Rache. Wenn Brandon keine Rache üben wollte, würde Luciana das eben für ihn übernehmen. Sie würde diesen letzten Drachen in seinem Menschenleben töten und ihn für immer zur Ruhe bringen. Denn Brandon selbst war zu gut, um das zu tun.
Während er schlief, nahm sie den Autoschlüssel von der Kommode.
Sie schlich aus dem Zimmer, schloss leise die Tür und fuhr davon.
Als sie in den Flieger von Seattle nach Detroit stieg, empfand sie fast so etwas wie Traurigkeit. Denn sie, Luciana, war nicht gut. Brandon mochte zwar anderer Ansicht sein, doch im Grunde ihres Herzens war sie böse. Seit Jahrhunderten. Und böse würde sie auch sein bis zum Ende aller Zeiten.
In mir ist kein Fünkchen Vergebung, dachte sie, fast angewidert von sich selbst.
Merkwürdigerweise interessierte Julian sie plötzlich überhaupt nicht mehr.
Durchs Fenster betrachtete sie die Auswüchse der Stadt, als sie den Landeanflug auf den Detroit Metro Airport begannen. Sie spürte eine Leichtigkeit und ein erfrischend friedliches Gefühl, wenn sie an seinen Namen dachte. Zum ersten Mal seit über zweihundert Jahren hatte sie nicht das Gefühl, vor Hass zu zerspringen, wenn sie an Julian Ascher dachte.
Tja, dachte sie bei sich, das hat aber nichts mit Vergebung zu tun, sondern einzig und allein mit Brandon.
Luciana brauchte fast den ganzen Tag, um Brandons einstiges Wohnhaus zu finden, einen kleinen Bungalow in einem Vorort von Detroit. Hier lebte immer noch seine Frau. Zwei kleine, blondhaarige Jungs rauften im kleinen Vorgarten miteinander. Kinder, die unter anderen Umständen vielleicht Brandons Kinder gewesen wären.
„Ist eure Mama oder euer Papa zu Hause?“, fragte Luciana die beiden mit ihrem süßesten Lächeln.
„Mommy ist im Laden“, sagte der Kleinere von beiden.
„Nicht mit der Frau reden.“ Der Ältere, er war etwa sechs, blinzelte Luciana misstrauisch an. „Wir sollen nicht mit Fremden sprechen.“
„Aber in diesem Fall ist es okay, Schätzchen.“
Der Kleinere betrachtete sie und sagte mit der brutalen Ehrlichkeit eines Kindes: „Du bist hübscher als Schneewittchen aus dem Film. Aber du bist böser als ihre böse Stiefmutter.“
„Das ist jetzt aber nicht fair. Ich habe noch nie einem Kind etwas zuleide getan.“
Zwei blaue Augenpaare beäugten sie, erbarmungslos. Falls Brandon manchmal in Melancholie verfiel, wenn er an das verpasste Vatersein dachte, sollte er sich diese beiden mal ansehen, dachte sie. Dann würden ihm solche Gedanken ein für alle Mal vergehen.
Sie lächelte freundlich. „Aber du könntest der Erste sein, kleiner Mann.“
Der Junge fing an zu schreien, und es klang nach einem kaputten Elektrogerät oder wie quietschende Bremsen. Jetzt fing auch der Größere an mit dem Geplärre. „Daddy!“
Sofort wurde die Tür aufgerissen, und ein großer, bulliger Mann trat aus dem Haus. „Jungs? Mit wem redet ihr?“
Jude, dachte Luciana. Der Mann der Stunde.
„Hallo, Sir. Ich habe mich gerade mit Ihren bambini unterhalten … wie sagt man noch auf Englisch? Brut, denke ich“, sagte sie fröhlich. „Aber jetzt würde ich gerne mit Ihnen sprechen. Unter vier Augen.“
„Jungs, geht nach hinten in den Garten!“ Jude musterte sie eingehend. „Wollen Sie irgendwas verkaufen?“
„Nicht wirklich. Allerdings sind Sie im Besitz von einem Gegenstand, der nicht Ihnen gehört, und den hätte ich gern zurück.“
Judes Gesicht wurde aschfahl. Er fragte gar nicht erst, worum es sich handelte.
Er fasste nur in seine Hosentasche und zog eine Uhr heraus.
„Jude Everett, Sie sind ein kranker Bastard.“ „Wer sind Sie?“
„Das braucht Sie nicht zu kümmern.“ Luciana hatte seinen schwachen menschlichen Willen schon fest im Griff. „Geben Sie mir einfach die Uhr!“
Das war die Uhr, nach der sie Brandon in seinen Träumen ein Dutzend Mal in seiner Hosentasche hatte suchen sehen. Und in der Realität, um festzustellen, ob er wach war. Sie drehte die Uhr um und las die eingravierte Inschrift des Erzengels Michael auf dem Deckel.
„Warum haben Sie sie gestohlen, Sie kaputter, peinlicher Typ? Und lügen Sie mich nicht an!“
„Weil ich mich gerne daran erinnere, wozu ich fähig bin.“ Jude lächelte selbstgefällig.
Fähig, seinen besten Freund zu ermorden.
Ein Bild schoss ihr in den Kopf. Der am Boden liegende Brandon.
Und Jude, wie er Brandon die Uhr aus der blutverschmierten Hand nahm.
„Sie haben es getan, weil böse Menschen böse Dinge tun“, stellte Luciana fest. „Und deswegen haben Sie die Uhr nicht einfach weggeworfen. Nein, Sie haben nur Brandons Leben weggeworfen.“
Er starrte sie an und zuckte zusammen, als sie seinen Namen erwähnte. „Was wissen Sie über Brandon?“
„Auch das braucht Sie nicht zu interessieren. Kommen Sie mit.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Sie können mir gewiss nicht widerstehen.“
Und in diesem Moment wusste sie, dass sie endlich das diesjährige Opfer für Satan gefunden hatte.
Besser spät als nie.
Ein Schritt hinter der Dämonin war ein Schritt zu langsam. Als Brandon bei seinem alten Haus ankam, war Luciana schon längst wieder weg. Er spürte, wie sich ihre dunkle Anziehungskraft von ihm entfernte. Er wusste, wohin sie unterwegs war.
Zurück nach Venedig.
Doch er hatte hier noch etwas zu erledigen. Brandon fuhr die Einfahrt hoch. Tammy saß draußen und sah ihren Kindern zu, die im Vorgarten spielten. Zuerst sah er nur ihr hellbraunes Haar, das in der Sommersonne glänzte. Als er sich näherte, drehte sie sich zu ihm um.
„Jungs, geht mal rein“, rief sie erschrocken ihren Söhnen zu. „Wo ist Jude?“
„Der ist mit der schwarzhaarigen Frau weggegangen!“ Einer der Jungs lugte durch die Fliegentür nach draußen. „Ihr bleibt drin!“ Tammy schaute ängstlich zu ihren Kindern und dann zu Brandon.
„Oh Gott!“ Verwirrung stand in ihren dunkelbraunen Augen zu lesen. Sie streckte die Hand aus, um Brandon zu berühren. Sie schien zu erwarten, dass sie durch ihn hindurchgreifen würde. „Bist das wirklich du?“
„Ich bin kein Geist.“
„Was bist du dann?“, wollte sie wissen.
„Etwas anderes. Das ist jetzt zu kompliziert.“
„Mein Gott, du bist gar nicht älter geworden.“ Sie streichelte sein Gesicht. „Als wäre die Zeit stehen geblieben.“ „Glaub mir, die Zeit ist vergangen!“
Wie seltsam! Da sah er sie nach über einem Jahrzehnt zum ersten Mal wieder … Er hatte immer gedacht, es würde anders sein. War deshalb nie hergekommen. Dabei war das durchaus üblich unter Engeln, wie er wusste. Einige von ihnen durften ihre Lieben besuchen und über sie wachen. Andere durften es nicht, missachteten aber das Verbot und ließen sich unerlaubt bei ihren Verwandten sehen.
Doch Brandon hatte es immer befolgt.
Er hatte dem Wunsch widerstanden, in sein altes Zuhause zurückzukehren. Zum einen, weil er davon ausgegangen war, dass sich sein bester Freund Jude um seine Frau kümmern würde. Sie trösten würde.
Tja.
„Wusstest du es?“
Tammy fragte nicht, was er damit meinte. Sie schüttelte nur kaum merklich den Kopf.
„Erst später.“ Sie zitterte am ganzen Körper. „Ich hatte keine Ahnung. Ich war nicht einmal wirklich sicher, bis …“
Gerade. Das Wort stand stumm zwischen ihnen, während sie ihn anschaute.
„Kannst du mir verzeihen? Ich habe Dinge getan … Dinge, die vor deinem Tod geschehen sind. Und in den letzten zehn Jahren war ich davon überzeugt, wenn ich nur …“
„So darfst du nicht denken. Was passiert ist, ist passiert.“ Er lächelte. „Vergiss das alles! Vergiss, dass ich je hier war!“
Er küsste sie auf die Wange, und es fühlte sich so vertraut und gleichzeitig so fremd an. Ihre Haut, die er so gut kannte und auf der um den Augen- und Mundwinkeln sich die ers-ten feinen Fältchen zeigten. Er ließ sie stehen, seine erste Liebe, und legte ihre Hand auf die Stelle auf ihrer Wange, die er ge-küsst hatte.
Jude nach Venedig zu befördern war so einfach, dass Luciana es im Schlaf hätte bewerkstelligen können.
Im Vergleich zum Umgang mit der Kompanie der Engel war die Manipulation eines Menschen ein Spaziergang. Der menschliche Verstand war so leicht formbar. Nachdem sie es mit dem eigensinnigen und willensstarken Brandon zu tun gehabt hatte, war Jude ein Kinderspiel.
Auch die Security am Flughafen ließ sich problemlos um den Finger wickeln, denn auch diese Menschen waren genauso leicht zu manipulieren wie Jude. Als sie schließlich im Flieger nach Hause saß, konnte sie sich zum ersten Mal seit Langem wieder richtig entspannen. Diesmal war sie bei ihrer Abreise aus den Vereinigten Staaten wesentlich zufriedener mit sich als beim letzten Mal.
„Wir fahren an einen sehr schönen Ort“, teilte sie Jude mit. Er saß mit glänzenden Augen und starrem Blick neben ihr.
Sie hatte seine Hirnfunktion ein wenig manipuliert, sodass er keine Antwort geben konnte. Die Tatsache, dass sie sich mit sich selbst unterhalten musste, tat ihrer guten Laune jedoch keinen Abbruch.
Prendere due piccioni con una fava. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Wieder kam ihr diese Redewendung in den Sinn.
Auch sie würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie würde endlich ihr jährliches Opfer darbringen.
Und gleichzeitig Rache nehmen für Brandons Tod als Mensch.
Brandon kam kurz nach Luciana am Flughafen von Detroit an und wandte sich an den Ticketschalter.
„Es tut mir leid, Sir“, sagte die Frau am Schalter. „Sie haben unseren einzigen Direktflug nach Venedig für heute verpasst.“
Rasch ließ er den Blick über die Anzeigentafel mit den weite-ren Abflügen für den Tag schweifen. „Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben. Können Sie mir eine alternative Ver-bindung heraussuchen?“
Ihre Finger klackerten über die Tastatur, während sie unverwandt auf den Bildschirm ihres Computers sah. „Ich kann Sie über London schicken. Der Anschluss ist allerdings sehr knapp, es könnte sein, dass Sie es nicht schaffen.“ „Buchen Sie mich auf die Maschine!“
Als er im Flieger saß, musste er sich zwingen, still zu sitzen und nicht herumzuzappeln. Jetzt kam alles darauf an, dass er Lucianas Reiseziel richtig vermutet hatte und noch rechtzeitig kam, denn das würde über Judes Leben oder Tod entscheiden.
Brandon hatte keine Ahnung, wieso es ihm so wichtig war, dass Jude überlebte. Er wusste nur, dass es wichtig war – selbst nach allem, was Jude getan hatte.
Brandon sah aus dem Fenster, auf die Wolken, und dachte angestrengt nach.
Wohin geht sie wohl?
Die Erlöserkirche ist zu auffällig. Dorthin wird sie niemals zurückkehren.
Eine Stimme tauchte in seinem Kopf auf. Es war nicht Lucianas Stimme, sondern die ihrer Schwester, Carlotta. An dem Tag, als er ihr in der Glasgalerie begegnet war. „… die Stücke werden in liebevoller Handarbeit auf der Nachbarinsel Murano gefertigt, wo einst aufgrund der Brandgefahr alle Glaswerkstätten angesiedelt wurden …“
Das war das Ziel der Dämonin. Brandon war sich ganz sicher.
Auf Corbins Jacht, die noch immer im Bacino di San Marco ankerte, stand Massimo vor dem Erzdämon und bot ihm seine Dienste als Türhüter an.
„Ich bin so froh, dass Sie sich für mich entschieden haben“, teilte ihm Corbin gerade mit. „Jetzt können wir zusammen auf unser gemeinsames Ziel hinarbeiten: die Zerstörung der Kompanie der Engel. Und mehr noch. Die Zerstörung der Menschheit.“
„Ja, signore.“
„Luciana hat Sie gut ausgebildet. Aber Sie müssen Ihre Loyalität ihr gegenüber vergessen. Sie hat Sie im Stich gelassen, um mit diesem primitiven Engel Brandon davonzulaufen. Sie wissen, dass er für das Verschwinden Ihrer kleinen Freundin verantwortlich ist, nicht wahr?“
„Ja, signore.“
Massimos Herz gierte nach Rache.
Und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich eine Gelegenheit bieten würde.