Vorwort 

Das Haus in Silverlake war dunkel, seine Fenster so leer wie die Augen eines Toten. Es war ein altes kalifornisches Holzhaus mit einer breiten Veranda an der Vorderseite und zwei Mansardenfenstern, die aus der langen Dachschräge hervorragten. Kein Licht leuchtete jedoch hinter den Fensterscheiben, selbst nicht über dem Türeingang. Statt dessen verbreitete das Haus eine unheimliche Dunkelheit um sich, in die nicht einmal das Licht der Straßenbeleuchtung eindrang. Jemand könnte auf der Veranda stehen, ohne daß Bosch ihn sehen würde.

»Sind Sie sicher, das ist es?« fragte er sie.

»Nicht das Haus«, sagte sie. »Dahinter. Die Garage. Fahren Sie etwas vor, damit Sie in die Auffahrt sehen können.«

Bosch tippte das Gaspedal an, und der Caprice rollte vorwärts zur Einfahrt.

»Dort«, sagte sie.

Bosch stoppte den Wagen. Hinter dem Haus stand eine Garage, über der sich ein Apartment befand. An der Seite eine Holztreppe, die nach oben führte; über der Tür eine Lampe. Zwei Fenster, aus denen Licht drang.

»Okay«, sagte Bosch.

Sie starrten die Garage ein paar Momente an. Bosch war sich nicht klar, was er zu sehen erwartete. Vielleicht nichts. Das Parfum der Hure erfüllte den Wagen, und er kurbelte sein Fenster herunter. Er wußte nicht, ob er ihrer Behauptung glauben sollte oder nicht. Sicher war nur, daß er keine Verstärkung anfordern konnte. Er hatte kein Funkgerät dabei, und sein Auto war nicht mit einem Telefon ausgerüstet.

»Was werden Sie … Da ist er!« rief sie aufgeregt.

Bosch hatte es mitbekommen. Der Schatten einer Person hatte sich hinter dem kleineren Fenster vorbeibewegt. Das Badezimmer, nahm er an. »Er ist im Bad«, sagte sie. »Dort habe ich das ganze Zeug gesehen.«

Bosch wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah sie an.

»Was für Zeug?«

»Ich, mh, habe das Schränkchen durchsucht. Als ich drin war. Nur um zu sehen, was er so alles hat. Als Frau muß man vorsichtig sein. Und dann sah ich das ganze Zeug. Make-up. Maskara, Lippenstifte, Puderdosen, der ganze Scheiß. Deshalb wußte ich, daß er es ist. Das benutzt er alles, um sie hinterher anzumalen – nachdem er sie umgebracht hat.«

»Warum haben Sie mir das nicht am Telefon gesagt?«

»Sie haben nicht gefragt.«

Er sah, wie die Gestalt hinter den Vorhängen des anderen Fensters vorbeiging. Seine Gedanken überstürzten sich jetzt, sein Herz lief auf Hochtouren.

»Wie lang ist das her, daß Sie dort rausgerannt sind.«

»Mann, ich weiß nicht. Ich mußte bis zur Franklin Avenue latschen, um ein Auto anzuhalten. Die Fahrt zum Hollywood Boulevard hat ungefähr zehn Minuten gedauert. Wie lang es insgesamt war, weiß ich nicht.«

»Schätzen Sie. Es ist wichtig.«

»Ich weiß nicht. Es ist mehr als eine Stunde her.«

Verdammt, dachte Bosch. Sie hatte unterwegs noch einen Kunden bedient, bevor sie die Nummer der Fahndungsgruppe angerufen hatte. Sie bewies wirklich, wie besorgt sie war. Inzwischen hat sich der Typ eventuell Ersatz geholt, und ich sitze hier und gaffe.

Er ließ den Wagen nach vorne schießen und fand einen Parkplatz vor einem Hydranten. Dann stellte er den Motor ab, ließ den Schlüssel jedoch in der Zündung. Nachdem er aus dem Wagen gesprungen war, steckte er seinen Kopf wieder durchs offene Fenster hinein.

»Passen Sie auf. Ich geh’ hin. Sie bleiben hier. Falls Sie Schüsse hören oder wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, klopfen Sie hier an den Haustüren und holen Polizei her. Sagen Sie, daß ein Polizist Hilfe braucht. Auf dem Armaturenbrett ist eine Uhr. Zehn Minuten.«

»Zehn Minuten, Baby. Geh und spiel den Helden. Aber ich kriege die Belohnung.«

Bosch zog seine Waffe, während er die Auffahrt hinaufeilte. Die Treppe an der Seite der Garage war alt und das Holz verzogen. So leise wie möglich nahm er drei Stufen auf einmal. Trotzdem kam es ihm vor, als würde er sein Eintreffen mit Fanfaren ankündigen. Oben angekommen, zerschlug er mit dem Revolver die nackte Glühbirne über der Tür. Dann lehnte er sich in der Dunkelheit nach hinten gegen das Geländer. Er hob seinen linken Fuß, legte sein ganzes Gewicht hinter seinen Absatz und traf die Tür über dem Knauf.

Mit einem lauten Bersten schlug die Tür auf. Bosch nahm Kampfpositur ein und bewegte sich in der Hocke über die Schwelle. Sofort erblickte er den Mann, der am anderen Ende des Raums hinter einem Bett stand. Er war nackt, nicht nur sein Kopf war unbehaart, sondern sein ganzer Körper. Bosch sah, wie sich die Augen des Mannes mit Schrecken füllten, und schrie mit hoher, greller Stimme.

»POLIZEI! KEINE BEWEGUNG!«

Der Mann erstarrte, allerdings nur kurz, dann beugte er sich nach unten und griff mit dem rechten Arm nach dem Kissen. Er zögerte und streckte dann seinen Arm weiter aus. Bosch konnte es nicht glauben. Verdammt noch mal, was tat er? Die Zeit blieb stehen. Das Adrenalin, das ihm durch den Körper schoß, dehnte seine Wahrnehmung ins Zeitlupentempo. Bosch wußte, entweder griff der Mann zum Kissen, um sich damit zu bedecken, oder er …

Die Hand fuhr unters Kissen.

»TU’S NICHT!«

Unter dem Kissen hatte die Hand etwas gefunden. Seine Augen hatte der Mann die ganze Zeit nicht von ihm abgewendet. Jetzt begriff Bosch. Nicht Schrecken erfüllte seinen Blick. Es war etwas anderes. Zorn? Haß? Die Hand kam wieder unter dem Kissen hervor.

»NEIN!«

Bosch feuerte einen Schuß, die Waffe schlug in seinen Händen nach oben. Der nackte Mann wurde hochgeschleudert und fiel nach hinten. Er krachte gegen die holzgetäfelte Wand, prallte ab und fiel, um sich schlagend und würgend, quer übers Bett. Bosch bewegte sich schnell weiter ins Zimmer vor und zum Bett.

Die linke Hand des Mannes griff wieder nach dem Kissen. Bosch hob sein linkes Bein und drückte ihn mit dem Knie aufs Bett. Er nahm die Handschellen vom Gürtel und fesselte zuerst die ausgestreckte linke Hand, danach die rechte hinterm Rücken. Der nackte Mann würgte und stöhnte.

»Ich kann nicht … Ich kann nicht«, versuchte der Mann unter Husten und Würgen von Blut herauszubringen.

»Du kannst nicht tun, was ich dir gesagt habe«, sagte Bosch. »Ich hab’ dir gesagt, du sollst dich nicht bewegen.«

Gib einfach den Löffel ab, dachte Bosch, ohne es auszusprechen. Das wäre für uns alle am besten.

Er ging ums Bett herum und hob das Kissen auf. Ein paar Augenblicke starrte er auf das, was darunter gelegen hatte, dann ließ er es wieder fallen und schloß die Augen.

»Gott verdammt!« schrie er dem nackten Mann in den Rücken. »Was hast du bloß getan? Ich hatte eine verdammte Kanone und du, du greifst … Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen!«

Bosch ging wieder ums Bett, um das Gesicht des Mannes zu sehen. Blut floß aus dem Mund auf das schmuddelige weiße Bettlaken. Seine Kugel hatte die Lunge getroffen. Der nackte Mann war jetzt ein sterbender Mann.

»Du hättest nicht sterben müssen«, sagte Bosch zu ihm.

Dann war der Mann tot.

Bosch sah sich im Zimmer um. Es war niemand sonst da. Kein Ersatz für die Hure, die geflüchtet war. In der Hinsicht hatte er sich geirrt. Er ging ins Bad und öffnete das Schränkchen unter dem Waschbecken. Wie die Nutte erzählt hatte, befand sich Make-up darin. Bosch erkannte einige der Marken: Max Factor, L’Oreal, Cover Girl, Revlon. Es schien alles zusammenzupassen.

Durch die Badezimmertür sah er zurück zur Leiche auf dem Bett. Der Geruch von Schießpulver hing noch in der Luft. Er steckte sich eine Zigarette an. Um ihn herum war es so still, daß er das Knistern des brennenden Tabaks hören konnte, wenn er den beruhigenden Rauch in die Lungen sog.

Im Apartment gab es kein Telefon. Bosch saß auf einem Stuhl in der Kochnische und wartete. Er starrte quer durchs Zimmer auf die Leiche und bemerkte, daß er benommen war und daß sein Herz immer noch pochte. Er stellte auch fest, daß er nichts fühlte – weder Mitleid, noch Schuld, noch Trauer – angesichts des Mannes auf dem Bett. Rein gar nichts.

Statt dessen versuchte er, sich auf das Geräusch der Sirene zu konzentrieren, die jetzt in der Ferne zu vernehmen war. Nach einer Weile nahm er wahr, daß es mehr als eine Sirene war. Es waren viele.