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Bosch verließ Downtown auf dem Wilshire Boulevard und fuhr dann zur Third Street hinauf, nachdem er die Überreste des MacArthur Parks durchquert hatte. Als er nördlich auf die Western Avenue abbog, sah er schon auf der linken Seite eine Ansammlung von Streifenwagen, Zivilfahrzeugen von Detectives, sowie die Transportwagen der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin. In der Ferne war das HOLLYWOOD-Zeichen im Norden nur schwach durch den Smog zu erkennen.

Bing’s bestand aus drei verkohlten Wänden, die einen Haufen verbrannter Trümmer umgaben. Ein Dach war nicht mehr vorhanden, aber die Polizisten hatten eine blaue Plastikplane oben auf der Rückwand befestigt und sie bis zum Maschendrahtzaun an der Vorderseite des Grundstücks gespannt. Bosch begriff, daß dies nicht geschehen war, weil die Polizeikräfte im Schatten arbeiten wollten. Er beugte sich nach vorne und blickte durch die Windschutzscheibe nach oben. Dort oben kreisten sie. Die Aasgeier der Stadt: die Hubschrauber von Radio, Fernsehen und Zeitung.

Als Bosch am Bordstein parkte, bemerkte er einige städtische Arbeiter neben einem Lkw mit Arbeitsgeräten. Sie sahen ziemlich grün im Gesicht aus und inhalierten tief und angestrengt den Rauch ihrer Zigaretten. Ihre Preßlufthämmer lagen auf dem Boden am Ende des Lkws. Sie warteten und hofften, daß ihre Arbeit getan war.

Auf der anderen Seite des Lkws stand Pounds neben dem blauen Transportwagen der Gerichtsmedizin. Er sah aus, als bemühte er sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Sein Gesichtsausdruck glich dem der Arbeiter. Obwohl Pounds Commander der Detectives-Abteilung von Hollywood war, einschließlich des Mord-Dezernats, hatte er selbst nie Morde untersucht. Wie viele Vorgesetzte bei der Polizei verdankte er seinen Aufstieg Examensresultaten und Arschkriecherei – nicht Erfahrung. Es machte Bosch immer Freude zu erleben, wenn jemand wie Pounds auch etwas davon abbekam, womit richtige Cops jeden Tag konfrontiert wurden.

Bosch sah auf die Uhr, bevor er aus dem Caprice stieg. Er hatte noch eine Stunde, bis er wieder im Gericht sein mußte.

»Harry«, begrüßte ihn Pounds und kam zu ihm. »Gut, daß du kommen konntest.«

»Es ist mir immer eine Ehre, eine Leiche zu untersuchen, Lieutenant.«

Bosch zog seine Anzugjacke aus und legte sie auf den Sitz im Wagen. Dann holte er aus dem Kofferraum einen weiten, blauen Overall und zog ihn über seine Kleidung. Ihm würde warm werden, aber er wollte nicht vor Gericht mit staubigen und schmutzigen Kleidern erscheinen.

»Gute Idee«, sagte Pounds. »Ich wünschte, ich hätte meine Sachen mitgebracht.«

Aber Bosch wußte, daß Pounds keine »Sachen« hatte. Pounds ließ sich nur dann an einem Tatort sehen, wenn das Fernsehen wahrscheinlich dort sein würde und er ein, zwei Sätze ins Mikrofon sprechen konnte. Nur das Fernsehen interessierte ihn. Keine Zeitungen. Man mußte mehr als zwei zusammenhängende und sinnvolle Sätze zusammenbringen, wenn man mit einem Zeitungsreporter sprach. Und danach waren die Sätze in Papierform den ganzen nächsten Tag und eventuell für ewige Zeiten präsent, um einen zu verfolgen. Es war einer Karriere bei der Polizei nicht sehr dienlich mit Zeitungsreportern zu sprechen. TV war dagegen ein flüchtiger und wenig gefährlicher Kitzel.

Bosch ging zur blauen Plane hinüber. Unter ihr entdeckte er die übliche Versammlung von Fahndungskräften. Sie standen neben einem Haufen Betonschutt und einem Graben, der in die Bodenplatte geschlagen worden war, die das Fundament des Gebäudes gebildet hatte. Als einer der Fernsehhelikopter im Tiefflug über sie hinwegging, richtete sich Bosch auf. Wegen der Plane würden sie sicher keine guten Aufnahmen machen können. Wahrscheinlich hatten sie inzwischen schon Bodenteams angefordert.

Innerhalb der Außenwände lag immer noch eine Menge Schutt. Verkohlte Deckenbalken und Bauholz, zerborstene Betonbrocken und andere Trümmer. Pounds hatte Bosch wieder eingeholt, und zusammen bewegten sie sich vorsichtig zur Gruppe unter der Plane hin.

»Das wird planiert, und dann gibt es einen Parkplatz mehr«, sagte Pounds. »Das ist das einzige, was die Krawalle für die Stadt erreicht haben. Ungefähr tausend neue Parkplätze. Wenn du heutzutage in South Central parken willst, kein Problem. Falls du aber eine Flasche Limonade willst oder Benzin für dein Auto, hast du ein Problem. Sie haben jeden Laden in Flammen aufgehen lassen. Bist du schon mal vor Weihnachten durch den Süden der Stadt gefahren? Auf jedem Block kann man Tannenbäume kaufen – jede Menge leerer Grundstücke dort unten. Ich begreif immer noch nicht, warum diese Menschen ihre eigenen Wohnbezirke in Brand setzen.«

Bosch wußte, der Umstand, daß so Leute wie Pounds nicht verstanden, warum »diese Menschen« taten, was sie taten, war ein Grund, warum sie es taten und irgendwann wieder tun würden. Es war eine Art Zyklus. Alle fünfundzwanzig Jahre wurde die Seele der Stadt von der Realität angesengt. Aber dann fuhr sie weiter. Schnell, ohne sich umzusehen, flüchtete man vom Unfallort.

Plötzlich fiel Pounds hin, nachdem er auf losem Schutt ausgerutscht war. Er fing seinen Fall mit den Händen ab und sprang schnell wieder auf. Es war ihm peinlich.

»Verdammt!« murmele er, und obwohl Bosch nicht gefragt hatte, fügte er hinzu. »Ich bin okay, ich bin okay.«

Mit der Hand schob er eilig die Haarsträhnen wieder nach oben, die von seinem halbkahlen Schädel gerutscht waren. Er merkte nicht, daß er sich dabei mit der Hand schwarze Striemen über die Stirn zog, und Bosch wies ihn nicht darauf hin.

Endlich hatten sie sich ihren Weg zu der Gruppe gebahnt. Bosch ging sofort zu seinem ehemaligen Partner Jerry Edgar, der mit einigen Leuten zusammenstand, die Harry kannte, und zwei Frauen, die ihm unbekannt waren. Die Frauen trugen grüne Overalls, die Uniform der Leichenträger von der Gerichtsmedizin. Sie verdienten den Minimallohn und wurden von einem Tatort zum anderen geschickt, um die Leichen abzuholen und ins Kühlhaus zu bringen.

»Wo stehste, Harry?« sagte Edgar.

»Genau hier.«

Edgar war gerade vom Blues Festival in New Orleans zurückgekommen und hatte dort diesen Gruß aufgeschnappt. Er verwandte ihn so oft, daß es einem allmählich auf die Nerven ging. Edgar war der einzige auf dem Revier, der das noch nicht gemerkt hatte.

Edgar stach aus der Gruppe hervor. Er trug keinen Overall wie Bosch – er trug nie einen, weil seine feinen Anzüge Falten bekommen könnten –, hatte es jedoch irgendwie geschafft, zum Fundort zu gelangen, ohne auch nur ein Staubkorn auf die Hosenaufschläge seines grauen Doppelreihers zu bekommen. Der Immobilienmarkt – Edgars ehemals lukrativer Nebenjob – war seit drei Jahren total im Eimer, aber er war immer noch der eleganteste Cop in Hollywood. Bosch sah sich Edgars blaßblaue Seidenkrawatte an, die unter der Kehle des schwarzen Detectives straff geknotet war, und schätzte, daß sie wohl mehr gekostet hatte als sein Hemd und seine Krawatte zusammen.

Bosch sah hinüber und nickte Art Donovan zu, dem Technischen Assistenten von der Spurensicherung, sagte aber nichts zu den anderen. Er hielt sich ans Protokoll. Wie bei jedem Mord gab es am Tatort ein kompliziertes und inzestuöses Kastensystem. Die Detectives sprachen meist nur miteinander oder mit den kriminalwissenschaftlichen Assistenten. Die Bullen sagten nichts, außer sie wurden angesprochen. Die Leichenträger, die den untersten Rang einnahmen, sprachen nur mit den MTAs von der Gerichtsmedizin. Die MTAs wechselten nur wenige Worte mit den Cops. Sie verachteten sie. Ihrer Ansicht nach waren sie nervtötend, weil sie ständig um etwas bettelten, eine Autopsie, ein toxikologischer Test – und alles spätestens bis gestern.

Bosch sah hinunter in den Graben, an dem sie standen. Die Arbeiter waren mit den Preßlufthämmern durch die Betonplatte gedrungen und hatten ein Loch gegraben, das zweieinhalb Meter lang und mehr als einen Meter tief war. Von dort hatten sie seitlich das Betonfundament ausgehöhlt, das sich von der Betonplatte aus einen Meter nach unten erstreckte. Im Fundament befand sich eine Öffnung. Bosch hockte sich nieder und sah, daß sie die Form einer Frauenleiche hatte. Als ob es eine Form wäre, in die man Gips gießen könnte, um einen Abguß zu machen – vielleicht, um eine Schaufensterpuppe herzustellen. Aber sie war leer.

»Wo ist die Leiche?« fragte Bosch.

»Was noch da war, haben sie rausgenommen«, sagte Edgar. »Es ist im Sack im Transporter. Wir überlegen gerade, wie wir den Betonklotz hier in einem Stück herauskriegen.«

Ein paar Augenblicke sah Bosch schweigend hinab zur ausgehöhlten Öffnung, dann stand er auf und verließ das Ruinengrundstück wieder. Larry Sakai, der gerichtsmedizinische Assistent folgte ihm zum blauen Transportwagen und schloß die Hecktür auf. Die Hitze im Inneren war drückend und Sakais Atem roch stärker als das Desinfektionsmittel.

»Ich hab’ mir gedacht, daß sie dich herholen«, sagte Sakai.

»So? Und warum?«

»Weil’s nach dem verdammten Puppenmacher aussieht.«

Bosch erwiderte nichts, um Sakai keinerlei Bestätigung zu geben. Sakai hatte vor vier Jahren an den Puppenmacher-Morden gearbeitet, und Bosch hatte ihn in Verdacht, für den Spitznamen des Serienmörders in den Medien verantwortlich zu sein. Jemand hatte Details, die das Anbringen von Make-up an den Leichen betrafen, an einen der Nachrichtensprecher von Kanal 4 durchsickern lassen, der dann den Mörder auf den Namen Puppenmacher taufte. Danach wurde er von allen so genannt, sogar von den Cops.

Bosch hatte den Namen allerdings immer gehaßt. Er stempelte nicht nur den Mörder ab, sondern auch die Opfer. Sie waren nicht mehr Menschen, die gelebt hatten. So konnte man die entsetzlichen Nachrichten als unterhaltende Puppenmacher-Stories unter die Leute bringen.

Bosch sah sich im Wagen um. Es gab zwei Bahren und zwei Leichen. Die eine füllte den schwarzen Sack ganz: entweder hatte sie zu Lebzeiten Übergewicht gehabt, oder war nach dem Tod aufgedunsen. Er wandte sich zum anderen Sack, der von den Überresten kaum gefüllt wurde. Dies mußte die Leiche sein, die man aus dem Beton befreit hatte.

»Ja, das ist sie«, sagte Sakai. »Die andere ist eine Messerstecherei auf dem Lankershim Boulevard. North Hollywood hat den Fall. Wir waren auf dem Rückweg, als wir hierhin beordert wurden.«

Das erklärte, warum die Medien so schnell Wind von der Sache bekommen hatten. Die Funkfrequenz der Gerichtsmedizin wurde in allen Redaktionen der Stadt abgehört.

Einen Moment lang betrachtete er den kleineren Leichensack und riß dann, ohne darauf zu warten, daß Sakai es tun würde, den Reißverschluß des schweren, schwarzen Plastikmaterials auf. Ein scharfer, modriger Geruch drang heraus, der wohl schlimmer gewesen wäre, hätte man die Leiche früher gefunden. Sakai schlug den Sack auf, und Bosch blickte auf die Überreste eines menschlichen Körpers. Die Haut war dunkel und spannte sich wie Leder über die Knochen. Bosch ekelte sich nicht, weil er sich an solche Anblicke gewöhnt hatte und sich davon innerlich lösen konnte. Manchmal glaubte er, sein Leben bestand darin, Leichen zu beschauen. Als er noch nicht einmal zwölf Jahre alt gewesen war, hatte er die Leiche seiner Mutter für die Polizei identifiziert. Während seiner Vietnamzeit hatte er unzählige Tote gesehen, und in seinen zwanzig Berufsjahren war die Anzahl der Leichen ins Unermeßliche gestiegen. Seine Anteilnahme hatte sich auf die Rolle einer Kamera reduziert. Er war so losgelöst wie ein Psychopath.

Es war zu erkennen, daß die Frau klein gewesen war, und der Verfall des Gewebes sowie der Schrumpfprozeß ließen sie noch kleiner erscheinen als im Leben. Was vom Haar übriggeblieben war, war schulterlang und blond gebleicht. Bosch konnte die staubförmigen Überreste des Make-ups auf ihrem Gesicht erkennen. Sein Blick wurde von den Brüsten angezogen, die im Vergleich zu dem geschrumpften Körper immens groß waren. Sie waren voll und rund, und die Haut war straff. Es war das Groteskeste an der Leiche, weil es anders war, als man erwartet hätte.

»Implantate«, erklärte Sakai. »Verwesen nicht. Wir könnten sie rausnehmen und an die nächste Tussi verkaufen, die sie haben will. Man könnte ein Recycling-Programm starten.«

Bosch sagte nichts. Der Gedanke an die Frau – wer immer sie war –, die das mit ihrem Körper angestellt hatte, um attraktiver zu sein, und die dann so geendet hatte, deprimierte ihn. War es ihr am Ende nur gelungen, ihrem Mörder zu gefallen?

Sakai unterbrach seine Gedanken.

»Wenn das der Puppenmacher war, heißt das, sie war wenigstens vier Jahre einbetoniert. Hab’ ich recht? In dem Fall ist die Verwesung gar nicht so weit fortgeschritten. Wir haben immer noch Haare, Augen, etwas inneres Gewebe. Damit läßt sich was anfangen. Letzte Woche habe ich vielleicht einen Kunden bekommen – einen Wanderer, der im Soledad Canyon gefunden wurde. Sie nehmen an, es war ein Typ, der im letzten Sommer vermißt gemeldet wurde. Der bestand nur aus Knochen. Natürlich gibt es da draußen Tiere. Du weißt, sie graben sich durchs Arschloch rein, dort ist es am weichsten, und die Tiere …«

»Ich weiß, Sakai. Bleiben wir bei der hier.«

»Okay, also bei dieser Frau hat der Beton anscheinend den Prozeß verlangsamt. Nicht aufgehalten, aber verlangsamt. Es war wie eine luftdichte Gruft.«

»Könnt ihr feststellen, wie lang sie schon tot ist?«

»Wahrscheinlich nicht anhand der Leiche. Wir finden heraus, wer sie war, und dann müßt ihr ermitteln, seit wann sie vermißt wird. So wird es wohl laufen.«

Bosch sah sich die Finger an. Sie ähnelten dunklen Stäbchen, fast so dünn wie Bleistifte.

»Wie steht’s mit Fingerabdrücken?«

»Werden wir kriegen, aber nicht von denen da.«

Bosch blickte auf und sah Sakai lächeln.

»Was? Sie hat welche im Beton zurückgelassen?«

Sakais besserwisserisches Lächeln platzte wie ein Luftballon. Bosch hatte ihm die Pointe ruiniert.

»Genau. Man könnte sagen, sie hat Eindruck gemacht. Wir werden Abdrücke sicherstellen und eventuell ihre Totenmaske, falls wir den Rest des Betonklotzes herausbekommen. Die Person, die den Beton gemischt hat, hat zuviel Wasser verwendet. Dadurch wurde die Masse sehr fein. Glück für uns. So kriegen wir Fingerabdrücke.«

Bosch beugte sich über die Bahre, um den Lederstreifen zu untersuchen, der um den Hals der Leiche geknotet war. Das Leder war dünn und schwarz, und Bosch entdeckte die Herstellungsnaht am Rand. Es war der Riemen einer Handtasche – wie die anderen vorher. Als er sich tiefer beugte, stach ihm der Geruch des Kadavers in die Nase. Der Umfang den Lederriemens am Hals war gering und entsprach ungefähr dem einer Weinflasche. Eng genug, um tödlich zu sein. Er sah, wo der Knoten in die jetzt dunkle Haut geschnitten und die Luft zum Leben abgewürgt hatte. Es war ein Schlingenknoten, der auf der rechten Seite mit der linken Hand zusammengezogen worden war. Wie bei den anderen. Church war Linkshänder gewesen.

Eine Sache war noch zu überprüfen. Die Signatur hatten sie es genannt.

»Keine Kleidung? Schuhe?«

»Nichts – wie bei den anderen. Erinnerst du dich?«

»Öffne den Sack ganz. Ich will den Rest sehen.« Sakai zog den Reißverschluß vollständig nach unten. Bosch war sich nicht sicher, ob Sakai von der Signatur wußte, wollte es aber nicht erwähnen. Er beugte sich über die Leiche, sah nach unten und tat so, als ob er alles genau studieren würde, obwohl er eigentlich nur an den Zehennägeln interessiert war. Die Zehen waren verschrumpelt, schwarz und hatten Risse. Die Nägel hatten ebenfalls Risse und einige fehlten. An den Zehen, die noch Nägel hatten, konnte Bosch die Farbe erkennen. Hot Pink, das durch die bei der Verwesung entstandenen Flüssigkeiten, durch Staub und Zeit matt geworden war. Auf dem rechten großen Zeh entdeckte er die Signatur – oder das, was noch übrig geblieben war. Ein winziges, weißes Kreuz war sorgfältig auf den Nagel gemalt worden. Das Zeichen des Puppenmachers. Alle Leichen hatten es an dieser Stelle getragen.

Bosch fühlte sein Herz laut pochen. Er sah sich im Transportwagen um und begann klaustrophobisch zu werden. Die ersten Anzeichen von Paranoia begannen sich in seinem Verstand einzunisten. Sein Gehirn überschlug die Möglichkeiten. Wenn diese Leiche in allen Merkmalen mit den Opfern des Puppenmachers übereinstimmte, dann war Church der Mörder. Falls Church der Mörder dieser Frau war und inzwischen selbst tot, wer hatte dann den Brief am Eingangsschalter des Hollywood-Reviers zurückgelassen?

Er richtete sich auf und betrachtete zum ersten Mal die Leiche im Ganzen. Nackt, zusammengeschrumpft und vergessen. Gab es andere dort im Beton, die darauf warteten, entdeckt zu werden?

»Mach zu«, sagte er zu Sakai.

»Er war’s, nicht wahr? Der Puppenmacher.«

Bosch antwortete nicht. Er stieg aus dem Wagen und zog den Reißschluß an seinem Overall etwas auf, um frische Luft zu bekommen.

»He, Bosch«, rief Sakai aus dem Wagen heraus. »Reine Neugier. Wie habt ihr die hier gefunden? Wenn der Puppenmacher tot ist, wer hat euch dann erzählt, wo man suchen muß?«

Bosch gab auch darauf keine Antwort. Langsam ging er zurück unter die Plane. Es sah so aus, als ob die anderen noch immer nicht geklärt hatten, wie man den Beton, der die Leiche umschlossen hatte, herausholen konnte. Edgar stand herum und bemühte sich, nicht dreckig zu werden. Bosch gab ihm und Pounds ein Zeichen, und sie gingen zu einer Stelle links vom Graben, wo sie sprechen konnten, ohne gehört zu werden.

»Nun?« fragte Pounds. »Was haben wir vor uns?«

»Es sieht nach Churchs Handschrift aus«, sagte Bosch.

»Scheiße«, fluchte Edgar.

»Weshalb bist du dir so sicher?« wollte Pounds wissen.

»Soweit ich sehen kann, stimmt es in jedem Detail mit der Vorgehensweise des Puppenmachers überein. Einschließlich der Signatur. Sie ist da.«

»Die Signatur?« fragte Edgar.

»Das weiße Kreuz auf dem Zehennagel. Dieses Detail haben wir während der Fahndung zurückgehalten, mit den Reportern konnten wir eine Vereinbarung treffen.«

»Könnte es ein Nachahmungstäter sein?« schlug Edgar vor.

»Möglicherweise. Die Öffentlichkeit erfuhr erst von dem weißen Kreuz, als wir die Akte schlossen. Danach hat Bremmer von der Times das Buch über den Fall geschrieben. Darin wurde es erwähnt.«

»Also haben wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun.«

»Das hängt davon ab, wann sie starb«, erwiderte Bosch. »Das Buch erschien ein Jahr nach Churchs Tod. Wenn sie danach starb, ist jemand in seine Fußstapfen getreten. Wenn sie vorher einbetoniert wurde, dann weiß ich nicht …«

»Scheiße«, sagte Edgar.

Bosch dachte einen Moment nach, bevor er wieder sprach.

»Wir haben es mit verschiedenen Möglichkeiten zu tun. Vielleicht ist es ein Nachahmungstäter oder Church hatte einen Komplizen, und wir haben’s übersehen. Oder – möglicherweise habe ich den falschen Typ umgelegt. Egal wer den Brief geschrieben hat, vielleicht sagt er die Wahrheit.«

Die letzten Worte riefen in der folgenden Stille die gleiche Reaktion hervor wie Hundescheiße auf dem Bürgersteig. Jeder weicht ihr vorsichtig aus, ohne sie allzu genau zu betrachten.

»Wo hast du den Brief?« fragte Bosch endlich Pounds.

»In meinem Wagen. Ich hol’ ihn. Aber was meinst du damit, daß er eventuell einen Komplizen hatte?«

»Ich meine, falls Church für diese Leiche verantwortlich ist, von wem kommt dann der Brief? Er ist ja schließlich tot. Es kann nur jemand sein, der weiß, daß er der Täter war und wo er sie versteckte. In dem Fall ist die Frage, wer ist diese zweite Person? Ein Partner? Hatte Church bei seinen Morden einen Helfer, von dem wir nichts wußten?«

»Erinnerst du dich an den Hillside-Würger?« warf Edgar ein. »Am Ende stellte sich heraus, daß es zwei waren. Vettern mit dem gemeinsamen Hang, junge Frauen zu töten.«

Pounds machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, als wolle er einen Fall exerzieren, der seine Karriere gefährden könnte.

»Könnte es die Anwältin sein?« sagte Pounds. »Nehmen wir mal an, Churchs Frau weiß, wo er die Leichen vergraben hat. Sie sagt es Chandler, und Chandler denkt sich diesen Plan aus, schreibt einen Brief wie der Puppenmacher und läßt ihn im Revier liegen. Eine todsichere Methode, dir den Prozeß zu vermasseln.«

Bosch erwog die Möglichkeit. Sie schien plausibel zu sein. Doch dann entdeckte er die Brüche; sie zogen sich durch alle Hypothesen.

»Aber warum würde Church manche Leichen vergraben und andere nicht? Der Seelenklempner, der damals das Fahndungsteam beraten hat, vertrat die Ansicht, daß die Zurschaustellung der Opfer exhibitionistisch war. Gegen Ende, nach der siebten Leiche, begann er die Briefe an uns und die Zeitung zu schicken. Es ergibt keinen Sinn. Warum waren einige Leichen für jedermann zu finden und andere einbetoniert.«

»Da hast du recht«, sagte Pounds.

»Ich glaube an einen Nachahmungstäter«, meinte Edgar.

»Aber warum sollte man jemanden in allen Details nachahmen – einschließlich der Signatur – und dann die Leiche vergraben?« fragte Bosch.

In Wirklichkeit fragte er nicht seine Kollegen, sondern sich selbst. Eine Weile standen sie schweigend, bis jeder von ihnen einzusehen begann, daß die plausibelste Erklärung war, daß der Puppenmacher noch lebte.

»Egal, wer es war, warum hat er den Brief geschrieben?« sagte Pounds, er war sehr erregt. »Warum gibt er einen Brief für uns ab. Er war praktisch davongekommen.«

»Weil er beachtet werden will«, sagte Bosch. »Wie der Puppenmacher. Und wie dieser Prozeß.«

Das Schweigen schlug wieder über ihnen zusammen.

»Der Schlüssel …« sagte Bosch endlich, »… ist ihre Identität. Wir müssen herausfinden, wie lange sie einbetoniert war. Dann wissen wir, woran wir sind.«

»Also, was machen wir jetzt?« fragte Edgar.

»Ich werde dir sagen, was wir tun«, erklärte Pounds. »Wir sagen kein Sterbenswörtchen zu niemandem. Fürs erste. Nicht bevor wir absolut wissen, womit wir es zu tun haben. Wir warten die Autopsie ab und die Identifizierung. Wir stellen fest, wie lange das Mädchen tot ist und was sie tat, bevor sie verschwand. Dann entscheiden wir – entscheide ich, welche Taktik wir einschlagen. In der Zwischenzeit sagen wir nichts. Wenn das hier zu falschen Schlüssen führt, wird die Polizei schwer dafür bezahlen müssen. Wie ich sehe, sind einige Reporter schon hier. Ich werde mich um sie kümmern. Niemand sonst. Klar?«

Bosch und Edgar nickten. Pounds verließ sie und bewegte sich langsam durch die Trümmer zu den Reportern und Kameramännern, die sich hinter dem gelben Absperrband versammelt hatten.

Ein paar Momente schwiegen Bosch und Edgar und blickten ihm nach.

»Ich hoffe bloß, er weiß, was er da sagt«, fluchte Edgar.

»Er flößt einem wirklich Vertrauen ein, nicht wahr?«

»Und wie.«

Bosch ging hinüber zum Graben, und Edgar folgte.

»Was machst du mit dem Abdruck, den sie im Beton hinterließ?«

»Die Arbeiter meinen, man kann ihn nicht herausholen. Derjenige, der den Beton gemischt hat, hat sich nicht genau ans Rezept gehalten und zuviel Wasser und feinen Sand verwendet. Es ist wie Gips. Wenn wir den Klotz in einem Stück herausholen, zerbricht er unter dem eigenen Gewicht.«

»Also?«

»Donovan bereitet Gips vor. Er wird einen Abguß vom Gesicht nehmen. Für die Hand – nur die linke ist noch übrig, die rechte zerfiel, als wir gruben – wird Donovan Gummisilikon benutzen. Er sagt, damit haben wir die besten Aussichten, einen Abguß mit Fingerabdrücken zu erhalten.«

Bosch nickte. Ein paar Augenblicke beobachtete er Pounds und sah zum ersten Mal an diesem Tag etwas, was ihn erheiterte. Pounds sprach vor laufenden Kameras zu den Reportern – anscheinend hatte aber niemand ihn auf seine dreckverschmierte Stirn aufmerksam gemacht. Bosch steckte sich eine Zigarette an und wandte sich wieder Edgar zu.

»Hier waren also die Mietlagerräume?« fragte er.

»Genau. Der Grundstücksbesitzer war vor ein paar Minuten hier und hat uns gesagt, daß der hintere Bereich in individuelle Lagerräume unterteilt war. Der Puppenmacher … äh, der Mörder, wer immer das war … könnte einen dieser Räume gemietet haben und war hier ungestört. Sein einziges Problem war der Lärm beim Ausstemmen der Betonplatte. Möglicherweise hat er nachts gearbeitet. Der Besitzer sagt, fast niemand war nachts in den Lagerräumen. Die Mieter hatten einen Schlüssel zum Hintereingang. Der Täter könnte hergekommen sein und die ganze Arbeit in einer Nacht gemacht haben.«

Die nächste Frage war offensichtlich; also beantwortete Edgar sie, bevor Bosch sie stellen konnte.

»Der Eigentümer kann uns den Namen den Mieters nicht geben. Zumindest nicht mit letzter Sicherheit. Die Unterlagen sind bei dem Feuer mitverbrannt. Seine Versicherung hat sich mit den meisten Leuten verglichen, die Entschädigung beantragten. Deren Namen werden wir erhalten. Aber er sagte, einige Mieter hätten keine Ansprüche gestellt und er habe von ihnen nie wieder etwas gehört. Er kann sich nicht mehr an alle Namen erinnern. Falls unser Typ darunter war, hat er sicherlich ein Alias benutzt. Wenigstens würde ich das machen, wenn ich einen Raum mieten würde, um eine Leiche unterm Fußboden zu vergraben.«

Bosch nickte und sah auf die Uhr. Es wurde allmählich Zeit zurückzufahren. Er merkte, daß er hungrig war. Allerdings blieb ihm wohl nicht genug Zeit, um zu essen. Bosch sah in den Graben hinab und erkannte den Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Beton. Die alte Platte war fast weiß. Der Beton, der die Leiche umgeben hatte, war dunkelgrau. Dann fiel ihm ein roter Papierfetzen ins Auge, der aus einem grauen Betonstück unten im Graben hervorkam. Er ließ sich in die Grube fallen und hob den Brocken auf der ungefähr die Größe eines Softballs hatte. Mit der Hand schlug er ihn auf die alte Betonplatte, bis er zerbrach. Das rote Papier gehörte zu einer zerdrückten und leeren Marlboro-Schachtel. Edgar holte einen Plastikbeutel für Beweisstücke aus seiner Jackentasche und hielt ihn für Bosch offen.

»Es muß mit der Leiche zusammen einbetoniert worden sein«, sagte er. »Guter Fang.«

Bosch kletterte wieder aus dem Graben und sah wieder auf die Uhr. Es war Zeit zu fahren.

»Verständige mich, wenn ihr sie identifiziert habt«, bat er Edgar.

Nachdem er den Overall in den Kofferraum geworfen hatte, steckte er sich wieder eine Zigarette an und beobachtete Pounds, der gerade seine kunstvoll geplante »improvisierte« Pressekonferenz beendete. An den Kameras und den teueren Klamotten erkannte Harry, daß die meisten Reporter vom Fernsehen waren. Bremmer von der Times stand am Rand des Rudels. Er hatte ihn seit einiger Zeit nicht gesehen und stellte fest, daß er zugenommen hatte und einen Vollbart trug. Bosch wußte, daß Bremmer am Rande des Geschehens wartete, bis die Fernsehfragen erledigt waren, so daß er Pounds mit Fragen konfrontieren konnte, die sich nicht so leicht beantworten ließen.

Bosch rauchte und wartete fünf Minuten, bis Pounds fertig war. Er lief Gefahr, zu spät ins Gericht zu kommen, aber er wollte den Brief sehen. Als Pounds endlich die Reporter abgefertigt hatte, gab er Bosch ein Zeichen, ihm zum Auto zu folgen. Bosch setzte sich auf den Beifahrersitz, und Pounds reichte ihm den Brief.

Harry nahm sich viel Zeit, den Brief zu untersuchen. Er war mit den bekannten krakeligen Druckbuchstaben geschrieben. Der Experte von der Abteilung für Dokumente hatte erklärt, bei den Druckbuchstaben handele es sich um Philadelphia-Stil. Die Neigung nach links komme dadurch zustande, daß ein Linkshänder etwas mit seiner ungeübten rechten Hand geschrieben habe.

 

In der Zeitung steht, der Prozeß, er hebt an

Ein Urteil zu fällen über den Puppenmachermann

Und die Kugel gefeuert von Bosch in Treu und Glaub

Doch die Puppen wissen, ich bin noch zugang mit Verlaub

 

An Western liegt die Stell, mein Herz zerspring’s

Denk ich ans Püppchen, das ruht unter Bing’s

Oh Graus, treuer Bosch, ein Schuß aufs falsche Ziel

Die Jahre vergingen, aber ich bin noch im Spiel

 

Bosch wußte, daß man Stil imitieren konnte. Aber irgend etwas an dem Gedicht fraß sich in sein Herz. Es war wie die anderen. Die gleichen miesen Schülerreime, der gleiche halbgebildete Versuch, sich poetisch auszudrücken. Verwirrung und Schmerz füllten seine Brust.

Er ist es, dachte er. Er ist es.