20
Bosch steckte sich eine Zigarette an und drückte mit der Schulter eine der gläsernen Eingangstüren des Parker Centers auf. Irving hatte ihn mit seiner Die-Welt-ist-ein-Dorf-Geschichte geschockt. Bosch hatte immer damit gerechnet, irgendwann einmal jemanden zu treffen, der sie oder ihren Fall gekannt hatte. Es wäre ihm nie eingefallen, daß es Irving sein würde.
Während er auf dem südlichen Parkplatz zu seinem Caprice ging, sah er Edgar an der Kreuzung von First und Los Angeles Street auf Grün warten. Bosch schaute auf die Uhr und sah, daß es 17.10 Uhr war, Feierabend. Wahrscheinlich war Edgar auf dem Weg zum Code Seven oder zum Red Wind, um ein Bier zu trinken, bevor er sich durch den Verkehr auf dem Freeway kämpfte. Keine schlechte Idee. Sheehan und Opelt saßen sicher auch schon in einer der Bars.
Als er die Ecke erreichte, hatte Edgar schon anderthalb Block Vorsprung und ging auf der First Street in Richtung des Sevens. Bosch beschleunigte seine Schritte. Zum ersten Mal seit langem hatte er ein richtiges Verlangen nach Alkohol. Für eine Stunde wollte er mal nicht an Church, Mora und Chandler denken, auch nicht an das, was ihm Irving gerade im Konferenzraum erzählt hatte.
Edgar ging jedoch an dem Schlagstock vorbei, der als Türgriff des Sevens diente, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er überquerte Spring Street und ging am Times-Gebäude vorbei, Richtung Broadway. Dann also zum Red Wind, dachte Bosch.
Das Red Wind war passabel als Kneipe. Sie hatten Weinhard’s nur als Flaschenbier und nicht vom Faß, was Punkteabzug bedeutete. Weitere Minuspunkte gab es für die Yuppies von der Times-Redaktion, die es zu ihrer Stammkneipe erkoren hatten. Oft traten sich hier mehr Reporter als Cops gegenseitig auf die Füße. Ein großer Pluspunkt jedoch war das Jazzquartett, das hier donnerstags und freitags von sechs bis zehn spielte. Es waren Musiker im Ruhestand, die früher in Clubs gespielt hatten, aber es war nicht die schlechteste Art und Weise, den Berufsverkehr zu vermeiden.
Er beobachtete, wie Edgar den Broadway überquerte und auf der First Street blieb, statt links zum Wind hinunterzugehen. Bosch verminderte sein Tempo wieder, damit Edgar seinen anderthalb Block Vorsprung wiedererlangte, und steckte sich eine neue Zigarette an. Er fühlte sich nicht wohl dabei, einen Kollegen zu beschatten, tat es aber trotzdem. Ein schlimmer Verdacht regte sich in ihm.
Edgar ging nach links in die Hill Street und verschwand in der ersten Tür auf der Ostseite, gegenüber dem neuen U-Bahn-Eingang. Es war der Straßeneingang der Hung Jury, einer Bar in der Eingangshalle des Fuentes Legal Centers, einem achtstöckigen Bürogebäude, in dem sich ausschließlich Anwaltskanzleien befanden. Die meisten Mieter waren Strafverteidiger oder Anwälte, die häufig im Gerichtssaal zu tun hatten. Sie hatten sich in diesem unauffälligen, wenn nicht ja häßlichen Gebäude niedergelassen, weil es nur einen Block vom Kriminalgericht und nur anderthalb Block vom Bundesgericht entfernt war.
Bosch wußte das alles, weil Belk es ihm an dem Tag erzählt hatte, als sie zu Honey Chandlers Büro im Fuentes Legal Center gegangen waren. Sie hatte Bosch zu einer anwaltlichen Zeugenvernehmung im Church-Fall vorgeladen.
Sein unwohles Gefühl schlug ihm jetzt voll auf den Magen, als er an der Tür des Hung Jurys vorbei in die Lobby des Fuentes Center ging. Er kannte den Grundriß der Bar; nach der Vernehmung durch Chandler hatte er hier noch ein Bier und einen Schnaps getrunken. Man konnte auch von der Eingangshalle in die Bar gelangen. Er stieß die Eingangstüre des Gebäudes auf und begab sich in eine Nische, in der sich zwei Münzfernsprecher und die Türen zu den Toiletten befanden. Er näherte sich der Ecke und sah vorsichtig zur Bar.
Eine Musikbox, die Bosch nicht sehen konnte, spielte Sinatras »Summer Wind«, und eine Bardame mit hochaufgetürmter Perücke und Geldscheinen zwischen den Fingern – Zehner, Fünfer, Einer – brachte vier Anwälten, die vorne saßen, eine Runde Martinis. Der Barkeeper war im schummrigen Licht über die Theke gebeugt, rauchte und las den Hollywood Reporter. Wahrscheinlich ein Schauspieler, Drehbuchschreibers oder Agent, wenn er nicht an der Bar arbeitete. Wer hatte in dieser Stadt nichts mit dem Film zu tun?
Als der Barkeeper sich weiter nach vorne lehnte, um seine Zigarette in einem Aschenbecher auszudrücken, sah Bosch Edgar am anderen Ende der Bar vor einem Bier sitzen. Ein Streichholz leuchtete auf und Bosch beobachtete, wie Honey Chandler sich eine Zigarette ansteckte und das Streichholz in einen Aschenbecher fallen ließ, der neben einem Drink stand, der nach einer Bloody Mary aussah.
Bosch zog sich in die Nische zurück, außer Sicht.
Er wartete neben einem Zeitungsstand aus Sperrholz, der an der Ecke von Hill und First Street auf dem Bürgersteig stand und für die Nacht verschlossen und verriegelt war. Allmählich wurde es dunkel, und die Laternen gingen an. Bosch verbrachte seine Zeit damit, Bettler und vorbeikommende Prostituierte abzuwimmeln, die noch einen Geschäftsmann beglücken wollten, bevor sie sich nach Hollywood zur härteren Nachtschicht aufmachten.
Als Edgar aus dem Hung Jury herauskam, hatte Bosch zu seinen Füßen einen beträchtlichen Haufen Kippen angesammelt. Er schnippte die Zigarette, die er gerade rauchte, auf die Straße und versteckte sich an der Seite des Kiosks, um nicht von Edgar gesehen zu werden. Von Chandler keine Spur. Er nahm jedoch an, daß sie die Bar durch die Lobby verlassen hatte und in die Garage zu ihrem Auto gegangen war. Edgar hatte wohl aus guten Gründen abgelehnt, von ihr am Parkplatz des Parker Centers abgesetzt zu werden.
Als Edgar vorbeiging, trat Bosch hinter ihm hervor.
»Jerry, wo stehste?«
Edgar zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Eiswürfel in den Nacken gedrückt, und fuhr herum.
»Harry? Was machst du … He, willst du einen trinken gehen. Das hatte ich gerade vor.«
Bosch ließ ihn einen Moment dastehen und zappeln, bevor er sagte: »Du hattest schon einen Drink.«
»Was meinst du?«
Bosch ging einen Schritt auf ihn zu. Edgar schien wirklich Angst zu haben.
»Du weißt, was ich meine. Ein Bier für dich, stimmt’s? Und eine Bloody Mary für die Lady.«
»Hör zu, Harry, ich …«
»Nenn mich nicht so. Nenn mich nie wieder Harry. Verstanden? Wenn du mit mir sprechen willst, nenn mich Bosch. So nennen mich die Leute, die nicht meine Freunde sind, die Leute, denen ich nicht traue.«
»Dürfte ich es erklären? Har… äh, gib mir die Gelegenheit.«
»Was gibt’s da zu erklären? Du hast mich gefickt. Da gibt’s nichts zu erklären. Was hast du ihr heute abend erzählt? Einen vollständigen Bericht über unsere Besprechung in Irvings Büro? Ich glaube nicht, daß sie das noch braucht, Kollege. Der Schaden ist schon angerichtet.«
»Nein, sie ist schon lange weg. Ich bin noch alleine dort geblieben und habe darüber nachgedacht, wie ich aus der Situation wieder rauskomme. Ich habe ihr nicht das Geringste von dem heutigen Treffen gesagt. Harry, ich …«
Bosch machte noch einen Schritt nach vorne, hob in einer schnellen Bewegung seine Hand und schlug Edgar mit der Handfläche vor die Brust, so daß er rückwärts taumelte.
»Ich hab’ dir gesagt, du sollst mich nicht so nennen!« schrie er. »Du Schwein! Du – wir haben zusammen gearbeitet. Ich habe dich angelernt – und ich werde im Gerichtssaal in den Arsch gefickt und finde dann heraus, daß du es warst, der alles verraten hat.«
»Es tut mir leid. Ich …«
»Was ist mit Bremmer? Hast du ihm von dem Brief erzählt? Willst du jetzt mit ihm einen trinken gehen? Mit Bremmer? Nun, dann will ich dich nicht aufhalten.«
»Nein, Mann, ich habe nicht mit Bremmer gesprochen. Du, ich habe einen Fehler gemacht, okay? Es tut mir leid. Sie hat mich auch gefickt. Es war so etwas wie Erpressung. Ich konnte nicht … Ich hab’s versucht, aber sie hatte mich bei den Eiern. Du mußt mir glauben.«
Bosch sah ihn lange an. Inzwischen war es ganz dunkel, aber er glaubte Edgars Augen im Straßenlicht glänzen zu sehen. Vielleicht hielt er Tränen zurück. Tränen worüber? Über den Verlust ihrer Beziehung? Oder waren es Angsttränen. Bosch spürte die Macht, die er über Edgar hatte. Und Edgar wußte, daß er sie besaß.
Leise sagte Bosch: »Ich will alles wissen. Du wirst mir erzählen, was du getan hast.«
Das Quartett im Red Wind machte gerade Pause. Sie saßen hinten an einem Tisch. Es war ein dunkler, holzgetäfelter Raum wie hundert andere in der Stadt. Eine rote Kunstlederpolsterung lief die von Zigaretten mit Brandmalen verunzierte Bar entlang. Die Kellnerinnen trugen schwarze Kleider mit weißen Schürzen und hatten alle zuviel Rot auf ihren schmalen Lippen. Bosch bestellte einen doppelten Jack Black, eine Flasche Weinhard’s und gab der Bedienung Geld für eine Schachtel Zigaretten. Edgar, der jetzt ein Gesicht machte, als wäre sein Leben zerstört, bestellte Jack Black pur und ein Glas Wasser.
»Es ist die verdammte Rezession«, sagte Edgar, bevor Bosch etwas fragte. »Der Immobilienmarkt ist im Arsch. Es zahlte sich nicht mehr aus, und wir hatten die Hypothek, und du weißt, Brenda hat sich an einen gewissen …«
»Das interessiert mich ’en Scheiß. Glaubst du, ich will hören, du hast mich verkauft, weil deine Frau einen Chevy statt eines BMWs fahren muß. Fuck you. Du …«
»So war es nicht. Ich …«
»Halt die Klappe. Ich rede jetzt. Du wirst …«
Sie schwiegen beide, während die Kellnerin die Drinks und die Zigaretten auf den Tisch stellte. Bosch legte einen Zwanziger auf ihr Tablett, ohne seine dunklen, wütenden Augen von Edgar abzuwenden.
»Also, spar dir das Gesabbere und erzähl mir, was du getan hast.«
Edgar stürzte seinen Drink hinunter und spülte mit Wasser nach, bevor er anfing.
»Hm, also, es war Montag am späten Nachmittag, nachdem wir von dem Fundort bei Bing’s zurück waren. Ich saß im Büro und bekam einen Anruf von Chandler. Sie wußte, daß sich etwas ereignet hatte. Wie weiß ich nicht, aber sie hatte von dem Brief und der Leiche gehört. Sie muß von Bremmer oder jemandem einen Tip bekommen haben. Sie fing an, Fragen zu stellen. ›Wurde es bestätigt, daß es der Puppenmacher war?‹ Solche Fragen. Ich ließ nichts raus. Kein Kommentar …«
»Und dann?«
»Dann, nun, sie machte mir ein Angebot. Ich habe zwei Hypothekenzahlungen versäumt. Brenda weiß es nicht einmal.«
»Was habe ich dir gesagt? Deine traurige Geschichte will ich nicht hören. Ich habe kein Mitleid mit dir. Wenn du’s mir erzählst, machst du mich nur noch wütender.«
»Okay, okay. Sie bot mir Geld an. Ich hab’ gesagt, ich würde es mir überlegen. Falls ich mit ihr ins Geschäft kommen wollte, sollte ich sie an dem Abend im Hung Jury treffen … Du willst es ja nicht hören, aber ich hatte Gründe. Also bin ich hin, okay.«
»Ja, und du hast dir selbst ans Bein gepinkelt«, sagte Bosch und hoffte, damit Edgar den Trotz, der in seiner Stimme aufkam, wieder auszutreiben.
Er hatte seinen Jack Black ausgetrunken und signalisierte der Kellnerin, aber sie bemerkte ihn nicht. Die Musiker nahmen ihre Plätze hinter den Instrumenten ein. Der Solist war ein Saxophonspieler, und Bosch wünschte, er wäre aus anderen Gründen hier.
»Was hast du ihr gegeben?«
»Nur, was wir an dem Tag wußten. Aber sie wußte schon über das meiste Bescheid. Ich sagte ihr, es sähe nach dem Puppenmacher aus. Es war nicht viel. Ha … das meiste stand sowieso am nächsten Morgen in der Zeitung. Und ich war nicht Bremmers Informant. Du mußt mir glauben.«
»Du hast ihr gesagt, ich wäre rausgekommen? Zum Fundort?«
»Ja, ich hab’s ihr gesagt. Warum sollte das ein großes Geheimnis sein.«
Bosch dachte ein paar Minuten über alles nach und hörte der Band zu, die mit einer Billy-Strayhorn-Nummer anfing, »Lush Life«. Ihr Tisch war weit genug entfernt, so daß es nicht zu laut war. Harry ließ seinen Blick durchs Lokal schweifen, ob noch jemand auf die Musik abfuhr, und sah Bremmer an der Bar sitzen und Bier trinken. Er war mit anderen Leuten zusammen, Journalisten anscheinend. Einer der Männer hatte einen dieser langen, dünnen Notizblöcke in der Gesäßtasche, wie sie Reporter immer dabei haben.
»Da wir gerade von Bremmer reden, dort sitzt er. Vielleicht will er ein Detail mit dir besprechen, wenn wir beide fertig sind.«
»Harry, er hat es nicht von mir.«
Bosch wies ihn diesmal nicht wegen des »Harry« zurecht. Das Ganze kotzte ihn allmählich an und deprimierte ihn. Er wollte das Gespräch hinter sich bringen und dann zu Sylvia fahren.
»Wie oft hast du mit ihr gesprochen?«
»Jeden Abend.«
»Sie hat dich damit unter Druck gesetzt, nicht wahr? Du mußtest.«
»Ich war dumm. Ich brauchte das Geld. Nachdem ich mich einmal mit ihr getroffen hatte, hatte sie mich an den Eiern. Sie wollte immer auf den neuesten Stand gebracht werden, sonst hätte sie es dir und dem DIE erzählt. Verdammt, sie hat mir noch nicht einmal das Geld gegeben.«
»Warum ist sie heute abend so früh gegangen?«
»Sie sagte, das Verfahren sei abgeschlossen, morgen begännen die Plädoyers. Es wäre also egal, was sich noch in dem Fall ereigne. Sie wollte nichts mehr von mir.«
»Aber damit hört es nicht auf. Das weißt du doch, oder? Wenn sie mal Informationen über ein Nummernschild braucht, eine Adresse vom Führerscheinbüro, die nicht öffentliche Telefonnummer eines Zeugen, wird sie dich anrufen. Sie hat dich in der Hand, Edgar.«
»Ich weiß. Damit muß ich fertigwerden.«
»Und wofür? Welchen Preis hattet ihr am ersten Abend verabredet?«
»Eine gottverdammte Hypothekenzahlung … Ich kann das Scheißhaus nicht verkaufen und schaffe auch nicht die Raten. Ich weiß nicht, was ich tun werde.«
»Was ist mit mir? Machst du dir keine Sorgen, was ich tun werde?«
»Ja, doch.«
Bosch wandte seinen Blick wieder zur Band. Sie waren bei Strayhorn geblieben und spielten gerade »Blood Count«. Der Saxophonist spielte wie ein routinierter Profi, exakt und sauber phrasiert.
»Was wirst du tun?« fragte Edgar.
Bosch mußte nicht überlegen, er wußte es schon. Er wandte seine Augen nicht vom Saxophon ab, als er sprach.
»Nichts.«
»Nichts?«
»Wichtiger ist, was du tun wirst. Ich kann mit dir nicht mehr arbeiten. Wir haben noch diese Sache mit Irving zusammen, aber dann ist Schluß. Danach gehst du zu Pounds und bittest ihn, in ein anderes Revier versetzt zu werden.«
»Aber es gibt woanders keine freien Stellen für Mord. Ich habe mir die Ausschreibungen angesehen. Du weißt, wie selten sie sind.«
»Von Mord-Tisch habe ich nichts gesagt, nur von Versetzung. Du bewirbst dich um die erste freie Stelle, verstanden. Es ist mir egal, ob du Autodiebstahl in der Seventyseventh Street bekommst. Du nimmst das Erstbeste.«
Jetzt sah er Edgar an, dessen Mund leicht geöffnet war, und sagte: »Das ist der Preis, den du bezahlst.«
»Aber ich arbeite bei Mord. Dort ist die Action.«
»Und du bist nicht mehr dort, wo die Action ist. Schluß, aus. Es sei denn, du willst alles dem Dezernat für interne Ermittlungen erklären. Entweder gehst du zu Pounds, oder ich gehe zum DIE. Ich kann mit dir nicht mehr arbeiten. Das war’s.«
Er schaute der Band zu. Edgar schwieg, und nach einigen Augenblicken sagte Bosch ihm, er solle gehen.
»Du gehst zuerst. Ich kann nicht mit dir zurück zum Parker Center gehen.«
Edgar stand auf und wartete zögernd am Tisch. Dann sagte er: »Eines Tages wirst du viele Freunde brauchen. Dann wirst du daran denken, was du mir angetan hast.«
Ohne ihn anzusehen, sagte Bosch: »Ich weiß.«
Nachdem Edgar gegangen war, konnte Bosch die Kellnerin auf sich aufmerksam machen und noch eine Lage bestellen. Das Quartett spielte »Rain Check« mit improvisierten Riffs, die Bosch gefielen. Die Wärme des Whiskeys breitete sich in seinem Magen aus, er lehnte sich zurück, rauchte und hörte zu und versuchte mal nicht an Cops und Killer zu denken.
Kurz darauf bemerkte er, daß jemand hinter ihm stand, drehte sich um und entdeckte Bremmer mit einer Bierflasche in der Hand.
»Ich habe Edgars Gesichtsausdruck gesehen, als er ging. Er kommt wohl nicht zurück. Darf ich mich setzen?«
»Nein, er wird nicht zurückkommen, und was du tust, ist mir egal. Aber ich habe keinen Dienst, keinen Kommentar und kein Ziel.«
»Mit anderen Worten, du wirst mir einen Scheiß erzählen.«
»Du hast’s erfaßt.«
Der Reporter setzte sich und zündete sich eine Zigarette an.
Seine kleinen, aber scharfen grünen Augen blinzelten durch den Qualm.
»Das macht nichts. Ich habe Feierabend.«
»Bremmer, du arbeitest immer. Sogar jetzt. Falls mir irgendein Wort herausschlüpft, wirst du es nicht vergessen.«
»Wahrscheinlich. Aber du vergißt die Zeiten, als wir zusammengearbeitet haben. Die Artikel, die dir geholfen haben, Harry. Und mit einer Geschichte, die dir nicht in den Kram paßt, ist alles vergessen. Jetzt bin ich bloß ›dieser verdammte Reporter‹, der …«
»Ich hab’ einen Scheiß vergessen. Du sitzt immerhin hier, oder? Ich weiß, was du für und was du gegen mich getan hast. Am Ende gleicht sich alles aus.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und hörten der Musik zu.
Die Musiker beendeten gerade den Set, als die Kellnerin Bosch den dritten doppelten Jack Black hinstellte.
»Nicht, daß ich dir den Namen verraten würde«, sagte Bremmer, »aber weshalb glaubst du, daß mein Informant so wichtig ist?«
»Es ist nicht mehr wichtig. Ich hatte wissen wollen, wer mich ans Kreuz nageln will.«
»Das hast du schon vorher gesagt. Daß dich jemand reinlegen will. Glaubst du das wirklich?«
»Es ist nicht mehr relevant. Was für eine Story schreibst du für morgen?«
Der Reporter setzte sich gerade, seine Augen leuchteten.
»Du wirst es sehen. Ein Prozeßbericht ohne Schnörkel. Über deine Aussage, daß jemand anders die Morde fortsetzt. Es wird auf der ersten Seite stehen. Wird groß herausgebracht. Deshalb bin ich hier. Ich genehmige mir immer einen, wenn ich es auf die erste Seite geschafft habe.«
»Große Party, hm? Was ist mit meiner Mutter. Hast du ihre Geschichte erwähnt?«
»Harry, mach dir keine Sorgen deswegen. Ich habe es mit keinem Wort erwähnt. Ehrlich gesagt, für dich mag es von großer Bedeutung sein, aber als Zeitungsstory ist es meiner Ansicht nach Inside-Baseball. Ich habe es rausgelassen.«
»Inside-Baseball?«
»Zu obskur. Wie diese Statistiken, mit denen die Sportkommentatoren um sich werfen. Zum Beispiel, wie viele Schnellwürfe hat Lefty Soundso im dritten Inning des fünften Spiels der World Series 1956 geworfen. Ich fand, die Geschichte mit deiner Mutter – das heißt, Chandlers Versuch, nach einem Motiv für dich zu fischen – ging unter die Gürtellinie.«
Bosch nickte bloß. Er war froh, daß dieser Teil seines Lebens nicht morgen früh in den Händen einer Million Zeitungskäufer war, aber er reagierte nonchalant.
»Aber«, sagte Bremmer, »ich muß dir schon jetzt sagen, falls die Geschworenen gegen dich entscheiden und sagen, sie glauben, daß du deine Mutter hättest rächen wollen, dann ist es relevant, und ich habe keine Wahl.«, Bosch nickte wieder. Es schien fair zu sein. Er sah auf seine Uhr; es war fast zehn. Er sollte Sylvia anrufen und gehen, bevor der nächste Set begann und die Musik ihn wieder in Trance versetzte.
Er trank aus und sagte: »Ich hau ab.«
»Ja, ich auch«, sagte Bremmer. »Ich komme mit raus.«
Draußen riß ihn die kühle Nachtluft aus seiner Benebelung. Er verabschiedete sich von Bremmer, steckte die Hände in die Tasche und marschierte los.
»Harry, mußt du zum Parker Center? Steig ein, mein Wagen steht hier.«
Bosch sah zu, wie Bremmer die Beifahrertür seines Le Sabres aufschloß, der direkt vor dem Red Wind stand. Bosch stieg ein, ohne sich zu bedanken, und lehnte sich hinüber, um die Fahrertür zu öffnen. Wenn er betrunken war, hatte er immer eine Phase, wo er fast nichts sagte, nur vor sich hinbrütete und zuhörte.
Bremmer begann wieder das Gespräch.
»Diese Money Chandler ist ’ne starke Frau, hm? Sie weiß, auf welche Knöpfe man bei den Geschworenen drücken muß.«
»Du glaubst, sie hat den Sieg in der Tasche?«
»Es wird knapp werden, Harry. Aber selbst, wenn es eines dieser Urteile gegen das LAPD ist, die nur ›ein moralisches Zeichen setzen‹ und die zur Zeit ziemlich populär sind, wird sie reich.«
»Was meinste?«
»Du warst wohl noch nie in einem Bundesgericht?«
»Nein, ich halte es für eine schlechte Angewohnheit.«
»Nun, wenn in einem Bürgerrechtsfall die Klägerseite – also Chandler – gewinnt, dann muß der Beklagte, die Stadt, alle Anwaltskosten tragen. Ich garantiere dir, Harry, sie wird morgen in ihrem Plädoyer der Jury sagen, daß ›ein moralisches Zeichen‹ schon ausreicht. Und ein Dollar ist dafür schon genug. Sie macht es so den Geschworenen leichter. Sie können sagen, daß du falsch gehandelt hast, und als Schadenersatz einen Dollar festsetzen. Sie wissen jedoch nicht – weil Belk es ihnen nicht sagen darf –, daß Chandler der Stadt die Anwaltskosten berechnen darf, selbst wenn die Klägerin nur einen Dollar gewinnt. Und ihre Rechnung wird mehr als einen Dollar betragen, wahrscheinlich ein paar Hunderttausend. Es ist Trickbetrug.«
»Scheiße.«
»Ja, das ist das Justizsystem.«
Bremmer fuhr auf den Parkplatz und Bosch zeigte auf seinen Caprice, der gleich vorne stand.
»Bist du in der Lage zu fahren?« fragte Bremmer.
»Kein Problem.«
Bosch wollte gerade die Tür zuschlagen, als Bremmer ihn stoppte.
»Harry, wir beide wissen, ich kann dir meine Quelle nicht verraten. Aber ich kann dir sagen, wer es nicht ist. Und ich sag’ dir, es ist nicht jemand, von dem du es erwarten würdest. Verstehst du? Wenn du Edgar und Pounds verdächtigst, bist du auf dem Holzweg. Du errätst es nie, also zerbrich dir nicht den Kopf. Okay?«
Bosch nickte einfach und schloß die Tür.