25

Bosch war kurz nach vier wieder im Bundesgericht. Während sie darauf warteten, daß Richter Keyes erschien und die Jury fürs Wochenende entließ, flüsterte Belk ihm zu, daß er am Nachmittag Chandlers Büro angerufen und der Klägerpartei fünfzig Riesen als Vergleich angeboten hatte.

»Sie hat Ihnen bestimmt gesagt, Sie könnten es sich irgendwo hinstecken.«

»Tatsächlich hat sie sich nicht so höflich ausgedrückt.«

Bosch lächelte und sah zu Chandler hinüber. Sie flüsterte Churchs Frau etwas zu, aber sie mußte seinen Blick gespürt haben. Eine halbe Minute lang lieferten sie sich einen pubertären Kampf, wer zuerst weggucken würde, ohne daß einer von ihnen aufgab, bis sich schließlich die Tür zu den Räumen des Richters öffnete und Keyes herauskam, um seinen Platz einzunehmen.

Er ließ durch den Gerichtsdiener die Jury hereinkommen und fragte sie, ob es irgend etwas zu besprechen gäbe. Als das nicht der Fall war, instruierte er die Geschworenen, keine Zeitungsartikel über den Fall zu lesen und die Lokalnachrichten im Fernsehen nicht anzuschauen. Dann wies er die Jury und die anderen Beteiligten an, Montag morgen um 9.30 Uhr zu erscheinen, wenn die Beratungen fortgesetzt würden.

Bosch trat direkt hinter Chandler auf die Rolltreppe, um nach unten zum Ausgang zu fahren. Sie stand zwei Stufen über Deborah Church.

»Frau Anwältin«, sagte er so leise, daß es die Witwe nicht hören konnte. Chandler drehte sich auf der Stufe um und hielt sich an dem schwarzen Band fest.

»Die Jury hat mit den Beratungen angefangen. Es gibt nichts, was den Prozeß noch beeinflussen könnte«, sagte er. »Selbst wenn Norman Church unten stehen würde, könnten wir es nicht den Geschworenen mitteilen. Warum geben Sie mir also nicht das Schreiben? Der Fall hier ist abgeschlossen, aber es läuft immer noch eine Fahndung.«

Chandler erwiderte nichts, während sie hinunterfuhren. In der Eingangshalle sagte sie jedoch zu Deborah Church, sie solle schon einmal nach draußen vorausgehen, sie käme gleich nach. Dann drehte sie sich zu Bosch um.

»Noch einmal, ich streite ab, daß es ein Schreiben gibt. Okay?«

Bosch lächelte.

»Das ist doch inzwischen abgehakt. Sie haben sich gestern verplappert. Sie sagten …«

»Es ist mir egal, was ich gesagt habe oder Sie. Wenn der Typ mir einen Brief geschickt hätte, wäre es nur eine Kopie von dem, den Sie haben. Er würde sicherlich nicht seine Zeit damit verschwenden, mir einen neuen zu schreiben.«

»Ich weiß es zu schätzen, daß Sie mir wenigstens das sagen. Aber selbst eine Kopie wäre hilfreich. Es könnte Fingerabdrücke geben. Man könnte anhand des Papiers feststellen, wo es kopiert wurde.«

»Detective Bosch, wie oft haben Sie auf den anderen Briefen Fingerabdrücke sichergestellt?«

Bosch antwortete nicht.

»Das dachte ich mir«, sagte sie. »Schönes Wochenende.«

Sie drehte sich um und stieß die Ausgangstür auf. Bosch wartete ein paar Sekunden, steckte sich eine Zigarette in den Mund und ging auch hinaus.

 

Sheehan und Opelt saßen mit Rollenberger im Konferenzzimmer und statteten ihm Bericht ab. Edgar saß dabei und hörte zu. Bosch bemerkte, daß ein Foto von Mora vor ihm auf dem Tisch lag.

Es zeigte sein Gesicht und sah aus wie die Fotos, die jedes Jahr für die Dienstausweise gemacht wurden.

»Wenn sich etwas ereignet, wird es sowieso nicht am Tag sein«, sagte Sheehan. »Also haben sie vielleicht heute nacht Glück.«

»Okay«, sagte Rollenberger. »Schreiben Sie irgend etwas fürs Logbuch und machen Sie dann Feierabend. Ich brauche den Bericht, um fünf habe ich eine Besprechung mit Chief Irving. Aber vergessen Sie nicht, Sie haben beide heute nacht Bereitschaft. Alle Leute müssen zur Verfügung stehen. Wenn Mora sich verdächtig benimmt, will ich, daß Sie Mayfield und Yde verstärken.«

»Okay«, sagte Opelt.

Während Opelt an der einsamen Schreibmaschine saß, die Rollenberger requiriert hatte, schenkte Sheehan für sich und seinen Partner Kaffee aus der Maschine ein, die am Nachmittag auf der Anrichte hinter dem Tisch aufgetaucht war. Hans Guck-in-die-Luft war nicht der beste Cop, aber er wußte, wie man eine Kommandozentrale einrichtete, dachte Bosch.

Er goß sich selbst einen Becher ein und setzte sich zu Sheehan und Edgar an den Tisch.

»Ich hab’ das meiste verpaßt«, sagte er zu Sheehan. »Hört sich an, als sei nicht viel passiert.«

»Richtig. Nachdem du vorbeigeschaut hast, fuhr er nachmittags wieder ins Valley und suchte eine Reihe Büros und Lagerhäuser in Conoga Park und Northridge auf. Wir haben die Adressen, falls sie dich interessieren. Es waren alle Vertriebsfirmen für Pornos. Er hielt sich nirgendwo länger als eine halbe Stunde auf, aber wir wissen nicht, was er dort gemacht hat. Dann kam er zurück, erledigte etwas Bürokram und fuhr nach Hause.«

Bosch nahm an, daß Mora bei anderen Produzenten nachgefragt hatte, um zu sehen, ob es noch mehr Opfer gab. Vielleicht fragte er nach dem mysteriösen Mann, den Gallery vor vier Jahren beschrieben hatte. Er fragte Sheehan, wo Mora wohnte, und schrieb die Adresse auf der Sierra Bonita Avenue in sein Notizbuch. Da Rollenberger im Raum war, sagte er Sheehan nicht, daß die Observierung am Taco-Stand beinahe aufgeflogen wäre. Er würde es später erwähnen.

»Gibt’s was Neues?« fragte er Edgar.

»Nichts die Überlebende betreffend«, antwortete Edgar. »Ich fahre in fünf Minuten zum Sepulveda Boulevard. Die Mädchen sind im Berufsverkehr ziemlich betriebsam; vielleicht seh’ ich sie und nehme sie mit.«

Nachdem Bosch über alles informiert worden war, erzählte er ihnen von den Ermittlungen, die Mora gemacht hatte, und was Locke davon hielt. Am Ende pfiff Rollenberger, als wäre die Nachricht eine schöne Frau.

»Mann, der Chief sollte das sofort hören. Es könnte sein, daß er die Observierungsteams verdoppeln will.«

»Mora ist Polizist«, sagte Bosch. »Je mehr Gestalten ihn beschatten, desto größer ist die Gefahr, daß er sie bemerkt. Wenn er einmal weiß, daß wir ihn beobachten, können wir die ganze Sache vergessen.«

Rollenberger dachte nach und nickte, sagte jedoch: »Trotzdem, wir müssen ihn über die Entwicklungen unterrichten. Hören Sie zu, Sie bleiben alle hier, und ich werde sehen, ob ich heute etwas früher mit ihm sprechen kann. Dann werden wir wissen, wie’s weitergeht.«

Er stand auf, mit ein paar Papieren in der Hand, und klopfte an Irvings Bürotür. Dann öffnete er sie und verschwand dahinter.

»Arschloch«, sagte Sheehan, nachdem die Tür zu war. »Er tritt wohl wieder zur Mund-zu-Arsch-Beatmung an.«

Alle lachten.

»Eh, ihr zwei«, sagte Bosch zu Sheehan und Opelt. »Mora erwähnte euer kleines Treffen am Taco-Stand.«

»Scheiße!« sagte Opelt.

»Ich glaube, er hat euch die Ausrede mit den koscheren Burritos abgenommen«, sagte Bosch und begann zu lachen, »bis er selbst einen probiert hat. Er konnte echt nicht begreifen, warum ihr extra für diese Scheißdinger vom Parker Center hergekommen wart. Die Hälfte hat er weggeschmissen. Wenn er euch wieder dort draußen sieht, reimt er’s sich zusammen. Also paßt auf.«

»Werden wir«, sagte Sheehan. »Das war Opelts Idee mit dem koscheren Burrito. Er …«

»Was? Was hätte ich denn sagen sollen? Unser Observierungsziel klopft an den Wagen und sagt: ›Was ist los, Jungs?‹ Ich mußte mir etwas …«

Die Tür öffnete sich, und Rollenberger kam herein. Er ging an seinen Platz, setzte sich aber nicht. Statt dessen stützte er sich mit beiden Armen auf den Tisch und schaute mit ernster Miene nach vorne, als hätte er gerade Weisungen von Gott empfangen.

»Ich habe den Chief auf den neuesten Stand gebracht. Er ist mit den Resultaten der letzten vierundzwanzig Stunden sehr zufrieden. Er ist besorgt, daß Mora uns entwischen könnte – besonders in Anbetracht dessen, was der Psychiater über das Zyklusende sagte –, aber er will nichts an der Überwachung ändern. Wenn wir die Kräfte verstärken, verdoppeln wir die Chance, daß Mora etwas merkt. Ich glaube, er hat recht. Es ist eine sehr gute Idee, beim Status quo zu bleiben. Wir …«

Edgar versuchte sein Lachen zu unterdrücken, aber war nicht ganz erfolgreich. Es klang, als müßte er niesen.

»Ist irgend etwas witzig, Detective Edgar?«

»Nein, ich glaube, ich habe mich erkältet. Bitte, reden Sie weiter.«

»Nun, das wär’s. Setzen Sie Ihre Arbeit wie geplant fort. Ich werde die anderen Überwachungsteams über die neuen Erkenntnisse unterrichten, die Bosch uns mitgeteilt hat. Rector und Heikes übernehmen die Mitternachtsschicht, morgen um acht Uhr sind die Präsidenten an der Reihe.«

Die Präsidenten waren ein Team von RM namens Johnson und Nixon. Sie hörten den Spitznamen nicht gerne, besonders Nixon.

»Sheehan und Opelt, Sie machen morgen um sechzehn Uhr weiter mit der Samstagabendschicht. Seien Sie also ausgeruht. Bosch, Edgar, Sie sind freigestellt für Sonderaufgaben. Sehen Sie, was Sie herausfinden können. Nehmen Sie Ihre Piepser und Rover mit. Alle Leute müssen kurzfristig einsatzbereit sein.«

»Überstunden genehmigt?« fragte Edgar.

»Fürs ganze Wochenende. Aber wenn Sie Stunden schreiben, möchte ich Arbeit sehen. Also bitte Einsatz und keinen bezahlten Urlaub. Okay, das wär’s.«

Rollenberger setzte sich hin und rückte den Stuhl nah an den Tisch. Bosch schätzte, er wollte seine Erektion verbergen, die er anscheinend als Sklavenantreiber bekam. Alle bis auf Hans Guck-in-die-Luft verließen den Raum und gingen zum Aufzug.

»Wer geht heute abend einen trinken?« fragte Sheehan.

»Frag besser, wer geht nicht«, antwortete Opelt.

 

Bosch kam um sieben Uhr zu Hause an, nachdem er nur ein Bier im Code Seven getrunken hatte. Es hatte ihm nach dem Exzeß der vorigen Nacht nicht geschmeckt. Er rief Sylvia an und sagte ihr, daß das Urteil noch nicht entschieden sei. Nachdem er sich geduscht und umgezogen hätte, würde er um acht Uhr bei ihr sein.

Seine Haare waren noch feucht, als sie ihm die Tür öffnete. Sie umarmte ihn, sowie er hereinkam, und sie hielten sich umschlungen und küßten sich lange an der Haustür. Erst als sie einen Schritt zurücktrat, sah er, daß sie ein schwarzes Kleid trug, das tief zwischen ihren Brüsten ausgeschnitten war und zehn Zentimeter über ihren Knien endete.

»Wie war es heute, die Plädoyers und so?«

»Okay. Wofür hast du dich so schick angezogen?«

»Weil ich mit dir zum Dinner ausgehen werde. Ich habe einen Tisch reserviert.«

Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn auf den Mund.

»Harry, die letzte Nacht war die beste, die wir zusammen verbracht haben. Die beste, die ich je mit jemandem hatte. Und nicht wegen dem Sex. Da hatten wir schon bessere Nächte.«

»Man kann sich immer noch verbessern. Wie wär’s mit einer Übungsstunde vor dem Abendessen?«

Sie lächelte und sagte, dafür bliebe keine Zeit.

Sie fuhren durchs Valley und in den Malibu Canyon zum Saddle Peak Lodge. Es war eine alte Jagdhütte, und das Menü wäre für jeden Vegetarier ein Alptraum gewesen. Es gab nur Fleisch, von Wild bis Buffalo. Sie aßen beide Steaks, und Sylvia bestellte eine Flasche Merlot. Bosch trank seinen Wein langsam. Das Essen und der Abend waren wunderbar. Sie sprachen kaum über den Prozeß oder andere Sachen. Sie sahen sich oft an.

Als sie zu ihrem Haus zurückkamen, stellte Sylvia die Klimaanlage auf kalt und bereitete ein Feuer im Kamin vor.

Er beobachtete sie nur; es gelang ihm nie so recht, Feuer anzufachen, das lange brannte. Obwohl die Klimaanlage auf fünfzehn Grad heruntergestellt war, wurde es sehr warm. Sie liebten sich auf einer Decke, die sie vor dem offenen Kamin ausgebreitet hatte. Sie waren total entspannt und bewegten sich langsam miteinander.

Hinterher beobachtete er, wie sich das Feuer auf dem leichten Schweißfilm auf ihrer Brust reflektierte. Er küßte sie dort und legte seinen Kopf auf die Stelle, um ihr Herz zu hören. Es schlug kräftig und abwechselnd mit seinem. Er schloß die Augen und begann darüber nachzudenken, was er tun müsse, um diese Frau nicht zu verlieren.

Vom Feuer waren nur ein paar glühende Stellen übriggeblieben, als er in der Dunkelheit aufwachte. Ihm war sehr kalt, und er hörte einen schrillen Laut.

»Dein Piepser«, sagte Sylvia.

Er kroch zu dem Haufen Kleider neben der Couch, fand die Quelle des Geräusches und stellte sie ab.

»O Gott, wie spät ist es?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist ein beängstigendes Geräusch. Ich erinnere mich …«

Sie brach ab. Bosch ahnte, daß sie im Begriff gewesen war, eine Geschichte von ihrem ehemaligen Ehemann zu erzählen. Sie hatte sich anscheinend entschieden, die Erinnerung an ihn nicht zwischen sie treten zu lassen. Aber es war zu spät. Bosch stellte fest, daß er sich fragte, ob Sylvia und ihr Mann jemals in einer Sommernacht den Thermostat heruntergestellt und sich vor dem Kaminfeuer auf dieser Decke geliebt hatten.

»Rufst du nicht an?«

»Äh? Ach ja. Ich … hm … versuch’ nur aufzuwachen.«

Er zog seine Hosen an und ging in die Küche. Er schob die Tür zu, damit das Licht sie nicht störte. Nachdem er es angeschaltet hatte, warf er einen Blick auf die Wanduhr. Sie sah wie ein Teller aus, und anstelle der Ziffern gab es verschiedene Gemüse. Es war halb Tomate, also ein Uhr dreißig. Sylvia und er hatten nur eine Stunde geschlafen, obwohl es ihm wie eine Ewigkeit vorkam.

Die Nummer hatte eine 818-Vorwahl und war ihm unbekannt.

Jerry Edgar nahm beim ersten Klingeln schon ab.

»Harry?«

»Ja.«

»Entschuldige die Störung, Harry.«

»Ist okay. Was ist los?«

»Ich bin auf dem Sepulveda Boulevard, direkt südlich von Roscoe Boulevard. Ich hab’ sie, Mann.«

Bosch wußte, er sprach von der Überlebenden.

»Was sagt sie? Hat sie sich Moras Bild angesehen?«

»Nein, ich habe sie nicht wirklich. Ich beobachte sie nur. Sie flaniert hier die Straße lang.«

»Warum schnappst du sie dir nicht?«

»Weil ich allein bin. Ich könnte Unterstützung brauchen. Wenn ich sie allein mitzunehmen versuche, beißt sie mich oder so. Du weißt, sie hat Aids.«

Bosch schwieg. Durchs Telefon konnte er hören, wie Autos an Edgar vorbeifuhren.

»He, tut mir leid. Ich hätte nicht anrufen sollen; ich dachte nur, du wolltest dabei sein. Ich ruf den Wachhabenden in Van Nuys an und laß’ mir ein paar Cops herschicken. Also gute …«

»Vergiß es. Ich komme. Gib mir eine halbe Stunde. Bist du schon die ganze Nacht unterwegs?«

»Ja. Ich bin nur zum Abendessen nach Hause. Ich habe sie überall gesucht, aber jetzt erst entdeckt.«

Bosch legte auf und fragte sich, ob Edgar sie wirklich den ganzen Abend nicht finden konnte oder ob er Überstunden rausschinden wollte. Er ging zurück zum Wohnzimmer. Das Licht war an, und Sylvia lag nicht mehr auf der Decke.

Sie lag zugedeckt im Bett.

»Ich muß weg«, sagte er.

»Das dachte ich mir schon beim Mithören, darum bin ich ins Bett gegangen. Es ist nicht sehr romantisch, allein vor einem ausgebrannten Kaminfeuer auf dem Boden zu liegen.«

»Bist du sauer?«

»Natürlich nicht, Harry.«

Er beugte sich über das Bett und küßte sie, und sie legte ihm ihre Hand in den Nacken.

»Ich werde versuchen, wieder zurückzukommen.«

»Okay. Kannst du den Thermostat wieder hochstellen, bevor du gehst. Ich hab’s vergessen.«

 

Edgar parkte vor einer Winchell’s-Donuts-Bäckerei, anscheinend war ihm die implizite Komik nicht bewußt. Bosch hielt hinter ihm an und stieg aus.

»Wo stehste, Harry?«

»Wo steht sie?«

Edgar deutete mit dem Finger auf die andere Straßenseite, anderthalb Block weiter. An der Kreuzung von Roscoe und Sepulveda stand an einer Bushaltestelle eine Bank, auf der zwei Frauen saßen. Drei weitere standen in der Nähe.

»Sie ist die mit den roten Shorts.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ich bin an die Ampel rangefahren und habe sie angegafft. Sie ist es. Das einzige Problem ist, daß wir in einen Ringkampf geraten könnten. Die Mädchen da schaffen alle an. Der Sepulveda-Bus fährt seit eins nicht mehr.«

Bosch beobachtete, wie die in den roten Shorts ihr Trägerhemd hochhob, als ein Auto vorbeifuhr. Der Wagen bremste, aber nach kurzem Zögern fuhr der Fahrer weiter.

»Hatte sie Kunden?«

»Vor ein paar Stunden einen Typen. Sie ist mit ihm in das Gäßchen hinter den Geschäften gegangen und hat ihn dort bedient. Ansonsten tote Hose. Sie sieht zu heruntergekommen aus für anspruchsvolle Kunden.«

Edgar lachte. Bosch dachte, daß sich Edgar gerade verraten hatte, indem er zugab, daß er sie schon einige Stunden beobachtete. Wenigstens hat er mich nicht angepiept, als das Feuer brannte.

»Also, wenn du kein Interesse an Catchen hast, was für einen Plan hast du dann?«

»Ich dachte, du biegst nach links zum Roscoe Boulevard ab und fährst von hinten in das Gäßchen. Du wartest dort und versteckst dich. Ich geh’ rüber und lach’ sie mir an. Sie wird dann mit mir nach hinten gehen. Dort schnappen wir sie uns. Aber paß auf ihren Mund auf. Vielleicht spuckt sie.«

»Okay, bringen wir’s hinter uns.«

Zehn Minuten später parkte Bosch in dem Gäßchen und war auf seinem Sitz heruntergerutscht, als Edgar die Straße entlang kam. Allein.

»Was ist passiert?«

»Sie hat gemerkt, was ich bin.«

»Scheiße, Mann, warum hast du sie nicht einfach mitgenommen. Wenn sie dich als Polizisten erkannt hat, können wir nichts tun. Sie wird es mir auch ansehen, wenn ich es fünf Minuten später versuche.«

»Okay, sie hat mich nicht als Polizisten erkannt.«

»Was ist hier eigentlich los?«

»Sie wollte nicht mitkommen. Sie fragte mich, ob ich braunen Zucker hätte. Als ich sagte, ich hätte keine Drogen, antwortete sie, sie gibt sich nicht mit farbigen Schwänzen ab. Hältst du das für möglich? Seit meiner Kindheit in Chicago bin ich nicht mehr Farbiger genannt worden.«

»Reg dich nicht auf. Warte hier, ich gehe.«

»Gottverdammte Hure.«

Bosch stieg aus und sagte über das Wagendach hinweg: »Edgar, reg dich ab. Um Gottes willen, es ist eine Hure und ein Junkie. Gibst du vielleicht was auf ihre Meinung?«

»Harry, du weißt nicht, wie es ist. Hast du gemerkt, wie Rollenberger mich ansieht. Ich wette, er zählt jedesmal die Rover, wenn ich den Raum verlasse. Deutsches Arschloch.«

»Okay, du hast recht. Ich weiß nicht, wie’s ist.«

Er zog seine Jacke aus und warf sie ins Auto. Dann machte er die oberen drei Knöpfe auf und ging zur Straße.

»Ich bin gleich zurück. Besser, du versteckst dich. Wenn sie einen Farbigen sieht, kommt sie vielleicht nicht mit.«

Auf dem Revier in Van Nuys ließen sie sich einen Vernehmungsraum geben. Bosch kannte sich in dem Gebäude aus, weil er hier am Raub-Tisch gearbeitet hatte, nachdem er seine Dienstmarke als Detective bekommen hatte.

Gleich am Anfang wurde ihnen klar, daß der Mann, mit dem Georgia Stern vor ein paar Stunden ins Gäßchen gegangen war, kein Kunde gewesen war. Er war ein Dealer gewesen, und sie hatte sich wahrscheinlich einen Schuß gesetzt. Vielleicht hatte sie dafür mit Sex bezahlt, aber es war trotzdem ein Dealer und kein Kunde.

Abgesehen davon, wer er gewesen war und was sie getan hatte, war sie beim Einnicken, als Bosch und Edgar sie hierherbrachten, und daher fast unbrauchbar. Ihre Pupillen waren erweitert und ihr Blick weggetreten. Ab und zu fixierten ihre Augen irgend etwas in der Distanz. Sogar in dem zehn Quadratmeter kleinen Zimmer sah es aus, als würde sie etwas anstarren, das eine Meile entfernt war.

Ihr Haar war ungekämmt und der schwarze Haaransatz war breiter als auf dem Foto, das Edgar hatte. Unter dem linken Ohr war ihre Haut wund wie bei vielen Süchtigen, die ständig nervös an der gleichen Stelle rieben. Die Oberarme waren so dünn wie die Beine des Stuhls, auf dem sie saß. Ihr heruntergekommener Zustand wurde durch ihr Hemd, das mehrere Nummern zu groß war, betont. Der Ausschnitt gab oben ihre Brüste frei und Bosch sah, daß sie die Venen an ihrem Hals benutzte, wenn sie sich Heroin spritzte. Trotz ihres abgemagerten Zustands waren ihre Brüste groß und voll. Brustimplantate, riet er, und für einen Moment sah er vor seinem inneren Auge den vertrockneten Körper der Beton-Blondine.

»Miss Stern«, begann Bosch. »Georgia? Wissen Sie, warum Sie hier sind? Erinnern Sie sich, was ich Ihnen im Auto gesagt habe.«

»Ischernimmermisch.«

»Okay, erinnern Sie sich an die Nacht, als der Mann versuchte, Sie umzubringen? Mehr als vier Jahre her? In so einer Nacht? Am siebzehnten Juni. Erinnern Sie sich?«

Sie nickte wie in Trance, und Bosch fragte sich, ob sie begriff, wovon er sprach.

»Der Puppenmacher, erinnern Sie sich?«

»Er’st tot.«

»Das ist richtig, aber wir müssen Ihnen trotzdem über den Mann noch ein paar Fragen stellen. Sie haben uns bei einem Bild geholfen, erinnern Sie sich?«

Bosch faltete das Phantombild auf, das er aus den Puppenmacher-Akten genommen hatte. Die Zeichnung ähnelte weder Church noch Mora; vom Puppenmacher war jedoch bekannt, daß er sich maskierte. Es konnte also sein, daß der Nachahmungstäter es auch tat. Trotzdem war es möglich, daß sie sich an irgendein Detail, wie zum Beispiel Moras durchdringenden Blick, erinnern konnte.

Sie studierte das Phantombild lange.

»Er wurde von den Cops getötet«, sagte sie. »Er verdiente es.«

Bosch fühlte sich bestätigt, daß der Puppenmacher sein Ende verdient hatte – auch wenn es von jemandem wie ihr kam. Aber er wußte etwas, das sie nicht wußte, daß sie es hier nicht mit dem Puppenmacher zu tun hatten.

»Wir zeigen Ihnen jetzt ein paar Bilder. Hast du das Sechserpack, Jerry?«

Sie sah abrupt auf, und Bosch begriff seinen Fehler. Sie dachte, er spräche von Bier. Aber Cops meinen mit Sechserpack sechs Polizeifotos, die Opfern und Zeugen vorgelegt werden. Normalerweise zeigen sie fünf Polizisten und einen Verdächtigen; wobei man hofft, daß der Zeuge auf den Verdächtigen deutet. Diesmal enthielt das Sechserpack sechs Fotos von Polizisten. Moras war das zweite.

Bosch breitete sie vor ihr auf dem Tisch aus, und sie betrachtete sie lange. Dann lachte sie.

»Was?« fragte Bosch.

Sie zeigte auf das vierte Foto.

»Ich glaube, ich habe ihn einmal gefickt. Aber ich dachte, er ist ein Cop.«

Bosch sah Edgar den Kopf schütteln. Sie hatte auf einen verdeckten Drogenfahnder vom Hollywood-Revier namens Arb Danforth gezeigt. Falls sie sich korrekt erinnerte, dann wilderte Danforth manchmal im Valley und zwang Prostituierte zum Geschlechtsverkehr. Bosch nahm an, daß er ihnen dafür Heroin gab, das er aus den Plastiktüten für Beweismaterial stahl oder das er direkt Verdächtigen abnahm. Was sie gerade gesagt hatte, war eigentlich in einem Bericht an Interne Ermittlungen weiterzugegeben. Aber ohne ein Wort zu wechseln, wußten Edgar und Bosch, daß sie es nicht tun würden. Es wäre gleichbedeutend mit Selbstmord. Kein Polizist auf der Straße würde ihnen je wieder trauen. Bosch wußte jedoch, daß Danforth verheiratet war und daß die Prostituierte AIDS hatte. Er beschloß, Danforth einen anonymen Brief zu schicken, damit er sich einem Bluttest unterzog.

»Was ist mit den anderen, Georgia?« sagte Bosch. »Sehen Sie sich die Augen an. Augen verändern sich nicht, auch wenn sich jemand maskiert. Sehen Sie sich die Augen an.«

Während sie sich tiefer hinabbeugte, um die Bilder von nahem zu sehen, schaute Bosch Edgar an, der den Kopf schüttelte. Das hier würde nichts bringen, Bosch nickte. Nach einer Minute fuhr ihr Kopf ruckartig nach oben; sie wäre beinahe eingeschlafen.

»Okay, Georgia, nichts da, oder?«

»Nein.«

»Sie sehen ihn nicht.«

»Nein. Er ist tot.«

»Okay, er ist tot. Sie bleiben hier. Wir gehen mal eben raus und besprechen was. Wir sind gleich zurück.«

Draußen beschlossen sie, daß es sich lohnen könnte, sie wegen Rauschmittelgebrauchs ins Sybil-Brand einzuweisen und es morgen noch einmal zu versuchen, wenn sie nicht mehr high war. Bosch merkte, wie sehr Edgar darauf erpicht war, sie nach Downtown ins Sybil zu bringen. Bosch wußte, daß es Edgar dabei um die Überstunden ging. Er meldete sich nicht etwa freiwillig dafür, weil ihm daran gelegen war, daß die Frau in den Entzugstrakt kam und eine Weile ohne Drogen lebte. Mitgefühl hatte nichts damit zu tun.