5
Donnerstag, der Morgen nach Weihnachten. Es war einer der Tage, von denen Postkartenfotografen träumen. Nicht die geringste Spur Smog am Himmel. Das Feuer auf den Hügeln war ausgebrannt und der Rauch von den Pazifikbrisen längst davongetragen worden. Statt dessen sonnte sich Los Angeles unter blauem Himmel und Schäfchenwolken.
Bosch entschied sich, den längeren Weg zur Arbeit zu nehmen, und fuhr auf dem Woodrow Wilson Drive bis zum Mulholland Drive. Auf der kurvenreichen Strecke kam er durch den Nichols Canyon. Das Panorama mit den von blauen Wistarien und Eispflanzen bedeckten Hügeln, auf deren Anhöhen alte Villen prangten, hatte es ihm angetan. Es verlieh der Stadt die Aura verblichenen Glanzes. Beim Fahren dachte er an die vergangene Nacht und daran, wie er Sylvia Moore getröstet hatte. Wie ein Polizist auf einem naiven Gemälde von Rockwell war er sich vorgekommen – ganz im Glauben, ihr helfen zu können.
Sobald er von den Hügeln heruntergekommen war, nahm er die Genesee Avenue bis zum Sunset Boulevard und fuhr von dort zur Wilcox Avenue. Sein Auto parkte er hinterm Revier und ging an den vergitterten Fenstern der Ausnüchterungszelle vorbei zum Detectives-Büro. Dort herrschte dicke Luft, dicker als der Zigarettenqualm in einem Pornokino. Seine Kollegen saßen an ihren Tischen mit gesenkten Köpfen, telefonierten leise oder steckten ihre Nase in die Akten, die der Fluch ihres Lebens waren und nie ein Ende zu nehmen schienen.
Harry setzte sich an den Tisch für Mordfälle – Jerry Edgar gegenüber, der manchmal als sein Partner fungierte. Partner wurden nicht mehr permanent zugeteilt. Es gab nicht genug Detectives; bei der Polizei herrschte Einstellungs- und Beförderungsstopp wegen Budgetkürzungen. Am Mordtisch saßen nur noch fünf Detectives. Der Commander der Abteilung, Lieutenant Harvey »Achtundneunzig« Pounds, bewältigte den Personalmangel, indem er Detectives solo arbeiten ließ – mit Ausnahme von wichtigen und gefährlichen Fällen oder bei Verhaftungen. Bosch gefiel es ohnehin, allein zu arbeiten, aber die anderen beschwerten sich andauernd.
»Was ist los?« fragte Bosch Edgar. »Moore?«
Edgar nickte. Sie saßen allein am Tisch. Shelby Dunne und Karen Moshito kamen gewöhnlich nach neun, und Lucius Porter konnte von Glück reden, wenn er um zehn noch nüchtern war.
»Vor ’ner Weile kam Achtundneunzig aus seinem Kabuff und hat verkündet, daß die Fingerabdrücke übereinstimmen. Es war Moore. Er hat sein Gehirn selbst ausgeblasen.«
Ein paar Minuten schwiegen sie. Harry überflog den Papierkram auf seinem Schreibtisch, seine Gedanken kehrten jedoch zu Moore zurück. Er stellte sich vor, wie Irving, Sheehan oder eventuell Chastain Sylvia Moore anrufen würde, um ihr die Bestätigung der Identifizierung mitzuteilen. Seine minimale Beteiligung zu dem Fall löste sich in Rauch auf. Ohne sich umzudrehen, merkte er, daß jemand hinter ihm stand. Als er sich umsah, war es Pounds, der auf ihn herabschaute.
»Komm mal mit rein, Harry.«
Eine Einladung in den Glaskasten. Edgar verdrehte die Augen, er wußte von nichts. Harry stand auf und folgte dem Lieutenant in sein Büro am Ende des großen Raums. Es war ein kleines Zimmer mit Fenstern an drei Seiten, wodurch es Pounds möglich war, seine Untergebenen zu beaufsichtigen, aber so wenig wie möglich Kontakt mit ihnen zu haben. Er brauchte sie nicht zu hören oder zu riechen – oder gar zu kennen. Die Jalousien, die manchmal zugezogen waren, waren heute morgen offen.
»Setz dich, Harry. Du weißt ja, Rauchen ist hier verboten. Gute Weihnachten gehabt?«
Bosch sah ihn nur an. Daß dieser Typ ihn Harry nannte und sich nach Weihnachten erkundigte, war ihm unangenehm. Zögernd setzte er sich.
»Worum geht’s?«
»Bitte keine feindseligen Gefühle, Harry. Wenn, dann hätte ich Grund dazu. Mir wurde gerade mitgeteilt, daß du einen Gutteil des Weihnachtsabends in dieser Absteige verbracht hast, dem Hideaway, wo dich niemand haben wollte und wo zufälligerweise Raub-Mord eine Ermittlung durchführte.«
»Ich hatte Bereitschaft«, erwiderte Bosch. »Und ich hätte zum Tatort gerufen werden müssen. Ich bin hin, um zu sehen, was dort ablief. Wie sich herausstellte, hatte Irving doch Verwendung für mich.«
»Okay, Harry, falls die Sache für dich damit zu Ende ist. Ich habe die Anweisung bekommen, daß du dir über den Moore-Fall nicht den Kopf zerbrechen sollst.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Wie es gemeint ist.«
»Paß auf, wenn du …«
»Schon gut.« Pounds hob beruhigend die Hände und zwickte sich dann oben an der Nase – ein Kopfschmerzanfall. Aus der mittleren Schublade des Schreibtisches holte er eine Schachtel Aspirin und schluckte zwei Tabletten ohne Wasser hinunter.
»Mehr ist nicht zu sagen! Okay?« sagte Pounds. »Ich werde nicht … Ich brauche nicht …«
Plötzlich begann Pounds zu würgen und sprang auf. Er rannte an Bosch vorbei aus dem Glaskasten zum Trinkwasserbrunnen, der am Eingang stand. Bosch drehte sich nicht einmal um. Er blieb sitzen. Ein paar Augenblicke später kam Pounds zurück und fuhr fort.
»Entschuldige. Also, ich habe keine Lust, mich jedesmal mit dir zu streiten, wenn ich dich zu einer Besprechung bitte. Meiner Ansicht nach solltest du dich mit deinen Problemen in Bezug auf Befehlsgewalt und Hierarchie mal auseinandersetzen. Das ist ja schon extrem bei dir.«
In seinen Mundwinkeln war etwas weißer Schaum von den heraufgewürgten Tabletten angetrocknet. Pounds räusperte sich.
»Ich gebe das an dich weiter in deinem besten …«
»Warum sagt mir Irving das nicht selbst?«
»Ich habe nicht gesagt … Okay, Bosch, vergiß es! Du weißt Bescheid, und damit hat sich’s. Komm nicht auf irgendwelche Ideen wegen gestern abend und Moore. Die Sache wird ordnungsgemäß erledigt.«
»Sicher.«
Die Warnung war ausgesprochen, Bosch stand auf. Am liebsten hätte er diesen Typ durch die Glaswand geworfen, aber er mußte sich wohl mit einer Zigarette draußen hinter der Ausnüchterungszelle begnügen.
»Setz dich hin! Deshalb habe ich dich nicht reingeholt.« Bosch setzte sich wieder und wartete still. Er beobachtete, wie Pounds versuchte, sich zu beruhigen. Pounds nahm ein Holzlineal aus der Schublade und begann geistesabwesend damit zu spielen, während er sprach.
»Harry, weißt du, wieviel Morde wir in diesem Jahr im Bezirk hatten?«
Die Frage kam unerwartet. Harry fragte sich, was Pounds im Schilde führte. Elf Fälle hatte er persönlich gehabt, aber er war sechs Wochen außer Dienst gewesen, als er sich in Mexiko von seiner Schußwunde erholte. Er würde schätzen, insgesamt siebzig Fälle in diesem Jahr.
»Keine Idee.«
»Nun, ich werd’s dir sagen. Bis heute sind es Sechsundsechzig. Natürlich haben wir noch fünf Tage in diesem Jahr. Wahrscheinlich kommt noch einer dazu. Wenigstens einer. Silvester ist immer Trouble. Wir …«
»Na und? Letztes Jahr hatten wir neunundfünfzig. Die Anzahl der Mordfälle steigt. Das ist nichts Neues.«
»Neu ist, daß die Rate der aufgeklärten Morde zurückgeht. Weniger als die Hälfte davon – zweiunddreißig von Sechsundsechzig. Ein Gutteil dieser Fälle wurde von dir gelöst. Auf meiner Liste stehst du mit elf Fällen; davon wurden sieben durch Verhaftung abgeschlossen. In zwei weiteren wurden Haftbefehle erlassen. Einer von den zwei offenen wird bis auf weiteres nicht bearbeitet, und im Moment bist du in der James-Kappalanni-Sache aktiv. Richtig?«
Bosch nickte. Ihm gefiel nicht, wie sich die Unterredung entwickelte. Aber er war sich nicht sicher, weshalb.
»Das Problem ist die Gesamtstatistik«, fuhr Pounds fort. »Zusammen genommen … Also, es sieht erbärmlich aus.«
Pounds schlug sich mit dem Lineal in die Hand und schüttelte den Kopf. Allmählich begriff Harry, worum es ging; es fehlte ihm jedoch noch ein Teilchen. Er war sich nicht ganz sicher, worauf Pounds hinauswollte.
»Denk mal drüber nach! All die Opfer und ihre Familien, die auf Gerechtigkeit warten müssen. Und stell dir mal vor, wie das öffentliche Vertrauen in die Polizei erschüttert wird, wenn die L. A. Times auf der Lokalseite verkündet, daß mehr als die Hälfte der Mörder in Hollywood nicht gefaßt wird.«
»Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen machen, daß das öffentliche Vertrauen noch geringer wird«, sagte Bosch. »Das ist kaum möglich.«
Pounds rieb sich wieder den Nasenrücken und erwiderte ruhig: »Deine zynische Berufsauffassung ist im Moment nicht gefragt, Bosch. Deine Arroganz kann ich hier nicht brauchen. Ich kann dich jederzeit von Mord zu Autodiebstahl oder Jugendstraftaten versetzen. Kapiert? Falls du dich bei der Gewerkschaft beschwerst, nehme ich das gern in Kauf.«
»Und wie würde dann die Aufklärungsrate hier aussehen? Was würde dann auf der Lokalseite stehen? Zwei Drittel der Mörder in Hollywood laufen frei herum?«
Pounds legte das Lineal zurück in die Schublade und schloß sie. Bosch glaubte ein süffisantes Lächeln zu bemerken und begriff, daß er in die Falle getappt war. Aus einer anderen Schublade holte Pounds einen blauen Hefter, wie er für Ermittlungsakten verwendet wurde – er enthielt jedoch nur einige Seiten.
»Da hast du ins Schwarze getroffen. Womit wir beim Thema dieser Besprechung wären. Es geht hier um Statistiken, Harry. Wenn wir noch einen Fall aufklären, können wir sagen, daß wir die Hälfte der Mörder gefaßt haben. Wenn wir noch zwei lösen, dann haben wir mehr als die Hälfte aufgeklärt. Das klingt besser als ›mehr als die Hälfte läuft frei herum‹. Kapiert?«
Pounds nickte, als Bosch schwieg. Er tat, als ob er den Hefter auf seinem Schreibtisch geraderückte, dann sah er Bosch direkt an.
»Lucius Porter kommt nicht zurück. Ich habe mit ihm heute morgen gesprochen. Er beantragt Berufsunfähigkeit wegen Streßsyndrom. Sagt, daß er sich einen guten Arzt genommen hat.«
Pounds griff wieder in die Schublade und holte noch einen blauen Hefter hervor. Und noch einen. Bosch begriff, was ablief.
»Ich hoffte, daß sein Arzt verdammt gut ist.« Pounds legte inzwischen den fünften und sechsten Hefter auf den Stapel. »Soviel mir bekannt ist, wird bei der Polizei Streß nicht als Ursache für Leberzirrhose anerkannt. Porter ist einfach ein Säufer. Und es ist nicht fair, daß er Arbeitsunfähigkeit und Frühpensionierung beantragt, weil er sein Alkoholproblem nicht in den Griff kriegt. Bei der Anhörung ziehen wir ihm die Hosen runter. Meinetwegen kann er sich Mutter Theresa als Anwältin nehmen. Wir werden ihn festnageln.«
Mit dem Finger klopfte er auf den Stapel. »Ich habe mir die Akten durchgesehen. Es ist einfach erbärmlich; er hat acht offene Fälle. Ich habe mir seine Tageszettel kopiert und werde sie überprüfen. Und ich wette Dollars gegen Doughnuts, daß sie erstunken und erlogen sind. Statt herumzulaufen und Leute zu vernehmen, ist er irgendwo auf einem Barhocker herumgehängt.«
Pounds schüttelte traurig mit dem Kopf. »Seitdem jeder allein ermittelt, gibt es keine Kontrolle mehr. Niemanden, der auf diesen Typ aufgepaßt hat. Jetzt sitze ich hier mit acht nicht abgeschlossenen und total verschluderten Fällen. Wer weiß, vielleicht hätte man alle aufklären können.«
Bosch hätte ihn gerne gefragt, wer denn die Idee gehabt habe, Detectives solo arbeiten zu lassen, unterließ es aber. Statt dessen sagte er: »Hast du schon mal die Story gehört, als Porter noch auf Streife war vor zehn Jahren? Er und sein Partner hielten an, um so einem Penner, der am Straßenrand saß und trank, einen Strafzettel wegen öffentlichem Trinken zu verpassen. Porter fuhr. Reine Routine, ein Strafzettel wegen einer Übertretung. Also blieb er hinterm Steuer. Und wie er da sitzt, zieht der Penner eine Waffe und schießt seinem Partner ins Gesicht. Der steht da, Strafzettelblock in beiden Händen, und kriegt die Kugel genau zwischen die Augen. Und Porter sah alles.«
Pounds sah verärgert aus. »Ich kenne die Geschichte, Bosch. Jeder Jahrgang auf der Polizeischule bekommt sie auf der Bühne vorgeführt. Als abschreckendes Beispiel. Aber das sind alte Kamellen. Wenn, dann hätte er damals wegen Streß den Ruhestand beantragen sollen.«
»Darum geht’s ja. Er hat es nicht getan, als es möglich war. Er hat versucht, die Geschichte hinter sich zu bringen. Vielleicht hat er zehn Jahre dagegen angekämpft, und am Ende ist er mit dem ganzen Scheiß dieser Welt den Bach runter. Was soll er tun? Sich an Cal Moore ein Beispiel nehmen? Bekommst du ein Fleißkärtchen, wenn du der Stadt eine Pension sparst?«
Pounds schwieg ein paar Sekunden. »Sehr beeindruckend, Bosch, aber letztendlich geht es dich nichts an, was mit Porter passiert. Ich hätte es nicht erwähnen sollen. Aber ich hab’s getan, damit du verstehst, was ich jetzt sagen werde.«
Pedantisch richtete er wieder den Stapel blauer Hefter aus und schob sie dann zu Bosch hinüber. »Du übernimmst Porters Fälle. Kappalanni legst du für einige Tage auf Eis. Im Moment kommst du sowieso nicht weiter. Nach dem ersten kannst du dich wieder voll darauf konzentrieren.
Ich möchte, daß du dir Porters Fälle vornimmst und sie studierst. Und zwar schnell. Such dir einen aus, von dem du annimmst, daß was zu erreichen ist, und leg dich in den nächsten fünf Tagen voll in die Ruder – bis Neujahr. Arbeite am Wochenende; ich genehmige die Überstunden. Wenn du jemanden vom Tisch als Partner brauchst … Kein Problem. Hauptsache, du buchtest jemanden ein. Ich brauche eine Verhaftung. Wir müssen noch einen Fall klären, um über den Berg zu kommen. Die Frist läuft bis Mitternacht, Silvester.«
Über den Stapel Hefter sah Bosch Pounds an, der gerade seinen wahren Charakter offenbart hatte. Pounds war kein Cop mehr, er war ein Bürokrat, eine Null. Für ihn waren Verbrechen, Blutvergießen, menschliches Leid Zahlen in einer Statistik. Und am Jahresende sagte ihm die Statistik, ob er gute Arbeit geleistet hatte. Die Statistik, nicht Menschen, nicht eine innere Stimme. Es war genau diese unpersönliche Arroganz, die die Polizei von L. A. vergiftet und von den Bürgern der Stadt isoliert hatte. Kein Wunder, daß Porter alles fallen ließ. Kein Wunder, daß Cal Moore sich umgebracht hatte. Bosch stand auf und nahm den Stapel Hefter. Er warf Pounds einen Blick zu, der ihm zeigte, daß er ihn durchschaut hatte. Pounds schaute weg.
An der Tür sagte Bosch: »Wenn du Porter festnagelst, schicken sie ihn dir zurück. Und was dann? Wieviel offene Fälle wird es dann nächstes Jahr geben?«
Pounds Augenbrauen gingen nach oben; er überlegte.
»Wenn du ihn gehen läßt, kriegst du Ersatz. An den anderen Tischen sitzen ein paar scharfsinnige Typen. Meehan am Jugendtisch ist gut. Wenn du ihn rüberholst zu uns, wette ich, daß unsere Statistik nach oben geht. Aber wenn du Porter nicht gehen läßt, dann sprechen wir nächstes Jahr über das gleiche Problem.«
Pounds wartete einen Augenblick, ob Bosch noch etwas zu sagen hatte.
»Aus dir werde ich nicht schlau, Bosch. Als Detective spielt Porter doch zwei Klassen tiefer – falls er überhaupt antritt. Und trotzdem versuchst du, seinen Arsch zu retten. Was ist der Punkt?«
»Es gibt keinen, Lieutenant. Vielleicht ist das der Punkt.« Er trug die Hefter zu seinem Platz am Tisch und ließ sie neben dem Stuhl auf den Boden fallen. Edgar sah ihn an – Dunne und Moshito, die gerade gekommen waren, ebenfalls.
»Keine Fragen!« sagte Harry.
Er setzte sich hin und betrachtete den Haufen zu seinen Füßen, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Was er wollte, war eine Zigarette, aber Rauchen war hier verboten – zumindest, solange Pounds in der Nähe war. Er schlug eine Nummer auf seiner Rollkartei nach und wählte. Erst nach dem siebten Klingeln meldete sich jemand.
»Was ist?«
»Lou?«
»Wer ist da?«
»Bosch.«
»Ach ja, Harry. Entschuldige, ich wußte nicht, wer anruft. Was ist los? Hast du schon gehört, ich laß mich in den Ruhestand versetzen?«
»Ja, deshalb rufe ich an. Ich habe deine Fälle bekommen – Pounds hat sie mir gegeben –, und er möchte, daß ich was auf die schnelle kläre, so ungefähr bis zum Ende der Woche. Ich hab’ mir gedacht, vielleicht hast du eine Idee, welchen Fall ich mir vornehmen sollte. Ich fang’ bei null an.«
Nach einer langen Pause ließ sich Porter endlich vernehmen: »Scheiße, Harry.« Erst jetzt bemerkte Bosch, daß er wahrscheinlich schon betrunken war. »Oh, verdammt. Ich habe nicht gedacht, daß der Wichser dir das alles aufhalsen würde. Ich, Harry … Harry, ich hab’ dich hängenlassen.«
»He, Lou. Ich werd’ damit fertig. Mein Schreibtisch ist blank. Was ich brauche, ist ein Ansatzpunkt. Wenn du nichts hast, lese ich halt den Kram durch. Okay?«
Er bemerkte, daß die anderen am Tisch zuhörten und sich nicht besonders anstrengten, es zu verbergen.
»Oh Scheiße, Harry, ich weiß nicht … Ich bin nicht am Ball geblieben, verstehst du. Ich geh’ kaputt, Stück für Stück. Hast du von Moore gehört? Scheiße … Ich habe es gestern in den Nachrichten gesehen. Ich …«
»Ja, ist schon beschissen. Lou, hör mal, mach dir keine Sorgen deswegen. Ich habe die Mordhefter hier, und ich werde sie durchgehen.«
Keine Reaktion.
»Lou?«
»Okay, Harry. Ruf mich noch mal an, wenn du willst. Vielleicht fällt mir doch noch etwas ein. Im Moment pack’ ich’s nicht.«
Ein paar Augenblicke dachte Bosch nach. Er stellte sich vor, wie Porter am anderen Ende im Dunklen stand. Allein.
»Hör gut zu.« Er senkte die Stimme. »Nimm dich vor Pounds in acht mit deinem Antrag. Eventuell hetzt er dir Anzüge zur Überprüfung auf den Hals. Du darfst dich nicht in Bars blicken lassen. Eventuell versucht er deinen Antrag zu torpedieren. Verstanden?«
Nach einer Weile bestätigte Porter, daß er kapiert hatte. Bosch legte den Hörer auf und schaute die anderen am Tisch an. Im großen Raum schien immer so lange Lärm zu herrschen, bis er ein vertrauliches Telefongespräch führen wollte. Er fischte nach einer Zigarette.
»Achtundneunzig hat Porters Fälle bei dir abgeladen?« fragte Edgar.
»Ja, ja, bei der Mülldeponie der Abteilung.«
»Und was sind wir dann, Scheißhauspatrouille?«
Bosch grinste. Anscheinend wußte Edgar nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte, daß man ihm nicht die Arbeit zugeteilt hatte.
»Also, Jed, wenn du willst, schwing ich mich rüber zum Kabuff und sage Achtundneunzig, daß du dich freiwillig gemeldet hast, die Hälfte zu übernehmen. Der Sesselfurzer wird sicher …«
Er brach ab, weil Edgar ihn unter dem Tisch getreten hatte, und drehte sich um. Von hinten näherte sich Pounds mit knallrotem Gesicht – wahrscheinlich hatte er die letzten Sätze gehört.
»Bosch, du wirst doch nicht etwa das widerliche Ding hier rauchen, oder?«
»Nein, Lieutenant, ich war auf dem Weg nach draußen.« Er schob den Stuhl zurück und ging mit der Zigarette hinten hinaus auf den Parkplatz. Die Hintertür der Ausnüchterungszelle stand offen. Die Alkoholleichen von Weihnachten hatte man schon in den Gefängnisbus verfrachtet und zum Gericht gefahren. Ein Schließer im grauen Overall spritzte den Zellenboden mit einem Schlauch ab. Es war allgemein bekannt, daß der Boden leichtes Gefälle hatte, damit er leichter zu säubern war. Harry beobachtete, wie das dreckige Wasser über die Schwelle auf den Parkplatz schwappte, wo es unter einem Kanalgitter verschwand. Im Wasser schwamm Erbrochenes und Blut, der Gestank von der Zelle war ekelerregend. Aber er hielt die Stellung. Hier war sein Platz.
Als er ausgeraucht hatte, warf er den Stummel ins Wasser und schaute ihm hinterher auf dem Weg zum Abfluß.