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»Damen und Herren der Jury«, fing U. S.-District-Richter Alva Keyes an. »Wir beginnen den Prozeß mit den Eröffnungsplädoyers beider Seiten. Sie sind nicht als Beweis zu verstehen, sondern eher als Baupläne oder Straßenkarten, mit denen die Rechtsanwälte darlegen, welchen Weg sie einzuschlagen denken. Noch einmal, es sind keine Beweise. Sie werden einige erstaunliche Behauptungen hören. Nur weil sie aufgestellt werden, müssen sie aber nicht wahr sein; schließlich haben wir es mit Rechtsanwälten zu tun.«
Die Reaktion der Jury und der Zuschauer war höfliches Gelächter. Die Heiterkeit wurde noch dadurch erhöht, daß es sich im Südstaatenakzent des Richter angehört hatte, als habe er die Rechtsanwälte als Rechtsverdreher bezeichnet. Sogar Money Chandler lächelte. Bosch drehte sich auf seinem Platz am Tisch der Verteidigung um und sah, daß die Zuschauerbänke in dem holzgetäfelten, sechs Meter hohen Saal zur Hälfte besetzt waren. In der vordersten Reihe auf der Klägerseite saßen acht Personen, die zur Familie und zum Freundeskreis von Norman Church gehörten. Die Witwe selbst saß neben Chandler am Klägertisch.
Außerdem war ein halbes Dutzend Gerichtsratten anwesend, alte Männer, die nichts Besseres zu tun hatten, als die Lebensdramen anderer Menschen zu verfolgen. Des weiteren waren noch einige Referendare und Jurastudenten da, die die große Honey Chandler in Aktion sehen wollten, sowie eine Gruppe Reporter mit gezückten Bleistiften. Die Eröffnung lieferte immer eine gute Story, weil – wie der Richter erklärt hatte – die Anwälte sagen konnten, was sie wollten. Nach dem heutigen Tag würden die Reporter nur noch ab und zu vorbeikommen; bis zu den Abschlußplädoyers und dem Urteil würde es jedoch nicht mehr viel Berichtenswertes geben.
Außer es geschah etwas Ungewöhnliches.
Bosch sah direkt hinter sich. Dort saß niemand auf den Bänken Er wußte, Sylvia Moore würde nicht da sein; das hatten sie vorher besprochen. Sie sollte nicht Zeuge des Spektakels werden. Er hatte ihr gesagt, es sei eine reine Formalität und es würde zum Berufsrisiko eines Polizisten gehören, verklagt zu werden, weil man seine Arbeit tat. Aber der wahre Grund, warum er sie nicht hierhaben wollte, war, daß er keine Kontrolle über die Situation hatte. Er mußte am Tisch der Verteidigung sitzen und als Zielscheibe dienen. Alles mögliche könnte und würde wahrscheinlich zur Sprache kommen. Er wollte nicht, daß sie dabei war.
Er fragte sich jetzt, ob die Jury die leeren Plätze hinter ihm sah und daraus schließen würde, daß er schuldig war, weil niemand gekommen war, ihn moralisch zu unterstützen.
Als das Gelächter verebbt war, wandte sich sein Blick wieder dem Richter zu. Keyes sah in seiner Robe auf dem Richterstuhl beeindruckend aus. Er war groß und stattlich und hatte die kräftigen Unterarme und Hände vor dem weiten Brustkorb verschränkt, ein Bild selbstgewisser Macht. Sein kahl werdender und sonnengeröteter Schädel war groß und ebenmäßig geformt, an den Rändern eingefaßt von grauem Haar, und suggerierte ein immenses Rechtswissen sowie einen scharfen juristischen Verstand. Er stammte aus den Südstaaten. Als Anwalt hatte er sich auf Bürgerrechtsverletzungen spezialisiert und sich einen Namen gemacht, als er die Polizei von Los Angeles wegen der unverhältnismäßig hohen Anzahl von Schwarzen, die aufgrund von Würgegriffen gestorben waren, verklagt hatte. Er war von Präsident Jimmy Carter zum Bundesrichter ernannt worden, kurz bevor dieser wieder nach Georgia zurückgeschickt wurde. Er war seither der unumschränkte Herrscher von Gerichtssaal 4.
Harrys Anwalt von der städtischen Rechtsabteilung, Rod Belk, hatte verzweifelt versucht, den Richter aus formellen Gründen vom Verfahren auszuschließen und einen anderen Richter zu bekommen. Am besten jemanden ohne Vorgeschichte als Streiter für Bürgerrechte. Aber er war gescheitert.
Bosch nahm es allerdings nicht so tragisch wie Belk. Er wußte, daß Keyes aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie die Anwältin der Klägerin, Honey Chandler: mißtrauisch und zuweilen sogar voller Zorn der Polizei gegenüber. Es war jedoch auch zu spüren, daß er letztendlich ein fairer Mann war. Und mehr glaubte Bosch nicht zu benötigen, um heil aus der Sache herauszukommen. Ein faires Verfahren. Schließlich wußte er im Innersten, daß er sich in dem Silverlake-Apartment korrekt verhalten hatte. Er hatte das Richtige getan.
»Es ist Ihre Aufgabe zu entscheiden, ob die Behauptungen der Rechtsanwälte im Prozeß dann bewiesen werden«, sagte der Richter. »Vergessen Sie das nicht. Nun, Ms. Chandler, Sie machen den Anfang.«
Honey Chandler nickte ihm zu und stand auf. Sie schritt zum Rednerpult, das zwischen den Tischen der Kläger- und Beklagtenseite stand. Richter Keyes hatte zuvor strikte Richtlinien festgelegt. In seinem Gerichtssaal gab es kein Herumlaufen, kein Herantreten an den Zeugenstand oder an die Jurybank. Alles, was von den Rechtsanwälten laut gesagt wurde, war vom Rednerpult aus zu tun. Chandler wußte, wie strikt der Richter seine Regeln befolgt haben wollte, und bat daher ausdrücklich, das Rednerpult etwas zur Seite drehen zu dürfen, damit sie die Jury beim Sprechen ansehen konnte. Der Richter gab ihr mit strenger Miene die Erlaubnis.
»Guten Tag«, begann sie. »Der Richter hat recht, wenn er Ihnen sagt, daß diese Erklärung nichts mehr als eine Straßenkarte ist.«
Ausgezeichnete Strategie, dachte Bosch vom zynischen Standpunkt aus, mit dem er den ganzen Fall verfolgte. Schmier dem Richter mit dem ersten Satz Honig ums Maul. Er beobachtete, wie sie ihre Notizen auf dem gelben Block konsultierte. Über dem obersten Knopf ihrer Bluse war eine Spange mit einem schwarzen Onyx angebracht. Der Stein war flach und wirkte tot – wie das Auge eines Hais. Sie hatte ihr Haar hinten in einem einfachen strengen Knoten zusammengebunden. Eine Strähne hatte sich jedoch gelöst und verlieh ihr das Image einer Frau, die nicht mit ihrem Aussehen beschäftigt ist, sondern sich ganz auf die Paragraphen, auf den Fall, auf die himmelschreiende Vergewaltigung von Recht und Gesetz durch den Beklagten konzentriert. Bosch glaubte, daß sie wahrscheinlich die Haarsträhne absichtlich herausgezogen hatte.
Während er sie anschaute, erinnerte sich Bosch an das mulmige Gefühl im Bauch, als er gehört hatte, daß sie die Anwältin von Churchs Frau war. Dieser Umstand war für ihn viel beunruhigender als die Leitung des Prozesses durch Richter Keyes. Sie war erschreckend erfolgreich. Sie hatte nicht ohne Grund den Vornamen Money.
»Ich möchte mit Ihnen ein Stück des Weges gehen«, sagte sie, und Bosch fragte sich, ob sie im Begriff war, sich einen Südstaatenakzent zuzulegen, »und kurz erklären, worum es in diesem Fall geht und was die Beweisstücke aussagen werden. Es geht in diesem Fall um Bürgerrechte, um den tragischen und durch die Polizei verschuldeten Tod von Norman Church.«
An dieser Stelle unterbrach sie, jedoch nicht um auf ihren gelben Block zu sehen, sondern um die gespannte Erwartung, was sie als nächstes sagen würde, auf sich zu ziehen. Bosch sah zur Jury hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer. Drei Schwarze, drei Latinos, ein Asiate und fünf Weiße. Mit angehaltenem Atem folgten sie Chandlers Ausführungen.
»In diesem Fall«, fuhr sie fort, »geht es um einen Polizisten, der nicht mit seinem Job und der großen Macht, die er ihm gab, zufrieden war. Er wollte auch Ihren Job, den von Richter Keyes und den der Justizverwaltung, die die von Richter und Jury beschlossenen Urteile vollstreckt. Er wollte alles. Hier geht es um Detective Harry Bosch, der am Tisch des Beklagten sitzt.«
Dabei deutete sie auf Bosch und kostete jede Silbe des Worts »Beklagten« aus. Belk stand sofort auf und erhob Einspruch.
»Es besteht keinerlei Veranlassung für Miss Chandler der Jury meinen Klienten vorzuführen und sarkastische Stimmübungen zu machen. Es stimmt, daß wir am Tisch der Beklagtenseite sitzen. Aber nur, weil dies ein Zivilprozeß ist und in diesem Land jeder jeden verklagen kann, sogar die Familie eines …«
»Einspruch Euer Ehren«, rief Chandler. »Er benutzt seinen Einspruch, um den Ruf von Mr. Church, der nie eines Verbrechens für schuldig befunden wurde, weiter zu zerstören, weil …«
»Genug!« donnerte Richter Keyes. »Einspruch stattgegeben. Ms. Chandler, es gibt keinen Grund, mit dem Finger auf Leute zu zeigen. Wir wissen, wer wir sind. Ersparen Sie uns auch haßerfüllte Betonung von Wörtern. Wörter sind schön und häßlich. Lassen Sie sie für sich wirken. Was Sie angeht, Mr. Belk, werde ich sehr verärgert, wenn ein Anwalt das Eröffnungs- oder Abschlußplädoyer der Gegenseite unterbricht. Sie werden Ihre Gelegenheit zu sprechen bekommen. Ich würde Ihnen raten, nicht mehr gegen Ms. Chandlers Ausführungen Einspruch zu erheben, es sei denn, die Rechte Ihres Klienten werden in ungeheuerlicher Weise verletzt. Meiner Ansicht nach rechtfertigt ein Zeigefinger nicht einen Einspruch.«
»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagten Belk und Chandler einstimmig.
»Fahren Sie fort, Ms. Chandler. Wie ich in meinen Räumen heute morgen sagte, wünsche ich, daß die Eröffnungsplädoyers heute abgeschlossen werden. Und um vier habe ich eine andere Verpflichtung.«
»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte sie erneut. Sie wandte sich wieder der Jury zu. »Meine Damen und Herren, wir alle benötigen die Polizei. Wir alle schätzen unsere Polizei. Die meisten, die weitaus meisten, haben einen undankbaren Job, aber sie erledigen ihre Aufgabe gut. Die Polizei ist ein unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft. Was würden wir tun, wenn wir nicht die Polizei hätten, die uns schützt und uns dient. Aber darum geht es hier nicht, und ich möchte, daß Sie das im Verlauf des Prozesses nicht vergessen. Hier geht es darum, was zu tun ist, wenn ein Mitglied der Polizei den Boden der Gesetze und der polizeilichen Vorschriften verläßt. So etwas nennt man einen wild gewordenen Polizisten. Und die Beweise werden zeigen, daß Harry Bosch so ein wild gewordener Polizist ist, der eines Nachts vor vier Jahren sich die Befugnisse von Richter, Jury und Henker anmaßte. Er erschoß einen Mann, von dem er annahm, daß er ein Mörder war. Ja sogar ein schrecklicher Serienmörder. Jedoch zu dem Zeitpunkt, als er seine Waffe zog und auf Mr. Norman Church schoß, gab es keinerlei Beweis dafür.
Sie werden nun hier von der Verteidigung alle möglichen angeblichen Beweise vorgelegt bekommen, von der die Polizei behauptet, daß sie Mr. Church mit den Morden verbinden. Aber vergessen Sie während der Verhandlung nie, woher diese Beweise kommen – von der Polizei selbst – und wann sie gefunden wurden – nachdem Mr. Church hingerichtet wurde. Wir werden zeigen, daß diese sogenannten Beweise bestenfalls fraglich, bestenfalls das Resultat von Schlamperei sind. Letztendlich werden Sie entscheiden müssen, ob Mr. Church, ein Ehemann und Vater zweier Kinder mit einem gut bezahlten Job in der Flugzeugindustrie, wirklich der Mörder war, der sogenannte Puppenmacher, oder ob die Polizei ihn zum Sündenbock machte, um das Vergehen eines der Ihren zu vertuschen. Die brutale, ungerechtfertigte und unnötige Hinrichtung eines unbewaffneten Mannes.«
Sie fuhr fort und sprach von der Verschwörung des Schweigens, die bekanntermaßen im Polizeiapparat existiere, von der langen Tradition, die Brutalität bei der Polizei hat, von Rodney King, der von Streifenpolizisten zusammengeschlagen wurde, und von den Krawallen, die es deswegen gab. All dies – falls man Honey Chandler Glauben schenken wollte – waren schwarze Blumen, deren Samen Harry Bosch ausgesät hatte, als er Norman Church tötete. Bosch hörte, wie sie weiterredete, folgte aber nicht mehr ihrem Vortrag. Er hielt die Augen offen und schaute ab und zu einem Geschworenen ins Gesicht. Ansonsten zog er sich in seine eigene Welt zurück. Das war seine Verteidigung. Die Geschworenen, die Anwälte und der Richter würden eine Woche oder mehr damit verbringen, das auseinanderzunehmen, was er in weniger als fünf Sekunden gedacht und getan hatte. Um das durchzustehen, mußte er ab und zu abschalten.
Er erinnerte sich an Churchs Gesicht. Zum Schluß, in dem Apartment über der Garage an der Hyperion Street. Ihre Blicke hatten sich ineinander verfangen. Die Augen, die Bosch sah, waren die eines Killers, finster wie der Stein an Chandlers Kehle.
»… selbst wenn er nach einer Pistole griff, würde das einen Unterschied machen?« sagte Chandler. »Ein Mann hatte die Tür eingetreten, ein Mann mit einem Revolver. Wer könnte ihm etwas vorwerfen, hätte er nach einer Waffe gegriffen, um sich zu verteidigen. Die Tatsache, daß er nach so etwas scheinbar Lächerlichem wie einem Haarteil griff, macht diesen Vorfall nur noch abscheulicher. Er wurde kaltblütig umgebracht. Das können wir als Gesellschaft nicht akzeptieren.«
Bosch schaltete wieder ab und dachte an das neue Opfer, das wahrscheinlich jahrelang in dem Betonsarkophag gelegen hatte. Er fragte sich, ob sie als vermißt gemeldet worden war, ob es eine Mutter, einen Vater, einen Mann oder ein Kind gab, die all die Jahre an sie gedacht hatten. Nachdem er ins Gericht zurückgekehrt war, hatte er Belk von der Entdeckung erzählt. Er hatte Belk gebeten, er solle bei Richter Keyes eine Aussetzung des Prozesses beantragen. Eine Verschiebung, bis man mehr über den neuen Fall wüßte. Aber Belk war ihm ins Wort gefallen und hatte gesagt, je weniger er wisse, desto besser. Die Implikationen des neuen Fundes schienen Belk so sehr zu ängstigen, daß er sich für die entgegengesetzte Strategie entschied. Er wollte den Prozeß durchziehen, bevor die Nachrichten von der Entdeckung und der möglichen Verbindung zum Puppenmacher publik wurden.
Chandler näherte sich jetzt dem Ende der für ihre Ausführungen vorgesehenen Stunde. Sie hatte sich endlos über die polizeilichen Vorschriften zum Schußwaffengebrauch ausgelassen, und Bosch dachte, daß sie die Aufmerksamkeit der Geschworenen verloren hatte. Zeitweilig hörte ihr sogar Belk nicht mehr zu, sondern blätterte in seinem eigenen gelben Block und probte in Gedanken seinen Auftritt.
Belk war korpulent – Bosch schätzte, er hatte siebzig Pfund Übergewicht – und schwitzte fast ständig, sogar in dem kühlen Gerichtssaal. Bosch hatte sich oft während der Auswahl der Geschworenen gefragt, ob Belk wegen der Last des eigenen Gewichts schwitzte oder wegen der Belastung, gegen Chandler und vor Keyes als Verteidiger anzutreten. Belk war unter Dreißig, schätzte Bosch, und hatte vor allerhöchstens fünf Jahren sein Jurastudium an einer mittelmäßigen Universität abgeschlossen. Chandler war ihm haushoch überlegen.
Das Wort »Gerechtigkeit« ließ Bosch auffahren. Er wußte, daß Chandler zum Endspurt angesetzt hatte und auf die Zielgerade einbog, als sie begann, das Wort in jedem Satz zu verwenden. In Zivilprozessen waren Gerechtigkeit und Geld austauschbar, weil sie das Gleiche bedeuteten.
»Die Gerechtigkeit, die Norman Church widerfuhr, war nicht von langer Dauer. Seine Gerechtigkeit hatte die kurze Zeitspanne, die Detective Bosch benötigte, die Tür einzutreten, seinen hochglänzenden 9mm Smith & Wesson auf ihn zu richten und abzudrücken. Seine Gerechtigkeit war ein Schuß. Die Kugel, die Detective Bosch für die Hinrichtung von Mr. Church gewählt hatte, hat den Namen XTP, eine Abkürzung für Extreme Terminal Performance. Beim Aufprall dehnt sie ihre Breite aufs Anderthalbfache aus und reißt große Fetzen aus dem Gewebe und den Organen in ihrer Bahn heraus. Sie hat Mr. Church das Herz zerrissen. Das war Gerechtigkeit.«
Bosch merkte, daß die meisten Geschworenen nicht zu Chandler schauten, sondern zum Tisch der Klägerpartei. Indem er sich etwas nach vorne beugte, konnte er an dem Pult vorbeiblicken und sehen, wie die Witwe, Deborah Church, sich mit einem Papiertaschentuch Tränen von der Wange tupfte. Sie hatte eine birnenförmige Figur, kurzes dunkles Haar und kleine, wässerig blaue Augen. Sie war der Inbegriff einer Hausfrau und Mutter aus den Vororten bis zu dem Morgen gewesen, als Bosch ihren Mann erschossen hatte und Polizisten mit einem Durchsuchungsbefehl sowie Reporter mit vielen Fragen vor ihrer Tür standen. Bosch hatte Mitgefühl für sie empfunden und sie sogar zu den Opfern gezählt, bis sie sich Money Chandler als Anwältin nahm und begann ihn als Mörder zu bezeichnen.
»Die Beweise werden zeigen, meine Damen und Herren, daß Detective Bosch ein Produkt dieses Polizeiapparats ist, eine gefühllose, arrogante Maschine, die Gerechtigkeit nach eigenem Gutdünken zuteil werden ließ. Sie werden entscheiden, ob die Polizei so handeln darf. Es ist Ihre Aufgabe, eine Ungerechtigkeit wieder gutzumachen und einer Familie, der der Vater und Ehemann genommen wurde, Gerechtigkeit zu verschaffen.
Zum Abschluß möchte ich einen deutschen Philosophen mit dem Namen Friedrich Nietzsche zitieren, der vor einem Jahrhundert etwas schrieb, was zu diesem Fall paßt. Er sagte: ›Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.‹
Meine Damen und Herren, genau darum geht es in diesem Fall. Detective Harry Bosch hat nicht nur in den Abgrund geblickt, sondern in der Nacht, in der Norman Church ermordet wurde, schaute der Abgrund in ihn hinein. Die Finsternis umfing ihn und Detective Bosch stürzte. Er verwandelte sich in das, was er bekämpfte. Ein Ungeheuer. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Beweise Sie zu diesem Schluß führen werden. Vielen Dank.«
Chandler nahm wieder ihren Platz ein und legte tröstend ihre Hand auf Deborah Churchs Arm. Bosch wußte, daß diese Geste der Jury galt, nicht der Witwe.
Der Richter schaute auf die Messingzeiger der in der Mahagonitäfelung eingebauten Uhr über der Saaltür und kündigte eine fünfzehnminütige Pause an, nach der Belk das Wort hatte. Als Bosch für die Geschworenen aufstand, merkte er, daß ihn eine von Churchs Töchtern von ihrem Platz in der ersten Reihe aus anstarrte. Er schätzte, sie war dreizehn. Die ältere Tochter, Nancy. Schnell sah er weg und fühlte sich schuldig. Er fragte sich, ob irgend jemand von der Jury es mitbekommen hatte.
Belk erklärte, er würde die Pause benötigen, um seinen Vortrag an die Jury noch einmal durchzugehen. Bosch hätte am liebsten die Snack-Bar im fünften Stock aufgesucht, weil er immer noch nichts gegessen hatte, aber wahrscheinlich würden auch einige der Geschworenen dort sein, oder, was noch schlimmer war, Angehörige von Church. Statt dessen fuhr er mit der Rolltreppe hinunter zur Eingangshalle und ging hinaus zum Aschenkübel. Draußen steckte er sich eine Zigarette an und lehnte sich gegen den Sockel der Statue. Er fühlte, wie verschwitzt er unter seinem Anzug war. Chandlers einstündiges Plädoyer war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen – eine Ewigkeit im Auge der Öffentlichkeit. Der Anzug würde nicht für die ganze Woche reichen, er müßte nachsehen, ob sein anderer sauber war. Die Beschäftigung mit solchen Nebensächlichkeiten entspannte ihn schließlich.
Er hatte schon seine erste Zigarette im Sand ausgedrückt und war dabei, die zweite zu rauchen, als sich die Glastür des Gerichts öffnete. Honey Chandler hatte die schwere Tür mit ihrem Rücken aufgestoßen und ihn daher nicht gesehen. Draußen drehte sie sich um und beugte sich vor, um sich mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette anzustecken. Als sie sich aufrichtete und ausatmete, bemerkte sie ihn. Sie kam herüber zur Tonne mit der Absicht, ihre gerade angezündete Zigarette wieder auszudrücken.
»Es ist okay«, sagte Bosch. »Soviel ich weiß, ist das die einzige weit und breit.«
»Das stimmt. Aber ich glaube, es ist für uns beide nicht erfreulich, uns außerhalb des Gerichtssaals zu sehen.«
Er zuckte die Schultern und erwiderte nichts. Es war ihre Entscheidung; sie konnte gehen, wenn sie wollte. Sie machte einen Zug an der Zigarette.
»Nur die halbe. Ich muß sowieso wieder rein.«
Er nickte und schaute zur Spring Street. Vor dem County-Gericht warteten Leute in einer Schlange, um durch den Metalldetektor zu gehen. Noch mehr Boat People. Er sah, wie der Obdachlose die Stufen heraufkam, um seine Nachmittagskollekte aus der Tonne zu klauben. Der Mann drehte sich plötzlich um und ging wieder hinunter zur Spring Street. Einmal sah er sich beim Gehen ängstlich um.
»Er kennt mich.«
Bosch schaute Chandler an.
»Er kennt Sie?«
»Er war früher einmal Rechtsanwalt. Tom Soundso. Ich kann mich nicht … Faraday, so hieß er. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß ich ihn in diesem Zustand sehe. Aber jeder hier kennt ihn. Er erinnert die Leute ständig daran, was passieren kann, wenn alles falsch läuft.«
»Was ist passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzählt es Ihnen Ihr Anwalt. Darf ich Sie etwas fragen?«
Bosch antwortete nicht.
»Warum hat die Stadt sich nicht verglichen? Rodney King, die Krawalle. Es ist so ziemlich der schlechteste Zeitpunkt, einen Polizisten vor Gericht verteidigen zu müssen. Ich glaube nicht, daß Bulk – ich nenne ihn so, weil er fett ist: schließlich nennt er mich Money – weiß, was er überhaupt machen soll. Und Sie sind derjenige, den man den Wölfen zum Fraß vorwerfen wird.«
Bosch überlegte einen Moment, bevor er antwortete.
»Es bleibt unter uns, Detective Bosch. Ich unterhalte mich nur privat mit Ihnen.«
»Ich habe ihm untersagt, einem Vergleich zuzustimmen. Ich habe ihm gesagt, falls er einen Vergleich ausarbeitet, hole ich mir meinen eigenen Anwalt.«
»Sie sind sich so sicher?« Sie machte einen Zug an der Zigarette. »Nun, wir werden sehen, schätz’ ich.«
»Schätz’ ich.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich.«
Er hatte gewußt, daß sie den Spruch einflechten würde. Die dickste Lüge im ganzen Spiel.
»Vielleicht können Sie das.«
»Oh, und Sie nicht. Sie erschießen einen unbewaffneten Mann und dann nehmen Sie’s persönlich, wenn die Witwe was dagegen hat und Sie verklagt?«
»Der Ehemann Ihrer Klientin hatte die Angewohnheit, den Schulterriemen von den Handtaschen seiner Opfer zu schneiden, ihnen als Schlinge um den Hals zu legen und dann langsam zuzuziehen, während er sie vergewaltigte. Was für Frauen es waren, war ihm gleichgültig. Nur das Leder nicht.«
Sie verzog keine Miene. Er hatte es nicht erwartet..
»Der verstorbene Ehemann. Der verstorbene Ehemann meiner Klientin. Und das einzige, was bei diesem Fall sicher und beweisbar ist, ist, daß Sie ihn getötet haben.«
»Genau, und ich würd’s wieder tun.«
»Das weiß ich, Detective Bosch. Deshalb sind wir hier.«
Sie schürzte ihre Lippen zu einem erstarrten Kuß und spannte ihren Unterkiefer. Ein Strahl der Nachmittagssonne, die in die Spring Street schien, fing sich in ihrem Haar. Wütend drückte sie ihre Zigarette aus und ging hinein. Die Türe flog beiseite, als wäre sie aus Balsaholz.