20
Calexico sah wie fast alle Grenzstädtchen aus: staubig, mit niedrigen Gebäuden, knalligen Neonzeichen und häßlichen Geschäftsschildern an der Hauptstraße, von denen allein die unvermeidlichen goldenen Bögen von McDonald’s vertraut waren, ansonsten Reklame für mexikanische Autoversicherungen, die man vom Wagen aus abschließen konnte, und Souvenirläden.
In der Stadt mündete die 86 in die 111, die direkt zur Grenze führte. Die Warteschlange begann fünf Blocks vor der abgasgeschwärzten Abfertigungsstelle aus Beton, in der mexikanische federales ihren Dienst taten. Es sah aus wie der allabendliche Rückstau an der Broadway-Auffahrt zur 101 in L. A. Bevor er selbst zum Stehen kam, bog Bosch östlich in die Fifth Street ab und kam am De Anza Hotel vorbei. Zwei Blocks weiter hielt er vor dem Polizeirevier. Es war ein einstöckiges gelbes Gebäude aus Beton, das mit seiner Farbe an die Schreibblöcke von Rechtsanwälten erinnerte. Den Schildern am Eingang zufolge war es auch Rathaus, Feuerwache und Heimatmuseum.
Als er die Tür seines dreckigen Caprice öffnete, hörte er vom Park auf der anderen Straßenseite Gesang. Auf einer Bank saßen fünf Mexikaner und tranken Budweiser. Ein sechster Mann, der ein schwarzes Cowboyhemd mit weißer Stickerei und einen Stetson aus Stroh trug, stand vor ihnen und sang spanisch zur Gitarre. Das Lied wurde in einem langsamen Tempo vorgetragen, und Harry hatte keine Schwierigkeiten zu übersetzen.
Ich weiß nicht, wie ich dich lieben soll,
Ich weiß nicht einmal, wie ich dich umarmen soll, Weil mich nie der Schmerz verläßt,
Der mich so verwundet hat.
Die klagende Stimme des Sängers war kräftig und gut zu hören. Das Lied war wunderschön. Bosch lehnte sich gegen seinen Wagen und rauchte, bis der Sänger fertig war.
Die Küsse, die du mir gabst,
Sind jetzt mein Verderben.
Aber meine Tränen trocknen nun
Mit meiner Pistole und meinem Herzen.
Und so geh ich, wie immer, durchs Leben
Mit der Pistole und dem Herzen.
Am Ende des Lieds applaudierten die Männer auf der Bank und prosteten ihm zu.
Hinter der Glastür, auf der Polizei stand, befand sich ein muffiger Raum, der nicht größer war als die Ladefläche eines Lieferwagens. Links stand ein Cola-Automat, geradeaus war eine Tür mit elektronischer Verriegelung und rechts ein Schalter mit einer dicken Glasscheibe, hinter der ein uniformierter Polizist saß. Hinter ihm bediente eine Frau das Funkgerät der Einsatzzentrale, das sich vor einer Wand mit Schließfächern befand.
»Rauchen ist hier verboten, Sir«, sagte die Uniform.
Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille und hatte Übergewicht. Auf dem Namensschild über der Brusttasche stand Gruber. Bosch ging durch die Tür wieder hinaus und warf die Kippe auf den Parkplatz.
»Abfall auf die Straße werfen kostet hundert Dollar Strafe«, sagte Gruber.
Bosch hielt seine Dienstmarke hoch. »Schicken Sie mir die Rechnung. Ich muß eine Waffe hinterlegen.«
Gruber lächelte kurz und zeigte sein dunkelrotes, angegriffenes Zahnfleisch. »Ich persönlich benutze Kautabak. Dann hat man keine Probleme.«
»Das sieht man.«
Gruber runzelte die Stirn und dachte einen Moment darüber nach, bevor er sagte: »Also, geben Sie sie her. Wenn man seine Waffe hinterlegen will, muß man sie erst mal abgeben.«
Er drehte sich um, um zu sehen, ob die Frau am Funkgerät seine Ansicht teilte, daß er wieder die Oberhand gewonnen hatte, aber sie zeigte keine Reaktion. Bosch bemerkte, wie sehr sich Grubers Hemd über seinem Bauch spannte, so daß die Knöpfe abzuspringen drohten. Er zog seinen Vierundvierziger aus dem Halfter und legte ihn in das Schubfach.
»Fiehunfiehzich«, verkündete Gruber und nahm die Waffe in die Hand. »Wollen Sie sie im Halfter lassen?«
Daran hatte Bosch nicht gedacht. Er brauchte das Halfter. Andernfalls müßte er sich die Smith in den Hosenbund stecken. Wenn er rennen müßte, würde sie herausfallen.
»Nee«, sagte er. »Nur den Revolver.«
Gruber zwinkerte und ging zu den Schließfächern. Er öffnete eins, legte sie hinein, schloß ab und kam zurück.
»Ich brauch’ den Dienstausweis für die Quittungen.«
Bosch legte ihn ins Schubfach und beobachtete, wie Gruber langsam die Formulare ausfüllte. Es schien, daß er alle zwei Buchstaben wieder nachsehen mußte. »Wie haben Sie denn den Namen bekommen?«
»Schreiben Sie einfach Harry.«
»Es geht schon. Verlangen Sie nur nicht, daß ich es aussprechen soll. Scheint sich auf Anonymus zu reimen.« Als er fertig war, legte er die beiden Quittungen zum Unterschreiben in die Schublade. Harry benutzte seinen eigenen Kugelschreiber.
»Sieh mal an, ein Linkshänder, der einen rechtshändigen Revolver abgibt. Kriegen wir nicht oft hier zu sehen.« Er zwinkerte wieder. Bosch sah ihm starr in die Augen. »Ich red’ einfach nur so daher«, beschwichtigte Gruber. Harry legte eine Quittung in die Lade und erhielt dafür den Schlüssel zum Schließfach, der numeriert war. »Nicht verlieren«, warnte ihn Gruber.
Als er zurück zu seinem Caprice ging, sah er, daß die Männer immer noch auf der Bank im Park saßen, allerdings wurde nicht mehr gesungen. Ein alter Mann mit weißem Haar öffnete gerade die Tür zum Heimatmuseum. Bosch setzte sich in den Wagen und legte den Schlüssel in den Aschenbecher, den er nie benutzte. Dann setzte er rückwärts aus der Parklücke und fuhr zum De Anza.
Es war ein dreistöckiges Gebäude im spanischen Stil mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach. Bosch parkte vorne auf der rotgepflasterten Auffahrt. Er würde sich anmelden, sein Gepäck aufs Zimmer bringen, sich kurz frisch machen und dann über die Grenze nach Mexicali fahren. Der Mann an der Rezeption trug ein weißes Hemd und eine braune Fliege, passend zur Weste. Er konnte nicht älter als zwanzig sein. Auf dem Plastikschildchen an seiner Weste stand Miguel, Empfangschefassistent.
Bosch erklärte, daß er ein Zimmer wolle, und füllte die Anmeldung aus. Als er sie zurückgab, sagte Miguel: »Ach, Mr. Bosch, wir haben Nachrichten für Sie.«
Er drehte sich um und holte aus einem Fach drei rosa Notizzettel. Zwei Anrufe waren von Pounds gekommen, einer von Irving. Die Uhrzeiten waren vermerkt, und Bosch stellte fest, daß sie alle innerhalb der letzten zwei Stunden eingetroffen waren. Erst Pounds, dann Irving, dann wieder Pounds.
»Ach so«, sagte er zu Miguel, »gibt es hier ein Telefon?«
»Um die Ecke, Sir, rechts.«
Bosch nahm den Hörer ab und überlegte, was er tun sollte. Es mußte etwas Wichtiges sein, sonst hätten nicht beide telefoniert. Aus irgendeinem Grund hatten sie beide bei ihm zu Hause angerufen und die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört. Was konnte es bloß sein? Er nahm seine PacBell-Telefonkarte und wählte die Nummer des Mordtisches in Hollywood. Er hoffte, daß jemand da war, der ihm erklären konnte, was sich dort abspielte. Jerry Edgar nahm nach dem ersten Klingeln ab.
»Jed, was ist los. Ich hab’ hier genug Telefonnachrichten, um mein Hotelzimmer zu tapezieren.«
Das Schweigen dauerte lang, zu lang.
»Jed?«
»Harry, wo bist du?«
»Im Süden, Mann.«
»Wo im Süden?«
»Was ist los, Jed?«
»Egal, wo du jetzt bist, Pounds versucht, dich zurückzuholen. Er hat gesagt, falls du anrufst, sollst du deinen Arsch wieder Richtung Hollywood bewegen. Er sagte …«
»Warum? Was ist passiert?«
»Porter. Sie haben ihn heute morgen im Sunshine Canyon gefunden. Mit einem Draht um den Hals. So stramm, daß er nicht länger als ein Uhrband war.«
»O Gott.« Bosch holte seine Zigaretten heraus. »O Gott.«
»Ja.«
»Was hat er da gemacht? Sunshine Canyon, das ist doch die Mülldeponie im Foothill-Bezirk, nicht wahr?«
»Verdammt, Harry, er wurde dort abgeladen.«
Natürlich. Darauf hätte er selbst kommen müssen. Er konnte nicht richtig denken.
»Ja, ja. Was ist passiert?«
»Sie haben seine Leiche heute morgen dort gefunden. So ein armer Schlucker, der den Müll durchsucht, hat ihn unter dem ganzen Scheiß entdeckt. Aber RM ist auf ein paar Hinweise gestoßen. Quittungen von Restaurants. Dadurch sind sie auf den Namen der Müllcontainerfirma gekommen. Sie konnten die Spur auf einen bestimmten Lkw und eine bestimmte Route einengen. Downtown, gestern morgen. Wir arbeiten mit RM zusammen. Ich wollte gerade gehen und die Route abklappern. Wir finden den Müllcontainer, und von da verfolgen wir die Spur weiter.«
Bosch fiel der Container hinter Poe’s ein. Porter war nicht weggelaufen. Er war wahrscheinlich erdrosselt und hinausgezogen worden, während er sich mit dem Barkeeper angelegt hatte. Dann fiel ihm der Mann mit den tätowierten Tränen ein. Wie hatte er das übersehen können? Wahrscheinlich hatte er nur drei Meter entfernt von Porters Mörder gestanden.
»Ich war nicht draußen, aber ich habe gehört, sie haben ihn anscheinend in die Mangel genommen, bevor sie ihn umbrachten. Sein ganzes Gesicht war kaputt, die Nase gebrochen, eine Menge Blut. Verdammt erbärmliche Art und Weise zu sterben.«
Es würde nicht lange dauern, bis sie mit Porters Foto ins Poe’s kamen. Der Barkeeper würde sich an das Gesicht erinnern und nur zu gerne Bosch als den Mann beschreiben, der hereinkam, sagte, daß er Polizist sei, und dann Porter zusammenschlug. Bosch überlegte sich, ob er es Edgar gleich sagen und ihm die ganze Lauferei ersparen sollte. Der Überlebensinstinkt erwachte in ihm, und er entschied sich dagegen.
»Was wollen Pounds und Irving von mir?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß zuerst Moore und jetzt Porter ermordet wurden. Vielleicht wollen sie die Reihen schließen, alle Leute reinholen, wo es warm und sicher ist. Hier geht das Gerücht um, daß die beiden Morde zusammenhängen. Daß die zwei irgendwelche krummen Touren zusammen gemacht haben. Irving hat die Fälle schon zusammengelegt. Er hat eine gemeinsame Untersuchung bezüglich Moore und Porter in die Wege geleitet.«
Bosch sagte nichts. Er versuchte nachzudenken. Porters Ermordung warf ein ganz neues Licht auf die Fakten.
»Hör zu, Jed. Du hast von mir nichts gehört. Wir haben nicht miteinander gesprochen. Capito?«
Edgar zögerte, bevor er sprach. »Willst du das wirklich?«
»Ja, wenigstens für die nächste Zeit. Ich ruf dich wieder an.«
»Paß auf dich auf!«
Nimm dich vor dem schwarzen Eis in acht, dachte Bosch, nachdem er aufgehängt hatte. Er lehnte sich einen Moment gegen die Wand. Porter. Wie war es passiert? Instinktiv griff er sich mit der Hand an die Hüfte. Es beruhigte ihn nicht; das Halfter war leer.
Er hatte die Wahl: weiter nach Mexicali oder zurück nach L. A. Wenn er zurückginge, würde er mit dem Fall nichts mehr zu tun haben. Irving würde ihn rausschneiden wie eine faule Stelle an einem Apfel.
Also hatte er im Grunde keine Wahl. Er mußte weitermachen. Bosch zog einen Zwanzigdollarschein aus der Tasche und ging zur Rezeption. Er schob den Schein Miguel hinüber.
»Ja, Sir.«
»Ich möchte meine Reservierung streichen, Miguel.«
»Kein Problem. Das kostet nichts. Sie waren nie im Zimmer.«
»Nein, das ist für Sie. Ich befinde mich in einer Verlegenheit. Niemand soll wissen, daß ich hier war. Verstehen Sie mich?«
Miguel war jung, aber aufgeweckt. Er sagte Bosch, seine Bitte stelle kein Problem dar, und steckte sich den Schein in die Westentasche. Harry gab ihm die rosa Notizzettel zurück.
»Wenn sie wieder anrufen … Ich war nie hier, okay?«
»So ist es, Sir.«
Ein paar Minuten später hatte er sich in die Autoschlange zur Grenze eingeordnet. Bosch sah, daß das Gebäude des U. S. Zolls und Grenzschutzes weitaus größer war als das Pendant auf der mexikanischen Seite. Die Bedeutung war klar: Es war leicht, dieses Land zu verlassen; hereinzukommen war eine andere Geschichte. Als Bosch an die Barriere heranfuhr, hielt er seinen Dienstausweis aus dem Fenster. Der mexikanische Polizist nahm ihn entgegen, und Bosch reichte die Waffenquittung aus Calexico nach.
»Zweck der Reise?« fragte der Grenzpolizist. Er trug eine verblichene Uniform, die einmal armeegrün gewesen war, und sein Hut wies Schweißflecken am Band auf.
»Beruflich. Ich habe eine Besprechung an der Plaza Justicia.«
»Ach so. Kennen Sie den Weg?«
Bosch hielt eine seiner Karten hoch und nickte. Der Grenzpolizist studierte die rosa Quittung.
»Sie sind unbewaffnet?« sagte er. »Sie haben Ihre Vierundvierziger zurückgelassen?«
»Wie es draufsteht.«
Der Polizist schien ungläubig zu lächeln, nickte aber und winkte, daß er weiterfahren könne. Kurz darauf wurde sein Caprice mitgerissen vom Strom der Autos, der sich auf einem breiten Boulevard ohne Fahrbahnmarkierungen entlangwälzte. Manchmal bewegte sich der Verkehr in sechs Spuren, und manchmal verengte sich die Straße auf vier oder fünf Spuren, was von den Autos problemlos bewältigt wurde. Niemand hupte, und es ging zügig voran. Bosch hatte fast schon eine Meile zurückgelegt, als er an einem Rotlicht anhalten mußte und sich auf der Karte orientieren konnte.
Anscheinend befand er sich auf dem Calzado Lopez Mateos, der ihn zum Justizcenter im Süden der Stadt bringen würde. Die Ampel wechselte, und der Verkehr floß wieder. Bosch entspannte sich und sah sich beim Fahren um, achtete jedoch auf eventuelle Fahrbahnverengungen. Der Boulevard wurde von alten Läden und Industriebetrieben gesäumt. Die Pastelltöne der Fassaden waren von den Abgasen der Autos mit einer schwarzen Patina überzogen und wirkten auf Bosch deprimierend. Die bunten Schulbusse auf der Straße reichten nicht aus, um der Szene einen heiteren Anstrich zu geben. Der Boulevard machte jetzt eine scharfe Biegung nach Süden und mündete in einen Kreisverkehr um einen Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal erhob, ein goldener Reiter auf einem sich aufbäumenden Pferd. Bosch bemerkte mehrere Männer, die meisten mit Cowboyhüten, die sich gegen den Sockel des Denkmals lehnten. Sie starrten in den Verkehr, der um sie herum toste. Tagelöhner, die auf Arbeit warteten. Auf der Karte sah Bosch, daß der Platz Benito-Juarez-Kreis hieß.
Eine Minute später gelangte er an einen Gebäudekomplex, auf dessen Dächern sich Antennen und Satellitenschüsseln befanden. Ein Hinweisschild am Straßenrand verkündete AYUNTA-MIENTO DE MEXICALI.
Er fuhr auf den Parkplatz, auf dem es weder Parkuhren noch einen Parkwächter gab, und stellte seinen Wagen ab. Während er im Auto saß und die drei Gebäude vor sich studierte, konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er vor etwas oder vor jemandem weglief. Porters Tod hatte ihn geschockt. Er war dort gewesen. Bosch fragte sich, wie er selbst entkommen konnte und warum der Mörder nicht versucht hatte, ihn auch zu liquidieren. Ein offensichtlicher Grund war wohl, daß der Mörder es nicht hatte riskieren wollen, zwei Personen auf einmal zu beseitigen. Eine andere Erklärung war, daß der Mörder ein Auftragskiller war, der nur einen Kontrakt für Porter hatte. Wenn das der Fall war, kam der Auftrag hier aus Mexicali.
Die drei Gebäude des Komplexes waren um einen dreieckigen Platz gruppiert und in modernem Stil mit braunrosa Sandsteinfassaden errichtet. Die Fenster im zweiten Stock eines der Gebäude waren von innen mit Zeitungsseiten verkleidet. Bosch nahm an, daß dies Schutz vor der untergehenden Sonne bieten sollte; es verlieh dem Gebäude aber ein schäbiges Aussehen. Über dem Haupteingang zu diesem Gebäude stand in Chrombuchstaben POLICIA JUDICIAL DEL ESTADO DE BAJA CALIFORNIA. Er nahm die Akte von Juan Doe #67, schloß den Wagen ab und ging zum Eingang.
Auf dem Platz standen mehrere Dutzend Menschen und eine Gruppe Straßenverkäufer, die Essen oder handgearbeitete Sachen feilboten. Als er die Stufen zum Polizeigebäude hochging, näherten sich ihm einige junge Mädchen, die ihm Kaugummi oder Armbänder aus bunten Fäden verkaufen wollten. Er lehnte dankend ab und öffnete die Tür zur Eingangshalle. Beinahe wäre er dabei mit einer kleinen Frau, die ein Tablett mit sechs Pasteten auf dem Kopf balancierte, zusammengestoßen.
Im Warteraum standen vier Reihen Plastikstühle gegenüber einem Schalter, auf dem ein uniformierter Polizist lehnte. Fast alle Stühle waren besetzt, und die Wartenden beobachteten mit Aufmerksamkeit den Polizisten. Er trug eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern und las eine Zeitung.
Bosch ging auf ihn zu und erklärte ihm auf Spanisch, einen Termin bei Detective Carlos Aguila zu haben. Er öffnete sein Ausweisetui und legte es auf den Schalter. Der Polizist schien nicht beeindruckt zu sein, griff aber nach unten und holte ein Telefon hervor. Es war ein altes Gerät mit einer Wählscheibe, viel älter als das Gebäude, in dem sie sich befanden, und er schien eine Ewigkeit zu benötigen, um die Nummer zu wählen.
Nach einem Augenblick begann der Polizist vor ihm im Maschinengewehrtempo ins Telefon zu sprechen. Bosch verstand nur einige Worte: Captain. Gringo. Ja. LAPD. Detective. Er glaubte auch, den Namen Charlie Chan zu hören. Dann hörte der Beamte ein paar Momente zu und legte schließlich auf. Ohne Bosch anzusehen, deutete er auf die Tür hinter sich und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Harry ging um den Schalter herum und öffnete die Tür. Er betrat einen Flur, der sich nach links und rechts erstreckte. Harry kehrte um und klopfte dem Polizisten am Schalter auf die Schulter, um nach dem Weg zu fragen.
»Am Ende, letzte Tür«, antwortete der Polizist auf Englisch und deutete links hinunter.
Bosch ging wieder zurück auf den Flur und kam am Ende zu einem großen Raum. Mehrere Männer standen herum, andere saßen auf Sofas. An den Stellen, wo keine Couchen standen, lehnten Fahrräder an der Wand. Es gab einen einzigen Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß und tippte, was ein Mann ihr anscheinend gerade diktierte. Harry sah die 9 mm Barretta, die der Mann im Hosenbund stecken hatte; auch die anderen trugen Pistolen im Halfter oder in die Hose gesteckt. Es war das Detective-Büro. Die Gespräche brachen ab, als er hereinkam. Er fragte den nächsten Mann nach Carlos Aguila. Dies veranlaßte einen anderen, durch eine Tür am Ende des Raums zu rufen. Wieder war es zu schnell, und wieder hörte Bosch das Wort Chan. Er überlegte, was es auf Spanisch bedeutete. Der Mann, der gerufen hatte, zeigte mit dem Daumen auf die Tür, und Bosch folgte dem Hinweis. Hinter sich hörte er leises Gelächter, aber er drehte sich nicht um.
Die Tür führte zu einem kleinen Büro mit einem Schreibtisch, an dem ein Mann mit grauem Haar und müden Augen saß und rauchte. Eine mexikanische Zeitung, ein gläserner Aschenbecher und ein Telefon waren die einzigen Gegenstände auf dem Tisch. Ein Mann mit einer verspiegelten Pilotenbrille – was Bosch nicht mehr sonderlich auffiel – saß auf einem Stuhl an der hinteren Wand und betrachtete Bosch. Falls er nicht schlief.
»Buenos dias«, sagte der ältere Mann. Er fuhr englisch fort: »Ich bin Captain Gustavo Grena, und Sie sind Detective Harry Bosch. Wir haben gestern miteinander telefoniert.«
Bosch reichte ihm die Hand über den Schreibtisch. Grena zeigte dann auf den Mann mit der Sonnenbrille. »Und hier ist Detective Aguila, den Sie sehen wollten. Was haben Sie von Ihrer Ermittlung aus Los Angeles mitgebracht?«
Aguila, der die Suchmeldung ans Konsulat in Los Angeles geschickt hatte, war ein kleiner Mann mit dunklem Haar und heller Haut. Seine Stirn und seine Nase waren von der Sonne verbrannt, aber Bosch konnte seine weiße Brust durch den offenen Kragen sehen. Er trug Jeans und schwarze Lederstiefel. Er nickte Bosch zu, machte jedoch keine Anstalten, ihm die Hand zu geben.
Da es keinen Stuhl für ihn gab, ging Harry zum Schreibtisch und legte die Akte hin. Er nahm die Polaroidfotos von Juan Doe #67 heraus, die sein Gesicht und die Tätowierung zeigten, und gab sie Grena, der sie sich kurz ansah und sie dann auf den Schreibtisch legte.
»Sie suchen vermutlich nach dem Mörder, nehme ich an?« fragte Grena.
»Es besteht die Möglichkeit, daß er hier ermordet wurde und die Leiche dann nach Los Angeles geschafft wurde. In dem Fall sollte Ihre Abteilung nach dem Mörder suchen.«
Grena sah ihn verdutzt an. »Ich verstehe nicht. Wieso. Warum hätte man das machen sollen? Sicher irren Sie sich, Detective Bosch.«
Bosch zuckte die Schultern. Er würde sich nicht deswegen streiten. Noch nicht. »Nun, ich möchte zumindest seine Identität bestätigt haben, damit ich weitermachen kann.«
»Nun gut«, sagte Grena. »Sie können das mit Detective Aguila besprechen. Aber ich muß Ihnen in der Sache, die Sie gestern erwähnten, mitteilen, daß mir der Manager inzwischen persönlich versichert hat, daß Ihr Juan Doe dort nicht gearbeitet hat. Den Weg habe ich Ihnen damit erspart.«
Grena nickte abschließend, als wolle er sagen, daß er gern diese Mühe auf sich genommen hätte.
»Wie kann er sich so sicher sein, wenn wir noch nicht einmal die Identität restlos bestätigen konnten?«
Grena zog erst einmal an seiner Zigarette, um Zeit zu gewinnen. Schließlich hatte er eine Antwort: »Ich gab ihnen den Namen Fernal Gutierrez-Llosa. War nie dort beschäftigt. Sie haben amerikanische Aufträge, verstehen Sie … Wir müssen achtgeben, daß wir nicht den internationalen Handel stören.«
Grena drückte seine Zigarette aus und nickte Aguila zu. Dann stand er auf und verließ das Büro. Bosch blickte in die Spiegelgläser der Sonnenbrille und fragte sich, ob Aguila der Unterredung hatte folgen können.
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen Spanisch«, sagte Aguila. »Ich spreche Ihre Sprache.«