.“
Brandon lag auf dem harten Motelbett neben Luciana in der Dunkelheit und versuchte zu schlafen.
Doch er musste die ganze Zeit an die Geschichte denken, die sie ihm im Auto erzählt hatte.
Wie schwer sie es in ihrem menschlichen Leben gehabt hatte.
Und wie anders alles hätte sein können für sie.
Ich möchte gut sein, hatte sie gesagt. Er glaubte daran, dass sie es konnte.
Wenn nur …
Sie drehte sich zu ihm.
„Ich muss wohl träumen“, murmelte sie und streichelte sein Gesicht. „Mit dir hier zu sein ist vollkommen unwirklich und trotzdem wunderschön. Jede Minute ist unendlich wichtig.“
Im Mondlicht huldigte er ihrem Körper und ihrer Schönheit.
Sie war für ihn wie eine Kathedrale aus Fleisch und Blut. Ihre Schlüsselbeine waren die Stützpfeiler, mit einer Architektur so filigran und stark wie aus Stein gemeißelt. Ihre Wirbelsäule war der Altar, den seine Finger wie einen Pilgerpfad beschritten. Er küsste ihre Brustwarzen, ihre Brüste, diese zarten Kuppeln. Ihren Körper betrachtete er als sein Heiligtum. Und er trat ein, voller Hochachtung, so zart und leise, als wolle er an einem Schrein ein Opfer darbringen.
Ein einziges Wort des Gebets verließ seine Lippen: ihr Name.
Er flüsterte ihn so voller Inbrunst wie den Namen Gottes.
Als sein Akt der Hingabe vollendet war, wusste er, ganz ohne Zweifel, dass sie – so wie er selbst – ein Teil von etwas Heiligem war. So, wie sie alle es waren, und so, wie auch sie es immer sein würde.
„Ich möchte Drachen töten für dich“, sagte er, während sie im Dunkeln dalagen, ihre befriedigten Körper dicht nebeneinander. Sein Atem brannte ihm in der Lunge, ob aus Erschöpfung oder Angst, wusste er nicht. „Ich möchte Berge erklimmen für dich und Ozeane durchschwimmen.“
Abrupt löste sie sich aus seiner Umarmung. „Das ist nicht nötig. Ich bin ja hier. Und ich kann meine eigenen Schlachten schlagen. Ich bin stark genug, um mich selbst zu verteidigen.“
„Ja. Aber bist du auch stark genug, um der Schlacht zu entsagen? Du kannst dein Leben ändern, wenn du nur bereit bist, loszulassen.“
„Hör auf, mir Predigten zu halten, angelo mio. Glaubst du nicht, dass ich mir das seit Jahrhunderten anhören muss? Wieso sollte ich mich jetzt ändern?“
„Auch Julian hat sich gewandelt. Mit Serenas Hilfe.“
„Erwähne diese beiden Namen nicht!“ Grenzenlose Traurigkeit erfüllte ihre Gesichtszüge. „Nicht in einem Moment wie diesem. Selbst wenn du recht hättest – ich glaube nicht, dass es für mich möglich ist.“
„Arielle ist nicht die absolute Autorität in dieser Angelegenheit.“
„Sprich nicht mehr davon! Lass mich dich einfach lieben!“ Luciana studierte jeden Zentimeter seines Körpers, wollte eine Erklärung für jede einzelne Linie seiner Tätowierungen. Sie wollte alles wissen und sich diese Zeichnungen auf seinem Körper für immer einprägen, diese Landkarte seiner persönlichen Geschichte und seiner unerwähnten Tapferkeit.
„Ich möchte mich immer an deinen Körper erinnern können. Deine Haut soll das Letzte sein, an das ich denke, bevor ich …“ „Bevor was? Du gehst nirgendwohin. Nicht, wenn ich es verhindern kann.“
Ihr Bekenntnis hatte ihn verstört. Er lag da und starrte an die Zimmerdecke und fragte sich, ob das unerledigte Problem seines Lebens überhaupt irgendwann gelöst werden konnte.
„Was ist passiert, als du gestorben bist?“, ertönte ihre Stimme plötzlich in der Dunkelheit. Zwei Schlaflose.
„Du hast es doch selbst gesehen in meinen Träumen. Jetzt tu nicht so, als ob du es nicht wüsstest.“
„Ja“, gab sie schließlich seufzend zu. „Ich schätze, ich habe es gesehen.“
Abrupt setzte er sich auf. „Wieso haben wir diese seltsame Verbindung, dass wir in den Träumen des jeweils anderen auftauchen können?“
„Das ist die Manifestation eines grausamen und ironischen Gottes.“ Das jedenfalls war Lucianas Erklärung.
Allerdings vermutete Brandon mehr dahinter. Sie konnte zu einem bestimmten Zweck in seine Träume hineinspazie-ren. Und sie war wahrscheinlich auch in die Träume anderer Schlafender eingedrungen, und zwar sicher nicht aus reinen, unschuldigen Gründen. Doch davon wollte er nichts wissen. Jetzt waren sie erst einmal hier, weit weg von allem. Von Ari-elle. In Sicherheit.
Sie lagen nebeneinander und atmeten im selben Rhythmus. „Haben sie deinen Mörder jemals geschnappt?“
Brandon nickte in der Dunkelheit. „Sie haben zwei Männer festgenommen, die beiden Drogenhändler, denen ich auf der Spur war. Aber sie schworen, sie hätten es nicht getan. Behaupteten, sie wären nicht mal in der Nähe dieser Gasse gewesen, in der ich erschossen wurde. Sie endeten im Baraga Max, einem Hochsicherheitsgefängnis in Michigan. Beide bekamen lebenslänglich.“
„Glaubst du, sie waren es?“
Er erstarrte, und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. „Wieso fragst du das?“
„Weil du immer noch jede Nacht davon träumst. Es ist offensichtlich, dass die Sache nicht wirklich verarbeitet ist.“
Vielleicht blieb ein Teil von Brandon aus genau diesem Grund in der menschlichen Welt verhaftet – weil es nicht verarbeitet war. Daran dachte er, als Luciana ihren Kopf auf seine Brust legte und er durchs Fenster die hellen Sterne betrachtete.
Ob er das Thema wohl irgendwann abschließen konnte?
„Ich kann immer noch nicht schlafen“, sagte er nach einer langen Weile.
„Du träumst doch schon. Du weißt es nur nicht. Komm, ich zeige es dir.“
„Nein“, stieß Brandon hervor. „Ich will aufwachen. Es besteht keine Notwendigkeit, das alles schon wieder zu durchleben.“
„Du musst es sehen. Du musst Gewissheit darüber bekommen, wer dich umgebracht hat. Und du musst den Täter damit konfrontieren.“
Es war derselbe Albtraum wie immer.
Der, den er schon Tausende Male durchlebt hatte. Der, dem er nicht entgehen konnte.
Durch die dunkle Gasse, vorbei an den umgekippten Mülltonnen, dem giftigen Gestank von verfaulten, schleimigen Essenabfällen und anderem verwesenden Müll, der überall verstreut war. Er ging weiter, unsicher, wohin ihn der Traum diesmal bringen würde. Unsicher, weil er nicht wusste, was Luciana ihm zeigen wollte.
„Ich gebe dir Deckung“, beteuerte sie ihm. „Das verspreche ich dir. Du bist nicht allein. Ich werde dich heute Nacht nicht hier sterben lassen.“
Sie gingen gemeinsam in die Gasse hinein, Engel und Dämonin. Rücken an Rücken. Seine große, starke Hand hielt ihre bleiche, zarte, die dennoch so stark war wie seidenummantelter Stahl. Er griff nach seinem Schulterholster und holte seine Pistole heraus. Hielt sie auf Augenhöhe vor sich, als sie weitergingen.
Als der Angreifer auftauchte, schien die Zeit plötzlich langsamer abzulaufen. Brandon hob den Arm mit der Waffe, doch Luciana war schneller. Sie hinderte ihn an der Bewegung. Da drehte sich der Angreifer um – und Brandon sah in ein Gesicht, das er nur zu gut kannte. Ein Gesicht, das er geliebt hatte.
Das Gesicht seines besten Freundes.
Der Brandons Frau nach seinem Tod geheiratet hatte. Des Vaters ihrer Kinder.
Jude hob seine Waffe, bereit, zu schießen. Diesmal nicht in Brandons Rücken, diesmal zielte er auf seine Brust.
Die Schüsse verhallten. Wie jedes Mal in seinem Traum.
Der erste, dann der zweite. Dasselbe bekannte Geräusch, das er schon so oft gehört hatte.
Doch der Schmerz blieb aus. Keine doppelte Schmerzexplosion in seinem Rücken.
Denn diesmal trafen die Schüsse einen anderen Körper.
Schneller als jeder Mensch hatte sich Luciana vor ihn geworfen, und so erwischten die beiden Kugeln sie. Die erste traf sie mitten in die Brust, die andere in den Hals.
Brandon fing sie auf, als sie stürzte.
Und hielt sie fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Selbst als sie in seinen Armen verblutete, war er nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als sie festzuhalten. Sie lächelte, während sich ihre Lider schlossen.
In diesem Moment wachte Brandon auf, klitschnass geschwitzt vor Angst – wie in jeder Nacht in den letzten zehn Jahren, bevor er die Dämonin kennengelernt hatte. Er erwachte voller Schmerz und mit einer Gewissheit, die sich in diesem Moment schwerer und schrecklicher anfühlte als der Tod.
Er kämpfte sich durch den Schleier seiner Verwirrung und versuchte, die Erlebnisse aus seinem Traum noch einmal zu rekapitulieren.
Du kannst in einem Traum nicht sterben.
Aus eigener Erfahrung wusste er, dass das nicht stimmte.
Sie hatte sich von den Kugeln treffen lassen. Es war nur im Traum gewesen. Aber es war passiert. Sie hatte dasselbe Leid im Tod erlitten wie er.
Er sprang auf. Neben ihm war das Bett leer. Doch er wusste, wohin sie gegangen war.
Und er erinnerte sich an ihre letzten Worte in seinem Traum, als sie die Augen schon geschlossen hatte.
„Ich werde diesen Bastard töten.“