7

Es sah aus wie eine Torte in einer Schachtel, wie eine dieser Gag-Kreationen, die Marylin Monroe darstellen sollten. Der Anthropologe hatte beige Hautfarbe sowie roten Lippenstift aufgetragen und ihr blaue Augen gegeben. Für Bosch sah alles wie Buttercreme aus. Zusätzlich hatte man ihr eine wellige, blonde Perücke aufgesetzt. Er sah auf die Gipsmaske hinunter und fragte sich, ob sie wirklich irgend jemandem ähnlich sah.

»Fünf Minuten bis Sendebeginn«, verkündete Edgar.

Er saß auf seinem Stuhl, den er zum Fernseher auf den Karteischränken gedreht hatte. In der Hand hielt er die Fernbedienung. Sein blaues Anzugjackett hing ordentlich auf einem Bügel am Garderobenständer am Ende des Tisches. Bosch zog seine Jacke aus und hängte sie an einen der Haken. Er sah in seinem Brieffach nach Nachrichten und setzte sich dann auf seinen Platz am Mord-Tisch. Sylvia hatte angerufen, sonst war nichts Wichtiges dabei. Er wählte ihre Nummer, als die Sendung auf Kanal 4 begann. Er kannte die Nachrichtenprioritäten in dieser Stadt gut genug, um zu wissen, daß der Report über die Beton-Blondine nicht an erster Stelle kam.

»Harry, die Leitung muß frei sein, sobald sie die Story bringen«, sagte Edgar.

»Es dauert nur eine Minute. Sie werden es nicht gleich zeigen. Falls sie es überhaupt zeigen.«

»Sie werden es bringen. Ich habe mit allen geheime Vereinbarungen. Die glauben alle, sie bekommen die Exklusivnachricht, falls wir sie identifizieren. Sie sind alle auf die Heulstory mit den Eltern scharf.«

»Du spielst mit dem Feuer, Mann, wenn du solche Versprechungen machst. Wenn Sie herausfinden, daß du sie an der Nase …«

Sylvia nahm ab.

»Hallo, ich bin’s.«

»Wo bist du?«

»Im Büro. Wir müssen hier eine Weile bei den Telefonen sitzen. Das Gesicht der Leiche von gestern wird heute abend im Fernsehen gezeigt.«

»Wie war’s im Gericht?«

»Die Klägerseite hat im Moment das Steuer in der Hand. Aber ich glaube, wir haben ein paar Treffer gelandet.«

»Ich habe die Times in der Mittagspause gelesen.«

»Ja, ich glaub’, ungefähr die Hälfte davon stimmt.«

»Kommst du heute abend, wie du versprochen hast?«

»Ja, irgendwann. Nicht sofort. Ich muß jetzt helfen, Anrufe zu beantworten, und dann kommt es darauf an, wie das Echo ist. Wenn es bloß Müll ist, komme ich bald.«

Er merkte, daß er seine Stimme gesenkt hatte, damit Edgar nichts von dem Gespräch mitbekam.

»Und falls ihr gute Hinweise bekommt?«

»Wir werden sehen.«

Sie atmete tief durch, dann Schweigen. Harry wartete.

»Harry, du sagst zu oft, wir werden sehen. Wir haben darüber gesprochen. Manchmal …«

»Ich weiß.«

»… glaube ich, daß du allein gelassen werden willst, dich in deinem kleinen Haus auf dem Berg verkriechen und die ganze Welt aussperren willst. Einschließlich meiner Person.«

»Nicht dich. Das weißt du.«

»Manchmal nicht. Im Moment bin ich mir nicht mehr sicher. Du stößt mich weg, gerade wenn du mich – jemanden – brauchst.«

Er hatte keine Antwort parat. Er stellte sich vor, wie sie am anderen Ende saß. Wahrscheinlich auf einem Stuhl in der Küche. Sicher hatte sie schon begonnen, das Essen für sie beide vorzubereiten. Oder vielleicht hatte sie sich schon an seine Marotten gewöhnt und auf den Anruf gewartet.

»Du, es tut mir leid«, sagte er. »Du weißt, wie es ist. Was machst du in bezug aufs Abendessen?«

»Nichts, und ich werde auch nichts tun.«

Edgar pfiff leise und kurz. Harry blickte zum Fernseher und sah das bemalte Gesicht des Opfers auf dem Bildschirm. Kanal 7 war eingeschaltet. Die Kamera zeigte eine lange Nahaufnahme des Gesichts. Das Ergebnis war nicht schlecht. Wenigstens sah es nicht wie eine Torte aus. Dann wurden die zwei für die Öffentlichkeit bestimmten Telefonnummern der Fahndungsabteilung eingeblendet.

»Sie zeigen sie gerade«, sagte Bosch zu Sylvia. »Ich muß die Leitung freimachen. Ich ruf dich später wieder an, wenn ich etwas weiß.«

»Sicher«, sagte sie kühl und legte auf.

Edgar hatte jetzt Kanal 4 eingestellt, wo gerade das Gesicht gezeigt wurde. Dann wechselte er zu 2 und erwischte noch die letzten Sekunden ihres Berichts. Sie hatten sogar den Anthropologen interviewt.

»Saure Gurkenzeit«, sagte Bosch.

»Mann«, sagte Edgar. »Alle Segel sind gesetzt. Alles, was wir …«

Das Telefon klingelte, und er nahm sofort ab.

»Nein, es ist eben erst gesendet worden«, sagte er, nachdem er einige Augenblicke zugehört hatte. »Ja, ja, mach’ ich. Okay.«

Er legte auf und schüttelte den Kopf.

»Pounds?« fragte Bosch.

»Jaja. Er glaubt, wir hätten ihren Namen zehn Sekunden nach der Sendung. Mein Gott, was für ein Idiot.«

Die nächsten drei Anrufe kamen von Scherzbolden und bewiesen, wie unoriginell und geisteskrank Fernsehzuschauer waren. Alle drei Anrufer riefen »deine Mutter« oder etwas Ähnliches und legten lachend auf. Ungefähr zwanzig Minuten später bekam Edgar einen neuen Anruf und begann Notizen zu machen. Das Telefon klingelte wieder und Bosch nahm ab.

»Detective Bosch hier, mit wem spreche ich?«

»Wird das auf Tonband aufgenommen?«

»Nein, das wird nicht gemacht. Wer sind Sie?«

»Nicht so wichtig. Ich dachte, Sie würden gern den Namen des Mädchens wissen. Sie heißt Maggie Soundso. Ein mexikanischer Name. Ich hab’ sie auf Videos gesehen.«

»Was für Videos? MTV?«

»Nein, Sherlock. Pornos. Sie fickt im Film. War gut. Konnte mit ihrem Mund ein Gummi über’n Schwanz ziehen.«

Es wurde aufgelegt. Bosch machte ein paar Notizen. Mexikanisch? Seiner Ansicht nach sah das Gesicht nach dem Anmalen nicht aus, als wäre das Opfer eine Latina gewesen.

Edgar legte auf und sagte, sein Anrufer meinte, sie hieße Becky und habe vor ein paar Jahren in Studio City gelebt.

»Was hast du?«

»Maggie. Kein Nachname. Wahrscheinlich ein lateinamerikanischer Familienname. Er hat sie angeblich in einem Porno gesehen.«

»Das würde passen, nur daß sie nicht mexikanisch aus sieht.«

»Hab’ ich mir auch gedacht.«

Das Telefon klingelte wieder. Edgar nahm ab und hörte kurz zu. Dann legte er auf.

»Wieder jemand, der meine Mutter erkannt hat.«

Bosch nahm den nächsten Anruf entgegen.

»Ich wollte nur sagen, daß das Mädchen, das sie im Fernsehen gezeigt haben, in einem Porno war«, sagte die Stimme.

»Woher wissen Sie, daß Sie in einem Porno war?«

»Ich habe sie nach dem Ding erkannt, das sie im Fernsehen gezeigt haben. Ich habe ein Pornovideo ausgeliehen. Nur einmal. Sie war drauf.«

Nur einmal, dachte Bosch, aber er konnte sich erinnern. Klar.

»Wissen Sie ihren Namen?«

Das andere Telefon läutete und Edgar nahm den Hörer ab.

»Namen weiß ich nicht«, sagte der Anrufer zu Bosch. »Haben ja doch alle Künstlernamen.«

»Wie hieß das Video?«

»Kann mich nicht erinnern. Ich war, mh, betrunken, als ich es sah. Wie gesagt, ich hab’s nur einmal gesehen.«

»Hören Sie, ich bin nicht Ihr Beichtvater. Wissen Sie sonst noch etwas?«

»Nein, du Klugscheißer.«

»Wie heißen Sie?«

»Das muß ich nicht sagen.«

»Hören Sie mal zu, wir versuchen, den Mörder zu finden. Wie hieß der Laden, wo Sie es ausgeliehen haben?«

»Das werde ich nicht sagen. Sie könnten meinen Namen von Ihnen bekommen. Ist sowieso egal, diese Videos gibt es überall, in jedem Pornoladen.«

»Woher wissen Sie das denn, wenn Sie nur einmal ein Video ausgeliehen haben?«

Der Anrufer hängte auf.

Bosch blieb noch eine Stunde. Am Ende hatte er fünf Anrufe, die behaupteten, das bemalte Gesicht gehöre einem Pornostarlet. Nur der eine Anrufer hatte angegeben, ihr Name sei Maggie, die vier anderen hatten erklärt, daß sie auf Namen nicht groß achteten. Ein Anrufer hatte sie als Becky von Studio City identifiziert, und ein anderer gab an, sie habe mal eine Zeitlang im Booby Trap auf der La Brea Avenue gestrippt. Ein Mann rief an und sagte, das Gesicht sei das seiner vermißten Frau. Im weiteren Gespräch erfuhr Bosch jedoch, daß sie erst vor zwei Monaten verschwunden war. Die Beton-Blondine war viel länger tot. Die Hoffnung und Verzweiflung in der Stimme des Mannes schienen echt zu sein, und Bosch war sich nicht sicher, ob es eine gute Nachricht für ihn war, daß es nicht seine Frau sein konnte, oder eine schlechte, weil er wieder ins Ungewisse gestoßen wurde.

Drei der Anrufer gaben vage Beschreibungen von Frauen, von denen sie dachten, daß es die Tote sein könnte, aber nach ein paar Fragen erkannten Bosch und Edgar schnell, daß es Polizeispanner waren, Leute, die geil darauf waren, mit der Polizei zu sprechen.

Der ungewöhnlichste Anruf kam von einem Medium aus Beverly Hills, die sagte, sie hätte ihre Hände während der Sendung auf den Bildschirm gelegt und gefühlt, wie der Geist der toten Frau gerufen hätte.

»Was hat er gerufen?« fragte Bosch geduldig.

»Lobet.«

»Lobet was?«

»Lobet den Herrn, nehme ich an, ich bin mir aber nicht sicher. Das ist alles, was ich gehört habe. Vielleicht empfange ich mehr, wenn ich meine Hände auf den Gipsabdruck …«

»Mh, hat sich dieser Geist identifiziert? Verstehen Sie, deshalb sind wir hier. Wir sind mehr an einem Namen interessiert als an Lobrufe.«

»Eines Tages werden Sie glauben, aber dann werden Sie verloren sein.«

Sie hängte abrupt auf.

Um halb acht erklärte Bosch, daß er abhauen würde.

»Was ist mit dir? Wartest du die Elf-Uhr-Nachrichten ab?«

»Ja, ich bleibe hier, aber ich werde zurechtkommen. Falls eine Menge Anrufe kommt, schnapp ich mir einen von den Schreibtischhengsten.«

Er stopft sich mit Überstunden voll, dachte Bosch.

»Was ist der nächste Schritt?«

»Keine Ahnung. Was meinst du?«

»Abgesehen von den Anrufen, die behaupten, es sei deine Mutter, scheint der Pornotip die einzige Fährte zu sein.«

»Laß meine liebe Mutter aus dem Spiel. Wie überprüf’ ich die Pornosache?«

»Sitte-Aufsicht. Ray Mora, Detective dritten Grades, bearbeitet Pornos. Er ist Spitze. Außerdem war er bei der Puppenmacher-Fahndungsgruppe. Frag ihn, ob er vorbeikommen und sich das Gesicht ansehen kann. Vielleicht hat er sie gekannt. Sag ihm, wir hatten einen Anrufer, der sie als Maggie identifiziert hat.«

»Wird gemacht. Das paßt zum Puppenmacher, nicht wahr? Pornodarstellerin, mein ich.«

»Ja, das paßt.« Er dachte einen Moment darüber nach, dann fügte er hinzu: »Zwei der anderen Opfer waren auch in der Branche. Und die, die flüchten konnte.«

»Die hatte Glück. Ist sie immer noch im Geschäft?«

»Nach dem, was ich zuletzt gehört habe. Was weiß ich, vielleicht ist sie inzwischen auch tot.«

»Das muß alles nichts heißen, Harry.«

»Was?«

»Die Pornosache. Das muß nicht bedeuten, daß es der Puppenmacher war. Der wahre, mein’ ich.«

Bosch nickte bloß. Er hatte eine Idee, was er auf dem Nachhauseweg tun konnte, und ging nach draußen. Aus dem Kofferraum seines Caprices holte er die Polaroidkamera und machte dann oben im Büro zwei Fotos von dem Gipsgesicht. Nachdem sie entwickelt waren, steckte er sie in seine Jackentasche.

Edgar hatte ihn beobachtet und fragte: »Was hast du vor?«

»Vielleicht halt ich auf dem Weg ins Valley zu Sylvia bei dem Porno-Supermarkt.«

»Laß dich nicht mit herausgeholtem Schwanz in einer dieser Kabinen erwischen.«

»Vielen Dank für den Rat. Laß mich wissen, was Mora sagt.«

 

Bosch fuhr auf Zubringerstraßen zum Hollywood Freeway und auf ihm in nördlicher Richtung bis zur Abfahrt Lankershim Boulevard, der ihn über North Hollywood ins San Fernando Valley brachte. Die Fenster im Wagen waren heruntergekurbelt, und kühle Luft schlug ihm aus allen Ecken um die Ohren. Er rauchte eine Zigarette und schnippte die Asche in den Wind. KAJZ spielte gerade Techno-Funk, also stellte er das Radio ab und fuhr so weiter.

Das Valley war das Schlafzimmer von Los Angeles in mehr als einer Beziehung. Hier hatte sich die Pornoindustrie angesiedelt. In den Gewerbegebieten von Van Nuys, Canoga Park, Northridge und Chatsworth befanden sich Hunderte von Pornoproduktionsgesellschaften, Verleihfirmen und Lagerhäusern. Modellagenturen in Sherman Oaks vermittelten neunzig Prozent der Frauen und Männer, die vor den Kameras agierten. Aus dem Grunde war das Valley auch der größte Verkaufstisch für das Endprodukt. Es wurde hier produziert und verkauft. Durch Versandfirmen, die sich mit den Produktionsgesellschaften die Lagerhäuser teilten, und durch Läden wie X Marks the Spot auf dem Lankershim Boulevard.

Nachdem er vor dem riesigen Geschäft geparkt hatte, musterte er es erst einmal. Vorher hatte Pic N Pay sich hier befunden, ein Supermarkt. Statt der riesigen Glasfenster hatte man an der Vorderseite eine Wand hochgezogen. Unter dem Namen des Geschäfts in roten Neonlettern war die weiße Fläche mit schwarzen Silhouetten nackter, vollbusiger Frauen bemalt. Sie erinnerten Bosch an die Aufkleber, die auf den Schmutzfängern von Trucks prangten. Die Männer, die so ihre Lkws verschönerten, waren wahrscheinlich auch hier Kunden.

X Marks the Spot gehörte einem Typen namens Harold Barnes, der als Strohmann für die Chicago Mafia fungierte. Mehr als eine Million Dollar wurde pro Jahr als Einnahme verbucht. Wahrscheinlich wurde eine weitere Million eingenommen, die nicht über die Registrierkasse lief. Bosch hatte das alles von Mora erfahren, der vor vier Jahren bei der Fahndungsgruppe ab und zu sein Partner gewesen war.

Bosch beobachtete einen Mann, Mitte Zwanzig, der aus seinem Toyota stieg, zur stabilen Holztür eilte und wie ein Geheimagent hineinschlüpfte. Er folgte ihm. Die vordere Hälfte des ehemaligen Supermarkts war als Verkaufsraum eingerichtet: zum Verkauf und Verleih von Videos, Heften und sonstigen Artikeln, meistenteils aus Gummi. Die hintere Hälfte war eingeteilt in Privaträume für »Begegnungen« und Videokabinen. Der Eingang zu diesem Teil befand sich hinter einem Vorhang. Bosch konnte Heavy-Metal-Musik hören, die aus den Videozellen kam, sowie blechern klingende Schreie vorgetäuschter Ekstase.

Links von ihm befand sich eine Glastheke, hinter der zwei Männer standen. Der eine war groß und hatte wohl hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen, der andere war kleiner und älter und kassierte das Geld. Ihre Blicke und ihre starr werdenden Augen verrieten ihm, daß sie ihn sofort als Polizist erkannt hatten. Er ging hinüber und legte eines der Polaroidfotos auf die Theke.

»Ich versuch’, sie zu identifizieren. Hab’ gehört, sie war mal in einem Video. Erkennt ihr sie?«

Der Kleinere beugte sich vor und studierte das Foto, während der andere sich nicht bewegte.

»Sieht aus wie ’ne verdammte Torte, Mann«, sagte der kleine Typ. »Ich kenne keine Torten, ich esse sie.«

Er warf dem größeren Kerl einen Blick zu, und sie grinsten über die clevere Bemerkung.

»Also, du erkennst sie nicht. Was ist mit dir?«

»Ich sag, was er sagt. Ich esse auch Torten.«

Diesmal lachten sie laut und mußten sich wahrscheinlich zusammenreißen, um sich nicht gegenseitig auf die Schulter zu hauen. Die Augen des Kleinen glänzten hinter seiner rosa Brille.

»Okay«, sagte Bosch, »ich werd’ mich mal umsehen.«

Der Große machte einen Schritt vorwärts und sagte: »Laß deine Kanone nicht sehen, wir wollen die Kunden nicht aufregen.«

Seine Augen waren glanzlos und er verbreitete in einem Umkreis von anderthalb Metern seinen Körpergeruch. PCP-süchtig, dachte Bosch und fragte sich, warum der Kleine ihn noch nicht gefeuert hatte.

»Nicht mehr als sie schon sind«, sagte Bosch.

Er wandte sich von der Theke ab und ging zu den zwei Regalwänden, in denen Unmengen Videos zum Verkauf oder Verleih standen. Ein Dutzend Männer stand davor, einschließlich des »Geheimagenten«. Bosch überschaute die Szene und die Anzahl der Videos. Es erinnerte ihn an einen Fall, bei dem er alle Namen auf dem Vietnam War Memorial durchlesen mußte.

Er hatte mehrere Stunden dafür benötigt.

Für die Videowand brauchte er nicht ganz so viel Zeit. Er übersprang die Sektionen für Homosexuelle und für schwarze Darsteller und überflog die Verpackungsschachteln auf der Suche nach einem Gesicht, das wie die Beton-Blondine aussah, oder nach dem Namen Maggie. Die Videos waren alphabetisch geordnet und nach fast einer Stunde hatte er den Buchstaben T erreicht, als ihm ein Gesicht auf der Kassette für »Tails from the Crypt« ins Auge fiel. Eine Frau lag nackt auf einem Sarg. Sie war blond und hatte die gleiche Stupsnase wie der Gipsabdruck. Auf der Rückseite war noch ein Foto von der Darstellerin; sie war auf Händen und Knien, und ein Mann preßte sich von hinten an sie. Ihr Mund war leicht geöffnet und das Gesicht ihrem Sexpartner zugewandt.

Sie war es, daß wußte Bosch. Er las die Besetzungsliste und sah, daß der Name stimmte. Er nahm die leere Schachtel zur Theke mit.

»Wird auch Zeit«, sagte der Kleine. »Herumlungern ist hier nicht gestattet. Wir bekommen viel Druck von der Polizei deswegen.«

»Ich möchte das leihen.«

»Geht nicht, ist schon ausgeliehen. Siehste, die Schachtel ist leer.«

»Ist sie sonst noch in einem Video?«

Der Kleine nahm die Kassette und betrachtete die Fotos.

»Magna Cum Loudly, hm. Ich weiß nicht. Sie fing gerade erst an und verschwand dann. Wahrscheinlich hat sie einen reichen Kerl geheiratet. Das machen viele.«

Der Große kam herüber, um die Fotos anzusehen, und Bosch machte einen Schritt rückwärts, um der Geruchszone zu entfliehen.

»Sicher«, sagte er. »Wo war sie noch drin?«

»Nun«, sagte er Kleine, »sie hatte sich gerade erst von den Endlosschleifen hochgearbeitet und ›hui‹ war sie wieder weg. ›Tails‹ war ihre erste Hauptrolle. Sie hat eine fantastische Zwei-Weg-Nummer in ›Whore of the Roses‹ abgezogen. Das war ihr Durchbruch. Davor hat sie nur Loops gedreht.«

Bosch ging zu den Ws und fand die Schachtel für ›Whore of the Roses‹. Sie war ebenfalls leer, und es gab auf ihr keine Fotos von Magna Cum Loudly. Ihr Name war an letzter Stelle aufgeführt. Er kehrte zu dem Kleinen zurück und deutete auf die Kassette von ›Tails from the Crypt‹.

»Wie steht’s mit der Schachtel? Ich möchte sie kaufen.«

»Die Verpackung können wir nicht so einfach verkaufen. Wie sollen wir das Video ins Regal stellen, wenn es zurückkommt. Wir verkaufen keine Schachteln hier. Wenn Typen Fotos wollen, kaufen sie sich ein Magazin.«

»Was kostet es dann mit dem Video. Ich kauf’s. Wenn es zurückgebracht wird, leg es für mich beiseite. Ich werde es dann abholen. Wieviel?«

»Mh, ›Tails‹ ist ein ziemlicher Renner. Normalerweise kostet es $39,95. Aber sie bekommen Polizeirabatt. Fünfzig Dollar.«

Bosch sagte nichts. Er hatte das Bargeld und bezahlte.

»Ich möchte eine Quittung.«

Nachdem der Kauf vollzogen war, steckte der Kleine die Videoschachtel in eine braune Tüte.

»Weißt du«, sagte er, »Maggie Cum Loudly läuft hinten immer noch auf ein paar Wichsstreifen. Vielleicht willst du’s dir mal ansehen.«

Er grinste und deutete auf ein Schild hinter ihm.

»Übrigens, bei uns gibt’s kein Umtausch.«

Bosch grinste zurück.

»Ich werd’s mir ansehen.«

»Ach so, unter welchem Namen soll ich das Video aufbewahren, wenn es zurückkommt.«

»Carlo Pinzi.«

So hieß der Capo der Chicago Mafia in L. A.

»Verdammt witzig, Mr. Pinzi, wird gemacht.«

Bosch ging durch den Vorhang nach hinten und lief sogleich einer Frau in die Arme, die hohe Absätze, einen Mini-Tanga und eine Wechselgeldtasche trug – sonst nichts. Ihre großen, durch Silikon perfektionierten Brüste hatten winzige Brustwarzen. Das blondierte Haar war kurz, und sie hatte um ihre glasig braunen Augen zuviel Make-up aufgetragen. Sie sah aus wie neunzehn oder fünfunddreißig.

»Willst du eine Privatvorstellung oder Wechselgeld für die Videokabinen?«

Bosch zog seine Geldbörse heraus und ließ sich zwei Dollar wechseln.

»Kann ich einen Dollar für mich behalten? Ich bekomme kein Gehalt, nur Trinkgeld.«

Bosch gab ihr noch einen Dollar und nahm seine acht Quarters mit zu einer der kleinen Kabinen, wo das Besetztzeichen nicht angeschaltet war.

»Sag mir Bescheid, falls du dort drin irgend etwas brauchst«, rief die Frau im Tanga ihm hinterher.

Sie war entweder zu stoned, zu blöd oder beides, da sie nicht erkannt hatte, daß er Polizist war. Bosch winkte ab und zog den Vorhang der Kabine zu. Sie hatte ungefähr die Ausmaße einer Telefonzelle. Vor ihm war ein Glasfenster, durch das er den Bildschirm sehen konnte, der eine Auswahl von zwölf Videos auflistete. Heutzutage gab es nur noch Videos, aber sie wurden immer noch Loops genannt, nach den 16mm-Endlosschleifen, die in den ersten Peepmaschinen liefen.

Es gab keinen Stuhl, aber ein Abstellbrett mit einem Aschenbecher und einer Schachtel Papiertaschentücher, von denen einige benutzte auf dem Fußboden lagen. Die Zelle roch nach dem Desinfektionsmittel, das er von den Transportwagen der Gerichtsmedizin kannte. Er steckte alle acht Münzen in den Einwurf, und ein Video erschien auf der Bildfläche.

Zwei Frauen küßten und streichelten sich im Bett. Bosch brauchte nur ein paar Sekunden, um sie als die Gesuchte ausschließen zu können, dann begann er die Programmtaste zu bedienen, und die Bettszenen wechselten – heterosexuell, homosexuell, bisexuell. Er verharrte nur so lange, bis er feststellen konnte, ob sie zu sehen war.

Sie war auf dem neunten Loop. Er erkannte sie von dem Foto auf der Schachtel. Als er sie in Bewegung sah, war er überzeugt, daß die Frau, die sich Magna Cum Loudly nannte, die Beton-Blondine war. Sie lag auf einer Couch auf dem Rücken und biß in einen ihrer Finger, während ein Mann zwischen ihren Beinen kniete und sein Becken rhythmisch in ihres stieß.

Zu wissen, daß diese Frau tot, gewalttätig umgebracht worden war und zu beobachten, wie sie sich hier einer anderen Form von Gewalt unterwarf, berührte ihn auf eine Weise, die er wohl selbst nicht ganz verstand. Gefühle von Schuld und Trauer regten sich in ihm, während er zuschaute. Wie die meisten Cops hatte er auch sein Gastspiel bei der Sitte hinter sich. Er hatte auch einige der Filme gesehen, die die zwei anderen Pornodarstellerinnen gemacht hatten, die vom Puppenmacher ermordet worden waren. Aber dies war das erste Mal, daß er sich dermaßen unwohl fühlte.

Auf dem Bildschirm nahm die Schauspielerin ihren Finger aus dem Mund und fing an, laut zu stöhnen. Sie wurde ihrem Namen gerecht. Bosch drehte die Lautstärke herunter, aber er konnte sie immer noch hören, ihr Stöhnen verwandelte sich in Schreien, das von den anderen Kabinen herüberdrang. Andere Männer sahen das gleiche Video. Der Gedanke, daß andere Männer das Video aus anderen Gründen anschauten, ekelte ihn an.

Der Vorhang hinter ihm raschelte, und er hörte, wie jemand hinter ihm in die Zelle trat. Gleichzeitig fühlte er eine Hand, die ihm zwischen die Beine faßte. Er griff in seine Jacke nach dem Revolver und drehte sich um. Es war die Geldwechslerin.

»Was kann ich für dich tun, Darling?« säuselte sie.

Er stieß sie von sich.

»Wie wär’s mit Abhauen?«

»Komm, Süßer, warum willst du’s dir auf Video ansehen, wenn du’s selbst tun kannst? Zwanzig Dollar. Mehr kann ich nicht runtergehen. Ich muß es mit der Geschäftsführung teilen.«

Sie preßte sich an ihn, und Bosch wußte nicht, ob ihr Atem oder seiner nach Zigaretten stank. Ihre Brüste waren hart, und sie preßte sie gegen seine Brust. Plötzlich erstarrte sie. Sie hatte seinen Revolver gefühlt. Für einen kurzen Moment sahen sie sich gegenseitig in die Augen.

»Du hast’s erfaßt«, sagte Bosch. »Wenn du nicht eine Nacht im Käfig verbringen willst, geh raus.«

»Kein Problem, Lieutenant«, sagte sie.

Sie schob den Vorhang beiseite und war weg. In dem Moment schaltete das Bild wieder auf die Programmliste um. Seine zwei Dollar waren verbraucht.

Beim Hinausgehen hörte er Magna Cum Loudly in falscher Ekstase aus den anderen Kabinen schreien.